Hi Süße, wie geht’s?<<
Ich drehe meinen Kopf automatisch weg und versuche ihn zu ignorieren.
>>He, warte. <<
Eilige Schritte, ich fange an zu laufen. Ich muss schnell unter Menschen kommen, sonst bin ich verloren. Doch wer ist schon um 4 Uhr in der Früh unterwegs?
Ich habe keine Ahnung wo ich bin, hier schaut alles gleich aus, die Häuser leuchten gespenstisch im Dunkeln. Niemand. Niemand außer ihnen und mir.
Ich muss weg hier. Doch wohin? Wie soll ich aus dem Labyrinth hier herauskommen?
>>Ich hab gesagt du sollst warten. Du entkommst mir nicht.<< Ich höre ihn leise lachen. Weiter weg das Gelächter seiner Freunde, die immer noch vor dem Club stehen.
Ich biege in eine Seitengasse ab, keine Ahnung wo sie hinführt, ich will nur so schnell wie möglich weg von hier. Seine Schritte kommen immer näher, fast kann ich seinen rassenden Atem hören. Doch ich kann nicht schneller. Ich keuche wie verrückt, Tränen rinnen aus meinen Augen, gleich hat er mich. Ich kann ihm nicht mehr entkommen.
Plötzlich taucht ein Haus vor mir auf. Sackgasse.
Ich bleibe stehen. Jetzt bin ich verloren.
Seine Schritte kommen näher, er hat auch aufgehört zu laufen. Auch er weiß, dass ich ihm nicht mehr entkommen kann.
Er bleibt hinter mir stehen, ich kann ihn atmen hören.
>>Das ist aber schnell gegangen.<<
Er umarmt mich fest von hinten. Ich zucke zusammen. Es tut weh.
Jetzt streicht er über meine Haare. Fast sanft.
>>Schöne Haare hast du da. Wie heißt du eigentlich?<<
Seine Hand gleitet meine Haare herunter, auf meinen Hals.
Ich zittere.
>>Euphemia.<< stoße ich hervor. Ganz leise, warum soll ich ihn anlügen?
>>Gut.<< er umarmt mich wieder mit beiden Armen. Sein Mund berührt meinen Hals. Er stöhnt.
Automatisch lehne ich mich nach vor und versuche seinem Griff zu entkommen.
Er presst mich nur fester an sich und lacht.
>>Du entkommst mir nicht.<<
Ich schüttle den Kopf.
>>Bitte nicht.<<
>>Hast du Angst, Prinzessin?<<
Ich will schreien, aus meinem Mund kommt nur ein Geräusch so ähnlich wie das Pfauchen einer Katze. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so wehrlos gefühlt.
Er lacht wieder.
>> So es ist Zeit zu gehen.<<
>>Bitte nicht.>> flehe ich ihn an. Ohne Erfolg. Er packt mich am Arm und zerrt mich mit sich mit. Ich habe keine Ahnung wo er hingeht und was er mit mir vorhat. Nichts Gutes. Ich will es mir gar nicht vorstellen.
Ich gehe still neben ihm her. Ich versuche nicht zu schreien oder ihm zu entkommen. Es hat sowieso keinen Sinn.
Er bleibt vor einem großen Hochhaus stehen, es sieht genauso aus wie die anderen. Schnell stoßt er die Tür auf und zerrt mich hinein. Wir steigen die Stiegen herauf. Alles ist dunkel. Mein Herz klopft wie verrückt.
Vor einer Wohnungstür bleibt er stehen und kramt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Nur für einen Moment überlege ich ob ich nicht doch weglaufen soll. Als ob er meine Gedanken lesen könnte lächelt er mich an und schüttelt den Kopf.
Er schubst mich in die Wohnung und sperrt hinter mir wieder ab. Ich drehe mich um und starre ihn an. Panik.
Er grinst mich an und drückt mich in ein Zimmer. Dann dreht er das Licht auf. Wir stehen in einem kleinen Raum, auf dem Boden liegt nur eine Matratze, sonst ist alles leer. Zum ersten Mal sehe ich ihn genauer. Ich schätze ihn auf 30, er ist doppelt so alt wie ich. Seine Haare sind abrasiert, er hat Ähnlichkeit mit einer Bulldogge. Seine Augen haben etwas böses an sich. Er zieht sich seine Weste aus. Es kommt ein durchtrainierter Oberkörper zum Vorschein.
Er bemerkt wie ich ihn mustere und lächelt mich an, seine Augen starren mich währenddessen böse an.
