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Oh nein. Nicht schon wieder. Immer wieder schlug mein Vater auf mich ein. Das machte er mittlerweile so gut wie jeden Tag. An meinen Armen waren unzählige blaue Flecken. Es tat noch immer unglaublich weh. Papa war seit Mamas Tod sowieso total anders. Er machte mir Angst. Immer und immer wieder aufs Neue. Jetzt stand ich neben ihm in der Küche und ließ mich zum wiederholten Male von ihm verprügeln. Schon oft hatte ich mir überlegt von zu Hause abzuhauen. Auf der anderen Seite konnte ich Papa hier aber nicht alleine lassen. Wer weiß was er dann noch anstellen würde. Außerdem liebte ich ihn ja immer noch wie eine Tochter ihren Vater normalerweise liebte. Und das obwohl er mich so oft schlug. Morgen würde Anna, meine beste Freundin mich wieder sorgenvoll mustern. Sie wusste, dass Papa seit Mamas Tod gewalttätig gegenüber mir war. Sie verstand es genauso wenig wie ich und war inzwischen zu der Überzeugung gekommen mich irgendwie hier raus holen zu müssen. Nur wusste sie noch nicht wie.

Nachdem mein Vater nach weiß Gott wie vielen Schlägen endlich von mir abließ, drehte ich mich auf der Stelle um und verließ mit tränenden Augen das Haus. Ich ließ alles mit mir machen. Einfach nur so. Um ehrlich zu sein wusste ich nicht mal warum ich mich nicht gegen ihn wehrte. Jedes Mal aufs Neue, wenn ich das Haus verließ tränten meine Augen und ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich vermisste Mama. Dieser Verlust war größer als ich zu Anfang noch gedacht hatte. Auch heute schien der Schmerz des Verlustes wieder um einiges zugenommen zu haben. Immer noch weinend lief ich blindlings durch die verlassen wirkenden Straßen unseres Wohnblocks und ließ mich erst nach langer Zeit auf einem Baumstumpf im Park nieder. Die Leute, die hier waren musterten mich immer wieder und es gab auch Tage an denen sie zu mir kamen und mich fragten ob es mir gut ging und ob sie mir irgendwie helfen könnten. Jedes Mal gab ich dieselben Antworten. „Mir geht’s gut. Nein. Niemand kann mir helfen. Ich muss selber damit fertig werden.“ Ein ums andere Mal musterten mich die Leute sorgenvoller als zuvor. Doch unternahmen sie nichts. Allerdings war ich noch immer der Meinung den Horror zu Hause alleine durchstehen zu müssen. Es war die Strafe, die ich mir selbst gesetzt hatte. Und von der ich keine Ahnung hatte, wann ich sie als abgesessen betrachten würde. Ja, meine Strafe auf mein Verhalten kurz vor dem Tod meiner Mutter. Wir hatten uns gestritten. Aber es war anders gewesen. Heftiger als sonst. Das letzte was ich dann zu ihr gesagt hab war, dass ich sie nie wieder sehen wollte, sie nicht vermissen würde und dass sie nicht mehr meine Mutter seie. Daraufhin hatte sie sowohl weinend als auch fluchtartig das Haus verlassen und einen Unfall gebaut. Sie war frontal mit einem LKW zusammengestoßen und hatte keine Chance mehr gehabt. Ich machte mir unglaubliche Vorwürfe, hatte das Gefühl für all das Schuld zu sein. Dabei hatte der Fahrer des LKW die Kontrolle verloren und auf der Gegenspur gelandet als meine Mutter mit dem Auto angefahren kam. So hatte es der Sanitäter mir erzählt. Tag täglich wurde ich an ihren Verlust erinnert und kam auch nach Monaten noch nicht damit klar. Nachts weinte ich oft genug. Doch niemand bekam es mit. Papa war abends ja immer weg. Weiß Gott wo er immer hinging. Es interessierte mich auch nicht weiter. Ich war an all dem ja schuld.
Auch jetzt saß ich wieder hier auf meinem Baumstumpf und starrte weinend ins Leere. Mein Magen krampfte sich zusammen. Schon seit zwei Tagen hatte ich nichts festes mehr zu mir genommen. Ich bekam es einfach nicht mehr runter. Zu groß war der Verlust von Mama. Die Tränen rannen an meinen Wangen hinunter. Benetzten meinen Hals und tropften auf mein T-Shirt auf dem sich eine Träne neben der anderen sammelte. Stunden saß ich hier allein und von der Außenwelt abgeschnitten. Wie jeden Nachmittag. Morgens war das anders. Da war ich unter Leuten. Meine Freunde waren um mich herum und ich konnte den Schmerz verdrängen und glücklich sein. Im Unterricht fiel es mir aus dem Grund auch nicht schwer aufzupassen und meine Noten waren nicht in den Keller gerutscht. Wenn ich dann nachmittags wieder zu Hause war kam der Verlust mit Wucht zurück. Schläge waren an der Tagesordnung und nur wenn mein Vater nicht da war wurde ich von ihnen verschont. Papa war ja oft jeden zweiten Tag weg. Mein Glück, wie manch einer behauptete.
