Kat ist anders, als die Personen in ihrem Umfeld. Als Kind dachte ihre Familie, sie wird einmal ein tapferes, furchtloses Mädchen mit riesiger Abenteuerlust, doch als ihr Vater die Familie verließ, fiel Kat in ein tiefes, dunkles Loch ohne Boden. Seit dem verabscheut sie alles, was sie je geliebt hat und fürchtet alles, was sie mit ihrem Vater verbunden hat. Ihr Leben endete zwar nicht, jedoch veränderte es sich. Doch es ändert sich erneut, als sie mit ihrer Familie Urlaub in Spanien macht und sich in das Meer verliebt. Allerdings wird sie von Träumen geplagt, die sie nicht loswird; Stimmen, die nur sie hören kann und von einem Geruch umringt, der ihre Sinne betäubt.
In dieser Geschichte entdeckt die sechzehnjährige das Unmögliche, tief verborgen in ihrer größten Angst.
Als ich nach Hause kehre, ist die Wohnung dunkel. Natürlich, es ist drei Uhr morgens.
Ich werfe meine Handtasche auf mein Bett und ziehe mir ein gemütliches Sweatshirt und eine Jogginghose an. Kurz gehe ich im Fernseher die Kanäle durch, bis ich aufgebe und mich in mein Bett kuschle. Die Bettwäsche ist warm und riecht nach Rosen, trotzdem dauert es eine Weile, bis ich endlich die Augen schließen und die Geschehnisse des vergangenen Tages ausblenden kann.
Durch ein leises Geräusch werde ich wach und öffne langsam mein rechtes Auge. Das Tageslicht verrät mir, dass es schon morgens oder mittags sein muss. Als ich beide Augen auf mache, ist das Erste, was ich sehe, Moms wütendes Gesicht.
„Wann bist du gestern wieder gekommen?“, fragt sie in einer ungewohnten Stimme und zieht mir die Decke weg. Sofort springe ich auf und versuche vergeblich, sie wieder zu erlangen, doch es scheint, als wäre ich kraftlos.
„Mitternacht“, lüge ich murmelnd und greife mir meine Strickjacke vom Stuhl.
„Da war ich noch wach, also sag mir die Wahrheit“, befiehlt sie unerwartet, während ich mir die Jacke überziehe und bemerke, dass mein Fenster weit aufgerissen ist. Kein Wunder, dass ich friere, denke ich.
„Drei“, murmle ich und starre meine Mom entschuldigend an. „Ich wollte früher kommen, aber ich ...“
Mom versucht meinen Satz zu beenden.
„Aber du warst zu betrunken?“
Beleidigt ziehe ich meine Augenbrauen nach oben und schüttle langsam, kaum bemerkbar den Kopf.
„Zoey hat mich hingefahren und war dann plötzlich verschwunden.“
Mom sieht mich immer noch ungläubig an. Also erzähle ich ihr, wie ich nach einer Mitfahrgelegenheit gesucht habe, aber keine fand. Danach suchte ich jemanden, der mir Geld für den Bus gab, da ich keins mehr hatte. Das dauerte, bis ich endlich etwas bekam, und dann musste ich noch zum Bus gelangen, was auch kein Spaziergang war.
„Ich lüge nicht“, sage ich als letztes noch, und es stimmt.
„Gut, ich glaube dir“, antwortet sie zögernd und verlässt langsam mein Zimmer.
Mit einem intensiven Seufzer lasse ich mich zurück aufs Bett fallen und reibe mir die Augen. Mein Kopf brummt fürchterlich und erst jetzt bemerke ich, dass ich fürchterliche Kopfschmerzen habe. Man könnte wirklich meinen, ich hätte gestern zu viel getrunken.
Nach dem ich fast zehn Minuten nur schweigend auf meinem Bett sitze und nichts tue, stehe ich endlich auf und versuche ins Badezimmer zu gelangen. Genervt muss ich feststellen, dass es besetzt ist.
„Mom?“, frage ich leise und klopfe gegen die Tür.
„Ja?“, fragt eine viel zu hohe Stimme, die sich nicht einmal annähernd wie Moms anhört. Es ist definitiv mein kleiner Bruder Riley, der vergeblich versucht, Moms Stimme zu imitieren.
„Spinner“, lache ich durch die Badezimmertür und haue noch einmal dagegen, „kann ich rein?“
Ich war noch nie zufrieden mit dieser Wohnung. Doch als Mom ihren Job verlor, und deshalb jetzt in einem unterbezahlten Job arbeitet, blieb uns nichts anderes übrig. In unserer alten Wohnung hatte wenigstens jeder sein eigenes Badezimmer, doch hier sind wir gezwungen, uns eins zuteilen.
„Riley“, brülle ich genervt und schlage noch einmal gegen die Tür, weil er noch immer nicht antwortet.
Nach wenigen Minuten gebe ich auf und schlendere schlecht gelaunt in die Küche, esse ein Toast und kehre dann zurück in mein Zimmer und werfe mich – wie schon so oft heute – auf mein Bett. Kurz danach kommt Mom mir hinterher und steht ebenfalls in meinem Zimmer.
„Katherine“, beginnt sie in einer seltsamen Stimme, die sie nur selten verwendet, und die meistens nichts Gutes heißt, „du erinnerst dich an den Geburtstag deiner Tante?“
Ich nicke, da ich mich sehr wohl an ihren Geburtstag erinnere. Sie hat uns alle zu sich nach Spanien eingeladen, wo wir zwei Wochen bleiben können, wenn wir wollen. Ich entschied mich von Anfang an, nicht mitzukommen, da ich Spanien und meine Tante einfach nicht ausstehen kann.
„Ich hab mit deiner Tante gesprochen und sie meint, dass eine Abwechslung dir mal gut tun würde.“
Langsam dreht mein Magen sich um, denn er weiß schon, was mir blühen wird. Doch ich wage es nicht einmal, daran zu denken.
„Und ich bin der gleichen Meinung, weshalb ich nun beschlossen habe, dass du mit nach Spanien kommst“, fährt sie fort. Ich muss mir Mühe geben, mein Frühstück bei mir zu behalten.
Wie kann sie mir so etwas nur antun? Sie weiß doch, dass ich Sonne und, besonders die Hitze, hasse. In Spanien wäre ich mitten in meinen schlimmsten Alpträumen gefangen, tolle Abwechslung.
„Mom“, beginne ich flehend, doch sie unterbricht mich.
„Ich verspreche dir, dass es dir gut tun wird“, versichert sie mir und lächelt mich an. Dann verschwindet sie und geht ins Badezimmer. Genervt seufze ich, da ich Riley verpasst habe und nun wieder nicht ins Bad kann.
Also starre ich nur aus dem Fenster und sehe einem Blatt dabei zu, wie es sanft auf den Boden gleitet. Ich frage mich, ob Mom mich mit nach Spanien zwingt, weil ich sie heute Morgen belogen habe. Dabei wollte ich einfach vermeiden, dass sie wütend wird. Hat wohl nicht ganz geklappt.
Es ist früher Abend, als Paige nach Hause kehrt. Sie schlief bei einer Freundin, weshalb sie den ganzen Tag und die letzte Nacht nicht hier war.
Sie ist meine vierzehnjährige kleine Schwester und ähnelt mir überhaupt nicht. Eigentlich trägt sie immer ihr blondes Haar offen und stylt sich ziemlich modebewusst, wogegen ich nicht ankomme. Mein braunes Haar trage ich fast immer zu einem Pferdeschwanz und von Klamotten und Styling habe ich auch keine Ahnung. Es ist fast seltsam, dass meine komplette Familie aschblondes Haar hat, ich jedoch braune Haare. Mom sagt, ich komme nach meinem Vater und ähnle deshalb niemandem aus unserer Familie. Doch eigentlich will ich gar nicht so sein wie er, weil ich ihn voll und ganz verachte. Er verließ Mom, als sie mit meinem Bruder Riley schwanger war. Ich war ungefähr fünf Jahre alt und bekam kaum mit, wie er ihr das Herz brach. Nachdem er ging, brach er den Kontakt eigentlich nicht völlig ab, denn hin und wieder kam er uns besuchen, um mich zu sehen. „Das einzige der drei Kinder, welches er wirklich liebt“, sagt Mom immer wieder, doch das glaube ich nicht. Schließlich musste er meine nur drei Jahre jüngere Schwester ebenfalls lieben. Doch vielleicht liegt es daran, dass ich fast zu hundert Prozent nach meinem Vater komme?