Er wirft mich auf die Matratze und legt sich auf mich. Ich bleibe starr liegen. Unsere Gesichter sind nur wenige Centimeter voneinander entfernt. Er presst seinen Mund auf meinen. Mit seiner Zunge drückt er meinen Mund auf. Ich wehre mich nicht viel. Noch viel mehr Angst habe ich vor dem, was jetzt kommt. Mein Herz rast immer noch wie verrückt. Mir ist eiskalt, ich zittere.
Er zieht sich seine Hose aus. Ich öffnet meine Hose und zieht sich herunter.
>>Bitte nicht.<< flüstere ich.
Er lacht nur.
Ich spüre seine kalte Hand.
Ich lasse alles über mich ergehen.
Ich starre auf den großen Riss auf der Decke, in einer Ecke ist ein Spinnennetz.
Er stöhnt über mir.
Ich will das es aufhört.
Ich will weg hier.
Das ganze ist jetzt 2 Jahre her, und ich habe es immer noch nicht überwunden. Es hat mich innerlich kaputt gemacht. Ich habe es niemandem erzählt. Mein kleines Geheimnis. Niemand darf wissen, was passiert ist. Es ist einfach zu schrecklich. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht darüber reden. Wenn ich an die Nacht denke, beginne ich immer noch zu zittern. Ja, es ist untertrieben zu sagen, es hat mich kaputt gemacht, es hat mich zerstört.
Ich bin das Mädchen, das vergewaltigt wurde.
Ich bin das Mädchen, das sich versteckt.
Ich bin das Mädchen, das keine Freunde hat, der Freak.
Ich bin das Mädchen, das ihre Familie hasst, ihre fünf Geschwister, ihre gestresste Mutter, ihren trinkenden Vater.
Ich bin das Mädchen, das kein Geld hat.
Ich bin das Mädchen mit den roten langen Haaren, hinter denen ich mich verstecke.
Ich bin das Mädchen, das heimlich Zigaretten raucht und mit gefälschten Ausweisen in Clubs geht.
Ich bin das Mädchen, das noch nie einen Freund hatte.
Ich bin das Mädchen mit dem schrecklichen Namen.
Ich bin das Mädchen, das sie hässlich findet.
Ich bin das Mädchen, das sich jeden Abend die Arme aufschneidet.
Ich bin Euphemia. Und ich hasse mich dafür. Ich will nicht die sein, die ich bin. Ich hasse mich, ich hasse mein Leben, ich hasse alles.
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Ich war fest dazu entschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Kurz und schmerzlos sollte es sein. Nicht schmerzhaft wie mein Leben. Ich stehle meiner Mutter ihre Medikamente. Sie nimmt viele. Sechs Kinder und ein Alkoholiker als Mann haben ihr schwer zu schaffen gemacht. Ich habe es vor allem auf das Schlafmittel abgesehen. In meinem Zimmer, das ich mir mit meinen zwei kleinen Schwestern teilen muss, drehe ich Musik auf. Volle Lautstärke. Ich will zu meinem Lieblingslied sterben. Bring me the Horizon – The Sadness will never end. Die Tür sperre ich auch sicherheitshalber zu. Niemand soll mich finden. Jemand klopft an die Tür 'Euphemia, dreh die Musik leise' meine Mutter, diesen Gefallen mache ich ihr nicht. Ich hole eine Wasserflasche aus meiner Schultasche heraus und trinke damit die kleinen bunten Kapseln hinunter, die mir den Tod bringen sollen.'Euphemia, mach sofrot die Musik leise oder oder...', mein Vater. Ich hoffe, dass die Medikamente schnell wirken, sonst schlägt er noch die Tür ein und findet mich.
-Euphemia, Euphemia, mach SOFORT die Tür auf.
Ich ignoriere die Stimmen. Langsam wird mir schwindelig und ich werde schrecklich müde. Es funktioniert!, denke ich mir, und lächle in mich hinein.
Ich hätte es schon viel früher machen sollen, meinem Leben ein Ende setzen. Nirgendwo kann es schlimmer als auf der Erde sein. Da bin ich mir ganz sicher. Und ich komme jetzt in den Himmel. Weit weg von den ganzen bösen Menschen. Ich freue mich schon richtig darauf.
Dann schlafe ich ein. Es fühlt sich verdammt gut an.
