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Schon lange saß ich hier oben auf der Fensterbank meines geöffneten Fensters. Unbeirrt schaute ich minutenlang in den Himmel und lauschte der Musik, die aus meiner Stereoanlage drang. Leise summte ich die Melodien mit. Lächelnd beobachtete ich auch ab und zu das wenige Treiben auf der Straße vor unserem Haus. Nur manchmal konnte ich auch einen Blick auf einen unserer Nachbarn oder einen Spaziergänger erhaschen.
Als ich nach einer Stunde meinen Lieblingsplatz verließ, lief ich hinunter und goss mir ein Glas voll Wasser. Nachdenklich leerte ich es und bekam dann den Auftrag Obst und Gemüse zu kaufen. Ich sollte also zum Markt fahren. „Kein Problem, mach ich eben.“, lächelte ich. Mir war schon vor ein paar Tagen aufgefallen, dass Mama mich mit Aufträgen nur so bombardierte. Warum auch immer. Ich konnte es mir nicht erklären.
Ohne zu zögern lief ich zum Schuppen und holte mein Fahrrad. Geld hatte Mama mir mitgegeben. Eine Minute später war ich auch schon auf dem Weg zum Markt. Dort angekommen, stellte ich das Rad in einen Ständer und schloss es ab. Dann holte ich das was mir gesagt worden war. Gurken, Zucchini, Tomaten, Brokkoli, einen Eisbergsalat, Äpfel und ein paar Nektarinen. Schon hatte ich alles. Es waren nur ein paar Minuten vergangen. Ich bezahlte und erhielt mein Rückgeld. Dann drehte ich mich um und stieß frontal mit jemandem zusammen. Erschrocken ließ ich die Tüte mit den Äpfeln fallen. 20 Äpfel rollten nun über die Straße auf der der Markt immer stattfand.
„Entsch...“ Weiter kam ich nicht. Der Rest des Wortes blieb mir im Hals stecken. Vor mir stand ein Junge meines Alters. Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht schoss. „Nichts passiert.“, grinste er und sah mich an. Ich senkte den Kopf, denn ich wusste dass mein Kopf verflucht schnell verdammt rot angelaufen war. Immer noch grinsend bückte er sich und fing an meine Äpfel einzusammeln. Auch ich sank in die Knie und begann einen Apfel nach dem anderen in zurück in die Tüte zu packen. Bei dem dritten oder vierten Apfel, zu dem ich griff, berührten sich unsere Hände. Ein Zucken durchlief meinen Körper. Ich sah ihn überrascht an. Hatte er es auch gespürt? Als ich ihn ansah, lächelte er aber nur und sammelte dann weiter. Nach kurzem Zögern tat ich es ihm nach. Auch beim letzten Apfel berührten sich unsere Hände wieder. Ein angenehmer, prickelnder Schauer lief mir über den Rücken. Als wir jetzt wieder aufstanden, bekamen wir beide keinen Ton heraus. Beide waren wir anscheinend viel zu schüchtern. Wir sahen uns einfach nur an und ich hatte das Gefühl als wenn er das vorhin auch gespürt hätte. Ohne irgendetwas zu sagen, reichten wir uns gegenseitig unsere Handys. Beide gaben wir unsere Namen und Handynummern ein und speicherten. Dann gaben wir es dem jeweils anderen zurück.
Wir schwiegen noch immer und sahen uns an. Es schien als würde er in meine Seele schauen. Ich versank förmlich in seinen wunderschönen blauen Augen. Ich denke wir waren uns in einem sicher. Wir wollten uns wiedersehen.
Als ich merkte, dass ich schon viel zu lange weg war, war es mir unmöglich auch nur ein Wort zu sagen. Er musste mich echt für einen Trottel halten, dachte ich und schaute ihm immer noch in die wunderschönen Augen. Wenn ich ehrlich war, wollte ich nie mehr hier weg. Ich wollte einfach bei ihm bleiben. Doch das schien unmöglich. Auch er schien es zu merken und brachte schließlich doch etwas heraus: „Ich...ich muss weg.“ Seine Stimme klang traurig. Er senkte die Augen bei diesen Worten und küsste mich dann auf die Wange. Noch ehe ich etwas erwidern konnte war er schon zwischen den Ständen verschwunden. Überrascht von seinem Kuss, fuhr ich mit der Hand an eben diese Stelle. Sie prickelte noch immer. Ich schaute ihm nach obwohl ich ihn schon längst nicht mehr sehen konnte. Er war einfach überwältigend gewesen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich seinen Namen ja gar nicht kannte. In dem Moment war ich wohl so überfordert gewesen, dass ich nicht an mein Handy dachte. Er hatte ja seinen Namen eintippen müssen. Jetzt steckte es in meiner Hosentasche.
Ohne zu wissen wie, hatte ich es später irgendwann geschafft mit dem Rad nach Hause zu fahren. Ich lieferte die gewünschten Sachen ab und achtete nicht auf den fragenden Blick meiner Mutter. Ich verzog mich wieder nach oben an mein Fenster und dachte nach. So etwas wie vorhin war mir noch nie passiert. Was mache ich jetzt? , fragte ich mich und sah hinaus. Erst da fiel mir mein Handy wieder ein. Ich fischte es aus meiner Hosentasche und fuhr solange im Telefonbuch nach unten, bis ich auf einen unbekannten Namen stieß. Marlon hieß er also. Unbewusst ließ ich mir seinen Namen auf der Zunge zergehen. Was machte ich hier eigentlich, fragte ich mich, als ich merkte, wie oft ich seinen Namen vor mich hingesprochen hatte. Ich war doch nicht in ihn verknallt.