Als nach ein paar weiteren Monaten ein Neuer in unserer Klasse auftauchte meinte ich die Strafe endlich abgesessen zu haben. Immer wenn ich ihn ansah, unseren Neuen, ging es mir besser. Auch er ließ seine Blicke auf mir ruhen. Das spürte ich. Zudem hatte ich ihn oft genug dabei erwischt, wie er mich musterte. Er sah dann immer schnell weg und war aber nicht schnell genug. Auch Anna sagte mir das er mich oft ansah. Hatte ich endlich die Chance wieder richtig zu leben? Ohne Schläge? Hatte ich meine Strafe abgesessen? Doch konnte ich mir diese Fragen nicht selbst beantworten. Ich konnte nur sagen, dass sich etwas in mir verändert hatte. Als ich eines Tages nach der Schule von ihm aufgehalten wurde schien wirklich alles besser. Er hatte mich bei der Hand genommen und mich mit zu sich genommen. Wir hatten gemeinsam gegessen und gelacht. Den ganzen Tag war ich entspannt gewesen und konnte alles schmerzliche vergessen. Wir saßen nebeneinander auf seinem Bett, hörten Musik und redeten. Wir sprachen über Gott und die Welt. Eigentlich waren es unwichtige Dinge über die wir sprachen und doch erschien es uns unglaublich wichtig so etwas loszuwerden. Stundenlang hatten wir dagesessen, uns in die Augen gesehen. Dann ging alles ganz schnell. Wir näherten uns einander an, blickten uns immer noch in die Augen, schlossen sie dann und unsere Lippen berührten sich. Es war ein wunderbares Gefühl. Lange saßen wir da und küssten uns. Erst nach ein paar Minuten ließen wir von einander ab und sahen uns wieder an. Beide atmeten wir schnell und lächelten. Es wird alles gut, dachte ich und ließ mich innerlich fallen. Jan, so hieß er, sah mich immer noch an, nahm dann meine Hand in seine und forderte mich auf mit ihm raus zu gehen.
Hand in Hand schlenderten wir durch die Straßen und blieben hier und da mal stehen um uns irgendwas anzusehen. Mal waren es Leute mal war es irgendwas anderes. Ich war echt glücklich. Auch die Leute, die ich zwischendurch mal traf und die mich kannten, musterten mich nicht mehr ganz so sorgenvoll. Auch die Schläge wurden weniger, weil ich nicht mehr so oft zu Hause war. Anna und Jan waren für mich da und auch meine anderen Freunde. Sie alle waren froh, dass ich nicht mehr ganz so übersät war mit blauen Flecken. Nur Jan wusste nichts von meiner Situation zu Hause. Ihm gegenüber hatte ich es verschwiegen. Ich sagte ihm immer nur ich hätte mich gestoßen oder sonst was. Ob er es mir glaubte wusste ich nicht. Die Wahrheit wollte mir auf seltsame Art und Weise nicht über die Lippen. Irgendetwas hielt mich davon ab ihm davon zu erzählen. Vielleicht ließ das Gefühl irgendwann nach und ich könnte es ihm erzählen. Es fiel mir schwer ihn wieder und wieder anzulügen. Und doch schien er mir immer wieder zu glauben. Wirklich erleichtert war ich darüber aber nicht. Ich hasste es einfach zu lügen. Schon seit ich klein war hatte ich Lügen so oft es ging vermieden. Aber das war jetzt nebensächlich. Zumindest im Moment. Denn es zählte einfach nur, dass ich endlich auf dem Weg war glücklich zu sein. Auch die Lehrer sahen es gerne, wenn ich lächelte, sie wussten aber weniger, was bei mir zu Hause los war. Sie dachten immer nur, dass ich immer noch um Mama trauerte. Sie wussten nicht, dass Papa mich schlug. Das einzige was ihnen aufgefallen war, war das mein Lächeln verschwunden und jetzt wieder da war. Nach einem Monat hatte ich kaum blaue Flecken. Ich war so oft es ging bei Jan oder bei Anna. Je nachdem. Nur manchmal war ich nachmittags zu Hause. So war auch die Möglichkeit geschlagen zu werden weniger geworden. Jan und ich waren glücklich miteinander und waren jede freie Minute zusammen. Nur wenn er was vor hatte oder wenn ich bei Anna war, waren wir nicht zusammen. Mein Leben lief in