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Nein, ich bin nicht tot, das wusste ich noch, bevor ich die Augen öffnete. Ich erkannte es an dem strengen Krankenhausgeruch. Schläuche steckten in meinen Armen, und ich war mit den Händen ans Bett gefesselt. Ich hörte das leise Piepsen irgendwelcher Geräte, die neben meinem Bett standen. Anscheinend war ich alleine im Raum.
Ich hasste mich. Nein, natürlich war ich nicht tot, mein Leben schien noch schlimmer zu werden als es schon war. Die Worte Psychatrie und Männer in weißen Kitteln mit Spritzen spukten in meinem Kopf umher. Das hatte mir gerade noch gefehlt.
-Hallo Ephemia!, ein Arzt in weißen Kittel stand plötzlich neben mir, fehlte nur noch die Spritze. Ich funkelte ihn wütend an, warum hatte er mich nicht einfach sterben lassen?!?!
-Wie fühlst du dich?, er lächelte mich durch seine Brillengläser an. Arschloch, dachte ich und hätte ihm am liebsten auf den Kopf gespuckt, direkt in sein grau-weißes Haar.
-Scheiße, antwortete ich, ohne zu zögern.
-Was fehlt dir denn?, fragte er mich nun.
-Ich bin nicht tot, was sonst?
-Aber warum wolltest du denn sterben? Niemand sollte das wollen. Du musst hier auf der Erde bleiben und dein Leben geniessen!, Blaaaah Blaaah Blaaah, dieser Mensch hatte sogut wie gar keine Ahnung und bildete sich ein, mir Ratschläge geben zu dürfen. Ich mochte ihn nicht und das würde ich ihm auch zeigen, wenn es sein musste. Niemand hier brauchte mir irgendetwas sagen. Ich wollte hier weg. Sterben. Alleine sein.
Der Arzt steckte mir noch mehr Schläuche in die Arme, wären meine Hände nicht ans Bett gefesselt gewesen, hätte ich mich gewehrt.
-Hast du einen Freund?, fragte er mich.
-Haben sie Enkelkinder?, antwortete ich kühl.
Er seufzte und gab es auf, ein Gespräch mit mir anfangen zu wollen.
Ich nenne es Selbstschutz, auf andere komme ich kalt und arrogant rüber, nur ich weiß, dass ich ihn Wirklichkeit gar nicht so cool bin, ich bin das schüchterne Mädchen, dass sich nicht traut, mit fremden Menschen zu reden, dass jeden Tag ihr Essen rauskotzt, dass sich von niemanden angreifen lässt, ich bin das Mädchen, dass sich versteckt. Mit Schwerstarbeit habe ich diese Hülle um mich aufgebaut, ja keinen an mich ranlassen, sie enttäuschen einen nur.
Der Arzt ging stumm aus dem Zimmer, ich wusste, dass er mich nicht leiden konnte. Ich hatte es wieder mal geschafft, einen Menschen gegen mich aufzubringen. Wenn ich Glück hatte, ließ er mich ab jetzt in Ruhe und ich konnte sobald wie möglich hinaus aus hier. Und einen neuen Selbstmordversuch machen. Das war meine einzige Hoffnung, sonst gab es nichts mehr, auf das ich mich freute. Oft hatte ich mir vorgestellt, wie es danach wohl sein würde, ich hatte zwei Favouriten, als Engel, wo ich auf einer Wolke lebte und als Seele, die über die Erde schwebte. Ich stellte mir beides toll vor. Und das nach dem Tod nichts mehr ist, dass wollte ich nicht glauben. Irgendwann musste sich mein Leben zum Guten wenden. Oh nein, es gibt keinen Gott, und wenn schon, warum ließ er mich dann so leiden? Ich hatte immer versucht, mit diesen Gefühlen umzugehen, aber glücklich war ich trotzdem nie. Ich hatte vielleicht so getan, aber ich war es nie. Ich hatte mich immer versteckt, mein wahres Ich, sodass niemand auf die Idee kam, wer ich wirklich bin.
Später kamen meine Eltern, mir wäre es lieber gewesen, wenn ich sie nicht hätte sehen müssen, ich hasste sie, schließlich waren sie es, wegen denen ich noch lebte. Soetwas war unverzeihlich, warum ließen sie einen Menschen, der unbedingt sterben wollte nicht einfach sterben? Was gab all den Menschen da draußen das Recht, über mich zu bestimmen, mir meinen freien Willen zu nehmen, mir den Tod zu nehmen, mir meine einzige Hoffnung zu nehmen...