Den Rest des Tages blieb ich oben in meinem Zimmer. Ich hatte mir ein Buch aus dem Regal geholt und mich in mein Fenster gesetzt. Das jetzt genau das Richtige. Fehlte nur noch der Schoko-Cappuccino. Aber ich war zu faul um nach unten zu laufen und mir ein zu machen.
Ich las so lange, bis die Sonne untergegangen war. Ohne noch einmal unten vorbeizuschauen, machte ich mich später bettfertig und legte mich hin.
Solange ich auch versuchte einzuschlafen, sah ich seine wunderschönen blauen Augen vor mir. Erst nach einiger Zeit in der ich versuchte den Gedanken an ihn zu verscheuchen, schlief ich ein.
Am nächsten Morgen wachte ich schon ziemlich früh auf. In Rekordgeschwindigkeit machte ich mich fertig. Schon zehn Minuten später war ich im Schuppen und schob mein Fahrrad auf die Einfahrt. Nach wenigen Minuten stand ich dann auch schon beim Bäcker und holte Brötchen. Ich wollte meine Familie nach langer Zeit mal wieder überraschen. Als ich kurze Zeit später wieder zu Hause war, deckte ich liebevoll den Tisch und holte die Zeitung rein. Dann weckte ich Mama und Papa. Nachdem die beiden jetzt wach waren, musste ich nur noch nach oben und meine kleine Schwester aus dem Schlaf rütteln. Bei dem Gedanken daran musste ich grinsen.
In der Zeit in der sich die drei anzogen, kochte ich schon mal Eier und Kaffee. Beides war zum Glück fertig als die Familie am Tisch saß. Ich goss Kaffee in die Tassen meiner Eltern und verteilte dann die Eier auf die vier Eierbecher. Es war herrlich. Das einzige was mich störte waren die fragenden und abschätzenden Blicke meiner Eltern. Sie nervten. Jetzt wo ich sie so beobachtete fiel auch mir auf, dass es schon verdammt lange her war, seit ich das letzte Mal morgens für sie aufgestanden war und alles fertig gemacht hatte. Glaubten sie deshalb jetzt, ich hätte etwas auf dem Herzen? Vielleicht. Ich war mir meiner Sacher nicht sicher.
Keiner sagte etwas. Damit die Stille nicht zu drückend wurde, durchbrach sie meine kleine Schwester in dem sie wie an jedem Tag von ihrer Klasse erzählte. Mama und Papa hörten ihr interessiert zu. Doch ich hörte nicht auf ihr Geschwafel und dachte stattdessen an Marlon.
Irgendetwas an ihm verzauberte mich. Seine Augen waren mir wie ins Gedächtnis gebrannt. Wie von selbst schwirrten meine Gedanken immer wieder zu ihm. Ich wusste nicht, wie sie kamen und wie ich es ändern sollte. Sie kamen automatisch. Auch wenn ich ihn gestern das erste Mal gesehen hatte, verspürte ich doch den Wunsch und das Verlangen ihn zu sehen. Unbedingt. Ich wolle ihm wieder eine SMS schreiben und fischte mein Handy wieder aus der Hosentasche. Langsam fing ich an zu tippen. Wieder wusste ich nicht was ich ihm schreiben sollte und verwarf sie so nach ein paar Minuten wieder. Ich war mir sicher, dass er mich auch wiedersehen wollte. Vielleicht hatte er ja auch dasselbe Problem wie ich, indem er einfach nicht wusste, was er schreiben sollte.
Ob ich warten sollte bis er mir das erste mal simst? Hatte es etwas mit Stolz zu tun, dass ich innerlich wollte, dass er der erste war, der mir eine schrieb? Solange ich auch überlegte, kam ich nicht mal in die Nähe einer sinnvollen Antwort.
Es nützte alles nichts. Ich nahm mir vor, so lange zu warten, bis er eine schrieb und dem Drang ihm eine zu schreiben möglichst nicht nachzugeben.
Als ich nach dem Frühstück noch immer mit meinem Handy beschäftigt war, schauten meine Eltern mich argwöhnisch an. Das kannten sie von mir nicht. Sie wussten ja auch nicht, weshalb ich mein Handy immer wieder aus der Hosentasche fischte, auf das Display schaute und wenig später wieder wegsteckte oder auf den Tisch legte. Klar könnten sie etwas vermuten. Aber selbst da würden sie sich nicht sicher sein. Ich erinnerte mich noch deutlich an ihre Mienen, wie sie vor ein paar Jahren erfahren hatten, dass ich einen Freund hatte. Sie glichen denen, die sie jetzt auf dem Gesicht hatten. Nachdem wir wenig später den Tisch zusammen abgedeckt hatten, verzog ich mich wieder auf mein Zimmer. Diesmal setzte ich mich aber nicht ans Fenster, sondern ließ mich auf mein Bett sinken. Ein paar Stunden später machte ich mich dann auch schon wieder fertig. Tanja wollte schließlich um zwei Uhr kommen und mich zum Shoppen abholen.
Die Zeit in der wir durch die Läden wanderten und immer wieder Klamotten anprobierten und sie anschließend wieder weglegten oder kauften, dachte ich nicht an ihn. Erst als wir nach ein paar Stunden in der Eisdiele saßen, wanderten meine Gedanken von selbst wieder zu ihm hin. Sie schien zu merken, dass etwas anders war. Also musste ich ihr ob ich wollte oder nicht die Story erzählen. Als ich geendet hatte machte sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht breit. „ Hast du auch endlich mal Glück. Wir haben alle schon sehnsüchtig darauf gewartet, dass dir auch mal jemand über den Weg läuft..“ Ich sah sie überrascht an. Ein Geheimnis von dem ich noch nichts gehört hatte und das mich selber betraf. Sie hatten sich also über mich und mein Pech unterhalten. Meine besten Freundinnen hatten die ganze Zeit über gehofft, dass es mich eines Tages auch mal treffen würde. Sie hatten mich die ganze Zeit über beobachtet, erzählte Tanja und schmunzelte bei dem Gedanken daran.
