Im Nettetal, das vielen Menschen Erholung bietet und bevorzugtes Wandergebiet im Osnabrücker Land ist, liegt das beschauliche und mit einer Wallfahrtskirche gesegnete Dorf R***. Neben der Kirche, die für ihr Blutwunder aus dem 14. Jahrhundert im ganzen Landkreis bekannt ist, befindet sich die Quelle des Marienbrunnens, dessen Wasser früher als heilendes Wasser gegen Augenkrankheiten galt, denn der Legende nach soll ein blinder Schäfer einen Stock in der Erde gefunden haben. Als er ihn herauszog, sprudelte eine Quelle aus dem Loch. Der Schäfer goss nun ein wenig Quellwasser in seine Augen , und es gab ihm augenblicklich sein Augenlicht zurück. Heutzutage ist die Heilquelle wie es sich gehört mit einem Brunnenhäuschen versehen, und Wanderer, die sich ein wenig erholen möchten, finden bequeme Bänke in der Grünanlage vor besagtem Brunnenhäuschen.
Auf einer dieser Bänke saß eines Tages, es mag wohl schon viele Jahre her sein, an einem sonnigen Oktobertag ein freundlicher Mann, der entfernt Ähnlichkeit mit einem bekannten Filmschauspieler aus Hollywood hatte. Zu seinen Füßen lag ein wunderschöner Schäferhund, der liebevoll zu seinem Herren aufblickte. Als nun die Turmuhr der Wallfahrtskirche zu R*** die zwölfte Stunde schlug, griff der Mann in die Tasche seines abgetragenen, aber sauberen Dufflecoats und holte ein in Pergament gewickeltes dickes Schinkenbrot heraus, das er sofort genüsslich und in aller Ruhe zu verzehren begann, nicht ohne auch seinem treuen tierischen Gefährten den einen oder anderen Happen davon zukommen zu lassen. Nachdem so Herr und Hund ihren Hunger gestillt hatten, saßen beide noch eine Weile ruhig da und schauten in die sie umgebende friedvolle Landschaft. Etwa eine halbe Stunde später erhob sich der Mann und schlug den Weg in Richtung des Dorfausganges ein, seinen Hund mit einem leisen Pfiff an seine Seite rufend.
Dieses Geschehen wiederholte sich nun einige Tage lang in nämlicher Weise, und die Bewohner von R***, die beide zunächst als Ortsfremde misstrauisch beäugt hatten, gewöhnten sich mehr und mehr an ihren Anblick und wunderten sich schon bald nicht mehr über die unglaubliche Regelmäßigkeit des Rituals: Spätestens um elf Uhr vormittags saßen Herr und Hund auf ihrer Bank in der kleinen Anlage, aber noch bevor die Turmuhr ein Uhr geschlagen hatte, hatten sie das Dorf schon wieder verlassen, und keiner brachte heraus, wohin sie gegangen waren. Und niemals nahmen Herr und Hund etwas anderes als ihr dickes Schinkenbrot zu sich.
Die Begebenheit an sich wäre wohl bald in Vergessenheit geraten, wenn nicht nach etwa einem Monat zur allgemeinen Überraschung nur der Hund an seinem mittlerweile angestammten Platz in der Anlage gelegen hätte. Doch wie groß war die Verwunderung, als der Hund gegen halb ein Uhr aufstand und wie sonst sich auf den Weg aus dem Dorfe heraus machte. Dieses eigenartige Schauspiel wiederholte sich eine Woche lang, und die neugierigen Bewohner von R*** versuchten dem Hunde zu folgen und so in Erfahrung zu bringen, wohin er denn lief und was aus seinem Herrn geworden war. Doch alles Bemühen erwies sich als fruchtlos, der Hund war gewitzt genug, seine Verfolger jederzeit zu täuschen, und bald gaben sie ihr Unterfangen entmutigt auf.
Der Hund kam weiterhin täglich an die nämliche Stelle und man nahm seine Anwesenheit schon kaum mehr wahr, als eines Tages nun auch der Hund ausblieb. Man spekulierte sofort das Mögliche wie auch das Unmögliche, mutmaßte einen Unfall, gar ein Verbrechen, doch wie es so ist, nach ein paar Tagen war die Neuigkeit zur Gewohnheit geworden und keiner dachte mehr an den Hund, wie man auch schon den freundlichen Mann bereits vergessen hatte. Von beiden hat man in dieser Ecke des Osnabrücker Landes seitdem nie wieder etwas gesehen oder gehört.
Die Marienquelle aber sprudelt weiterhin und zieht Touristen wie Wallfahrer nach R***, im Nettetal, im Osnabrücker Land. Und das ist ja wohl auch die Hauptsache. Meinten die Bewohner von R*** und gingen ihren alltäglichen Geschäften nach. Dem Pfarrer von R*** jedoch ließ dieses Geheimnis keine Ruhe und er forschte in alten Chroniken, ja gar im Kirchenbuch. Und schließlich stieß er auf eine Eintragung, die ihn zutiefst erschütterte. Ein Fremder, den die Wirren des Ersten Weltkriegs ins Nettetal verschlagen hatten und der wie ein Einsiedler mit seinem treue Hund in einer Waldhütte gelebt hatte, wurde eines Tages gegen halb ein Uhr mittags erschlagen hinter der Marienkapelle aufgefunden. Der Hund saß neben seinem toten Herrn. Es waren eben der Mann und sein Hund, die gut 50 Jahre später wieder in R*** auftauchen sollten...
Texte: Foto von wikicommons, public domain
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2011
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