Die Welt ist frei, hatte ich immer gedacht, anscheinend war das falsch, sonst wäre ich jetzt nicht an mein Bett gefesselt, mit Schläuchen in meinen Armen, meinen verhassten Eltern neben mir stehend. Aber nein, so einfach würde ich es ihnen nicht machen, eines Tages würde ich tot sein, darauf konnten sie Gift nehmen, und dieser Tag würde bald sein.
Meine Eltern waren böse, sehr böse, der Grund war, dass unsere ach so teure Schlafzimmertür aufgebrochen wurde, hinter der ich mich eingesperrt hatte. Die teuren Rettungskosten, meine verängstigten Geschwister und nicht zu vergessen, sie waren böse, weil ich mich umbringen wollte! Weil sie jetzt das Jugendamt am Hals hatte, wenn sie Pech hatten, nahmen die ihnen alle ihre Kinder weg. Für die teuren Rettungskosten konnte ich eindeutig nichts, ich wollte nicht gerettet werden. Die Schlafzimmertür hätten sie von meinem Kindergeld bezahlen können. Typisch meine Eltern, mir an allem die Schuld geben. Ich hatte sie so satt. Und ich konnte mich nicht einmal wehren, nicht davonlaufen, die Gurte um meine Arme hielten mich davon ab.
-Du kommst in eine Psychatrie!, mit diesen Worten verabschiedeten sie sich. Sie wollten mich abschieben, loswerden, ihr kleines Problem, ihre verrückte Tochter. In ihren Augen war ich ja geisteskrank. Meine Eltern sind sehr gläubig, in ihren Augen ist Suizid eine Sünde. Aber Gott schien uns nicht zu mögen, wir waren arm, lebten in einer kleinen Wohnung zu acht und konnten uns nicht viel zu anziehen kaufen. Toller Gott... Ich verstand nicht, warum sie an so jemand glaubten. Ich mochte ihn jedenfalls nicht mehr.
Psychatrie war das letzte, wo ich hinwollte, ich hatte schreckliche Geschichten darüber gehört. Leute, die gegen ihren Willen festgehalten wurden, da sie sich umbringen wollten. Leute, die daran gehindert wurden, sie selbst zu verletzen. Leute, die krank sind und die man wie den letzten Dreck behandelte. Leute wie ich. Aber mir durfte niemand, wirklich niemand verbieten, was ich mit meinem Körper machen wollte.
Ich durfte dort auf keinen Fall hin, es würde nur noch alles schlimmer machen.
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Eskortiert von zwei Polizisten betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Psychatrie, Klinik für Kinder- und Jugendpsychatrie stand auf einem Schild davor. Die letzten zwei Wochen hatte ich im Krankenhaus verbracht, da ich fast nicht überlebt hätte. Leider.
Die Fenster waren mit gebastelten Blumen und Bildern verziert. Wahrscheinlich um die ganzen Kinder, die sich umbringen wollten, aufzumuntern. Ich wurde beim Empfang angemeldet und dann in die interne Abteilung und den zweiten Stock gebracht. Auch alles voller selbstgebastelter Blumen, Windowcolour und Fotos von Kindern, dazwischen, danke, dass ihr.... bla bla bla-Briefe. Eine kleine ältere Schwester mit aufgemalten Augenbrauen und lockigen kurzen dunklen Haaren zeigte mir ein Zimmer, das ich mir mit drei anderen Mädchen teilen musste. Es war eng und fast kein Platz für meine Sachen. Die Türe konnte man nicht richtig zumachen, eine Kamera hing in einer Ecke des Zimmers. Die Fenster ließen sich nicht öffnen, nicht einmal kippen. Stattdessen gab es eine Lüftung, die ununterbrochen stickige Luft ins Zimmer bließ, und ein schrecklich lautes Geräusch machte.
Dann sollte ich zu einem Aufnahmegespräch, Name, Alter, das übliche hald. Nachher die Fragen, die ich nicht beantwortete, Alkohol, Drogen, Probleme, Gründe für Selbstverletzung und Suizidversuch.
Meine Mutter sagte, sie wüsste nicht, warum ich mich umbringen wollte und das ich Bulimie hatte.
Auf die Frage, ob ich noch etwas dazu sagen wollte, schüttelte ich den Kopf. Sollten die doch glauben, was sie wollten. In mein Gehirn würde ich sie niemals lassen. Nur weil sie das studiert hatten, hieß es noch lange nicht, dass sie mir helfen konnten. Und ich würde mir von denen nicht helfen lassen. Von niemandem. Ich wollte sterben.