Wieder musste ich an ihn denken und es war mir unmöglich Tanja noch weiter zuzuhören. Sie wusste genauso wie ich, dass ich noch nicht so erfahren war wie sie und die anderen.
Was das wohl gab mit Marlon und mir? Würde ich ihn irgendwann in nächster Zeit wiedersehen? All solche Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Und alle waren unwiederbringlich mit ihm verbunden.
Viele, die mich kannten, konnten nicht glauben, dass ich mit siebzehn Jahren noch so gut wie unerfahren war, wenn man von Leon absah, mit dem ich vor ein paar Jahren mal zusammen war. Ja, ich war noch Jungfrau. Aber das machte mir nichts. Jungen und Sex waren schließlich nicht alles im Leben. Es gab auch noch andere wichtige Dinge.
Außerdem war das Interesse an mir wahrscheinlich sehr gering. Das lag an meiner Figur, wie ich glaubte. Ich war kräftiger gebaut als andere. Aber das beschäftigte mich im Moment herzlich wenig. Ich dachte durchgehend an Marlon und ich fragte mich, ob er genauso oft an mich dachte, wie ich an ihn. Tanja merkte offenbar, dass ich an ihn dachte. „Schreib ihm doch ne SMS.“ Ich schüttelte nur den Kopf. Das brachte ich nicht über mich. Alles was ich ihm bisher schreiben wollte hörte sich verrückt an. Außerdem wusste ich ja nicht mal was ich ihm genau schreiben wollte. Tanja kannte mich um einige Jahre länger als die anderen aus unserer Clique. Sie wusste, dass ich vorhin nur mit halbem Ohr zugehört hatte, wenn sie etwas erzählt hatte. „Lass mich raten. Du weißt nicht, was du ihm schreiben sollst.“, durchbrach sie wieder meine Gedanken. Wieder nickte ich. Sie kannte mich einfach viel zu gut. Tanja war es so oft möglich gewesen meine Gedanken zu erraten. Mittlerweile schien sie wohl zu wissen, wie ich dachte.
Nachdem unser Eis serviert wurde, schwiegen wir eine Weile und löffelten langsam unsere Schalen leer. Erst dann versuchte sie mir Tipps zu geben, was ich ihm schreiben konnte und vor allem wie ich es schreiben konnte. Ich war immer noch so ratlos wie vorher, dachte ich, als sie geendet hatte. All diese Möglichkeiten war ich ja auch schon durchgegangen. Sie hatte es wenigstens versucht. Wozu waren denn beste Freundinnen da? Tanja schien genau zu wissen wie ich mich fühlte. „Du kannst es natürlich auch bleiben lassen, ihm eine SMS zu schreiben.“ Das war wohl die beste Möglichkeit von allen. Doch es war schwer dem Drang mit ihm zu kommunizieren zu wiederstehen.
Als ich abends wieder zu Hause war, ging ich sofort hinauf in mein Zimmer und setzte mich auf meinen Lieblingsplatz.
Dir Sonne war schon untergegangen, als wir mit dem Bus aus der Stadt rausgefahren waren. Es war also dunkel draußen. Genauso wie in meinem Zimmer. Das Licht hatte ich ausgemacht, damit ich die Sterne am Himmelszelt sehen konnte, ohne dass mich das künstliche Zimmerlicht störte.
Es war eine sternenklare Nacht heute. Keine Wolke war am Himmel.
Schon wieder musste ich an ihn denken. Vielleicht sah er ja auch gerade in die Sterne. Die Vorstellung gefiel mir. Ich holte mir ein Kissen aus dem Bett, setzte mich wieder auf die Fensterbank und steckte das Kissen hinter meinen Rücken. Seufzend ließ ich mich zurücksinken. Mit einem Kissen im Rücken, war es doch gleich viel angenehmer.
Immer wieder schaute ich auf mein Handy und versuchte es dann nach einiger Zeit noch mal ihm eine SMS zu schreiben. Ich hatte sie so gut wie fertig getippt, da fiel mir ein, wie schwachsinnig, sie doch klang. Also verwarf ich sie wieder. Ich weiß gar nicht, wie viele Versuche ich mittlerweile schon gestartet hatte. Und es war mir egal wie hoch die Zahl war. Ich hoffte einfach nur, dass ich irgendwann eine von ihm bekam. Schon seit gestern hatte ich das Gefühl Marlon schon länger zu kennen als gerade mal 24 Stunden oder auch etwas mehr. Vielleicht waren wir ja auf derselben Wellenlänge oder so.
Selbst wenn ich ihn erst seit gestern kannte hatte ich zudem auch noch das Gefühl, dass da mehr war zwischen mir und ihm. Er ließ sich ja auch nicht mehr aus meinen Gedanken streichen. Es war mir fast unmöglich mal nicht an ihn denken zu müssen. Es war für mich ein vollkommen neues Gefühl. Jetzt wo ich so daran dachte ihn wiedersehen zu wollen, fiel mir meine Schüchternheit wieder ein. Sie trat immer dann hervor, wenn ich jemanden Neues kennen lernte. Marlon und ich kannten uns ja nur flüchtig. Was wäre denn, wenn ich beim nächsten Treffen wieder so schüchtern war? Ich war nicht der Mensch, der auf andere zugehen konnte. Ich war immer zu schüchtern und hielt mich zurück. Wenn ich ehrlich war hatte ich Angst vor seiner Reaktion auf mein