Obwohl Paige und ich uns nicht wirklich ähnlich sind, verstehen wir uns ziemlich gut. Sie erzählt mir oft, was sie in letzter Zeit so erlebt hat. Das ist eigentlich immer recht spannend, also höre ich auch immer zu.
Da wir zwei uns ein Zimmer teilen, kommt sie herein und wirft ihre Tasche – genau wie ich, letzte Nacht – auf ihr Bett und legt sich hinein. Als ich sie nach ihrem Tag fragen will, zieht sie plötzlich ihren Ipod aus der Tasche und stopft sich die Stöpsel in die Ohren. Die Musik ist so laut, dass ich sie nicht nur hören kann, sondern auch spüre, wie der Bass des Songs mein Bett leicht beben lässt.
„Paige“, fahre ich sie an. Als sie nicht reagiert, werfe ich ein Kissen auf sie zu, woraufhin sie einen Stöpsel heraus zieht und „Lass das“, sagt.
„Paige“, beginne ich erneut und sehe zu, wie sie genervt darauf wartet, dass ich fortfahre. „Was ist los?“
„Nichts“, antwortet sie in einer zickigen Stimme und will gerade den Stöpsel wieder ins Ohr stecken, doch meine Worte halten sie ab.
„Ich kann doch sehen, dass du schlecht gelaunt bist“, gebe ich zurück und fange das Kissen auf, was sie mir zurück wirft.
Ihre wütende Miene verblasst langsam und sie zieht den anderen Stöpsel ihrer Kopfhörer aus dem Ohr und setzt sich gerade hin.
„Schön“, antwortet sie mit einer nun trüben Miene und blickt auf ihre Hände, „erinnerst du dich an Steve?“
Ich nicke und versuche an ihrem Gesicht zu erkennen, was passiert ist. Doch ich sehe nur Traurigkeit und Enttäuschung.
„Das ist der Junge eine Klasse über dir, mit dem du zusammen bist, stimmt's?“, frage ich und runzle die Stirn. Sie hat mir vor ein paar Wochen einmal kurz etwas von ihm erzählt. Sie war erst nur monatelang in ihn verliebt, der hat sie jedoch nicht beachtet, weil er eine Klasse über Paige ist. Doch dann hat er irgendwann ihr Interesse bemerkt und schwups sind sie ein Paar geworden.
Unter Tränen schüttelt meine Schwester den Kopf. Ehe ich sie in den Arm nehmen kann, sagt sie: „Er hat mit mir Schluss gemacht.“
Schnell laufe ich rüber zu meiner Schwester und umschlinge sie mit meinen Armen. Paige erzählte mir mal, dass sie der Duft meiner Haare beruhige. Sie sagt, meine Haare riechen nach Salzwasser, nach dem Meer, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Ich lasse sie also an meinen Haaren riechen und spüre sofort, wie sie sich entspannt. Nun erzählt sie mir, wie ihr Freund Schluss gemacht hat. Ich verstehe allerdings nur jedes zweite Wort, weil sie furchtbar schluchzt.
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. An einem Tag schoppe ich den ganzen Tag mit meiner Schwester, an einem anderen Tag motze ich meine Freundin Zoey an, die auf der Party einfach verschwunden war. An den anderen Tagen, sitze ich nur zu Hause herum und bereite mich geistig auf den Trip nach Spanien vor, oder den „Höllentrip“, wie ich ihn öfter hinter Moms Rücken nenne.
Dann am Ende der Woche ist es so weit. Wir fahren mehr als zwei Tage mit dem Auto, bis wir die Küste von Covas erreicht haben. Dort lebt meine Tante Holly mit ihrer fünfzehn jährigen Tochter Maddie, die mir, genau wie meine Tante, auf den Geist geht. Meine Schwester kann sie genauso wenig leiden, hat mir aber versprochen, sich ein wenig mit ihr zu beschäftigen, damit ich das nicht übernehmen muss.
Als wir am spanischen Meer entlang fahren, durchfährt mich ein ungewohntes Gefühl. Ich rieche das Meer und begreife plötzlich, weshalb meine Schwester diesen Duft so beruhigend findet. Außerdem kann ich beim Anblick des Meeres sogar fast verstehen, weshalb die Menschen hier Urlaub machen.
Als wir bei Tante Holly ankommen, kann ich es kaum erwarten, das spanische Meer aus der Nähe zu betrachten. Hinein gehen und schwimmen, kommt für mich überhaupt nicht in Frage, jedoch könnte ich den Duft des Meeres einatmen und ihn in vollen Zügen genießen.
Das Haus gefiel mir schon immer sehr. Es ist ziemlich modern und hell eingerichtet und stellt alle Nachbarhäuser in den Schatten.
„Hallo Kat“, begrüßt mich meine Cousine Maddie und streicht mir durch mein dunkles Haar, „deine Haare gefallen mir.“
Warm lächle ich sie an und versuche meine Abneigung ihr gegenüber zu verbergen.
Tante Holly nimmt mich in die Arme und sagt mir immer wieder, wie sehr sie mich vermisst hat. Ich erwidere alles, merke jedoch, dass es zu erzwungen klingt.
„Warum wolltest du denn nicht mit hier her kommen?“, fragt sie mich, nachdem wir unsere Sachen nach oben gebracht, uns umgezogen haben und nun wieder alle im Wohnzimmer stehen.
Ich zucke die Achseln. „Sonne ist nicht so mein Ding“, antworte ich schließlich und öffne die Haustür, um endlich das Meer zu betrachten.
„Kat?“ Als meine Mom sanft nach meinem Namen fragt, bemerke ich, wie blöd ich mich gerade angehört habe. Erst war Sonne nicht mein Ding, ein paar Sekunden später will ich schon das Haus verlassen.
„Eine leichte Bräune könnte mir nicht schaden“, sage ich und schließe die Tür hinter mir. Obwohl es überhaupt nicht witzig gemeint war, höre ich im Haus schallendes Gelächter. Machen sie sich über mich lustig?
Ich gehe die schmale Straße hinunter und werde hier und da mal von ein paar spanischen Bewohnern angesprochen. Zwischendurch werde ich auch von Touristen nach dem Weg gefragt, denen ich jedes Mal erklären muss, dass ich selbst nur Gast in diesem Land bin.
Als ich endlich das Meer erreiche, strahle ich. Schon vom weiten konnte ich das Meer riechen, so als würde es mich führen.
Genervt seufze ich, als ich feststelle, dass der Strand voller Menschen ist. Ich hasse zu große Menschenmassen, weshalb mir plötzlich ein Steg in die Augen springt. Er ist menschenleer und dämpft wahrscheinlich auch etwas den Lärm.
Ich gehe dorthin, während sich mit jedem Schritt meine Vermutung immer mehr bestätigt. Ich setze mich an den Rand des Stegs und lasse meine Füße über dem Wasser baumeln. Da ich nur eine Shorts trage, könnte ich meine Beine problemlos ins Wasser tauchen. Doch ich zögere, da mir die schrecklichen Erinnerungen immer wieder durch den Kopf springen. Dann entschließe ich mich aber doch, meine Füße hinein zu tauchen und spüre plötzlich etwas, dass einem Stromschlag ähnelt. Schnell ziehe ich sie wieder heraus und sehe mich panisch um. Niemand hat etwas bemerkt.
„Was hat niemand bemerkt?“, frage ich mich in der Verwirrung selbst. Was ist passiert? Es hat sich definitiv wie ein leichter Stromschlag angefühlt. Vielleicht war es ein Aal?
Ich komme zu dem Entschluss, es mir nur eingebildet zu haben. Doch plötzlich höre ich etwas.
Es scheinen kleine Stimmen zu sein, die irgendetwas flüstern. Kommen sie etwa aus dem Meer?
