Cover

Prolog


In Metaline Falls glauben die Menschen an Sicherheit und Gerechtigkeit, dabei haben sie keine Ahnung, von den Gefahren. Sie lauern überall, sind getarnt und bereit zum Kampf. Meist haben sie spitze Zähne und warten nur auf die richtige Gelegenheit.
Doch die, die sie erschaffen haben, sind ebenfalls unter ihnen und könnten, wenn sie wollten, alles sofort beenden. Warum zögern sie?

Manch einer von ihnen, kennt nicht einmal seine eigene Ausergewöhnlichkeit, weil sie ihnen vorenthalten wird. Andere jedoch, sind sich ihnen im klaren und wissen sie zu kontrollieren. Doch die waren Bestien, sind ganz andere, mutierte Wesen. Sie haben einen Weg gefunden, die Regeln der Naturgeister zu umgehen und sind nun mächtiger und gefährlicher als je zuvor. Wird es trotzdem jemand schaffen, alles rückgängig zu machen?

Ihr Blick


„Kurz nach seinem Tod, waren wir jeden Tag hier gewesen, weißt du noch?“
Lilys Worte ließen meine trübe Miene zu ihr hoch blicken. Ein mattes Lächeln war auf ihren Lippen verzeichnet, doch darunter lag Vorsicht und Schmerz.
Nach einiger Zeit nickte ich, damit sie den Blick endlich von mir abließ. Meine Haare kitzelten furchtbar meine Nase, doch ich war zu deprimiert um sie wegzustreichen.
„Cassie?“
Das Flüstern Lilys zarter Stimme, ließ meine Augen erneut zu ihr blicken. Ihr Lächeln war verschwunden. „Dieser Ort verändert dich, können wir bitte gehen?“
Obwohl Lily es nicht böse meinte, und ihre Stimme einen solch beruhigenden Tonfall hatte, wurde meine Miene finster.
Nun strich ich endlich meine rotbraunen Haare aus dem Gesicht und hob meinen Kopf. Als ich erneut in Lilys Gesicht blickte, wirkte dieses ängstlich und blass. Sie fürchtete sich vor meiner Reaktion.
„Lily“, begann ich in einer rauen Stimme, die mich letztendlich zum Räuspern brachte, „ich weiß, was du meinst.“
An ihrem veränderten Gesichtsausdruck bemerkte ich, dass sie diese Antwort nicht erwartet hatte. Wieder erkannte ich einen Funken der Freude an ihr. Zwar war dies äußerlich nicht zu erkennen, doch als ihre beste Freundin konnte ich tief in sie hinein blicken.
Ich stand von dem dicken, grauen Stein auf und warf einen letzten Blick auf den Grabstein meines Vaters. Nun war es schon sechs Jahre her.
„Machs gut“, flüsterte ich, nur für meinen Vater bestimmt. Dann hakte sich Lily bei mir ein und zog mich mit sich in Richtung Ausgang des Friedhofs.
„Danke“, sagte ich in meinem alten, gewohnten Ton zu Lily.
„Wofür?“, fragte sie sofort und zog eine Augenbraue fragend nach oben. Sie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und starrte mich noch immer fragend an.
„Na, für alles“, erwiderte ich trocken und lächelte sie dankbar an. „Du warst immer für mich da, auch als alle anderen mich verlassen haben. Seit dem Tod von Dad bist du nicht von meiner Seite gewichen. Du warst immer ehrlich zu mir und hast mich niemals angelogen oder mir etwas verschwiegen. Dafür danke ich dir.“
Mir war in diesem Moment nicht bewusst, dass Lilys schockierter Gesichtsausdruck noch lange in meinem Gedächtnis brennen würde, doch diese Worte von mir waren es Wert gewesen.
Sie lächelte mich zufrieden an und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Das ist alles selbstverständlich, Cas“, gab sie locker zurück und hakte sich erneut bei mir ein.
Plötzlich entdeckte ich in Lilys Miene eine bedrückte Spur. Ich konnte es nirgendwo zuordnen, da noch nie wusste, was er bedeutete. Sie hatte oft diesen Gesichtsausdruck, doch ich konnte nicht sagen, was es bedeuten sollte.
„Ich muss dir etwas sagen, Cassie. Ich wollte dir es schon lange sagen, konnte es aber nie... über meine Lippen bringen.“
Sie senkte den Kopf. Das tat sie sonst nur, wenn ihr etwas peinlich war. Hatte sie vielleicht etwas Peinliches getan?
„Es … es geht um ...“
Das laute Hupen eines vorbeifahrenden Autos unterbrach Lily, die erleichtert aufatmete.
„Ich muss los“, entgegnete sie unerwartet, hob ihre Tasche vom Boden auf, die ich erst jetzt dort bemerkte und marschierte schnurstracks davon.
„Lily?“
Fragend schaute ich hier hinterher, in der Hoffnung sie würde doch noch stehen bleiben und diese verrückte Situation aufklären oder lautstark anfangen zu lachen, da die letzten Minuten nur ein Witz sein sollten. Doch es passierte nichts.

Böse Wendung


Lily, Lily, Lily …
Als ich zu Hause ankam, musste ich ununterbrochen an meine beste Freundin denken, an dieses Gespräch auf dem Friedhof. Ich versuchte irgendwie einen Zusammenhang zu finden, weshalb Lily sich so aufgeführt hatte, doch ich fand keinen.
Nachdenklich griff ich nach dem Telefon auf meinem Nachttisch und drückte auf Wahlwiederholung. Lily war immer die letzte Person, die anrief.
Plötzlich bekam ich ein seltsames Gefühl im Magen und ich drückte blitzschnell den roten Knopf um aufzulegen.
Vielleicht sollte ich lieber warten, bis sie anruft?
Letztendlich entschied ich mich dann aber doch, sie anzurufen und drückte erneut auf die Wahlwiederholungstaste.
Es klingelte nicht. Stattdessen hörte ich die verzweifelte Stimme meiner Mom. Anscheinend telefonierte sie gerade und ich hatte mich in ihr Gespräch gewählt.
„Das Haus wird uns fehlen, aber es ist das beste so.“
„Du willst das Haus verkaufen?“, platzte es mir heraus, ehe ich bemerkte, dass ich unerlaubt in ihrer Leitung war. Schnell presste ich die Hand auf meinen Mund, in der Hoffnung, ich könnte es damit wieder vergessen machen, doch es war zu spät.
„Cassandra? Was soll denn das?“ Die Stimme meiner Mutter war wütend und aufgebracht, verständlich. Jedoch verstand ich nicht, weshalb sie das Haus verkaufen wollte. „Ich rufe Sie später noch einmal an, Mrs Lockstaed, bis dann.“
Die Frau verabschiedete sich ebenfalls, woraufhin sie auflegte.
„Wieso verkaufst du das Haus?“, fragte ich noch einmal in einer etwas ruhigeren Stimme.
Eine Zeit lang war es so still in der Leitung, dass ich für kurze Zeit dachte, sie hätte aufgelegt.
„Cassandra, du weißt doch, dass Tom einen langen Weg zur Arbeit hat … Wir werden in sein Haus ziehen. Uns hält hier sowieso nichts mehr.“
Ich war kurz davor, wild herum zu schreien, schaffte es aber, mich wieder etwas zu beruhigen.
„Uns hält hier nichts mehr? Dich und Tom hält hier nichts mehr! Ich habe hier meine Freunde und ...“
„Lily ist deine einzige Freundin“, unterbrach mich Mom plötzlich. „Cassandra, in Oklahoma gibt es tolle Schulen, du könntest alles hinter dir lassen und noch einmal von vorne Anfangen!“
Mom hatte Recht, in einer neuen Schule wäre ich nicht mehr das kleine, traurige Mädchen, die ihren Vater verloren hat. Allerdings wäre ich viel zu weit von Dad entfernt und Mom würde es mir niemals erlauben...
„Ich bleibe hier, Mom. Ich gehe hier nicht weg, jedenfalls nicht jetzt!“
Einen Streit beendete ich immer, in dem ich aus dem Zimmer ging und eine Tür knallte, doch in diesem Fall war es viel einfach. Ich drückte einfach den beliebten, roten Knopf und stellte das Telefon zurück in die Ladestation auf meinem Nachttisch.