Ich wurde wieder von den zwei Psychotanten weggebracht, meine Sachen wurden durchsucht, alle Dinge, mit denen ich mich verletzen konnte, wurden mir weggenommen, Armbänder, Glätteisen, Rasierer, Schuhriemen, … Die Fingernägel schnitten sie mir auch ab. Ich könnte mir ja damit meine Arme aufkratzen, haha.
Ich knallte meine Sachen alle wütend in das kleine Kästchen, das mir zugewiesen wurde. Irgendwie musste ich hier abhauen. Und dann vor die U-Bahn springen oder so. Mir würde sicher etwas einfallen. Ich musste nur gerissen handeln, sodass niemand Verdacht schöpfte. Unter keinen Umständen wollte ich hier verrotten, Und helfen konnten die mir hier auch nicht, sie kannten mich überhaupt nicht. Und das sollten sie auch nicht. Ich würde nicht lange hierbleiben.
Schlecht gelaunt ließ ich mich auf mein Bett fallen. Dieser Ventilator machte mich wahnsinnig. Und zu übertönen war dieses Geräusch auch nicht, Handys und mp3 – Player durfte man nur in der Besuchszeit haben. Und das waren eineinhalb Stunden pro Tag. Toll! Ich überlegte, ob ich nicht laut herumschreien sollte, der unabschaltbare Ventilator machte mich verrückt. Außerdem war ich in der Psychatrie, da konnte man sich doch ein wenig merkwürdig verhalten, oder? Darüber konnte ich aber nicht länger nachdenken, denn eine meiner Zimmergenossinnen kam herein. Ich hatte noch nie einen Menschen mit solchen Augen gesehen. Sie starrten leer vor sich hin, schienen sich kaum zu bewegen. Ihre Haare waren lang und blond, aber sie hatte einen schrecklichen Überbiss und war etwas dicklich. Das Mädchen setzte sich apatisch aufs Bett. Ich beobachtete sie.
-Hey, sagte sie nach kurzem Zögern. Sie sah unheimlich traurig aus. Zu gerne hätte ich gewusst, was mit ihr passiert war.
-Hi, antwortete ich.
Sie sagte nichts mehr und sah auf den Boden. Dann ging sie wieder aus dem Zimmer und ließ mich alleine. Ich war froh darüber, wenn ich schon hier war, wollte ich wenigstens meine Ruhe haben. Der Ventilator wurde mit Taschentüchern verstopft, damit er etwas leiser war.
Schöne Scheiße, wo ich hier gelandet war. Mein Leben war ziemlich aussichtslos. Deprimierend. Ich wollte nicht hier sein. Eingesperrt. Mit psychisch gestörten Menschen, das waren die doch hier, oder? Und das Mädchen sah ziemlich komisch aus, leicht verrückt irgendwie, vielleicht war sie eine Mörderin? Also ja, ich war hier unter lauter psychisch gestörten Menschen, wie in einem Gefängnis. Und das nur, weil ich sterben wollte. Schon irgendwie verrückt. Das Leben ist ungerecht.
Aber ich wurde nicht lange in Ruhe gelassen. Eine der Schwester kam herein. -Ich würde dich gerne wiegen und deine Größe messen, wäre das okay für dich?
Wenn sie schon so blöd fragte, nein, ich wollte nicht gewogen und abgemessen werden. Ich schüttelte den Kopf.
-Was?, sie sah mich verwundert an, anscheinend wiedersprach ihr nicht oft jemand. Ich schon, ich würde mir das alles hier niemals gefallen lassen.
-Nein, ich will nicht.
-Aber das ist wichtig, kommst du bitte mit?
-Nein, fauchte ich sie an, musste ich noch deutlicher werden?
-Okay, dann eben nicht..., sie ging wieder hinaus.
Ich legte mich in mein Bett und versuchte ein wenig zu schlafen. Der Ventilator machte es mir nicht gerade leicht. Ich wollte weg hier.
-Euphemia, Medikamente, jemand drückte mich am Arm. Ich schrie laut auf und schlug um mich. Niemand, aber wirklich niemand durfte mich angreifen. Und schon gar nicht wenn ich schlief. Das war einer meiner Ticks, die ich seit jener Nacht hatte.
Die Schwester mit den Locken stand vor mir. Ich hasste sie jetzt schon.