Verhalten. Aber wer weiß. Vielleicht wird es gegenüber ihm genau anders. Vielleicht bin ich ja gar nicht so schüchtern wie sonst immer. Ich versuchte optimistisch zu sein. Doch immer wieder beschatteten diese Ängste meine Gedanken und so wechselte es ständig. Mal sah ich es so, dass ich so normal war, wie auch gegenüber Tanja und den anderen. Mal sah ich es genau im Gegenteil. Zurückhaltend, wie wenn ich irgendwo neu war. Wer weiß, versuchte ich mich selber abzulenken und an etwas anderes zu denken. Wieder misslang es, wie immer wenn ich an Marlon und im Moment an das nächste Treffen dachte. So oft ich es auch versuchte. Immer wieder fragte ich mich wo er gerade war und was er wohl dachte. Die Fragen würde ich wohl nie beantwortet bekommen, dachte ich bekümmert.
„Lena, Telefon!“ , rief mein Vater im nächsten Moment.
„Ich komme ja schon.“ Ich hopste vom Fensterbrett und warf das Kissen zurück ins Bett. Dann lief ich die Treppe hinunter. Ich hatte das Telefon gar nicht gehört. War es womöglich wieder einer dieser Tricks, damit wir runterkamen? Bevor ich die Tür zur Küche geöffnet hatte, wusste ich schon, dass es wieder nur ein Trick gewesen war. Sie hatten mich die Treppe herunterpoltern gehört. Das einzige was ich mitbekam kurz bevor ich in die Küche ging war, das Papa Mama stolz erzählte, dass es doch immer wieder klappte uns so aus unseren Zimmern zu locken. Das Schlimmste war, dass er Recht damit hatte. Es funktionierte echt immer wieder. Karina und ich waren laut ihrer Meinung echt versessen auf das Telefon. Ob das wirklich stimmte, wagte ich zu bezweifeln. Aber seine List funktionierte doch immer wieder. Nachdem ich diese Worte von Papa vernommen hatte, stapfte ich wütend die Treppe wieder nach oben. Ich stampfte. Wie ein Elefant. Dann schlug ich meine Zimmertür zu, holte mir mein Kissen wieder und setzte mich zurück an meinen Lieblingsplatz. Erst jetzt lauschte ich auf Geräusche. Ich musste auch gar nicht lange warten, da hörte ich Papa oder Mama die Treppe hochkommen. Meine zugeschlagene Tür wurde aufgestoßen. Mama kam lachend, aber mit sorgenvoller Miene, zu mir ans Fenster. Die Sorgen, die sie sich machte, standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich wusste, dass ich es war um die sie sich sorgte. Ich geb ja zu, dass es auffällig war, dass ich mich in den letzten zwei Tagen von meiner Familie zurückgezogen hatte. Das fiel mir aber auch jetzt erst auf. Mama legte mir jetzt eine Hand auf die Schulter und sah mir tief in die Augen. „Lena, was ist los mit dir? Du bist doch sonst nicht so.“ Die sorgenvolle Stimme meiner Mutter machte mir Angst. Viel zu oft hatte ich sie schon weinen gehört. Immer war es um uns Kinder gegangen. „Nichts, Mama, ehrlich.“ Was anderes brachte ich nicht raus. Es war ja eigentlich auch völlig nebensächlich, warum ich mich so zurückzog. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Und dabei wollte ich alleine sein. War es wirklich wichtig ihr zu erzählen, warum ich mich so gegenüber ihnen verhielt und nur zum Essen runterkam? Irgendwie tat sie mir auch leid. Und dennoch. Ich wusste nicht, ob ich ihr von meiner Begegnung mit Marlon erzählen sollte, denn noch war da ja nichts. Andererseits konnte ich es nicht haben, wenn Mama so traurig aussah. Ich konnte sie ja auch verstehen. Ich wusste auch, dass sie es mir nie abnahm, wenn ich versuchte um die Wahrheit herum zu kommen. Sonst verhielt ich mich ja auch anders. Das weiß ich auch. Ein verletzter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. „Lena....“ „Ich weiß, dass ich immer zu dir kommen kann.” , versuchte ich sie mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Es ist nichts schlimmes. Ehrlich.“ Das war ja nicht ganz falsch. Aber es hatte seinen Zweck erfüllt sie schien sich zu beruhigen. Als sie mir wieder in die Augen sah und ich ihre Sorgen in ihnen las, brach bei mir ein unsichtbarer Damm. Vielleicht war es ja wirklich besser so, dachte ich und erzählte ihr alles.
Als ich geendet hatte, schauten wir beide schweigend in den Himmel. „Es ist was völlig anderes, als mit Leo damals. Es fühlt sich anders an.“ Mama nickte nur und wir sahen uns an. Es war eigentlich immer schon so gewesen, dass ich Mama alles erzählt hatte.
Erst nach einiger Zeit fing sie an mir zu erzählen, dass sie sich damals bei Papa genauso gefühlt hatte. Bloß mit dem Unterschied, dass es damals eine solche Kommunikation, wie es sie heute gab, noch nicht gegeben hatte. Sie wusste genauso wenig wie ich, ob ich Marlon schreiben sollte oder nicht. Sie überließ diese Entscheidung mir allein.
Als sie nach dem Gespräch wieder nach unten gegangen war, saß ich noch lange am Fenster. Ich überlegte wieder mal was ich ihm schreiben konnte und wurde jäh aus den Gedanken gerissen, als mein Handy in meiner Hand vibrierte. Eine SMS! Mein Herz schlug einen Salto, als ich sah, dass es Marlon war, der mir geschrieben hatte.