Mein Zimmer war nicht gerade modern eingerichtet. Ich hatte die alten Möbel meiner Mutter bekommen, die aus altem, dunklem Holz waren. Selbst das Bett war aus Holz, sah jedoch noch ganz gut aus. An der Wand hingen Fotos von mir und meinen Freunden. Mit den meisten dieser Freunde hatte ich keinen Kontakt mehr. Nur Lily war noch übrig, die sowieso auf fast allen Fotos zu sehen war. Von Dad und mir hing nur ein einziges Bild dort. Es wurde auf unserem Ausflug nach Spanien geschossen. Damals waren wir noch eine tolle Familie.
Zwischen den Fotos hingen ein paar Poster von verschiedenen Popstars, dessen Namen ich teilweise vergessen hatte. Sie waren nur dort, um die hässliche, weiße Wand zu verbergen, die wir bei unserem Einzug nicht gestrichen hatten.

Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und zupfte an meinen rotbraunen Haaren, dessen Locken über meine Schulter hingen.
Zitternd von dem Gespräch mit Mom, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne war gerade am untergehen, denn man sah nur noch dünne Streifen am Horizont. Die Vögel beendeten traurig ihr Lied, da es zu Regnen anfing. Genau wie aus dem Himmel, schoss Wasser aus meinen Augen. Ich bemerkte nicht sofort, dass ich weinte, sondern erst, als eine heiße Träne von meinem Gesicht auf meine Hand tropfte.
Mit Tränen in den Augen öffnete ich das Fenster. Ich stieg erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß hinaus ins Freie. Nun stand ich auf dem Dach. Ich war geübt darin, Abends abzuhauen.
Plötzlich rutschte mein Fuß unter mir weg, da das Dach mittlerweile glatt vom Regen war, jedoch konnte ich mich gerade noch am Haus festhalten.
Sofort war ich unten in unserem Vorgarten und hielt Ausschau nach meinem Auto, dass ich aus der Ferne leuchten sehen konnte.
Unerwartet erkannte ich eine dunkle Gestalt, die unser Haus verließ. Es war Tom, Moms Ehemann und mein Stiefvater. Er stieg in seinen roten Volvo und drückte heftiger aufs Gas, als erlaubt. Wo wollte er um diese Uhrzeit noch hin?
Ich zuckte nur mit den Schultern und lief zu meinem weißen Smart, für den ich über zwei Jahre gespart hatte, obwohl Grandma mir sehr viel dazugegeben hatte. Natürlich hätte ich mir auch ein billigeres Auto zulegen können, allerdings hatte ich nie ein Gefühl für größere Kisten. Ich parkte meinen Smart immer etwas weiter weg, damit niemand das Geräusch des Motors hören konnte, falls ich mal wieder abhauen würde.
Ich stieg schnell ein und fuhr los. Grandma wohnte zwar etwas weiter weg, was jedoch mit dem Auto nur ein paar Minuten sind.
Während der Fahrt warf ich einen Blick in meinen Rückspiegel und wischte mir dabei die Tränen weg, da Grandma mich auf keinen Fall so sehen durfte. Sie wäre auf der Stelle zu Mom gefahren und hätte ihr gründlich die Meinung gegeigt.
Grandma war die einzige, die mich Verstand. Sie wusste, weshalb ich oft weinte und stundenlang aus dem Fenster sah. Sie hatte oft mit Mom geredet, wenn ich sie darum gebeten hatte. Ich wusste nicht, was ich ohne Grandma tun würde.
Schon vom weiten sah ich ihr Haus. Es war umringt von einer riesigen Farm. Dort züchtete sie früher Pferde. Sie musste sie allerdings verkaufen, da eine Zeit lang das Geld knapp war. Mom wollte ihr welches geben, wurde allerdings von Tom beeinflusst.
„Man, ich hasse diesen Spinner“, sagte ich vor mich hin und knallte die Autotür zu. Langsam und vorsichtig tastete ich mich den langen, dunklen Weg zu ihrem Haus entlang, das im Mondschein gut zu erkennen war. Es ähnelte einer Villa, da es so groß und wunderschön aussah. Ein blaues Dach verzierte es wunderschön.
Ein kalter Windzug streifte über meinen Nacken und brachte mich zum Schaudern. Schnell lief ich die letzten Meter zu ihrem Haus und hämmerte eifrig gegen ihre Tür.
„Grandma?“, rief ich, damit sie keine Angst bekam.
Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und ich entdeckte das strahlende Gesicht meiner Grandma.
„Cassie!“, stellte sie fröhlich und überrascht fest und schloss mich in die Arme. Sie zog mich ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
„Was bringt dich so spät hier her?“
Immer noch lächelnd musterte ich Grandma. Obwohl sie schon ziemlich alt war, wirkte sie viel jünger und lebendiger, als andere in ihrem Alter. Sie hat noch ihre alten, braunen Haare und nur wenige Falten im Gesicht. Außerdem ähnelt sie sehr meiner Mom, weshalb ich weiß, dass Grandma als junge Frau wunderschön sein musste.
„Ich brauchte deine Nähe“, antwortete ich und lächelte noch immer.
Durch Grandmas Lächeln fühlte sich jeder Willkommen.

Kreisritual


Im Wohnzimmer saßen wir auf der Couch und unterhielten uns bis kurz vor Mitternacht. Die Zeit verging wie im Fluge.
Doch plötzlich stand sie auf und schob den Couchtisch beiseite. Sie zog aufgeregt den Teppich weg und plötzlich war mir klar, weshalb Grandma früher immer von einem Versteck sprach, wo sie alles wertvolle aufhob. Ich hatte immer an einen Safe in der Bank gedacht und nicht an einen geheimen Raum unter ihrem Haus.
Grandma öffnete eine Luke, wo eben noch ein Tisch gestanden hatte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Langsam trat ich der Öffnung im Boden näher. Mein Blick war eher skeptisch, als neugierig.
Vor mir war eine endlose, staubige Treppe, die in die Dunkelheit führte. Seltsamerweise hatte ich schreckliche Angst, vor dem, was sich dort unten verbarg. Mir gingen Tierversuche durch den Kopf, die Grandma dort unten veranstalten könnte. Diese Gedankengänge waren absurd, jedoch nicht unmöglich.
Ich warf einen schnellen Blick zu Grandma, die in einer Schublade kramte und einen Beutel voller Kerzen und anderem Zeug hinaus kramte. Dann kam sie plötzlich auf mich zu und betrachtete mich mit einem nichtssagenden Blick.
„Keine Angst, Kind. Dort unten sind nur alte Bücher und viel Staub“, sagte Grandma in einem ruhigen Ton. Ich beschloss ihr zu glauben, weshalb ich einen Schritt auf die staubige Treppe zuging.
Vorsichtig begann ich die Stufen hinunter zu klettern. Wobei ich bei jedem Schritt abtastete, ob es sicher war. Als ich endlich am Boden ankam, war es so dunkel, dass ich meine Hand nicht mehr vor Augen sah. Es war viel zu dunkel um etwas zu erkennen. Nach einer Weile hörte ich die Schritte meiner Grandma. Sie hatte eine leuchtende Kerze in der Hand, durch die ich zum Glück wieder meine Hände sehen konnte. Ich sah meine Großmutter fragend an, während sie eine weitere Kerzen aufstellte und anzündete. Doch plötzlich fing es an, nach Rauch zu riechen. Es war kein normaler Rauch, er war irgendwie … verändert.
„Was tust du da, Grandma?“, fragte ich verwirrt und ängstlich. Sie sah mich weder an, noch reagierte sie auf irgendeine andere Weise.
„Grandma?“, fragte ich nervös und kratzte mich am Kopf.
„Heute ist Vollmond“, verkündete sie, als ich ein weiteres Mal fragte.
„Was?“ Meine Stimme war eher ein Quieken.
„Vollmond“, wiederholte sie und verdrehte kurz die Augen.
„Und?“, fragte ich skeptisch. Diese Unterhaltung schien unendlich lang zu werden, da keiner einen ordentlichen Satz zusammen bekam. Aber anscheinend hatte Grandma vor, gar nicht mehr zu antworten. Eine Weile sah ich ihr bei diesem schrecklich, dämmrigen Licht zu, wie Dinge um herstellte, Salz verstreute und leise vor sich hin murmelte, weshalb ich ein paar Mal nachfragte, was sie gesagt hatte. Ich hatte Grandma noch nie so aufgeregt und hektisch gesehen. Sie war sonst immer eine ruhige und entspannte Person. Sie rannte niemals, auch nicht, wenn sie Mal spät dran war. Sie ließ sich von nichts und niemandem hetzen und ging alles locker an. Doch heute war von der alten Grandma nichts mehr zu sehen.
Nach einer Weile blieb sie plötzlich stehen und sah auf ihr Vollendetes Werk. Sie hatte aus Salz einen Kreis gemacht und in diesem Kreis ein seltsam aussehender Stern. Überall rundherum standen Kerzen und im ganzen Raum stank es nach Lavendel und Rauch. Sie stieg vorsichtig über die Kerzen in den Kreis und streckte dann ihre Hand nach mir aus. Skeptisch blickte ich sie an. Als Grandma bemerkte, dass ich nicht reagierte sah sie mich mit ihrem alten, freundlichen Gesicht an.
„Alles ist gut, Tochter“, sagte sie plötzlich. Bei dem Wort >Tochter

Grandmas Wiese


Ich konnte mich nicht bewegen. Der Schatten kam immer weiter auf mich zu, doch ich konnte nicht weglaufen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, um mich bewegen zu können, doch es geschah nichts.
Wo bin ich hier?