geregelten Bahnen. Auch mein Geburtstag war nicht mehr weit. Schon in wenigen Wochen würde ich siebzehn werden. Ich freute mich auf den Tag. Auch wenn es der erste Geburtstag sein würde, an dem meine Mutter nicht dabei sein würde. Sie würde mir keinen Kuchen backen und Schokomuffins backen. Abends dachte ich oft an sie. Doch war es da durch, dass ich endlich die Chance ergriffen hatte, glücklich zu sein nicht mehr ganz so schmerzlich. Sie fehlte mir und ich machte mir immer noch Vorwürfe. Jan, dem ich von dem Unfall meiner Ma erzählt hatte und Anne wiesen meine Selbstvorwürfe jedes Mal zurück und beruhigten mich, wenn ich wieder eine Phase hatte, in der mich etwas stark an meine Mutter erinnerte. Sie waren einfach immer für mich da, die beiden. Ihre Eltern waren auch immer sehr nett zu mir und es machte ihnen nichts aus täglich bei ihnen zu essen. Mal bei dem einen, mal bei dem anderen. Hauptsache war, dass ich abgelenkt war und mich auf meinen bevorstehenden Geburtstag freute. Blieb nur noch die Sache mit meinen anderen Verwandten. Ich musste die ja einladen. Wie jedes Jahr. Also suchte ich abends, als mein Vater weg war, mit Jan die Adressen raus oder rief sie an. Ich lud sie zu mir nach Hause ein und hoffte, dass mein Vater mich an meinem Tag nicht so erniedrigen würde. Auch Jan hoffte das und drückte mich an sich. Meinen Kopf ließ ich auf seine Schulter fallen und schmiegte mich an ihn. So saßen wir da. Seine Hand wanderte unter mein Kinn hob meinen Kopf an und seine Lippen legten sich weich und liebevoll auf meine. Ich genoss es mit ihm. Er gab mir den Halt und die Kraft, die ich brauchte.
Als der Tag meines Geburtstags endlich gekommen war gingen Anna, Jan und ich nach der Schule zu mir und bereiteten das Essen vor, das es heute Nachmittag, wenn meine Cousinen, Tanten, Onkels und meine Oma da waren, geben würde. Wir backten Kuchen, Schokomuffins und bereiteten eine Lasagne vor, die wir nachher nur noch in den Backofen schieben mussten. Jan und Anna würden den ganzen Tag bei mir bleiben. Als meine Familie nach und nach eintrudelte, wurde ich mit Geschenken und Umarmungen überschüttet und wies jeden einzelnen von ihnen ins Esszimmer. Als alle außer Papa da waren, setzten auch Anna, Jan und ich uns an den Tisch. Von den beiden hatte ich wunderschöne Dinge bekommen. Von Anna ein Fotoalbum mit gemeinsamen Fotos von Anna und mir. Von Jan hatte ich eine „Ich-liebe-dich“-Tasse und einen kleinen Ring bekommen. Meine Cousinen waren immer noch so wie früher wie Schwestern für mich. Es war wunderschön. Auch mein Vater, der sich später dazugesellte und mit uns gemeinsam aß, schien gut gelaunt zu sein. Ein bisschen überrascht war ich schon. Aber ich war froh darüber. Besser hätte es gar nicht laufen können. Auch Jan und Anna waren guter Dinge und bedienten gemeinsam mit mir die Gäste. Erst als es langsam Abend wurde wurde es von dem einen Moment auf den anderen ungemütlich. Das Gespräch war auf meine Mutter gekommen und sofort war die gute Laune von Papa in schlechte umgeschlagen. Ich ahnte was kommen würde und konnte es doch nicht verhindern. Ich konnte doch nicht auf meinem eigenen Geburtstag verschwinden. Anna und Jan spürten meine aufkeimende Angst und versuchten mich zu beruhigen. Doch es wurde schlimmer als erwartet. Denn Papa erzählte allen die da waren, was damals vor dem Unfall von Mama passiert war. Auch meine letzten Worte warf er ein. Meine Familie sah von ihm zu mir und wieder zurück. Stille setzte ein. Keiner sagte ein Wort. Auch Jan sah mich überrascht an und strich mir dann beruhigend über den Rücken. „Du kannst doch nichts dafür, dass deine Mutter danach einen Unfall hatte.