Hey...Ich wusste nicht, was ich schreiben sollte, außer dass ich ständig den Drang habe, dir zu simsen. :) Ich weiß nicht was du jetzt von mir denkst, aber ich kann dich nicht vergessen. Marlon.



Mein Herz fing an wie wild zu klopfen und ich zog es ernsthaft in Erwägung, dass es bis nach unten hin zu hören war. Ich konnte es einfach nicht glauben. Er fühlte sich genauso wie ich. War es wirklich wahr, was hier stand? Ich konnte es noch immer nicht fassen und wusste aber nicht, wie ich drauf antworten sollte. Das einzige was ich im Moment wusste, war, dass ich ihm unbedingt zurückschreiben musste. Nur was?

Hey..mir geht es genauso. :) Schön das von dir zu hören, denn bei mir ist es nicht sehr viel anders. :) Ich denke nicht über dich... ich denke AN dich... Vielleicht klingt das blöd. Aber es ist so. Lena.



Ging das so? Konnte ich die so abschicken? Bevor ich mich noch großartig daran hindern konnte sie abzuschicken, drückte ich auf „senden“. Mal schauen wie er reagiert, grinste ich und war total glücklich, dass es ihm genauso ging wie mir. Jetzt war ich mir absolut sicher, dass da mehr zwischen uns war. Auch wenn wir uns erst einmal begegnet waren. Fünf Minuten später klingelte mein Handy erneut.