Es sah aus, wie ein Wald, jedoch konnte ich das Gras und den süßen Duft der Bäume nicht riechen. Plötzlich kam der Schatten näher. Er war riesig, deshalb konnte ich mich nicht wehren. Ich hätte es jedoch versucht, wenn ich mich hätte bewegen können. Aber das konnte ich nach wie vor nicht. Die dunklen Umrisse seines Körpers schienen seltsam vertraut. Genau wie seine Art, mich anzusehen.
Die Sonne ging langsam hinter meinem Rücken auf, sodass ich Teile des Schattens sehen konnte. Beängstigend.

Mehr fiel mir dazu nicht ein. Ich versuchte mich der Dunkelheit besser anzupassen.
Ich will wissen, was es ist!


Dieser unüberlegte Gedanke, ließ die Sonne schneller aufgehen. Nun erkannte ich braune Augen und ebenfalls braunes, kurzes Haar. Es war eine vertraute Person, die ich kennen musste. Doch als die Sonne endlich hoch am Himmel stand, erkannte ich, dass es ein fremder Junge war, der mich nur betrachtete. Er wirkte gefährlich und bedrohlich, doch auch irgendwie nett und vertraut.
Plötzlich dröhnte eine bekannte Melodie in meinen Ohren. Die Musik kam mir seltsam bekannt vor. Ehe ich bemerkte, dass es die Melodie meines Weckers war, verblasste alles um mich herum.

Als ich die Augen aufschlug lag das ganze Zimmer in einem dämmrigen Licht. Gähnend richtete ich mich auf und schaute aus dem Fenster. Es war sehr früh am Morgen, denn von der Sonne war erst ein dünner Streifen am Horizont zu sehen, aber die Vögel fingen schon an zu zwitschern. Sie sangen fröhlich ihr Lied und waren weit entfernt von Kummer und Sorgen. Anders als ich. Ich schwitzte furchtbar und zitterte etwas.
Nur ein Traum..
Erleichtert atmete ich auf und setzte mich gerade auf mein Bett. Der Traum schien so real, dass ich gedacht hatte, es sei die Wirklichkeit. Plötzlich erschrak ich und mein Herz blieb für einen Augenblick stehen. Wie war ich hier her gekommen? Ich sah mich nochmal genau im Raum um. Ich war definitiv in meinem Zimmer. Wie war das möglich? Ich war bei Grandma! Wir saßen in irgendeinem Kreis und alles war so … magisch.
Ich tastete verwirrt nach meinem Glas Wasser, welches wie immer auf meinem Nachtisch stand, und trank einen Schluck. Dann sprang ich aus meinem Bett, zog mir meine Pantoffeln an und rannte wie Wild die Treppe runter. Ich konnte mich vor der Küche gerade noch bremsen, als ich meine Mom mit einem Tablett und einer Kanne Kaffee sah.
„Vorsichtig, willst du etwa alles kaputt machen?“
Ihr Ton war nicht sarkastisch sondern eher zornig. Erst wollte ich Mom fragen, tat es aber zum Glück nicht, da sie nicht wissen durfte, dass ich einfach abgehauen war.
Stattdessen ging ich zum Telefon und wählte Grandmas Nummer. Als sie nach dem siebten Klingeln immer noch nicht dran war, gab ich es auf und sackte auf einem Sessel zusammen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Mom zehn Minuten später, als ich versuchte an ihr vorbei zu gehen. Eifrig nickte ich und versuchte mich an ihr vorbei zu kommen, doch sie versperrte mir den Weg.
„Wo ist Tom?“, fragte ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Doch dann fragte ich mich ernsthaft, wo Moms Ehemann sich aufhielt. Samstagmorgen war er immer zuhause.
„Weiß ich nicht“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht holt er Brötchen.“
Schnell nickte ich und quetschte mich mühsam an ihr vorbei und rannte in mein Zimmer.
In Windeseile zog ich mir etwas Frisches an und fuhr mit den Händen kurz durch meine Haare. Schnell rannte ich die Treppe wieder runter, wo Mom bereits auf mich wartete.
„Wo willst du hin?“, fragte sie genervt.
Während ich meine Augen verdrehte und mir an der Haustür die Schuhe anzog, antwortete ich: „Zu Grandma!“
„Aber ...“, versuchte sie noch zu sagen, doch ich hatte die Tür schon längst geschlossen.
Stöhnend machte mich auf einen langen Fußweg gefasst, jedoch entdeckte ich in letzter Sekunde meinen weißen Smart.
Er stand nicht mehr an der selben Stelle, wie gestern, bevor ich losgefahren war. Daraus schloss ich, dass dies alles kein Traum und ich wirklich bei Grandma war. Ich stieg ins Auto und fuhr so schnell ich konnte. In meiner Eile übersah ich zwei rote Ampeln, was mir in diesem Moment auch egal war.
In diesem Moment durchfuhr mich zum ersten Mal ein seltsames Kribbeln in meinem Bauch. Es verriet mir, dass etwas nicht stimmte und dass ich mich schon mal darauf vorbereiten sollte, seelisch.
Als ich da war, parkte ich das Auto am Straßenrand und lief den kleinen Hügel hinauf. Doch anstatt in Grandmas glückliches Gesicht zu blicken, entdeckte ich eine Horde von Polizisten. Ihre Autos wurden alle auf Grandmas schöner Wiese geparkt.
„Was haben Sie auf dem Grundstück meiner Grandma zu suchen?“, fragte ich verärgert einen Polizisten mit Schnauzer und traurigem Gesichtsausdruck. „Weiß sie davon?“
„Nein ...“, fing der Polizist an, aber ich unterbrach ihn.
„Wo ist sie denn? Wenn meine Großmutter Sie hier sieht, dann wird sie wütend werden, würde jeder.“
„Bist du die Enkelin von Ms Summers?“ Die Stimme des Polizisten hielt mich für eine Weile innehalten. Ich nickte und sah den Polizisten verwundert an während ich wartete, dass er fortfuhr.
„Deine Großmutter wurde heute Nacht tot aufgefunden, es tut mir Leid.“
Die Worte des Polizisten hallten noch lange in meinen Ohren. Sie waren wie Splitter für meine Seele oder wie ein Dolch in meinem Herz.
„Soll das ein Scherz sein?“
Mir fiel nichts anderes ein. Ich wollte unbedingt, dass es nur ein Witz war, doch ich wusste genau, dass es stimmte. Das Kribbeln in meinem Bauch verriet es mir.
„Es tut mir Leid“, wiederholte der Polizist und blickte verständnisvoll zu Boden. „Ich bin sicher, dass es deiner Grandma dort gut geht, wo sie jetzt ist.“
Plötzlich entdeckte ich zwei Männer hinter dem Haus, die eine Trage trugen, auf dem sich etwas großes, weißes befand.
Ich rannte darauf zu. Wäre mein Gedächtnis nicht wie abgeschaltet gewesen, hätte ich dies sicherlich nicht getan, doch ich wollte Gewissheit.
Als die Männer mich angelaufen kommen sahen, blieben sie stehen und schüttelten den Kopf.
Es befand sich ein Reißverschluss an dem weißen Beutel, den ich ruckartig aufzog. Als ich das leblose Gesicht meiner Grandma sah, erschrak ich furchtbar und stolperte einige Meter zurück und fiel auf den Boden. Noch dazu sah ich plötzlich die Stelle auf der Wiese, hinter ihrem Haus, an der sie offensichtlich gelegen hatte, da das Gras plattgedrückt war. Doch der Grund, weshalb es mir in die Augen gesprungen war, war weil überall Blut klebte.
Ich konnte meine Tränen nicht bremsen. Sie überfluteten mein Gesicht so schnell sie konnten. In dem Moment spürte ich eine warme Hand in auf meiner Schulter. Ich wusste nicht wer es war. Sie fühlte sich jedoch vertraut an.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange ich dort kniete und weinte. Irgendwann spürte ich, wie starke Arme mich vom Boden hoch zerrten und meinen Rest Leben auf die Beifahrerseite meines Autos zerrten. Das einzige was ich spürte war Schmerz. Meine Augen brannten. Weitere heiße Tränen liefen über mein eiskaltes Gesicht. Das nächste was ich mitbekam war, wie jemand mich wie ein Baby in den Armen trug, in mein Bett legte und ich mit meinen Tränen einschlief.

