Cover


Bruder Ludwig zupfte ein Hirtentäschel aus dem Kräuterbeet und warf es in einen Korb. Er stand nun hoch in den Sechzigern, und es fiel ihm zunehmend schwerer, auf dem Boden zu knien und mit krummem Rücken im Klostergarten des schön gelegenen Zisterzienserklosters zu arbeiten, und auch die in tiefer Demut dem Herrn dargebrachten Gebete waren eine Qual für einen alten Mann, den nun schon seit Jahren die Arthrose plagte.Es war ungewöhnlich warm in diesem Sommer, und schon frühmorgens trieb es unserem braven Klosterbruder die Schweißperlen auf die hohe Stirn.

Ach, was gäbe er jetzt für einen kühlen Trunk, geleert im köstlichen Schatten einer Laube! Nur ein paar Minuten der Ruhe, der stillen Sammlung, dann würde ihm die Arbeit doch wieder flink von der Hand gehen. Und wie er so gedankenverloren vor sich hin schaute, stiegen alte, halb vergessene Bilder in ihm auf. Er war wieder ein kleiner Bub in kurzen Hosen, der mit den Freunden durch den Wald streifte und Räuber und Gendarm spielte. Es war Ferienzeit, ein Tag so schön wie der andere, angefüllt mit den herrlichsten Abenteuern. Ja, so müssen Ferien sein! Und des Abends wurde man empfangen von der Mama, die den kleinen Dreckspatz milde drohend empfing und ihn dann, allen Protesten des Knaben zum Trotz, in die Badewanne steckte und tüchtig abschrubbte.

Die Erinnerung an diese unbeschwert-selige Zeit ließ unseren Ludwig schmunzeln, und fast wäre er eingenickt, was in letzter Zeit des Öfteren vorkam. Ludwig erhob sich ein wenig unbeholfen von der roh gezimmerten Gartenbank und machte sich seufzend wieder über sein Kräuterbeet her. Er war nun schon seit Jahrzehnten wohl aufgehoben in diesem Konvikt, und die jüngeren Mitbrüder, Jungspunde von vierzig Jahren, neckten ihn bisweilen und nannten ihn den Doktor Eisenhut

, war doch sein Haar seit langem grau. Bruder Ludwig vergab ihnen nicht nur gutmütig jeglichen Spott, er war sogar geschmeichelt, dass sie ihn mit seinem akademischen Grad anredeten. Nun war die persönliche Eitelkeit sicherlich eine Sünde wider die gelobte Demut, doch Ludwig vergab sich diese nur allzu gern, glaubte er sich doch ansonsten frei von großer Sünde. Nein, bei seinen Mitbrüdern fühlte er sich aufgehoben, wie er sich überhaupt kein Leben außerhalb der dicken Mauern des Klosters zu D. mehr vorstellen konnte. Wo waren sie geblieben, all die Jahre? Wie hatte er einmal gelebt in der Welt da draußen?

Sicherlich, er war vor seiner Ordination Student und danach Doktorand gewesen und hatte summa cum laude bestanden. Aber was bedeuteten Wissenschaft und Erkenntnis gegenüber der Wonne, sich in Andacht versenken zu können und emporgehoben zu fühlen zum Herrn? Ein lauter Glockenschlag ließ unseren braven Mönch zusammenfahren. Schon zehn Uhr, und er hatte gerade einmal die Hälfte der Beete gesäubert! Nun würde er sich sputen müssen, denn es galt ja auch noch die Kräuter, die er in die Trockendarre gehängt hatte, zu wenden, damit er später daraus heilsame Tränke für die Mitbrüder würde zubereiten können. Nicht zuletzt den Klosterlikör, der zudem dem Orden regelmäßig ein hübsches Sümmchen einbrachte.