Wenn ich ehrlich bin, denke ich schon seit gestern nur an dich. :) Lass uns doch morgen mal treffen. Vielleicht morgen Mittag um drei? Nach der Schule? Marlon.



Scheiße, die Schule hatte ich schon längst vergessen. In Windeseile packte ich meine Sachen für morgen zusammen, sprang schnell unter die Dusche und föhnte meine Haare. Kaum zehn Minuten später lag ich schon im Bett.

Klar, können wir machen. Morgen in der Eisdiele? Lena.



Grinsend vergrub ich meinen Kopf im Kissen und konnte es gar nicht abwarten bis die nächste SMS auf meinem Display erschien.

Okay. Morgen um drei Uhr in der Eisdiele. Ich freu mich.. :) Wünsche dir jetzt schon mal eine gute Nacht. :) Marlon.



Ohhh man war ich happy. Das gab es doch nicht, dass es bei mir auch mal gut lief. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass er auch so oft an mich dachte, wie ich an ihn. Schnell simste ich ihm zurück.

Ich freu mich auch :) Ich dir auch... Lena.



Ich schloss mein Handy ans Akkuladekabel an und verschwand dann noch mal kurz nach unten um meinen Eltern eine gute Nacht zu wünschen. Tanja und den anderen würde ich morgenfrüh in der Schule alles erzählen.
Als ich wieder nach oben kam, legte ich mich wieder ins Bett und schlief ein.

Am nächsten Morgen wurde ich in den Pausen von Tanja, Sina und Karina überfallen. Sie wollten alles wissen. Wir verzogen uns in eine stille Ecke auf dem Schulhof und dann fing ich an ihn alles zu erzählen. Sehr viel länger hätte es mit dem Erzählen auch nicht gedauert, denn sie hatten mir in der ersten und zweiten Stunde schon fleißig Zettel geschrieben. Ja, so waren sie. Neugierig ohne Ende. Ich lächelte. Sie hörten mir ruhig zu ohne mich auch nur einmal zu unterbrechen. Dann, als ich geendet hatte, brachen sie laut in Jubel aus und fielen mir um den Hals. Soviel Glück wünschten sie mir.

Die Schule war wie im Flug vergangen. Es war halb zwei und ich überlegte fieberhaft was ich gleich anziehen sollte, wenn ich ihn traf. Ich war total aufgeregt und überlegte, wie wir uns begrüßten und worüber wir sprachen. Kurz: ich versuchte alles zu planen, damit ja nichts schief ging.