Als ich besser hinhöre, und die Geräusche vom Strand ausblende, erkenne ich es plötzlich.
„Kat … Kat ...“, flüstern sie immer wieder. Sie rufen nach mir.
Panisch springe ich auf und schaue mich verwirrt um. Diese Stimmen können unmöglich aus dem Wasser kommen, wie denn auch? Entweder erlaubt sich hier jemand einen blöden Scherz oder ich leide an Halluzinationen, und zwar an starken.
Wütend sehe ich mich nach meinem Bruder Riley um, der sich für einen riesigen Witzbold
hält. Wenn mich hier jemand veräppelt, dann er. Doch ich kann ihn nirgendwo finden.
Verwirrt erinnere ich mich an letztes Jahr, als Riley den Rasensprenger auf eine falsche Uhrzeit einstellte und mich und Paige völlig nassspritzte. Erst waren wir ziemlich wütend, dann konnten wir uns vor Lachen aber nicht mehr halten.
Seit diesem erfolgreichen Scherz, hält mein Bruder es für nötig, uns alle paar Tage einen Streich zu spielen. Doch nun kann ich ihn nirgends entdecken. Da das Flüstern mittlerweile aufgehört hat, beschließe ich, es mir nur eingebildet zu haben und verlasse den Steg wieder. Augenblicklich dröhnt der betäubende Lärm der Menschen in mein Trommelfeld und zwingt mich, die Hände auf die Ohren zu pressen.
Der Grund, weshalb ich mir bei Lärm die Ohren zuhalten muss, ist nicht nur, weil ich ihn nicht ausstehen kann. Das hat auch mit meinem Vater zu tun, der damals meine Mom verließ.
Als er noch bei uns lebte, verdiente er unser Geld als Sänger und Entertainer. Er unterhielt die Menschen, beschäftigte sie oder sang ihnen etwas vor. Ich war oft bei seiner Arbeit dabei, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Es hat mir immer sehr gefallen, selbst der Lärm. Doch als mein Vater uns dann verließ, hasste ich es, besonders den Lärm. Seitdem höre ich nur noch Musik, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Selbst, wenn ich kaum verstand, was passiert war, hasste ich es. Ich verabscheute alles, was mit meinem Vater in Verbindung stand, und das tue ich noch heute. Es ist wie ein Reflex, ich kann es nicht kontrollieren.
Es ist beängstigend, wie gut ich mich schon in der spanischen Stadt Covas auskenne, dabei war ich erst ein einziges Mal hier. Problemlos finde ich den Weg zurück in Hollys Haus und geselle mich zu den anderen, so als wäre ich nie weg gewesen. Doch so geht es nur mir.
„Was hast du so getrieben?“, fragt Mom sofort. Tante Holly stellt fast die gleiche Frage und ich hebe nur eine Augenbraue.
„War am Strand“, murmle ich und ziehe meine Schuhe aus und werfe sie in der Ecke. Tante Holly sagt immer, ich soll mich hier ganz wie zu Hause fühlen, also tue ich es auch.
„Ich dachte, du kannst das Meer nicht leiden“, meint Maddie plötzlich und starrt auf meine Schuhe, die ich eben unsanft in die Ecke geworfen hatte. Es erstaunt mich, dass meine Cousine sich das gemerkt hat.
Ich zucke mit den Schultern. „Ist irgendwie nett da.“
Mom und Holly tauschen verwirrte Blicke. Vermutlich denken sie, ich hätte mich mit irgendwelchen spanischen Kindern angefreundet, obwohl Freunde finden nie eine Stärke von mir war.
Da niemand mehr etwas zu sagen hat, gehe ich nach oben und lege mich in mein Bett. Paige hat, wie zu Hause auch, das Bett gegenüber von meinem. Mom und Riley schlafen zusammen in einem anderen Zimmer.
Als ich die Augen schließe, beginnt sofort mein Traum. Ich befinde mich an dem Strand, an dem ich eben noch entlang gelaufen war. Wieder höre ich die Stimmen, die meinen Namen rufen, doch dieses Mal sind es viel lautere Stimmen. Das liegt vermutlich daran, dass der Strand menschenleer ist. Langsam bewege ich mich auf den Steg zu. Am Ende des Stegs, entdecke ich einen Jungen mit gelockten, braunen Haaren, die klatschnass an seinem Kopf kleben. Als er mich entdeckt, steht er auf und tritt auf mich zu. Seltsamerweise macht er eine altmodische Verbeugung und küsst meinen Handrücken. Verwirrt starre ich in sein makelloses Gesicht. Seine Augen schimmern ozeanblau, seine Nase ist leicht gebogen und seine Lippen sind wunderschön.
Plötzlich ergreifen die Stimmen aus dem Meer wieder die Oberhand und lösen mich aus meiner Starre. Ich schaue aufs grenzenlose Meer hinaus und der Junge folgt meinem Blick.
„Sie rufen dich“, flüstert er in einer dunklen, melodramatischen Stimme, die mich erschaudern lässt.
Fragend starre ich ihn an, in der Hoffnung auf eine Erklärung.
„Wer?“, frage ich schließlich in einer krächzenden Stimme. Er zögert. Nicht, weil er nach einer Antwort sucht, sondern weil er überlegt, ob er es mir sagen soll.
„Die verlorenen Seelen“, gibt er dann zurück. Wieder starre ich ihn verwirrt an, doch plötzlich verblasst alles und ich höre wieder meinen Namen.
Als ich die Augen öffne, sehe ich meine Schwester, die mich anlächelt.
„Tut mir leid, dass ich dich wecke. Mom meinte, ich soll dich zum Essen holen“, erzählt sie leise und grinst mich daraufhin an.
Beim Essen reden fast nur Mom und Holly. Sie unterhalten sich über alles: die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart. Riley, Paige, Maggie und ich halten den Mund und essen nur.
„Als ich heute am Strand war“, beginne ich und merke, wie Mom und Holly ihre Unterhaltung beenden und mir gespannt zuhören, „seid ihr da alle zu Hause geblieben?“
Ich muss es wissen, wegen Riley. Vielleicht ist er mir gefolgt und wollte mir dann Angst einjagen.
„Ja“, antwortet meine Mom und erntet zustimmendes Nicken der anderen. Das hat sich dann wohl geklärt.
Nach dem Essen gehe ich wieder rauf in mein Zimmer und denke über den Jungen in meinem Traum nach. Man träumt oft von Fremden, allerdings nicht so intensiv. Mein ganzer Traum drehte sich ja sozusagen um ihn. Und dann kommt noch hinzu, was er mir erzählt hat.
„Die verlorenen Seelen rufen dich“, hatte er gesagt.
Doch was hatte er damit gemeint? Die Worte ergeben so für mich keinen Sinn. Also schließe ich wieder die Augen, in der Hoffnung, ich träume noch einmal von ihm und er kann mir alles erklären. Doch alles, wovon ich träume, sind große rosa Wolken.
Als die rosafarbenen Wolken langsam verschwinden und sich eine wolkenlose Decke bildet, stehe ich plötzlich vor einem Mann. Er hat dieselbe Haarfarbe wie ich, jedoch kurz geschnitten. Seine Augen sind ebenfalls blau, wie meine. Erst jetzt bemerke ich, dass es mein Vater ist.
Ich starre in diese kalten, blauen Augen, ohne mich zu rühren. Das wage ich einfach nicht. Mir ist klar, dass ich mich in einem Traum befinde, doch er ist so real, dass ich mich immer wieder selbst daran erinnern muss.
„Kat“, sagt er plötzlich in der gleichen, rauen Stimme, wie ich es in Erinnerung habe, „du fehlst mir.“
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Einerseits fehlt er mir ebenfalls, anderseits hasse ich ihn abgrundtief. Er ist der Grund, weshalb es Mom nicht gut geht. Er ist der Grund für das Loch in meiner Brust. Auch wenn ich damals noch so klein und dumm war, erinnere ich mich an jedes Detail. Ich erinnere mich an sein Lachen, seine Art sich zu verabschieden, seine Lieblingslieder und selbst den Duft seines Aftershaves. Früher wollte ich so wie er sein. Irgendwann einmal selbst auf der Bühne stehen und singen. Ich habe auch eine atemberaubende Stimme, wie meine Familie sagt, doch singen werde ich niemals. Er war immer mein Vorbild gewesen, bis zu dem Tag, als er uns verlassen hatte.