Ludwig bearbeitete inzwischen das „Teufelsbeet“, wie er es nannte. Hier standen die Pflanzen, die meist wunderschön anzusehen waren, aber den sicheren Tod brachten, wusste man sie nicht in der richtigen medizinischen Dosierung zu gebrauchen: Fingerhut, Eisenhut, Tollkirsche, Bilsenkraut, Nieswurz und Germer. Der Abt scherzte bisweilen, man müsse sich gut stellen mit Bruder Ludwig, könne er doch mit einer Mahlzeit die gesamte Bruderschaft des Klosters auslöschen. Der gute Abt wusste allerdings nicht, wie gefährlich nahe er der Wahrheit um Bruder Ludwig mit diesem kleinen Scherze kam.

Von allen Mitbrüdern schätzte Ludwig den stets gut gelaunten Bruder Bernhard am meisten. Dieser war im Alter von 18 Jahren dem Orden beigetreten und arbeitete in der Klosterküche. Bernhard war ein über alle Maßen begabter Koch, und seit er im Kloster wirkte, war die Stimmung die allerheiterste. Bernhard liebte es, sich von dem, was Küche und Keller hergaben, inspirieren zu lassen und schuf so wahre Meisterwerke, die einen Brillat-Savarin hätten betören können. Auch war der junge Mönch ein großer Freund der italienischen Oper, und so war ihm der Rossini doppelt lieb und teuer- der Musiker wie der Meisterkoch.

Ludwig schnupperte und nahm einen leisen feinen Geruch wahr. Das konnte nur bedeuten, dass Bernhard an einem neuen Meisterwerke arbeitete. Auch meinte er seinen Freund Rossinis Verleumdungsarie

mehr schlecht als recht, aber mit Inbrunst schmettern zu hören: „Und der Arme muss verzagen, denn Verleumdung hat geschlagen. - Schuldlos geht er dann, verachtet, als ein Ehrenmann zugrund. Ja, schuldlos geht er dann zugrund, geht er zugrund!“ Diese Lieblingsarie Bernhards hatte Ludwig schon so oft von ihm gehört, und doch war es ihm, als wolle dieses Lied jetzt etwas sagen, dessen Bedeutung er nicht zu erschließen vermochte. „Ludwig, Ludwig, du wirst wirklich alt!“ schalt er sich und wandte sich erneut seiner Gartenarbeit zu. Doch er hörte es unaufhörlich: „Und der Arme muss verzagen, schuldlos geht er dann zugrund, geht er zugrund, geht er zugrund...“ Und irgendwie war ihm , als verhöhne ihn sein Freund.
Beim gemeinsamen Mittagessen und den ganzen Nachmittag verließ dieses eigenartige Gefühl Ludwig nicht. Er saß in der Bibliothek und las wenig aufmerksam in den Schriften des Hl. Augustinus, als seine Blicke auf einmal magisch von einer Textstelle angezogen wurden. Er las: „Die Toten sind nicht tot, sie sind nur nicht mehr sichtbar. Sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer.“ Immer wieder las Ludwig diese Zeilen: „ Die Toten sind nicht tot, sie sind nur nicht mehr sichtbar.“

Und auf einmal verstand er: Er sah sich in der Küche am Tisch sitzen, ihm gegenüber die sich aufbäumende Nele, die ihn anschrie, ihr zu helfen. Doch damals konnte er nichts tun, war wie gelähmt und verharrte reglos, bis alles vorüber war. Nele lag über den Tisch ausgestreckt in einer grotesken Verrenkung. Und erst da kam Ludwig zu Bewusstsein, dass Nele tot war. Wie im Fieber rief er Anne auf ihrem Handy an und berichtete ihr schluchzend ,was geschehen war, dass er der Freundin nicht hatte helfen können. Und kaum hatte er geendet, als er auch schon einen furchtbaren Knall hörte. Und eine Frau schrie, schrie, schrie, wie er noch nie jemanden hatte schreien hören.

Am folgenden Morgen fand Bernhard den Freund in seiner Zelle. Doktor Eisenhut war tot. In der rechten Hand hielt er einen wunderschönen, aber bereits verwelkten Aconitum napellus.

Impressum

Texte: Cover:wikicommons Foto: wikicommons
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Unserem Deutschlehrer W.G., der damals diesen tollen Kurs "Kreatives Schreiben" bei der Schulleitung durchgesetzt hat.

Nächste Seite
Seite 1 /