Eine Stunde später war es dann auch schon so weit. Ich war total hibbelig vor Aufregung und fuhr schon um zehn vor drei los, damit ich pünktlich war. Es war einfach die Angst zu spät zu kommen, die mich trieb. Doch ich hätte mich gar nicht beeilen müssen. Ich fuhr geradewegs auf die Ständer neben der Eisdiele zu, als ich ihn schon neben eben diesen stehen sah. Er hatte braunblonde Haare, ein schönes Gesicht und war muskulös gebaut. Seine Haltung war lässig und dennoch. Man sah ihm an, dass er mächtig aufgeregt war. Genauso wie ich. Sein blaues T-shirt passte wunderbar zu seinen Augen und seine Hose war eine einfach Jeans. Auf seine Schuhe hatte ich nicht geachtet. Da hatte ich keine Zeit zu, denn ich war gerade dabei direkt auf eine Frau in Mamas Alter zuzusteuern, die ich nicht gesehen hätte, wenn Marlon sich nicht vor die Frau geschmissen hätte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bloß dass er auf den Füßen landete. Erschrocken hielt ich an und begann erst dann die Welt um mich herum wahrzunehmen. „Upps.“ Flutschte es aus mir heraus, ehe ich irgendetwas anderes machen konnte und spürte wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Die Frau lächelte mich höflich an und schien keinesfalls sauer zu sein, dass ich sie fast angefahren hätte. Sie schien den Grund zu kennen, wegen dem ich sie fast umgefahren hatte. Sie lächelte mich immer noch nett an und ging dann vorüber. „Süß. Fährst wegen mir fast eine Frau an.“ ,flüsterte Marlon leise und sah mich schmunzelnd an. Seine Augen leuchteten. Jetzt erst fiel mir wieder ein, dass Marlon mich gestoppt hatte. „Stimmt gar nicht. Das war nicht wegen dir.“ Ich denke er wusste wie ich es meinte, denn er erwiderte nur: „Nein, natürlich nicht.“ Er grinste mich an. Ich stieg vom Fahrrad, schob es in einen der Ständer und schloss es ab. Marlon stand währenddessen die ganze Zeit neben mir und beobachtete mich. Als mir sein Blick auffiel grinste ich. Ich konnte nicht anders. Meine Mundwinkel zogen sich von alleine nach oben. Zusammen setzten wir uns an einen Tisch, der vor dem Eiscafé stand. Wer weiß, dachte ich, was heute noch so passiert. Alle meine Pläne, die ich vorhin noch geschmiedet hatte, hatte ich eigens zunichte gemacht, mit meiner Aktion vorhin. Aber ich hätte es mir auch vorher schon denken können. Nachdem wir uns beide für ein Eis entschieden hatten schauten wir uns wie schon vorgestern in die Augen. Sie waren leuchtender als Vorgestern, oder täuschte ich mich da? „Ich hab die ganze Zeit auf eine SMS von dir gewartet.“, grinste ich. „Ich auch auf eine von dir.“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Seine Augen zogen mich in seinen Bann. „Du bist anders als andere.“, sagte er leise und ich schaute ihn fragend an. „Wie meinst du denn das jetzt?“ „Weiß ich auch nicht. Ich finde einfach, dass du anders bist.“ „Positiv oder negativ?“ „Positiv. Auf jeden Fall.“ Er grinste. „Du aber auch. Du bist nicht so, wie die anderen Jungs oder jungen Männer, die ich kenne.“ Das hörte sich bestimmt doof an. Aber ich wusste nicht, wie ich das anders ausdrücken sollte. Wir sahen uns an und lachten. Es war so unbeschwert und es tat verdammt gut mit ihm zu lachen. Mit ihm fühlte ich mich frei und unbefangen. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich gar nicht schüchtern war. Zumindest nicht so, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Nachdem wir uns ein paar Sekunden einfach nur angeschaut hatten wurde uns unser Eis serviert. Schweigend fingen wir an einen Löffel nach dem anderen in der Schale zu versenken. „Möchtest du mal probieren?“, fragte er mich plötzlich. Er hatte sich einen After Eight Becher bestellt und ich wie immer einen Erdbeerbecher. Ich nickte und er schob mir einen Löffel mit Eis in meinen offenen Mund. Ich ließ es mir auf der Zunge zergehen. Es schmeckte wirklich lecker. Vielleicht sollte ich demnächst auch mal andere Eisbecher ausprobieren, dachte ich und bemerkte erst jetzt, dass er auf eine Reaktion wartete. „Echt lecker. Vielleicht sollte ich das demnächst auch mal bestellen.“
Sollte ich ihn fragen ob er auch von meinem probieren wollte? Kaum hatte ich das gedacht, waren die Worte auch schon heraus. Er nickte. Jetzt war ich an der Reihe und schob ihm einen Löffel Eis in den Mund. Es kam mir unglaublich vor. Wir kannten uns doch noch gar nicht so lange.