Nun stehe ich noch immer da und starre ihn an. Ich habe ihm nichts zu sagen, also schweige ich.
„Wenn ich könnte, würde ich es wieder gut machen“, erzählt er und senkt langsam den Kopf zu Boden. Soll ich ihm glauben?
„Aber Kat, du darfst das alles nicht aufgeben“, fährt er plötzlich fort und streckt seine Hand nach meiner aus, doch ich weiche zurück. „Schwimmen, singen … du hast alles aufgegeben. Das wollte ich nicht!“
Nun senke ich meinen Kopf und starre auf die Wiese, auf der wir stehen. Plötzlich will ich einfach nur noch, dass er verschwindet. Ich will ihn nicht mehr sehen, weil er einfach zu viele schlechte Gefühle und Erinnerungen hoch holt. Zwar habe ich mit meinem Vater auch sehr viele schöne Momente erlebt, doch die schlechten brennen schlimmer in meiner Erinnerung.
„Ich will dich nie wieder sehen, nicht mal in meinen Träumen!“, brülle ich plötzlich. Dann drehe ich mich um und laufe so schnell ich kann.
Obwohl ich mich nach seiner Gegenwart sehne, verbinde ich zu viele schlechte Dinge mit ihm. Mein Vater allein ist der Grund, für mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein und meine Macken. Wäre er geblieben, würde es mir gut gehen. Wahrscheinlich würde es mir sogar besser gehen, wenn er damals gestorben wäre, statt einfach abzuhauen.
Ruckartig stoppe ich und lege mich auf den Boden. Ich muss feststellen, dass ich mich wieder am Strand befinde, doch das ist mir egal. Meinen Kopf lasse ich einfach in den Sand fallen und schließe die Augen.
Im Moment kann ich Traum nicht von der Wirklichkeit unterscheiden. Vielleicht weine ich, vielleicht nicht. Doch warum löst mein Vater in mir solche tiefen Gefühle aus? Er hat uns verlassen, mehr nicht. Vielleicht hatte er seine Gründe. Er könnte zum Beispiel ein Krimineller sein, der uns dadurch nur schützen wollte.
„Aber das ist zu unwahrscheinlich“, sage ich laut und weiß immer noch nicht, ob ich noch schlafe oder nicht. Das werde ich erst wissen, wenn ich die Augen geöffnet habe. Doch im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich sie jemals wieder öffnen will. Falls ich noch schlafe, will ich vielleicht niemals mehr aufwachen. Ich meine, was soll ich noch auf dieser Welt?
Als hätte ich diese Gedanken laut ausgesprochen, antwortet mir plötzlich eine vertraute Stimme.
„Dein Schicksal wartet auf dich“, beginnt er und hinterlässt ein kaum erkennbares Lächeln auf meinen Lippen, „das darfst du nicht einfach so aufgeben.“
Ich öffne die Augen und erkenne den Jungen aus meinem letzten Traum. Er lächelt mich vertraut an, während er langsam auf mich zu kommt und mir seine Hand hinhält. Ohne zu zögern, greife ich danach und lasse mich aus dem Sand ziehen, in den ich mich geworfen hatte.
„Welches Schicksal?“, frage ich und sehe zu, wie das Lächeln auf seinen Lippen verblasst.
„Das musst du selbst herausfinden“, antwortet er zögerlich. Sein Blick wandert zum Ozean und dann wieder zu mir.
„Wieso ist dieser Traum so real?“, frage ich plötzlich und merke, wie angespannt er ist.
„Weil es mehr als ein Traum ist.“
Wieder starre ich ihn verwirrt an und versuche Antworten in seinen ozeanblauen Augen zu finden, doch ich entdecke nichts. Er selbst ist wie der Ozean, fällt mir auf, geheimnisvoll – groß – atemberaubend. Plötzlich frage ich mich, ob er genauso viele Gefahren birgt.
„Du musst dich vom Meer fernhalten“, sagt er plötzlich und wirft seinen Blick auf den Ozean. Ich folge ihm weiter durch den Sand und starre ebenfalls aufs Meer.
„Wieso?“, frage ich und bin auf einmal schrecklich nervös. Hätte er mir dies vor ein paar Tagen in meinem Traum gesagt, hätte ich vielleicht anders reagiert. Doch seit das Meer mich irgendwie … magisch zu sich zu rufen scheint, denke ich anders darüber. Ich spiele sogar manchmal mit dem Gedanken, hinein zu gehen.
„Es ist gefährlich“, antwortet er und sieht mich mit einem angespannten Blick an.
„Ist es das nicht immer?“, gebe ich zurück und wende den Blick von ihm ab. Plötzlich bleibt er stehen und hält mein Handgelenk fest. Als er es wieder loslässt, bleibt ein prickelndes Gefühl an dieser Stelle zurück.
„Das ist mein Ernst“, sagt er und starrt mich böse an, „du musst mir vertrauen!“
Es ist seltsam, so etwas von einem Jungen zu hören, der vermutlich überhaupt nicht existiert. Trotzdem nicke ich und verspreche ihm, mich vom Meer fernzuhalten. Allerdings merkt er nicht, dass ich die Finger hinter meinem Rücken kreuze.
„Habt ihr schon Pläne für heute?“, fragt Mom am nächsten Morgen, während wir essen und schaut uns alle abwechselnd an. Nacheinander schütteln wir den Kopf, bis auf Maddie.
„Einer meiner Freunde hat das Boot seines Dads geliehen bekommen. Er hat mich und ein paar andere Freunde auf eine Bootstour eingeladen“, erzählt sie stolz und starrt uns alle an, bis ihr Blick an mir hängen bleibt.
„Kat, Paige, ihr könnt auch mitkommen“, schlägt sie unerwartet vor, „ich hab meinen Freunden von euch erzählt und sie fänden es toll, wenn ihr dabei wärt.“
Paige und ich starren uns gegenseitig an. Ich weiß sofort, dass sie nach einer Ausrede sucht, da sie Maddie nicht leiden kann.
„Keine gute Idee“, murmelt meine Schwester und ich muss ein Lachen unterdrücken. „Ich werde schnell seekrank.“
Paige und ich blicken gleichzeitig prüfend in Moms Richtung, doch ihr Gesichtsausdruck bleibt unverändert.
„Hm“, macht Maddie und starrt plötzlich mich an, „und du, Kat?“
Ich überlege.
„Sind deine Freunde nicht ein wenig zu jung für mich?“, frage ich und stelle mir vor, wie ich zwischen lauter Liliputanern stehe und zu ihnen herunter blicke. Ich verkneife mir ein Grinsen.
„Fast alle sind ungefähr so alt wie du, einer sogar älter“, gibt sie zu und nimmt einen Bissen vom Brötchen.
Nun vergleiche ich die Pro- und Contra-Argumente miteinander und stelle fest, dass die Guten die Schlechten überragen.
„Gut“, sage ich plötzlich, „ich komme mit.“
Ich erkenne ein Funkeln in Maddies Augen und weiß nun, dass meine Anwesenheit ihr wirklich etwas bedeutet. Sie sagt mir, dass wir gegen Mittag zum Hafen gehen werden. Da es aber noch morgens ist, gehe ich vorher noch in die Stadt, die sozusagen gleich um die Ecke ist, und kaufe mir einen blau-goldenen Bikini und ein Kleid. Als ich wieder im Haus ankomme, ziehe ich meinen Bikini unter und darüber mein Kleid, welches ebenfalls blau und mit goldenen Flecken übersät ist.
„Kat“, beginnt Mom, als ich die Treppen herunter komme, „du siehst toll aus!“
Verlegen sehe ich eine andere Richtung und merke, dass auch alle anderen mich anstarren. Das ist nur ein normales Sommerkleid, will ich schreien. Doch das kommt mir irgendwie gemein vor. Sie meinen es ja nur gut. Ich verabschiede mich von meinen Geschwistern Paige und Riley.