“ , flüsterte er mir ins Ohr. Und er meinte es aufrichtig. Das hörte ich. Er gab nicht mir die Schuld. Genauso wenig wie Anna und ihre Eltern. Ich war erleichtert, dass er mir nicht die Schuld gab und dennoch war ich aus meiner Sicht schuldig an ihrem Unfall. Auch meine Familie gab nicht mir die Schuld. Sie alle gaben dem LKW-Fahrer die Schuld. Weil es Situationen gibt, in denen Kinder so etwas zu ihren Eltern sagen. Auch sie kamen auf mich zu und nahmen mich in den Arm. Sie beruhigten mich. Doch meinem Vater war das alles anscheinend zu viel und er entriss mich ihren Armen. Er schlug mich des öfteren vor aller Augen. „Lass sie in Ruhe!“, schrie jetzt meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Sie hat mit dem Unfall nichts zu tun. Ich wehrte mich nicht gegen meinen Vater. Wie immer. Ich ließ es scheinbar kalt an mir vorübergehen. Doch innerlich war ich wieder aufgewühlt. Verletzlich. Es zerbrach etwas und dann begannen die Tränen zu rollen. Als mein Vater mir dann ins Gesicht schlug verlor ich das Bewusstsein. Ich hörte nur noch wie Jan leise flüsterte: „Daher rühren also die blauen Flecken.“ Anna nickte und sah ihn an. Dann war ich weg.
Erst Stunden später erwachte ich in einem Bett. An meiner Seite saßen Jan, Anna und meine Familie. Mein Vater saß in der Ecke am Tisch vor dem Fenster und starrte hinaus. Ihn beachtete ich nicht. Ich sah mich nur um. Meine Großfamilie war um mich herum versammelt. Meine Tante Kathi strich über meinen Kopf.
„Wieso hast du uns nicht gesagt, dass Mark dich schlägt?“
„Ich konnte nicht.“,flüsterte ich sowohl in ihre Richtung, wie auch in Jans. Er sah mich an und nickte. Dann drückte er mir einen Kuss auf die Wange.
„Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“, flüsterte ich zurück.
„Bist du mir böse?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
Er schüttelte nur mit dem Kopf und blieb an meiner Seite sitzen.
„Es tut mir leid.“, es kam leise vom Tisch am Fenster.
Ich hörte es trotzdem. Verzeihen konnte ich ihm nicht. Er hatte mich zu sehr verletzt. Mich gedemütigt vor der ganzen Familie, meiner Freundin und meinem Freund. Das war zu viel gewesen.
„Glaubst du im Ernst ich kann dir verzeihen?“
Keine Reaktion. Erst nach einiger Zeit schüttelte er langsam den Kopf. Hatte Tante Kathi ihm den Kopf gewaschen? Wieso war er plötzlich so komisch? Ich wollte es auf der einen Seite wissen, weil er mein Vater war. Auf der anderen Seite aber nicht, weil er mich so verletzt hatte. Er war nicht mehr das für mich was er einst gewesen war.
Tante Kathi stand immer noch neben dem Bett und sah ihren Schwager kopfschüttelnd an. „Wie konntest du nur? Sie ist deine Tochter.“
Schulterzuckend sah mein Vater entschuldigend in meine Richtung. Doch konnte ich ihm vertrauen? Würde er mich wieder schlagen, wenn alle weg waren? Ich war mir nicht sicher.
Jan und Anna drückten meine Hände und hielten mich. Sie alle waren für mich da und dachten nicht, dass ich schuldig war an Mamas Tod.
„Ich nehme sie die nächste Zeit erst mal zu mir.“, sagte Kathi und sah Papa an. Dieser nickte nur.
„Ich will sicher gehen, dass du sie nicht noch einmal schlägst. Sie ist nicht schuld am Tod meiner Schwester. Das ist allein die Schuld des LKW-Fahrers. Und das weißt du.“
Papa nickte wieder nur und starrte wieder aus dem Fenster.
„Geht es wieder?“, fragte mich Kathrin meine große Cousine und sah mich besorgt an. Ich nickte und stand dann langsam aus dem Bett auf. Kathrin und die anderen drückten mich kurz und dann ging ich immer noch leicht benommen mit Anna und Jan, die beide einen Arm um mich gelegt hatten, und den anderen gemeinsam ohne Papa nach unten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für meine Freunde, die immer aber auch immer wenn ich sie brauche für mich da sind.. :)

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