Es war schon Abend und ich wollte weiterschlafen. Das ließ sich mich aber nicht. Sie hielt mir die Medikamente so lange hin, bis ich sie herunterschluckte. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand im Kopf herumpfuschte, und das taten diese Medikamente. Sie sollten mich glücklich machen. Zu einem dauerlächelndem Zombie. Aber nicht mit mir!
Die Schwester verschwand wieder und ich schlief weiter.
Am Nachmittag kamen mich meine Eltern samt Geschwister besuchen.
Mir wäre lieber gewesen, wenn sie mich nicht besucht hätten.
Mit den Worten 'Du bist nicht unsere Tochter' verabschiedeten sie sich. Ja toll, und sie waren nicht meine Eltern. Hätten sie mich doch einfach sterben lassen, weniger Probleme für sie, weniger Probleme für mich. Aber nein, so nett waren sie ja nicht. Ach, wie sehr ich das hasste. Immer hatte ich das Pech. Jemand anderer wäre schon längst tot, aber nein, ich lebte noch. Aber nicht mehr lange.
Am Abend hatte ich mein erstes Diagnosegespräch. Ich durfte einen fragebogen ausfüllen, „trifft zu“ oder „trifft nicht zu“ ankreuzen, natürlich kreuzte ich immer irgendwas an. Niemand brauchte irgendetwas wissen. Ich würde niemanden hier auch nur ein bisschen an mich heranlassen. Das wollten sie alle ja nur, um mich zu „heilen“ Hahaha, heilen!
Irgendwelche Medikamente verschreiben und auf „erzähl mir was dich bedrückt“ machen, war das einzige, was sie drauf hatten. Da kannte ich mich ja noch viel besser aus. Zum Glück waren die Schwestern netter, jünger und etwas verständnisvoller, trotzdem musste ich um halb 10 schlafen gehen. Gegessen hatte ich den ganzen Tag nichts, das Essen sah grauenhaft aus und ich würde es nur wieder hinauskotzen. Mit der Zeit lernte ich die anderen Jungendlichen kennen, alle hatten ähnliche Probleme wie ich, die meisten hatten auch schon zig Selbstmordversuche hinter sich. Und sie lebten alle noch. Vielleicht wird’s ja beim nächsten Mal was. Das ich vergewaltigt wurde, erzählte ich auch ihnen nicht.
Obwohl sie alle nett waren, wollte ich keine Freunde, ich wollte meine Ruhe haben, außerdem war ich nicht hier, um neue Freunde zu finden, sondern um so schnell wie möglich wieder hinauszukommen und mich umzubringen. Mehr wollte ich nicht. Mehr erwartete ich nicht von meinem Leben. Sterben war das einzige, was ich noch wollte.
In der Früh riss ich mir mit einer Stecknadel die Arme auf, die hatten sie bei ihrer Durchsuchung nicht gefunden. Ich hatte auch noch Klingen, die ich immer bei mir trug und die niemand finden sollte. Im schlimmsten Fall wollte ich mich damit umbringen, auch wenn das ziemlich schwer war. Viele Menschen waren schon am Versuch gescheitert, sich mit einer Klinge die Pulsadern aufzuschneiden. Aber ich würde es schaffen, wenn einmal keine Schwester auf die Kamera schaute, dann könnte ich es wagen. Mit viel Glück war ich aber bald wieder draußen und konnte einen sicheren Weg finden, mich umzubringen, viel leiden wollte ich nicht. Ich hatte schon viel zu viel gelitten.
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Ich hörte ein merkwürdiges Klopfen, aber es hörte sich so weit weg an, dass ich dachte, dass ich es mir nur einbildete. Mein Kopf wurde schwer, wehrte sich nicht mehr... Ich sank immer tiefer.
Doch dann wurde ich unsanft an den Schultern gepackt und hoch gerissen. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war. Doch dann musste ich husten und mir wurde bewusst, dass ich ganz sicher nicht tot war. Das ganze Wasser kam wieder hoch und ich spuckte es aus.
Dann öffnete ich langsam wieder die Augen, die Tür zum Badezimmer war aufgebrochen, alle Schwestern standen dort, die anderen Kinder hinter ihnen. Alle sahen mich erschrocken an. Noch immer hielt mich jemand fest an den Schultern.
>>Was machen wir jetzt mit ihr?<<, fragte eine der Schwestern.
>>Wir rufen die Ärztin an, sie kommt sicher bald. Und die Securitys.<<, antwortete eine männliche Stimme hinter mir. Arian, unser einziger Pfleger...