Wenig später verlassen Maddie und ich das Haus. Wieder spüre ich Blicke auf mir ruhen, da Mom und Holly uns durchs Fenster beobachten. Ich frage mich, weshalb ich mitgehe, da mich sowieso keiner von Maddies Freunden leiden können wird. Freundschaften schließen, ist nun mal ein großes Problem für mich.
„Meine Freunde sind nett“, sagt Maddie plötzlich, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Vermutlich redet jeder so über seine Freunde, denke ich stumm.
Als wir uns dem Meer nähern, weht mir eine frische Meeresprise ins Gesicht und streift durch mein Haar. Wieder kann ich das Meer riechen und es fühlen, als wäre ich mittendrin.
„Riechst du das?“, frage ich Maddie, die sich verwirrt umsieht.
„Was?“
„Na das Meer“, antworte ich und ernte noch immer verwirrende Blicke von ihr.
„Den Ozean kann man nicht riechen“, protestiert sie unerwartet und wendet den Blick von mir ab.
„Doch“, widerspreche ich und fühle mich plötzlich ganz allein. Nehme wirklich nur ich diesen Meeresduft wahr?
Als wir den Hafen erreichen, erkenne ich zuerst das Boot. In meinen Vorstellungen war es größer, trotzdem würden ohne Probleme eine Menge Leute rauf passen. Die Segel und das komplette Boot sind weiß. Es ist ein Segelboot!
Ein ziemlich großer Junge kommt auf uns zu. Der Wind weht durch sein hellbraunes Haar und zerzaust es. Er trägt nichts als eine knielange Shorts und ein normales Paar Turnschuhe, während er auf uns zu kommt. Als er vor uns stehen bleibt, starrt er mich mit seinen dunklen Augen an und wendet seinen Blick nicht mehr ab.
„Josh.“
Maddie holt ihn aus seinen Gedanken und zwingt ihn, sie anzusehen.
„Hi Maddie“, sagt er in einer dunklen, normalen Stimme und schenkt ihr ein kurzes Lächeln. „Schön, dass du gekommen bist.“
Sie nickt ihm kurz zu und wendet sich dann an mich. „Joshs Vater gehört das Boot“, erklärt sie und dreht sich dann in seine Richtung. „Das ist Katherine.“
„Kat“, verbessere ich und halte ihm die Hand hin. Sofort nimmt er sie und schüttelt sie leicht. Mir schenkt er ein intensives Lächeln.
Langsam gehen wir den Steg entlang und nähern uns dem Boot. Da ich noch nie auf einem Boot gefahren bin, hoffe ich, nicht seekrank zu werden.
Nun kommt uns ein zierliches Mädchen mit aschblonden Haaren entgegen. Sie erinnert mich etwas an meine Schwester, das verfliegt aber sofort , als sie mich mit einem schiefen Blick betrachtet.
Da sie den Blick nicht mehr von mir abwendet, sage ich: „Hi, ich bin Kat.“
„Selene“, antwortet sie mürrisch und zieht die Augenbrauen hoch.
Als sie wieder auf dem Segelboot verschwindet, wende ich mich an Maddie. „Ist die immer so schlecht gelaunt?“, flüstere ich.
Maddie nickt nur und ich folge den anderen aufs Boot.
„Fahren wir los?“, fragt sie Josh und sieht sich auf dem Boot um.
„Wir müssen noch auf Tyler warten“, antwortet er. Als wäre es geplant, kommt plötzlich ein Junge den Steg entlang gelaufen und begrüßt uns alle mit einem Lächeln.
„Wenn man vom Teufel spricht“, scherze ich unerwartet und presse schnell die Hände auf meine Lippen. Anscheinend ist es unkontrolliert aus mir herausgesprudelt. Nun spüre ich viele Blicke auf mir und merke, wie das Blut in meine Wangen schießt. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen, was wohl aus der gemeinsamen Zeit mit meinem Vater herrührt.
„Und du bist?“, fragt Tyler und starrt mich noch immer an.
„Katherine“, antwortet Maddie für mich, als ich gerade antworten will. Ich werfe ihr einen genervten Blick zu.
„Ich kann selbst sprechen“, sage ich und lächle Tyler an, „ich bin Kat.“
Nachdem wir uns alle einen bequemen Platz gesucht haben, beginnt die Fahrt. Ich suche mir ganz vorne einen gemütlichen Platz und setze mich hin. Ungeduldig warte ich auf den Würgereiz oder darauf, dass mir schwindelig wird, doch nichts geschieht. Fürchte ich mich überhaupt nicht vor dem Meer? Doch, das tue ich. Schon allein der Gedanke an die unzähligen Fische dort unten, lösen in meinem Magen ein abstoßendes Gefühl aus. Ich versuche sogar, meinen Blick so weit wie möglich vom Wasser fernzuhalten, obwohl ich nicht einmal weiß, weshalb. Ist es die Furcht vor der Dunkelheit oder der Ekel vor den Lebewesen? Und außerdem: Ist all dies die Schuld meines Vaters?
Plötzlich werden meine Gedankengänge von einer großen Gestalt gestört. Ich blicke hinauf um sie zu erkennen, werde aber von der Sonne geblendet und wende meinen Blick sofort wieder ab.
Eine tiefe, noch fast unbekannte Stimme begrüßt mich und setzt sich zu mir. Als ich einen erneuten Blickkontakt wage, erkenne ich Tylers Gesicht.
Natürlich muss es Tyler sein, Josh fährt das Boot, denke ich und lache lautlos in meinen Gedanken.
„Ich bin übrigens Tyler“, erzählt er und hält mir grinsend die Hand hin. Ohne zu zögern greife ich danach.
Der Wind streicht mir sanft durch die Haare und lässt meine Augen funkeln. Obwohl ich genau dies alles immer gefürchtet und gemieden habe, will ich hier nie mehr fort. Es ist wie ein altes, aus der Kindheit gewohntes Haus, welches ich nach vielen Jahren der Angst wieder betrete und ich mich fühle, als wäre es nie fort gewesen.
„Weiß ich“, antworte ich selbstbewusst und lächle ihn matt an.
Eine Weile betrachten wir uns nur stumm im Sonnenschein, bis Tyler von Josh gerufen wird und er stöhnend aufsteht und verschwindet.
Als ich wieder Schritte höre, denke ich erst, dass Tyler wieder gekommen ist, doch als ich mich umdrehe, entdecke ich Josh. Er kommt lässig auf mich zu und setzt sich neben mich. Anders als Tyler, starrt er auf den Ozean und nicht auf mich.
„Ich dachte, du fährst das Boot“, fällt mir nach einigen Sekunden ein und plötzlich fährt mir ein Schauder über den Rücken.
„Hat Tyler übernommen“, lacht er, da man die Angst in meiner Stimme hören konnte.
Tyler und Josh unterscheiden sich nicht nur durch ihr Äußeres. Obwohl ich sie erst seit kurzer Zeit kenne, frage ich mich, weshalb sie miteinander befreundet sind. Tyler ist eher ruhig und tiefsinnig, wogegen Josh sehr selbstbewusst und cool wirkt.
Seltsamerweise muss ich sie nun mit dem Jungen aus meinen Träumen vergleichen. Beide kommen so fast lächerlich rüber. Ihr Gang, ihre Art, ihr Aussehen .. alles ist kaum vergleichbar. Doch warum vergleiche ich sie miteinander? Der Junge in meinem Traum existiert nicht. Er ist nur eine Projektion meines Unterbewusstseins, mehr nicht. Doch trotzdem muss ich ununterbrochen an ihn denken..
Nun nachdem ich mich an die Anwesenheit an Bord gewöhnt habe, wage ich es nun auch, mich hinzustellen. Ich klammere mich mit beiden Händen so fest an die Reling, dass es fast wehtut, trotzdem macht sich ein Lächeln auf meinen Lippen sichtbar.