Retter in Not


Irgendwann, mitten am Tag, wurde ich wach. Vorsichtig öffnete ich meine Augen, damit das grelle Licht von draußen mich nicht blendete.
Ich schlüpfte, wie immer, in meine Pantoffeln und tapste die Treppe hinunter.
Als Mom mich sah, kam sie auf mich zu und schloss mich unvorbereitet in die Arme.
„Was ist passiert?“, fragte ich und befreite mich mühsam aus ihrer Umarmung.
Verwirrt starrte sie mich an.
„Du weißt es nicht mehr? Deine Großmutter ist ...“, begann sie.
„Ich weiß, Mom. Aber was ist danach passiert?“, unterbrach ich sie.
Mom wollte gerade antworten, als Tom ins Wohnzimmer kam. Neben ihm stand ein Junge, der bei meinem Anblick ein Grinsen unterdrückte.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. War er der Junge, aus meinem Traum? Ich war mir nicht Sicher, der Traum war mittlerweile nur noch verschwommen in meinem Gedächtnis. Jedenfalls sah er ihm ähnlich, so weit ich mich erinnerte.
„Du solltest dich bei diesem jungen Mann bedanken, Cassandra. Er hat dich nach Hause gefahren.“
Toms Worte lösten mich aus meiner Erstarrung und ich murmelte ein müdes „Danke“ zu dem gutaussehendem Jungen, der mir zunickte.
Schnell lief ich die Treppen hoch und ging wieder in mein Zimmer. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und blickte erschrocken auf meinen Kalender. Hatte ich echt achtundvierzig Stunden geschlafen? Anscheinend. Ich starrte aus dem Fenster und dachte nach. Was wird jetzt mit Grandmas Haus passieren? Ich rang nach Luft.
Ihr Geheimversteck! Das Haus darf auf keinen Fall verkauft werden!


Meine Gedanken wurden durch das Klopfen an der Tür gestört, die sich plötzlich langsam öffnete, bis der Kopf des Jungen mich anstarrte.
„Darf ich rein kommen?“, fragte er. Ich nickte, da mir nichts anderes übrig blieb. Ich wollte nicht zu jemandem gemein sein, nur weil ich schlechte Laune hatte. Er kam rein und setzte sich zu mir aufs Bett.
„Tut mir Leid mit deiner Grandma“, sagte er mitfühlend in einer warmen, vertrauten Stimme.
„Wer war das?“, fragte ich, woraufhin mich der Junge verwirrt anblickte.
„Was meinst du?“
„Na, wer hat Grandma umgebracht?“ Meine Stimme war ohne Angst, jedoch fürchtete ich mich vor der Antwort.
„Keine Ahnung“, gab er zu. „Die Polizei weiß nicht, wer oder was es war. Die Verletzungen könnten von einem Messer oder vermutlich sogar von einem Tier stammen. Doch die .. Leiche .. wird derzeit noch untersucht.“ Er zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster.
„Ich muss zum Haus“, meinte ich plötzlich entschlossen und stand vom Bett auf.
„Zum Haus deiner Grandma?“, fragte er verwirrt und stand ebenfalls auf.
Seine bloße Anwesenheit strahlte eine intensive Vertrautheit aus und irgendwie kam es mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen.
Wäre Grandma nicht so plötzlich gestorben, würde ich ihn mit ganz anderen Augen sehen und mich nicht im Schlafanzug mit ihm unterhalten.
Stumm nickte ich und öffnete mein Schrank.
„Ich fahr dich“, beschloss er und öffnete meine Zimmertür, damit ich mich in Ruhe umziehen konnte.
Verblüfft starrte ich ihn an.
„Danke, aber ich hab meinen Führerschein“, gab ich zurück. Es kam mir vor, als hätte ich ihn beleidigt.
„Es gibt drei Situationen, in denen man auf keinen Fall Auto fahren sollte. Und zwar, wenn man wütend, traurig oder betrunken ist.“
Als er die Tür hinter sich schloss, warf er mir noch ein schnelles Lächeln zu. Ich wollte zurück lächeln, war aber noch nicht so weit.
In diesem Moment fragte ich mich, ob ich je wieder so weit sein werde.

„Du hast übrigens ein süßes Auto“, sagte er, als wir bei meinem Auto angekommen waren. Anscheinend wollte er mich unbedingt aufheitern.
„Weißt du was seltsam ist?“, begann ich, als wir beide ins Auto stiegen. „Du trägst mich nach Hause, fährst mein Auto, siehst mich beim Weinen und im Schlafanzug … und ich kenne nicht einmal deinen Namen.“
In einer anderen Situation hätte ich jetzt gelächelt, doch es schien, als wäre es verschwunden.
„Will“, grinste er und gab mir die Hand. „Ich bin vor kurzem mit meinen Eltern ein paar Straßen weiter eingezogen.“ Ich schüttelte sie leicht. Dann steckte er die Schlüssel ein und fuhr langsam los.
„Du kannst mich Cassie nennen. Ich mag es nicht, wenn man Cassandra zu mir sagt. So nennen mich nur meine Eltern“, erzählte ich, während wir die Straße entlang fuhren und ich ungewohnt auf dem Beifahrersitz saß.
„Cassie“, wiederholte er und grinste, „klingt besser.“
Zustimmend nickte ich und umfasste meine Sternenartige Kette, die Grandma mir schenke. Ich hatte sie fast vergessen.
Als wir in Grandmas Straße einbogen, bekam ich ein wenig Angst, vor dem, was mich erwarten würde.
Grandmas Leiche würde ich dort zwar nicht mehr vor finden, aber sicherlich hatte niemand das Blut beseitigt.
Will öffnete mir die Tür, wie ein echter Gentleman. Er fasste sich einmal durch sein dunkles Haar und ich dachte zum ersten Mal wirklich daran, wie gut er aussah.
„Eigentlich heiße ich William“, sagte er plötzlich, total unvorbereitet. „Aber das klingt zu alt.“
Er setzte Gänsefüßchen bei dem letzten Wort und brachte mich beinah zum Lachen.
„Will klingt besser“, wiederholte ich seine Worte von vorhin, die er zu mir gesagt hatte.

Langsam schlürften wir den Hügel rauf, bis wir Grandmas Haus entdeckten. Es sah fast so aus, als würde Grandma es noch bewohnen. Ich rechnete jede Sekunde damit, dass Grandma die Tür öffnete und lächelnd auf mich zu kam, mich und Will rein bittet, uns Tee serviert und mich alles über ihn ausfragt, während er auf Toilette ist.
Bei dem Gedanken wurde mir fast warm ums Herz.

„Lass uns weiter gehen“, sagte Will plötzlich und nahm unerwartet meine Hand. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war. Ohne Will wäre ich da wahrscheinlich noch länger stehen geblieben.
Ich ließ mich bis zur Haustür ziehen, dann ließ er frühzeitig meine Hand los, was mich seltsamerweise traurig machte.
„Hast du einen Schlüssel?“, fragte er verwundert und blinzelte mich an.
„Nicht nötig“, antwortete ich und bückte mich, um die Fußmatte anzuheben. „Sie hat ihren Ersatzschlüssel immer unter der Fußmatte.“
Ein ungewohntes Gefühl kribbelte in meinem Bauch. Ich wusste sofort, dass dieses Haus leer war. Keine Grandma – kein Einbrecher – kein Käufer des Hauses. Entspannt atmete ich den Geruch des Hauses ein und dachte daran, dass es jetzt gar nicht noch schlimmer werden kann.