>>Geht da weg!<<, fuhr die Schwester die Mädchen an, die mich immer noch neugierig anstarrten. Sie scheuchte sie in ihr Zimmer und verschwand dann mit den anderen Schwestern.
>>Das war sehr blöd, wenn du so weitermachst kommst du hier nie raus. Ich glaube nicht, dass du dein Leben lang hier bleiben möchtest. Wenn ja, bist du am besten Weg dazu... Die Schwestern werden jetzt viel vorsichtiger sein. Und wenn du Pech hast kommst du woanders hin.<<, meinte Arian, der mich immer noch festhielt.
>>Du hast keine Ahnung, lass mich in Ruhe!<<, ich versuchte mich loszureißen, doch er war stärker als ich und hielt mich mit eisernem Griff fest. Deshalb musste gerade er mich festhalten, weil er am meisten Kraft hatte.
>>Dann musst du mit einem Arzt darüber sprechen, das ist nicht meine Aufgabe.<<
>>Ich will aber nicht!<<
>>Du machst einen großen Fehler, mit dieser Einstellung kommst du hier nie raus...<<
>>Danke für die Info, aber das ist mir egal. Ich werde mich schon umbringen.<<
Er seufzte. Dann stand plötzlich wieder eine Schwester in der Tür, neben ihr zwei Männer in Schwarz gekleidet. Sie packten mich an den Armen und brachten mich einen Stock tiefer, in die sogenannte Unterbringung, dort kam man sofort nach einem Selbstmordversuch hin, wie ich später erfuhr. Die Unterbringung bestand aus einem großen Raum, in dem zwei Schwestern saßen, neben ihnen zwei Jugendliche, in der hinteren Ecke des Raumes befanden sich Betten, alles wurde mit Kameras überwacht. Die schwarzen Männer ließen mich los und sperrten die Tür zu. Sie unterhielten sich kurz mit den beiden Schwestern und verschwanden dann wieder.
Die beiden Schwestern kamen auf mich zu und erklärten mir kurz, wo ich hier gelandet war. Hier wurde alles mit Video überwacht und man hatte noch weniger Freiheiten als in der oberen Station, wenn es mir besser gehen sollte konnte ich wieder in die obere Station Die beiden anderen starrten mich unverwandt an, ein Junge und ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, der Junge war dünn und bleich und zitterte fürchterlich, seine Knochen waren verformt und er konnte sich nicht richtig bewegen, die Haut des Mädchen war mit Narben und frischen Schnitten übersäht, sogar ihr Gesicht.
Eine der Schwester reichte mir einen Fön, damit ich mir die Haare trocknen konnte, dann kam auch noch eine andere Schwester von der oberen Station, um mir meine Sachen zu bringen.
Arian hatte Recht gehabt, ich war verlegt worden. Noch mehr Gefängnis. Toll...
Ich wollte hier endlich raus. Egal wie, und mich umbringen. Lange würde ich es sicher nicht mehr aushalten, bis ich wahnsinnig werden würde. Hier war das auch absolut kein Wunder.
Mit zwei Menschen zusammenleben, die noch komischer als ich war.. Und dazu noch eingesperrt. Wenn ich eine Schwester umbringen würde, könnte es sein, dass es im Gefängnis genauso war. Vielleicht sogar besser. Und ich hatte große Lust, eine von ihnen umzubringen. Sie nervten mich so sehr.
Meine Therapie wurde verstärkt, was hieß, dass ununterbrochen irgendwelche Ärzte etwas von mir wollten. Blöd für sie, dass ich meine Ruhe haben wollte anstatt ihnen meine Probleme zu erzählen.
Obwohl Arian gesagt hatte, es wäre einfacher für mich, dass zu tun, was die Ärzte von mir wollten, tat ich es nicht. Mein Leben war so und so schon gelaufen. Egal, wann ich hier wieder hinauskommen würde. Vorher würde ich mich umbringen.
Mit meinen Selbstmordversuchen wurde es nichts, solange ich in der Unterbringung war, überall Kameras und Schwestern, die mich nicht aus den Augen ließen. Unmöglich auch nur ein paar Augenblicke alleine zu sein. Anscheinend dachten sie, sie wären klüger als ich. Ich würde mich schon noch umbringen..
Nach zwei langen Wochen, die ich fast nur mit herumsitzen und genervt werden von Ärzten verbracht hatte, durfte ich wieder zurück in die obere Station. Ich war ziemlich froh darüber, da die Menschen dort um vieles normaler waren, ich mehr Freiheiten hatte und mich leichter umbringen können würde.