Nun rieche ich den Meeresduft deutlicher, als je zuvor. Er weht durch meine Haare, umkreist meinen Körper und steigt mir in die Nase. Plötzlich schmecke ich auch das Salzwasser auf meinen Lippen und kann fast prophezeien, dass ich als nächstes wieder die Stimmen hören werde. Ich werde sie immer hören, dass kann ich nun nicht mehr vermeiden. Es sind die verlorenen Seelen, die nach mir rufen.
Ich fasse mir durch die Haare und halte kurz den Atem an. Es ist merkwürdig, dass ich dem Jungen aus meinen Träumen so selbstverständlich glaube. Ich denke, dass mein Herz noch nicht verstanden hat, dass er nicht existiert. Dem Jungen werde ich niemals begegnen.
„Kat?“
Nachdem Josh gegangen ist, habe ich eigentlich mit niemandem mehr gerechnet. Doch als ich mich langsam umdrehe und mich mit dem Rücken an die Reling lehne, erkenne ich Maddie. Natürlich habe ich sie schon an ihrer Stimme erkannt. Sie ist ziemlich hoch und ein wenig quietschig, was wahrscheinlich auch der Grund für ihre nervige Art ist. Doch seit ich sie wieder gesehen habe, kommt sie mir nicht mehr wirklich nervig vor. Ich finde sie sogar ein wenig sympathisch, da sie mich zu dieser Tour eingeladen und ihren Freunden vorgestellt hat. Bei uns zu Hause hätte ich so etwas nie getan.
„Hi“, begrüße ich sie, als hätten wir uns lange nicht gesehen. Maddie stößt ein leises Lachen aus und stellt sich neben mich.
„Es ist schön, dich so zu sehen“, stellt sie unvorbereitet fest und lächelt mich warm an. „Ich meine, du siehst so glücklich aus und scheinst diese Tour richtig zu genießen.“
Ich nicke und wende meinen Blick wieder ab, um auf den Ozean zu starren. Das Grinsen kann ich mir nicht verkneifen.
Ich merke kaum, wie Maddie unter Deck verschwindet. Kurz überlege ich, ihr zu folgen und mich unten mal umzusehen, lasse den Gedanken aber wieder fallen. Es gefällt mir hier oben, solange mir das Wasser nicht zu nahe kommt. Doch plötzlich überkommt mich eine Gänsehaut. Sie streift erschreckend über meinen Rücken und Arme, bis ich erkenne, weshalb. Ich höre wieder diese Stimmen und weiß nun, dass ich sie mir niemals eingebildet habe. Solche Stimmen können nicht einfach aus meiner Fantasie stammen, das ist unmöglich. Sie müssen echt sein und nach mir rufen. Ich werfe noch einen kurzen Blick aufs Meer, als mir das Sprichwort einfällt: Stille Wasser sind tief.
Ich kann nicht anders, als mir die Hände auf die Ohren zu pressen und langsam in die Hocke zu gehen. Es hilft ein wenig, da ich sie kaum noch hören kann. Doch ich kann nicht ewig in dieser Position verharren, also laufe ich schnell nach hinten und verschwinde daraufhin unter Deck.
Erleichtert atme ich aus, da die Stimmen endlich verschwunden sind. Dafür aber, starren mich jetzt alle erschrocken an.
„Alles in Ordnung?“, fragt Maddie und kommt auf mich zu, um mich zu stützen und mir beim Hinsetzen zu helfen. Ich frage mich, warum alle so erschrocken aussehen. Sie haben meine Panikattacke an Deck nicht mitbekommen, wieso machen sie sich also Sorgen?
Als hätte Maddie meine Gedanken gelesen, hält sie mir einen Spiegel hin. Ohne zu zögern greife ich danach und blicke erschrocken die fremde Person darin an.
Diese fremde Person hat angstgeweitete Augen, einen verzerrten Mund und ein leichenblasses Gesicht. Wie kann nur in so kurzer Zeit die gesamte Farbe aus einem Gesicht weichen?
„Was ist passiert?“, fragt Tyler und kommt auf mich zu.
Ich schüttle nur den Kopf. „Mir ist nur ein wenig übel, aber es geht schon.“
Da die anderen noch immer nicht wirklich überzeugt aussehen, fahre ich fort: „Ich muss mich nur kurz ausruhen, dann geht es mir wieder gut.“
Nach und nach wenden die anderen ihre Blicke ab, doch Maddie sitzt immer noch neben mir und starrt mich verblüfft an.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Katherine“, gibt sie zu und legt ihr Gesicht in ihre Hände. Ich weiß nicht wie ich ihr antworten soll, also halte ich den Mund. Wäre hier eine Entschuldigung angebracht, oder eine Erklärung?
„Weißt du“, beginnt sie nach einer Weile, „meine Mom hat mir sozusagen die Verantwortung für dich übertragen.“
Da ich sie verwirrt angucke, redet sie schnell weiter.
„Ich weiß, du bist älter als ich. Aber wir wissen alle, dass du etwas anders bist“, erklärt sie, während sie weitere verwirrte Blicke von mir erntet.
So habe ich mich bisher nie betrachtet. Anders. Für mich selbst war ich nie anders als alle anderen. Meine Macken unterscheiden mich vielleicht von anderen, aber heißt das gleich, dass ich anders bin?
„Deshalb soll ich bei dieser Bootstour aufpassen, dass dir nichts passiert“, sagt sie in einer ruhigen Stimme und sieht mir in die Augen. „Also versuch bitte nicht vom Boot oder so zu fallen.“
Wir beide müssen lachen, obwohl diese Vorstellung mich schockiert. Vermutlich würde ich von dem Schock, auf einmal so viel Wasser um mich herum zu haben, schon sofort sterben. Falls das nicht der Fall sein sollte, würde ich ertrinken. Am besten wäre es also, wenn ich mich vom Wasser fernhalte, denke ich trübselig, woraufhin mein Lachen augenblicklich verstummt.
Nachdem Maddie mit den anderen an Deck geht, bleibe ich alleine zurück und starre vor mich hin. Unten sieht es aus, wie in jedem anderen Boot. Es stehen ein paar kleine Schränke drin, ein Minikühlschrank mit verschiedenen Getränken und bequeme hölzerne Sitzbänke an den Seiten. An der Wand hängen Bilder von einem älteren Mann, der vermutlich Joshs Vater ist.
Ich frage mich langsam, welche Bedeutung das Meer überhaupt für mich hat. Mag ich es oder hasse ich es? Kann man überhaupt etwas für den Ozean fühlen? Vielleicht stehe ich auch einfach nur neutral dazu. Doch eigentlich, sollte ich das Meer fürchten. Es birgt zu viele Gefahren und hat schon viel zu viele Leben genommen.
Nun höre ich plötzlich wieder Stimmen. Erst denke ich, es ist das Flüstern aus dem Meer, dann aber merke ich, dass es von Maddie und ihren Freunden stammt.
Schnell gehe ich die Treppen hoch und wende meinen Blick auf den Boden. Ich fürchte mich davor, es anzusehen, da ich dann wieder die Stimmen hören könnte, die mich in den Wahnsinn treiben.
Also hefte ich meinen Blick stur auf den Boden, halte meine Hände um meine Augen und marschiere auf die anderen zu.
„Was sollen wir tun?“, höre ich Selene sagen, der ich bis jetzt kaum auf dem Boot begegnet bin. Sie klingt ziemlich ängstlich, doch das kann alle möglichen Ursachen haben.
„Wir gehen unter Deck und warten bis es vorbei ist. So schlimm kann der nicht sein“, schlägt Tyler vor. Ich frage mich, weshalb er so etwas sagt, frage aber nicht nach.
„Nein!“, wirft plötzlich Josh ein, „wir müssen so schnell es geht zurück fahren. Wenn dem Boot etwas passiert, bin ich erledigt.“
Warum sollte dem Boot etwas passieren? Es ist doch alles in Ordnung, oder?
„Worauf warten wir dann noch?“, schreit die ängstliche Stimme von Selene und läuft an mir vorbei. Warum benehmen sich alle so komisch?
„Was ist los?“, frage ich unwissend und starre noch immer auf den Boden.