Ich lag lange auf dem Sofa, bis das Telefon klingelte. Überrascht fuhr ich zusammen, da ich nicht wusste, ob überhaupt ein Telefon existierte. Aber anscheinend stand Grandmas Telefon noch immer hier und man konnte es benutzen.
Langsam schlich ich darauf zu und krächzte ein schwaches: „Hallo?“
Auf der anderen Leitung hustete jemand.
„Willst du nicht nach Hause kommen, Schatz?“ Das letzte Wort meiner Mom überraschte mich etwas. Sie sagte selten „Schatz“. Sie sagte es nur, wenn sie in Sorge war oder mich wegen etwas überreden wollte. In diesem Fall war es wahrscheinlich beides.
„Nein Mom, ich bleibe hier“, sagte ich schnell. Sie klang etwas traurig.
„Aber...“,begann sie.
„Ich bin siebzehn, Mom. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Wütend legte ich den Hörer auf und stand noch einige Sekunden beleidigt auf dem Küchenboden.
Will war vor etwa zwei Stunden gegangen. Er hatte gesagt, er müsse noch etwas erledigen und ich hatte nicht weiter nachgefragt.
Immer noch wütend nahm ich meine Jacke und verließ das Haus. Ich versuchte klaren Klopf zu kriegen und den bekam ich nur an der frischen Luft.
Hinter Grandmas Haus war ein riesiger Wald. Ruckartig blieb ich stehen, als ich am Waldrand angekommen war und in die endlose Schwärze des Waldes starrte.
Grandmas Vollmondritual hatte mir irgendwie die Furcht genommen.

Keine Furcht


Die Reihe von Laternen endete hier, doch das war kein Grund umzudrehen.
Ich wusste genau, wo mein damaliger Lieblingsplatz war. Früher war ich mit Grandma beinah jeden Tag dort.
Ich musste quer durch den Wald gehen, bis ich an einer Lichtung ankam. Am Tage war sie wunderschön und hell beleuchtet, doch am Abend war es nur eine leere Wiese. Ich ging zwei Schritte auf sie zu und blieb dann wie angewurzelt stehen.
Was hast du dir auch dabei gedacht?


Meine Verstand sprach wieder zu mir. Normalerweise ignorierte ich ihn.
Ich wollte mich gerade umdrehen und wieder zurück in Grandmas Haus gehen, als mir plötzlich ein heftiger Windstoß die Füße unter meinen Beinen wegzog und ich unsanft im Gras landete.
Ich konnte einen lauten Knall und das Schlagen von Flügeln hören. Es war nun unmittelbar in meiner Nähe, doch von dem Wind, der mir in die Augen schlug, sah ich nichts mehr.
Jetzt wurde ich von dem Wind gegen den nächsten Baum geschleudert. Ich spürte keinen Schmerz, genau wie ich keine Angst spürte. Ich schaltete meine Emotionen aus, um mich auf die Dunkelheit zu konzentrieren. Es klappte tatsächlich, da sich die Dunkelheit etwas legte und ich Umrisse erkennen konnte.
Es sah aus wie ein Vogel, war aber viel größer. Es besaß vier angewinkelte Beine.
Ein Hund? Nein, ein Hund besitzt keine Flügel.
Außerdem hatte das Wesen so etwas wie Schuppen. Sie schimmerten dunkelblau und sahen im Mondlicht wunderschön aus.
Der nächste Windstoß ließ mich erneut gegen den Baum knallen. Der Wind dröhnte durch meine Ohren und war furchtbar laut, sodass man meinen Schrei niemals hören würde.
Ich versuchte ruhig zu Bleiben und mich zu konzentrieren. Der Hund mit Flügeln kam dem Boden näher, bis er endlich landete. Der Wind wurde schwächer, bis er ganz aufhörte. Erleichtert seufzte ich. Wenn es kein Hund war, was war es dann? Er war so groß, wie 10 Hunde. Ich hatte noch nie so ein riesiges Tier gesehen.
Es ist ein Drache

, flüstert mir eine unbekannte, jedoch vertraute Stimme zu. Ich zuckte zusammen.
Ein Drache? Nein, niemals!


Es gibt keine Drachen mehr, da war ich mir fast sicher. Doch es musste ein Drache sein, was auch sonst?
Obwohl der Drache unmittelbar in meiner Nähe war und er mich jeden Moment entdecken und angreifen könnte, blieb ich ruhig. Auch wenn die langen Krallen mich durchbohren und die spitzen Zähne mich zerfleischen könnten, fürchtete ich mich nicht.
Doch plötzlich trafen sich unsere Blicke. Er starrte direkt in seine goldenen Augen, genau wie er in meine.
Auf einmal zeigte der Drache seine Zähne und begann ein seltsames, fauchendes Geräusch zu machen.
Auch, wenn ich keine Angst hatte, wollte ich am Leben bleiben. Also drehte ich mich um und rannte so schnell ich konnte, ohne mich umzudrehen.

Practical Magic


Als ich den Wald verlassen hatte, verlangsamten sich meine Schritte. Doch stehen blieb ich erst vor Grandmas Haus. Schnell schloss ich die Hintertür auf und warf versehentlich einen Blick auf den Blutfleck im Gras. Mein Magen drehte sich einmal um, woraufhin ich schnell ins Haus tapste und mich am Küchentresen festhielt.
„Das war kein Drache“, versuchte ich mir die ganze Zeit einzureden. Doch niemand wusste besser als ich, dass dies ein Drache gewesen war. Wäre er kleiner gewesen, hätte ich mir vielleicht einreden können, es sei ein fliegender Strauß oder eine Rieseneidechse mit Flügeln. Doch dieses Wesen ähnelte nichts und niemandem, außer einem Drachen wie man ihn aus Bildern und Filmen kannte.
Im Badezimmer wusch ich mir das Blut vom Hinterkopf. Ich hatte mir die Wunde vom Stoß gegen den Baum eingefangen. Doch ich war glücklich darüber, da es mich daran erinnerte, dass diese Nacht wirklich existiert hatte.
Immer noch aufgewühlt und zerstreut lief ich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und schob den Couchtisch beiseite, damit ich die Luke im Boden öffnen konnte. Ich wollte nach hinweisen suchen und gleichzeitig meiner Grandma näher sein.
Als ich unten ankam, roch es nach altem Rauch, gemischt mit dem Lavendel-Duft meiner Grandma. Ich versuchte, so viel wie möglich in mich aufzunehmen, da es mich irgendwie beruhigte.
Erst, nachdem ich eine Taschenlampe aus Grandmas Schublade eingeschaltet hatte, konnte ich etwas sehen. Alles sah noch so aus, wie beim letzten Mal, bis auf den Salz, den Grandma scheinbar entfernt hatte.
Sofort begann ich die Regale zu durchsuchen und sah mir jedes Buch einzeln an. Doch ich entdeckte nur Kochbücher und zufällig eine Anleitung für Kreisrituale.
Ich nahm das Buch heraus und blätterte es durch, ohne mir den Text genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war nichts weiter, als ein Hobby meiner Grandma, nichts bedeutendes.
Doch dann sah ich zu, wie ein Zettel aus dem Buch für Kreisrituale langsam zu Boden fiel. Ich hob ihn auf und faltete den Zettel auseinander.
Darauf stand nichts weiter, als eine Adresse und darunter der Name des Ladens: Practical Magic

. Der Name kam mir bekannt vor. Grandma hatte ihn sicherlich schon einmal erwähnt und daran musste ich auch schon hundert mal vorbeigefahren sein.
Magic ist das englische Wort für Magie. Es muss ein Laden für Zaubertricks sein, stellte ich enttäuscht fest.
„Na toll, Grandma“, murmelte ich vor mich hin „Zaubertricks.“