Langsam schob ich jetzt meine Hand über den Tisch und legte sie auf seine. „Und?“ „Doch, ja, ganz passabel.“, sagte er wichtigtuerisch und fing an zu lachen. Ich konnte nicht anders und stimmte ein. Meine Hand lag noch immer auf seiner. Sie prickelte an den Stellen an denen ich seine Haut berührte. Sie war weich und schien unwiderstehlich. Gott, was rief er nur in mir hervor. Ich spürte das drängende Verlangen ihn auf der Stelle zu küssen und konnte mich nur mühsam beherrschen.
Als wir unsere Schalen geleert hatten, bezahlten wir und standen auf. Wir holten unsere Fahrräder und gingen nebeneinander her. Uns trieb es geradewegs auf den Park zu. Ohne irgendeine Absprache stellten wir unsere Fahrräder neben eine der Bänke und ließen uns nebeneinander darauf fallen. Die ersten paar Minuten schwiegen wir.
Erst dann durchbrach er die Stille und flüsterte: „Es ist was anderes mit dir.“ Ich schaute ihn fragend an. „Bei dir fühle ich mich...wie soll man das sagen... anders.“ „Wie meinst du das?“ „Ich bin, wenn ich bei dir bin, glaub ich einfach ich selbst.“ „Aber bist du das nicht sonst auch?“ „Nein...“ er schwieg ein paar Sekunden bevor er weitersprach. „In der Schule verstelle ich mich gegenüber anderen. Ich weiß nicht warum. Aber ich mache es einfach.“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wieso sprachen wir überhaupt darüber und das beim ersten Date? Aber ich wusste warum. Auch ich hatte gemerkt, dass von Anfang an eine unzerstörbare Vertrautheit zischen uns herrschte. „Ich verstelle mich auch.“, flüsterte ich jetzt, „zwar nicht, wenn ich bei meinen Freundinnen bin, sondern in der Schule. Gegenüber den anderen.“ Er nickte und sah mich wieder an. In seinen Augen lag ein Ausdruck den ich nicht deuten konnte. Sie leuchteten noch immer und schienen heller zu sein als vorhin. Ohne zu wissen warum, rückte ich noch näher an ihn heran. Ich war nicht im Mindesten schüchtern. Es kam mir so vor, als würde ich ihn schon ewig kennen. „Du hast wunderschöne Augen.“, flüsterte er jetzt und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die mir wohl offensichtlich ins Gesicht gefallen war. Nachdem meine Strähne wieder da war, wo sie hingehörte, nahm er seine Hand nicht von meinem Gesicht weg. Sie blieb unterhalb meines Ohres liegen. Sein Gesicht schien sich automatisch meinem zu nähern. Ganz ruhig blieb ich sitzen. Spürte seinen Atem über mein Gesicht streifen. Nur ein paar Sekunden später lagen seine Lippen auf meinen. Sie waren weich und vorsichtig. Ich erwiderte seinen Kuss und spürte kaum ein paar Sekunden später seine Zunge, die sanft und vorsichtig meinen Mund erkundete. Sowie meine seinen. Ein Feuerwerk explodierte in mir und breitete sich über meinen ganzen Körper aus. Mein Atem wurde wie mein Herzschlag schneller. Bei ihm schien es nicht viel anders zu sein. Seine andere Hand war inzwischen auf meiner anderen Halsseite, während meine jetzt an seiner Brust lagen und ihn näher an mich heran zogen. Unter meiner Hand spürte ich sein Herz schneller schlagen. Es war unmöglich, dass sich einer von uns beiden aus dem Kuss löste. Sowohl er als auch ich brannten nur so vor Verlangen nach dem anderen. Es war wie eine erst nach ewig langer Zeit gestillte Sehnsucht. Die Augen hielt ich verschlossen um den Kuss einfach nur genießen zu können. Ich achtete schon lange nicht mehr auf die Umwelt um uns herum. Das einzige was es noch gab waren wir. Alles andere war egal. Im Moment drehte sich alles um uns. Es schien als würde die Zeit stehen bleiben. Gott, ich war noch nie so unglaublich geküsst worden, dachte ich und gab mich wieder ganz dem Kuss hin. Erst als ein Hund unaufhörlich bellte, lösten wir uns wiederwillig voneinander und blickten uns um. Der nervende Hund stand genau vor uns und bellte noch immer. Mit zugekniffenen Augen sah er uns an. In dem Moment kam eine hochaufgewachsene und dürre Frau mit fliegenden blonden Haaren angerannt. So schnell es ihre Hände zuließen, befestigte sie die Leine wieder an dem Halsband und entschuldigte sich vielmals bei uns. Dann verschwand sie in Richtung Parkausgang und Marlon und ich waren wieder allein. Ganz von selbst näherten sich unsere Gesichter wieder einander. Sein warmer Atem strich wieder über mein Gesicht. Langsam legten sich unsere Lippen wieder aufeinander. Von allein fanden sich unsere Zungen und wir verbanden uns zu einem. Seine eine Hand fand den Weg in meine Haare und verkrallte sich dort sanft, während die andere an meinem Hals liegen blieb. Er zog mich näher an sich heran und ich konnte nicht umhin zu behaupten, dass ich es unglaublich fand.

Impressum

Texte: Copyright by: Carthey (betrifft:Text, Idee und Cover)
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2010

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