„Kat!“, schreit Maddie hysterisch und fängt plötzlich an, an mir zu rütteln. „Mach die Augen auf, guck nach oben!“
Ich frage nicht weiter nach, sondern tue, was sie sagt. Zuerst sehe ich auf das Meer. Es ist nicht mehr so ruhig, wie vorhin. Überall sind Wellen, die das Boot gewaltig zum Schlingern bringen. Dann wird mein Blick plötzlich vom Himmel angezogen.
Schockiert reibe ich mir die Augen und stehe nur noch mit offenem Mund da. Der blaue Himmel ist verschwunden. Nun bedecken dunkle Wolken den Himmel, während plötzlich auch Blitze daraus schießen. Es dauert nicht lange, bis ich bemerke, dass der Sturm direkt auf uns zu kommt.
Jetzt passiert alles viel zu schnell, um wirklich darüber nachdenken zu können. Die Wellen schlagen unüberhörbar gegen das Boot und lassen es gewaltig hin und her schaukeln. Es dauert nicht lang, bis die erste Welle über das Boot hinweg geht und sämtliche losen Gegenstände durcheinander wirbelt. Ich kann deutlich hören, wie mehrere Personen meinen Namen rufen, doch ich kann mich nicht bewegen. In dieser Schockstarre befinde ich mich oft. Eine zweite Welle ist so stark, dass sie mich zu Boden reißt, so dass ich auf dem Bauch lande. Zwar verursacht mir der Aufprall keine besonderen Schmerzen, jedoch bemerke ich, nach dem ersten Schreck, dass mein Handgelenk furchtbar brennt. Als ich es mir genauer ansehe, entdecke ich das Blut, welches als kleines Rinnsal auf den Boden tropft. Beim zweiten Blick auf die Wunde erkenne ich die Tiefe des Schnittes und denke, dass ein Pflaster da wohl nicht reichen wird.
Krampfhaft versuche ich aufzustehen, da ich mich durch den Sturz aus meiner Starre befreit habe. Als ich es endlich hoch geschafft habe und in den Himmel schaue, muss ich schlucken. Dunkle Gewitterwolken übersähen den kompletten Himmel, während Blitze daraus schießen und es furchtbar laut donnert. Der Wind ist so stark, dass er – wären die Segel aufgeklappt – das Boot mit einer Leichtigkeit umreißen oder gar davon wehen könnte.
Während mein Blick noch immer starr gen Himmel gerichtet ist, merke ich kaum, wie eine dritte Welle mich erneut zu Fall bringt und ich dann bis ans eine Ende des Bootes rutsche. Doch die Welle ist so stark, dass ich über die Bootswand fliege und in einem Anflug von Geistesgegenwärtigkeit, mit meinen Händen die Reling zu fassen bekomme. Nun hänge ich gut einen halben Meter über dem Meeresspiegel, drohe aber jeden Moment ins Wasser zu fallen.
„Sie kann nicht schwimmen!“, höre ich meine Cousine brüllen, woraufhin mich zwei starke Hände an den Armgelenken packen und versuchen mich hochzuziehen. Durch dieses Ziehen wird der Schmerz im verwundeten Handgelenk verstärkt, aber ich unterdrücke den Schrei, auch wenn die Wunde nun deutlich mehr schmerzt als zuvor. Als ich hoch blicke, entdecke ich Tyler und bin irgendwie ein wenig erleichtert.
Gerade, als ich wieder Boden unter meinen Füßen spüre, sehe ich hinter Tylers Rücken eine vierte Welle, die direkt auf uns zu kommt. Wir versuchen uns beide, so gut es geht, an der Reling festzuhalten, doch der Druck der Welle ist viel zu stark. Schließlich spült sie uns beide davon und lässt uns brutal aufs Wasser aufschlagen. Einen Moment fühle ich blasse Erleichterung, da ich mich nicht alleine im Wasser befinde und so wahrscheinlich noch eine Chance habe, hier wieder raus zu kommen. Doch als ich Tyler plötzlich aus den Augen verliere, fange ich an, schreckliche Panik zu bekommen.
Ich schlage wie wild mit meinen Armen um mich und strample kräftig mit meinen Beinen, um über Wasser zu bleiben. Doch gegen die gewaltige Kraft der Wellen scheine ich machtlos zu sein. Mir war schon immer bewusst, dass man die Kraft des Wassers nicht unterschätzen sollte, doch dass man gegen sie überhaupt keine Chance haben soll, hätte ich nicht gedacht.
Immer und immer wieder werde ich unter Wasser gedrückt und schaffe es jedes Mal gerade noch, wieder hoch zu kommen. Ich frage mich, wie ich das mache, da ich mal gelesen habe, dass selbst ein Leistungsschwimmer diesem Druck nicht lange standhalten kann. Doch langsam merke auch ich, wie kraftlos ich werde und kaum noch Sauerstoff in meinen Lungen habe.
Die Klamotten erleichtern es auch nicht gerade. Ich muss das Boot finden, denke ich und fange an, Ausschau danach zu halten. Doch es scheint, als hätte sich dichter Nebel auf den Ozean gelegt.
Als ich gerade aufgeben und mich innerlich von meiner Familie verabschieden will, taucht in einiger Entfernung plötzlich ein Junge auf. Er kommt mir unwahrscheinlich bekannt vor, allerdings ist es nicht Tyler.
Mal wieder kann ich die Realität nicht vom Traum unterscheiden. Ist dieser gutaussehende junge Mann dort vor mir wirklich Real? Seine gleichmäßigen Bewegungen lassen ihn elegant durchs Wasser schweben, obwohl ihn die hohen Wellen eigentlich hinunter ziehen müssten. Ich bin wie erstarrt, trotzdem bleibt mir die Frage: Traum oder Realität?
Es braucht keine nächste Welle mehr, um mich Unterwasser zu bekommen. Obwohl ich mir Mühe gebe, meine Lieder offen zu halten, wird mir langsam Schwarz vor Augen. Jedenfalls habe ich nun nicht mehr das Gefühl, dass mir mein Herz gleich aus der Brust springt, da es immer schwächer wird. Trotzdem bleibe ich standhaft und halte die Luft an.
Vielleicht ist das hier mein Schicksal. Sicher war es lange vorherbestimmt, dass ich einmal so sterben werde. Doch vielleicht hätte ich es vermeiden können, wenn ich nicht mit auf diese Bootstour gekommen wäre.
Als ich ein leises, seltsames Geräusch höre, zwinge ich mich ein letztes Mal, meine Augen zu öffnen. Sofort entdecke ich den Jungen, den ich schon einmal über Wasser gesehen habe. Würde ich Unterwasser nicht alles verschwommen sehen, hätte ich womöglich erkannt, wer dieser Junge ist.
Er gleitet elegant durchs Wasser auf mich zu und bewegt sich dabei äußerst schnell. Doch ehe er bei mir ankommt, fallen mir plötzlich die Augen zu und ich falle in einen tiefen Schlaf, aus dem ich Vermutlich nicht mehr aufwachen werde.
Ich bin im Himmel, denke ich sofort. Es kann keine andere Möglichkeit geben. Der Junge, den ich zuletzt sah, kann es unmöglich geschafft haben, mich zu retten. Vermutlich war ich schon am Meeresboden, als er mich erreicht hat. Das heißt wohl, ich bin tot. Doch woher kommt dieses Geflüster? Langsam realisiere ich, dass dies auf keinen Fall der Himmel sein kann und ich auch noch nicht Tod bin. Denn ich spüre, wie ich atme, wie mein Herz schlägt und Blut durch meinen Körper pumpt. Ich lebe.
Doch irgendetwas ist anders und ehe ich es herausfinden kann, höre ich eine unbekannte Stimme.
„Ich habe doch gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist“, sagt eine ruhige Frauenstimme, die höchstwahrscheinlich direkt neben mir steht. Unerwartet spüre ich, wie sie meine Stirn berührt und mein Gesicht hinab streicht. Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen. Aus irgendeinem merkwürdigem Grund will ich warten, bis ich alleine bin.
„Wir sollten sie in Ruhe lassen“, schlägt die Frau unerwartet vor, als hätte sie meine Gedanken gehört. Daraufhin höre ich Schritte und eine zufallende Tür. Sofort öffne ich meine Augen, wie Bella im Film, als sie zum Vampir erwacht und setze mich auf.