Am nächsten Morgen wachte ich meinem Zimmer in Grandmas Haus auf. Es war ein gutes Gefühl bei ihr zu sein und ich fühlte mich sicherer, als bei Mom und Tom.
Nachdem ich geduscht, etwas gegessen und mich komplett fertig gemacht hatte, stieg ich in meinen Smart und fuhr in Richtung Stadt. Der Zettel mit der Adresse lag aufgefaltet auf dem Armaturenbrett und manchmal warf ich einen Blick darauf.
Der Laden befindet sich am Anfang der Stadt, sodass ich nicht weit fahren musste. Als ich auf dem Parkplatz stehen blieb, holte ich mein Handy aus der Tasche und musste feststellen, dass ich fünf Anrufe verpasst hatte, sie waren alle von meiner Mom. Ich beschloss, sie später zurück zu rufen.
Nun sah ich einmal hoch und las deutlich auf dem Schild über dem Laden „Practical Magic“.
Ich zwang meine Beine weiterzugehen, bis ich schließlich die Ladentür öffnete und eintrat.
Es roch nach Grandma, stellte ich zuerst fest, da der Duft von Lavendel in meine Nase stieg. Dann sah ich mich im Laden um und erkannte die Bücherregale. Ungefähr fünf standen in der Mitte des Raumes und dann noch ein paar an den Wänden.
„In was für ein Irrenhaus hast du mich hier geschickt, Grandma?“, murmelte ich ganz leise, zuckte jedoch zusammen, als mir jemand antwortete.
„Das ist kein Irrenhaus, das ist ein Laden für lernende Zauberer.“
Schnell fuhr ich herum und starrte plötzlich einen älteren Mann an der Theke an. Er stand mindestens zwei Meter von mir entfernt, wie konnte er mich da hören?
„Wie ist dein Name?“, fragte der Mann plötzlich, als ich ihn reglos anstarrte.
Erst zögerte ich, antwortete dann aber doch. „Cassie.“
Der Mann runzelte die Stirn, so als dachte er nach.
„Elizabeth hat viel von dir erzählt“, meinte er dann, fest entschlossen, das richtige gesagt zu haben.
Elizabeth war der Name meiner Grandma. Sofort hielt ich mich an einem Bücherregal fest, um nicht umzufallen. Ich dachte, ich wäre schon so weit, doch Grandmas Namen zu hören, reichte schon aus, um mich aus der Fassung zu bringen.
„Tut mir Leid“, sagte der Verkäufer plötzlich, „ich wollte dich nicht traurig machen.“
Erst als ich wieder hoch sah, fuhr er fort.
„Der Verlust deiner Grandma tut mir aufrichtig Leid. Sie war eine sehr starke, unabhängige Person. Es hat uns alle sehr gerührt, als wir es erfuhren.“
Ich versuchte nicht lange über seine Worte nachzudenken, sondern trat einen Schritt auf ihn zu und starrte ihm in die Augen.
„Ist sie oft hier gewesen?“, fragte ich und erkannte, dass der Mann darauf nicht vorbereitet war.
„Hauptsächlich kam sie hierher, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Das war nicht allzu oft. Manchmal kam sie aber auch einfach so her, wenn sie ein wenig Gesellschaft brauchte oder reden wollte“, erzählte er, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. „Willst du nicht mit nach hinten kommen? Ich erzähl dir mehr von ihr, hier ist es so unpersönlich.“
Eine Zeit lang zog ich es in Erwägung, sein Angebot wirklich anzunehmen. Doch als das Handy in meiner Tasche zu vibrieren begann, war dies das Zeichen für mich, zu gehen.
„Tut mir Leid, ich kann nicht. Vielleicht ein andermal“, schlug ich vor und öffnete schon die Ladentür, um nach draußen zu gehen.
„Komm vorbei, wenn du Fragen hast oder einfach reden willst. Dieses Geschäft ist mehr als ein Hobbyladen“, meinte er noch, kaum hörbar.
Ich versuchte vergeblich, nicht über seine Worte nachzudenken. Doch jeder Schritt, mit dem ich mich weiter von Practical Magic entfernte, sehnte ich mich mehr danach, umzukehren.

Neues Zuhause


„Du kannst nicht in Metaline Falls bleiben, nicht ohne uns.“
Ich versuchte krampfhaft den Blickkontakt standzuhalten, brach ihn aber nach wenigen Sekunden ab. Egal, was Mom zu mir sagte, es schnürte mir jedes Mal die Kehle zu.
„Verstehst du es nicht? Ich kann hier nicht weg, nicht jetzt“, gab ich ohne nachzudenken zurück. Hier in Metaline Falls war ich geboren worden, mein Vater und meine Grandma waren hier gestorben .. alles war in dieser Kleinstadt passiert, alles bedeutende. Aus diesem Grund würde ich vielleicht niemals bereit sein, sie zu verlassen.
„Ich will hier doch auch nicht weg, Cassandra. Doch wie stellst du dir das vor? Wir müssen einfach umziehen. Tom hat einen viel zu weiten Weg zur Arbeit und ...“
Als Mom wieder von Tom anfing, wurde es mir zu viel. Ständig zog sie Tom mir vor und das reichte mir.
„Tom! Immer nur Tom, Tom, Tom! Tom hier, Tom da. Denkst du auch einmal an mich?“, brüllte ich und spürte, wie mein Kopf rot anlief. „Dann hat er eben einen weiten Weg zur Arbeit, na und? Jeder muss mal ein Opfer bringen, selbst Tom!“
Moms Miene veränderte sich schlagartig und ich konnte sehen, dass sie vorhatte, zurück zu brüllen. Doch als ich plötzlich Toms dunkle Stimme hören konnte, hielt sie sich zurück.
„Deine Tochter hat Recht, Miranda. Wir haben nur an mich gedacht, ohne Rücksicht auf Cassandra zu nehmen“, sagte er in einer klaren Stimme. Mom hatte damit noch weniger gerechnet, als ich.
„Also ziehen wir nicht um?“, fragte Mom Tom und sah einen Moment selbst ein wenig erleichtert aus. Das bestätigte, dass Tom hier der Boss war.
„Erstmal nicht. Vielleicht, wenn sie aufs College geht“, antwortete Tom und machte es sich auf der Couch gemütlich.

Ich fuhr mit meinem Smart schneller als erlaubt. Wir hatten noch geklärt, dass ich in Grandmas Haus bleiben durfte und Mom dafür sorgte, dass es auch voll und ganz uns gehörte, obwohl Grandma es mir sowieso vererbt hatte.
Nach halber Fahrt entdeckte ich plötzlich Will, der alleine vor einem Haus, auf einer Bank saß. Ich hielt an und ließ das Fenster runter.
„Hey, Will!“, schrie ich glücklich. Als er mich sah, verschwand sein merkwürdig trauriger Blick und er kam auf mich zu gejoggt. Als er meinen Koffer auf dem Beifahrersitz entdeckte, lächelte er.
„Du ziehst also aus?“ Er musterte mich und meinen Koffer nachdenklich.
Ich nickte. „Ja, endlich. Ich wohne bei meiner Grandma.“ Schnell versuchte ich den Satz neu zu beginnen. „In dem Haus von meiner Grandma.“
Will sah mich mit einer Ladung gemischter Gefühle an und runzelte die Stirn.
„Kann ich mitkommen?“, fragte er plötzlich. Ich lächelte ihn an.
„Der Koffer muss aber auch mit“, stellte ich traurig fest und betrachtete den Koffer.
„Kein Problem“, antwortete er und lief einmal um mein Auto, auf die andere Seite und öffnete die Beifahrertür. Dann nahm er den Koffer hoch, setzte sich hinein und nahm den Koffer auf seinen Schoß.
„Sind da Steine drin?“, grinste er frech, was mich zum Lachen brachte.

Die Fahrt über unterhielten wir uns. Es war, wie ein Dejavu. Will erzählte von seinem Hund, den sie einschläfern mussten, da er plötzlich aggressiv wurde.
„Ich wollte schon immer eine Katze haben, aber mein Stiefvater ist allergisch gegen Katzenhaare, deshalb war es all die Jahre nur ein Traum“, erzählte ich mit einem traurigen Lächeln im Gesicht. Er nickte verständlich und sah mich an. Ich reagierte auf seinen Blick nicht, sondern stieg aus dem Auto, da wir an unserem Ziel angekommen waren. Als ich ausstieg, schien mir die Sonne ins Gesicht. Einen Moment lauschte ich den Vögeln und dem Rascheln der Bäume. Dann ging ich den Hügel hinauf, während Will meinen schweren Koffer trug.
„Geht´s?“, fragte ich grinsend. Er lachte nur und wackelte mit dem Kopf.
Drinnen angekommen ließen wir uns auf das Sofa fallen und entspannten uns erstmal.
„Seit wann scheint in Metaline Falls so intensiv die Sonne?“, fragte ich nach Atem ringend. Will zuckte nur mit den Schultern und krächzte: „Keine Ahnung, aber du musstest deinen Koffer voller Steine nicht den Hügel hoch schleppen!“
Vergeblich verkniff ich mir ein Lachen.
„Ich hol uns was zu Trinken“, schlug ich vor und schleppte mich in die Küche. Enttäuscht sah ich in den Kühlschrank.
„Eistee oder Leitungswasser?“, schrie ich aus der Küche und beobachtete ihn im Spiegel, während er Grandmas Teppich betrachtete. Bevor er schrie, dass er Eistee wolle, kannte ich schon seine Antwort. Mit zwei Gläsern Eistee ging ich zurück zu Will und setze mich zu ihm auf das Sofa.
„Will?“, fragte ich plötzlich. Es kam mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Er sah vom Eistee auf und starrte mich fragend an.
„Glaubst du, dass es Drachen gibt?“ Diese unüberlegte Frage, ließ mich schaudern. Will sah mir in die Augen und fing an zu lachen.
„Das ist eine ernste Frage, Will.“ Er hörte auf zu lachen und sah mich ernst an.
„Naja.. ich bin noch nie einem begegnet“, antwortete er.
„Wie steht´s mit Hexen?“ Wieder einmal, hatte ich nicht gründlich überlegt, bevor ich es aussprach.
„Wieso fragst du das?“ Seine Stimme war ein wenig misstrauisch. Ich zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster.