Es gab ein paar neue Gesichter, aber die meisten kannte ich noch. Nicht viel hatte sich in meiner Abwesenheit verändert. Ich verbrachte von nun an alle Tage mit in meinem Bett liegen, ich hatte keine Lust mehr, aufzustehen, da halfen auch die starken Antidepressiva nicht, die ich nehmen musste. Die anderen Mädchen beachteten mich nicht viel, die Schwestern ließen mich zu meinem Glück auch in Ruhe. Nur hin und wieder kamen meine verhassten Ärzte. Meine Familie kam mich sogut wie gar nicht besuchen. Ich vermutete, dass sie mich verstoßen hatten, die Tochter in der Psychatrie, sojemanden wollte ganz bestimmt niemand als Kind haben. Und schon gar nicht meine Eltern. Ich war ihnen nicht böse deswegen, ich mochte sie nicht einmal besonders. Sie waren schuld, dass es mir schlecht ging, zum Teil. Aber auf jeden Fall hatten sie mir mein Leben noch schwerer gemacht, als es schon war. Ich hatte noch nie viel von ihnen erwartet. Das war auch gut so, sonst wäre ich jetzt sehr enttäuscht. Ich konnte damit leben, keine Eltern mehr zu haben, wenn ich aus dem Krankenhaus kam musste ich in eine betreute WG. Ich hatte gehört wie die anderen Mädchen darüber geredet hatten, viele von ihnen waren auch in WG's, da sie große Probleme mit ihren Eltern hatten. Besser gesagt die Eltern hatten Probleme und die Kinder mussten es ausbaden, indem sie in der Psychatrie landeten.
Die Mädchen hassten die WG's, für sie war es schrecklich, anscheinend war man genauso eingesperrt wie in der Psychatrie.. Aber wenn ich Glück hatte, würde ich bald sterben.
Am Abend kam mir die tolle Idee, wieder einmal eine Zigarette zu rauchen, ich würde mich wieder im Bad einsperren und so würde es niemand merken. Mit Zigaretten und Feuerzeug machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer. Diesmal war ich mir ganz sicher, dass mich niemand gesehen hatte. Ich sperrte mich wieder ein und setzte mich auf den Rand des Waschbeckens. Nach so langer Zeit zu rauchen tat so gut, es fühlte sich viel stärker an und mein Kopf wurde schwer. Ich entspannte mich und vergas für ein paar Augenblicke, wo ich war.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
>>Hallo? Wer ist da drinnen?<<, rief eine Schwester und rüttelte an der Tür. Ich machte keinen Mucks.
>>Ich weiß, dass du da drinnen bist. Mach sofort die Tür auf.<<
>>Euphemia ist drinnen, und wenn du nicht sofort die Tür aufmachst treten wir sie ein und du kommst wieder in die Unterbringung!<<, Arians scharfe Stimme. Ich warf die Zigarette in den Mistkübel und öffnete die Tür, kaum hatte ich aufgesperrt, rieß Arian sie schon auf und zog mich hinaus.
>>Habe ich nicht gesagt du sollst uns bescheid geben, wenn du dich im Badezimmer befindest?<<, schimpfte eine der Schwestern.
>>Hast du etwa geraucht?<<, fragte Arian und sog deutlich die Luft ein.
>>Du hast geraucht!<<, stellte er fest.
Die Schwester holte meine Zigarettenpackung aus meiner Hosentasche, ebenso das Feuerzeug.
Ich spürte wie plötzlich eine riesige Wut in mir hochkam. Viel zu viel. Das war tödlich. Ich konnte mich nicht mehr stoppen. Ohne Macht über meinen Körper rannte ich los ohne genau zu wissen, was ich wollte.
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
[In dieser Geschichte kommt Gewalt, Missbrauch und Selbstmord vor, wem das zu heavy ist, bitte nicht lesen]
So und für die, die entschieden haben, weiterzulesen: Zu dieser Geschichte hat mich Arian inspiriert, den es also wirklich gibt und an dem nichts erfunden ist.
Ich habe das Titelbild sehr gerne, da ich finde, es beschreibt genau das, was in dem Buch vorkommt: jemand, der kurz vor dem Tod steht, der sterben könnte, es dann aber doch nicht tut, jemand, der versucht, dinge zu vergessen, jemand, der Glück hat.