Der Raum wird von einer quälenden Dunkelheit durchflutet, während mir gar das Atmen schwer fällt. Es riecht ein wenig muffig und alles fühlt sich an, als befände ich mich in einer Schwimmhalle. Bemerkenswert ist auch, dass es in diesem kleinen Raum kein einziges Möbelstück vorhanden ist. Es existiert nur das Bett auf dem ich sitze.
Langsam realisiere ich, dass es nicht einmal richtige Wände gibt und ich mich in einer Art Höhle befinden muss. Alles ist aus Stein, die Decke, die Wände und selbst der Boden, auf dem ich nun stehe. Bin ich etwa wirklich in einer Höhle? Wahrscheinlich nicht.
Nun schleiche ich langsam zur Holztür, während jedes Geräusch als Echo durch den Raum hallt. Die Tür zu öffnen, erfordert eine gewisse Anstrengung. Doch als ich es endlich geschafft habe, öffne ich sie nur einen klitzekleinen Spalt. Hinter der Tür befindet sich nichts, als eine weitere, größere Höhle. Ich kann niemanden entdecken, also schleiche ich weiter.
Ich will aus dieser stickigen Höhle raus, denke ich ununterbrochen. Obwohl mein ganzer Körper schmerzt – besonders meine verletzte Hand und meine Schläfe – treibt mich dieser Gedanke voran. Denn ich weiß, dass es mir außerhalb dieser Höhle an der frischen Luft besser gehen wird und ich dann auch vielleicht wieder klar denken kann. Doch was, wenn dies ein riesiges Tunnelsystem ist?
Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken. Erst denke ich, dass ich es selbst verursacht habe, doch als ich mich umdrehe, entdecke ich eine erschrockene Frau. Sie hat ausgeblichenes blondes Haar und einen relativ normalen Körperbau. Ihr Gesicht ist leicht gerundet, genau wie ihre Nase, doch das lässt sie irgendwie freundlich wirken. Klamotten trägt sie nicht wirklich, was ich ihr auch nicht übel nehmen kann, da es schrecklich heiß in dieser Höhle ist. Sie trägt nur eine Bekinihose und ein Top, dass kaum ihren Bauch verdeckt.
„D-du bist w-wach“, stottert sie unerwartet und ich erkenne die Stimme von vorhin. Langsam und vorsichtig – so als wäre ich ein wildes Tier – stolpert sie auf mich zu. Mir fällt auf, dass sie meeresblaue Augen hat, was mich Schlucken lässt.
„Wo bin ich hier?“, höre ich mich sagen und schließe schnell wieder meinen Mund.
„In einer Unterwasserhöhle“, antwortet die Frau nach langem Zögern.Unterwasserhöhle? Heißt es, dass ich mich unter dem Meeresspiegel befinde? Nach Luft schnappend stolpere ich an die Höhlenwand neben mir und halte mich keuchend daran fest. Das erklärt wenigstens die stickige Luft, denke ich und lache innerlich. Mein Verstand beginnt langsam, verrückt zu spielen und ich bemerke, dass mir schwindelig wird.
„Du musst dich ausruhen, Liebes“, sagt die Frau und tritt einen Schritt auf mich zu.
„Ich muss hier raus, bitte. Ich brauche frische Luft“, erkläre ich hektisch und sehe flehend die Frau an. Sie reagiert blitzschnell und legt meinen rechten Arm um ihre Schulter. Stützend führt sie mich nun durch die Tunnel, bis ich endlich Licht erkenne und mich aus ihrem Griff befreie. Humpelnd wage ich mich nun zum Ausgang und falle erleichtert auf meinen Knien zusammen, als ich endlich wieder frische Luft einatmen kann. Die Welt hört sich sofort auf zu drehen. Doch mein Herz setzt einen Moment aus, als ich vor mir mir das unendliche Meer entdecke.
„Was ist das?“, frage ich ängstlich und zeige aufs Meer hinaus. Natürlich kenne ich die Antwort, trotzdem muss ich fragen.
„Das Mittelmeer, Liebes“, antwortet die Frau und legt eine Hand behutsam auf meine Schulter. Mühsam und kraftlos ziehe ich meine Schulter von ihr Weg und sehe mich um. Die Höhle muss sich mitten im Ozean befinden, denn weit und breit entdecke ich kein Land. Nicht mal einen Steg kann ich finden, wo sind die Boote?
„Mein Name ist Eleanor, ich verarzte und pflege Neuankömmlinge“, höre ich sie plötzlich sagen. Fragend drehe ich mich zu ihr um.
„Neuankömmlinge?“
„Willkommen in Niatrés, die Stadt unter dem Meeresspiegel.“
Ich halte Eleanor für verrückt. Dauernd nennt sie mich „Liebes“ und kann ihre Hände nicht von mir lassen. Trotzdem ist mir erst klar, dass sie verrückt ist, seit sie dauernd von dieser Stadt spricht, die sich Unterwasser befinden soll. Ich glaube ihr kein Wort, denn sie ist vielleicht gerade mal fünf Jahre älter als ich. Zweiundzwanzig, höchstens. Sie kommt mir einfach dumm vor, trotzdem widerspreche ich ihr nicht, wenn sie mir etwas sagt. Ich glaube, ich habe ein wenig Respekt vor ihr.
Nun bin ich schon seit geschlagenen drei Tagen in dieser Höhle und langsam gewöhne ich mich an die Luftverhältnisse. Auf die Fragen „wann kann ich endlich hier weg?“ und „warum kann ich nicht einfach wieder nach Hause?“, antwortet sie stehts mit: „Cian hat gemeint, ich solle auf ihn warten.“
Doch wer ist Cian? Und warum soll sie auf ihn warten?
Zwischendurch verschwindet Eleanor manchmal für ein paar Stunden und ich kann sie in der ganzen Höhle nirgends finden. Sie behauptet dann, sie wäre in Atlantis oder wie sie es nennt, gewesen. Ich frage da dann auch nicht weiter nach, Verrückte soll man ja bekanntlich nicht ärgern.
Trotzdem warte ich darauf, Cian zu begegnen, auch wenn ich keinen Schimmer habe, wer er ist.
Ein Geräusch lässt mich wach werden. Es muss mitten in der Nacht sein, denn ich bin noch viel zu müde. Trotzdem schaffe ich es irgendwie aufzustehen und durch die Höhlengänge zu schleichen. Die Geräusche kommen von draußen, der Steinplatte vor der Höhle.
Als ich es erreiche, erkenne ich nichts, nur eine dunkle Gestalt. Sie sitzt stöhnend am Rand des Felsens und tropft. Langsam schleiche ich auf die Person zu. Diese Situation, das Meer .. alles hat mich ängstlicher gemacht. Trotzdem wage ich es, da die Neugier meine Angst übertrumpft.
Ich erkenne, dass es ein junger Mann sein muss. Er hat dunkle Haare, die klatschnass an seinem Kopf kleben und einen makellosen Rücken.
„Cian.“
Ehe ich bemerke, dass ich meinen Verdacht laut ausgesprochen habe, dreht er sich zu mir um und macht einen Satz nach hinten. Erschrocken landet er im Wasser und planscht erst panisch herum, bis er sich wieder einkriegt und realisiert, dass ich nur ein harmloses Mädchen bin. Ich gehe nun zum Rand des Felsens und halte ihm lächelnd meine Hand hin. Zögernd greift er danach und ich tue so, als würde ich ihn hochziehen, denn das tut er schon aus eigener Kraft.
Nun stehen wir uns gegenüber, im Schein des Mondes, und starren uns an. Ich erkenne ihn an seiner leicht geschwungenen Nase und seinen braunen Locken wieder. Er ist der Junge aus meinem Traum. Cian.
Texte: Carry ~ Inspiriert vom Buch 'Meeresflüstern' | Hilfe von Signe, der ich dafür mehr als danke!
Bildmaterialien: Copyright [c]: Krissa
Lektorat: gnies.retniw (Signe)
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Stell dir vor, du entdeckst das Unmögliche, tief verborgen in deiner größten Angst.