Urplötzlich öffnete ich meine Augen. Mein Atem wurde schneller, genau wie mein Herzschlag.
„Wir sind eingeschlafen, Will“, stellte ich fest und sah zum anderen Sofa. Doch von Will war keine Spur. Verwirrt sah ich mich um, doch Will war verschwunden. Verwundert stand ich auf. Ein kalter Windstoß streifte meinen Nacken. Schnell drehte ich mich um und bemerkte die offen stehende Haustür.
„Will?“, fragte ich verwirrt, doch es antwortete niemand. Langsam schlich ich zur Haustür und spannte meine Ohren an.
„Cassie?“

Eine blasse Stimme hinter mir rief meinen Namen. Blitzschnell fuhr ich herum, doch dort war niemand. Der Knall der Haustür ließ mich zusammen zucken. Schnell ging ich hin und riss wieder die Tür auf. „Das finde ich nicht lustig, Will!“ Doch wie erwartet, antwortete er nicht. Als plötzlich die Haustür hinter mir zufiel, kroch ein kalter Schauer über meinen Rücken.
„Will? Du machst mir langsam Angst!“ Ich versuchte vergeblich die Tür zu öffnen, sie war verschlossen. Angstperlen liefen über mein Gesicht. Zitternd lief ich ums Haus herum, zur Hintertür, doch die war ebenfalls verschlossen.
„Misst“, murmelte ich wütend. Verängstigt drehte ich mich mit dem Rücken zur Tür und ließ mich langsam runter gleiten. Ich zog meine Knie an mich heran und vergrub mein Gesicht in ihnen.
Plötzlich spürte ich die Gegenwart von jemandem. Ich spürte den Atem an meinen Haaren. Als ich die kalte Hand auf meiner spürte, sah ich hoch und zuckte unwillkürlich zusammen. Es war die Person aus meinem Träumen. Die Gold-Braunen Augen, die langen seidig-braunen Haare und der Blick. Es war ich! Sofort drückte ich mich mit aller Gewalt an die Tür, an der ich lehnte. Zu meiner großen Überraschung sprang sie auf. So schnell ich konnte, lief ich den Flur entlang und dann die Treppe hoch. Ich stolperte ein paar Male, was mir allerdings nichts ausmachte. Schnell lief ich in das Zimmer, was mir gehörte, wenn ich Grandma besuchte. Ich knallte die Tür zu und schob die Kommode davor. Erleichtert setzte ich mich aufs Bett.
„Cassie?“

, rief plötzlich eine blasse Stimme. Sie war ganz nahe, jedoch schien sie weit entfernt zu sein. Ich stand vom Bett auf und ging zum Fenster. Erschrocken torkelte ich ein paar Schritte zurück, als das Böse Ich plötzlich am Fenster klebte. Schnell versuchte ich die Kommode weg zuschieben, doch ich hatte keine Kraft mehr. Mit letzter Energie schleppte ich mich ans andere Ende des Zimmers, kniff die Augen zusammen und fing an zu schreien.

Lilys Entscheidung


Lily saß mal wieder gelangweilt in ihrem Zimmer und starrte das Telefon an. Sie wollte Cassie anrufen. Es ihr sagen. Aber sie konnte es nicht. Etwas was sie ihr schon mehreren Jahren anvertrauen will, aber es einfach nicht über die Lippen bringt. Sie sehnt sich so danach, es ihr endlich zu sagen. Sie war sich sicher, dass Cassie es verstehen würde. Blitzartig griff Lily nach dem Hörer und wählte schnell ihre Nummer. Beim zweiten Klingeln ging ihre Mutter ran und meldete sich wie immer mit einem freundlichen: „Hallo, Lily!“ Sie wollte nicht lange um den heißen Brei reden, also kam sie direkt auf den Punkt.
„Ist Cassie da? Ich muss dringend mit ihr reden!“, erzählte Lily aufgeregt. Cassies Mom zögerte.
„Sie ist nicht da“, antwortete sie dann. Lily wollte fragen, wo sie ist, aber ihre Mom legte auf.
Sie wollte sich nicht weiter mit ihren Problemen befassen, also beschloss sie raus zu gehen. Die frische Luft würde ihr gut tun.

Wieder wach


„Hey, Cassie. Alles ist gut.“ Ich erkannte Wills beruhigende Stimme wieder. Langsam öffnete ich meine Augen und sah direkt in Wills bezauberndes Gesicht.
„Du hattest einen Alptraum, Cassie. Nichts davon ist passiert.“ Verwirrt sah ich Will an und bemerkte, dass ich im Wohnzimmer auf dem Sofa lag. Beruhigt fasste ich mir an den Kopf und setzte mich aufrecht hin.
„Oh Gott“, murmelte ich und schüttelte dabei den Kopf. „Der Traum war so real.“
Will nickte und lächelte mich an.
„Ja, du hast ganz schön geschrien“, war Will lächelnd aufgefallen.
Ich drehte mich schnell in eine andere Richtung und murmelte: „Peinlich.“ Ebenfalls lächelnd drehte ich mich wieder zurück und betrachtete voller Schamgefühl die Wand.
Wir unterhielten und noch ein bisschen, bis er sagte, dass er los muss und sich mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete.
Ich versuchte nicht an den geheimen Keller zu denken. Ich schaltete den Fernseher an und beobachtete eine Frau mit einem viel zu großen Ausschnitt, die das Wetter moderierte. Gelangweilt schaltete ich ihn wieder aus, legte mich hin und schloss meine Augen. In meinem Kopf wirbelten Bilder von Will, Lily, meiner Grandma, dem Drachen und sogar Mom und John herum. Der Drache aber, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Hatte er etwas mit dem Mord an Grandma zu tun? Es ist eine bislang verschollene Bestie, die in Märchen Feuer speien und Dinge mit ihren Krallen zerfetzen kann. Was ist, wenn der Drache dies mit Grandma getan hat? Es wäre möglich.

Das Gefühl von Freiheit


Lily lief so schnell wie sie konnte, denn sie wollte den Wind auf ihrer Haut spüren, wie er durch ihre Haare wehte und seine eisigen Spuren hinterließ. Sie versuchte so schnell zu laufen wie sie konnte, bis der Wind sie in die Höhe trägt. Alles konnte sie in diesem Moment schaffen, da sich sich frei fühlte. Entspannt atmete sie die frische Bergluft ein. Zu diesem Zeitpunkt dachte sie nicht an ihre Sorgen und Probleme. Nicht an die Geheimnisse, die sie vor ihrer besten Freundin hatte. Es ging nur um diesen Augenblick. Um das Hier und Jetzt.
Lily lief schneller und fühlte sich, als wenn sie alles schaffen könnte. Langsam zog sie ihre Klamotten aus und ließ sie hinter sich ins feuchte Gras fallen. In ihrem letzten hohen Sprung als Mensch spürte sie, wie das Fell aus ihren Poren schoss. Als sie wieder den Boden traf, fühlte sie unter ihren Pfoten das geschmeidige Gras. Sie roch den süßen Duft der Bäume und Wiesen. Es war alles wie vorher, nur verstärkt. Dies alles fühlte Lily, als sich plötzlich etwas spitzes durch ihre Schulter bohrte. Sofort stoppte sie und fiel zu Boden. Schnell nahm Lily wieder eine standhafte Position ein, duckte sich und schlich langsam rückwärts. Sie hatte gelernt, wie man sich in solchen Momenten verhalten muss. Ihre Ohren spitzten sich, als sie plötzlich leise Schritte hörte. Sie kamen bedrohlich näher, bis Lily das Gesicht eines Jungen sah. Seine dunkelbraunen Haare hingen ihm im Gesicht. Sie erkannte, wie angespannt er durch das Gras tappte und nach allem Ausschau hielt. Seine dunklen Augen suchten die ganze Wiese ab. Als sie plötzlich eine Waffe in seiner rechten Hand entdeckte, zuckte sie zusammen. Plötzlich fing er ihren Blick auf. Er sah ihr direkt in ihre grünen Augen und hielt langsam die Waffe in ihre Richtung. Einen Moment lang überlegte Lily, ob sie sich zurück verwandeln sollte. Aber dann schüttelte sie innerlich den Kopf, da sie wusste, dass sie ihre Familie nicht verraten konnte. Sie leben unentdeckt unter den Menschen. Früher waren sie Millionen – heute sind sie nicht einmal mehr Hunderte. Die Menschen haben sie gefunden und getötet, genau wie Lilys Mutter. Doch sie starb aus der Hand eines anderen, nicht menschlichen Wesens. Sie sehen aus wie Lily und der Rest der Welt, doch wenn sie sich verwandeln sind sie größer und schneller als alles andere. Werwölfe werden sie genannt. Anders als Lily, verwandeln sie sich zwangsweise bei Vollmond. Sie töten alles, was ihnen in die Quere kommt, einschließlich sie.
Lily war sich bewusst, dass er sie jeden Moment töten würde. Er wartete nur noch auf den richtigen Moment. Vielleicht wollte er sie auch einfach ansehen. Ihr helles, fast blondes Fell, dass die gleiche Farbe wie ihre menschlichen Haare haben, ihre hellen aber auch gefährlichen Augen.
Vielleicht kennt er mein Geheimnis...

Dieser Gedanke ließ Lily schaudern. Was war, wenn die Menschen ihr Geheimnis kannten? Das Geheimnis, was sie all die Jahre beschützt haben. Nein, das konnte einfach nicht sein. Dieses Geheimnis wissen nur die wenigsten, und das war Lily bewusst.
Der Mensch rührte sich noch immer nicht. Er musterte sie, während er langsam näher kam. Lily wusste, bei einer schnellen Bewegung, würde er schießen.
„Will?“ Die Stimme eines älteren Mannes ließ sie erneut zusammen zucken. „Hast du es?“ Lily konnte sehen, wie der junge Typ die Stirn runzelte.
Er zögerte einen Moment, bis er den Mund öffnete.
„Nein, es muss uns entkommen sein!“, schrie er plötzlich. Erneut zuckte Lily zusammen und starrte ihn verwirrt an. Es schien, als würde er sie anlächeln. Doch dann dröhnte aus der Ferne wieder das Gebrüll des Mannes.
„Wir müssen los, Will! Es wird dunkel!“ Sofort drehte er sich um ging davon. Aus der Ferne hörte Lily das Geräusch eines Motors. Auch wenn sie wusste, dass sie schon lange weg waren, hockte sie noch lange Zeit im Gras. Sie hatte Angst, sie würden zurück kommen. Doch dann fielen ihr wieder die Worte des Mannes ein. Dunkel. Es war eindeutig dunkel. Lily sah hoch zum Himmel und erkannte den Mond. Er stand schon am Himmel, weshalb sie besser nach Hause sollte. Schnell suchte sie ihre Kleidung zusammen und verwandelte sich zurück. Sie erschrak, als sie das blau-violette Blut an ihrer Schulter erkannte. Sie hatte fast vergessen, dass sie getroffen wurde.
„Was war bloß in dem Pfeil drin?“, krächzte sie, als sie plötzlich ein Knurren hinter sich wahrnahm. Langsam drehte sie ihren Kopf in die Richtung und erschrak, als sie einen riesigen Wolf hinter sich stehen sah...

Geständnisse


Ich griff nach dem Hörer, wählte Lilys Nummer und legte sofort wieder auf. Wir hatten über eine Woche nicht miteinander gesprochen. Weder ich hatte sie angerufen, noch sie mich. Ich wollte einfach, das alles wieder wie früher wurde. Wie war es überhaupt dazu gekommen?
Plötzlich bekam ich ein seltsames Gefühl im Magen. Es kribbelte und fühlte sich merkwürdig an. So ein Gefühl hatte ich noch nie zuvor gehabt, deshalb konnte ich es nirgendwo zuordnen. Dieses Gefühl brachte mich dazu aufzustehen und die Haustür zu öffnen. Ich weiß nicht woher, aber ich wusste, dass es dann besser werden würde. Ich ging geradewegs in den Wald hinein. Es war schon ziemlich dunkel, was mir nur mittelmäßig Angst einjagte. Nach dem letzten Spaziergang im Wald können mir kann mir niemand mehr Angst einjagen. Vorsichtig ging ich weiter und achtete darauf, wo ich hin trat, damit ich nicht auf die Nase fiel.
Das Kribbeln wurde nun stärker und immer ungewöhnlicher. Ich hatte gedacht, es würde aufhören, wenn ich meinem Bauchgefühl folgen würde, doch es wurde nur schlimmer. Ruckartig blieb ich stehen und wollte mich gerade umdrehen und wieder gehen, als ich plötzlich ein Schrei aus der anderen Richtung hörte. Der Schrei war seltsam bekannt und vertraut, also drehte ich mich wieder um begann zu Laufen. Ich lief so schnell ich konnte und als ich dachte, in die falsche Richtung gelaufen zu sein, erkannte ich plötzlich ein Mädchen. Sie lag auf dem Boden und zerrte sich mit aller Gewalt hinter einen Baum. Ich wollte gerade auf sie zu Laufen, als ich plötzlich einen großen Wolf sah. Er hatte die Vorderbeine leicht gebeugt und knurrte das Mädchen an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte selbst Angst vor diesem grauen Wolf. Doch das Kribbeln in meinem Bauch, brachte mich dazu, näher heran zu gehen. Plötzlich blieb ich stehen und erstarrte. Lily! Das Mädchen war Lily! Nun sah sie hoch und schaute mir direkt in die Augen. Ich sah, wie sie grün aufleuchteten und erschrak. Was war hier bloß los? Nun drehte sich auch der Wolf in meine Richtung und begann, auf mich zu zu laufen.
„Lauf!“, schrie Lily verzweifelt und stand vom Boden auf. Meine Augen wurden riesig, als sie Anlauf nahm und mitten in der Luft zu einem Tier wurde. Sie sah genau wie der furchteinflößende Wolf aus. Jedes Detail stimmte, nur wie war das möglich? Knurrend lief sie dem Wolf hinterher, jedoch war sie bedeutend langsamer. Nun konnte ich mich allmählich wieder bewegen und beschloss, los zu laufen. Schnell drehte ich mich um und lief so schnell ich konnte. Leider war es nicht schnell genug, da ich die Schritte des Wolfs immer näher kommen hörte. Schweißperlen liefen über meine Stirn, als ich plötzlich über eine Baumwurzel stolperte und brutal auf die Nase fiel. Schnell drehte ich mich auf den Rücken und starrte vor Schreck den Wolf an. Er war nun unmittelbar vor mir und sprang in die Luft, direkt auf mich zu. Sofort streckte ich aus einem Reflex die Hände vor mir aus und schloss die Augen. Nach ein paar Sekunden öffnete ich sie wieder und blinzelte verwirrt den Wolf an, der leblos am Boden lag. War ich das? Ich hatte den Wolf nicht einmal berührt. In dem Moment kam Lily auf mich zu gelaufen, die wieder wie immer aussah und ruckartig stehen blieb, als sie mich und den Wolf am Boden sah.
„Was ist passiert?“, fragte sie schockiert und kaum auf mich zu gelaufen. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Lily kam auf meine rechte Seite und zog mich nach oben. Wir gingen in einem großen Bogen um den Wolf herum und Lily trat noch einmal kräftig gegen seinen Rücken und sagte: „Scheiß Werwolf!“ Ich sah sie verdutzt an und wollte sie fragen, weshalb sie es Werwolf nannte, aber meine Stimme versagte. Sie schleppte mich quer durch den Wald direkt zu Grandmas Haus. Sie wusste, dass ich in diesem Zustand nicht nach Hause konnte und es nur Grandma verstehen würde. Dabei wusste sie nicht einmal, dass sie tot war. Wir waren an ihrer Hintertür angelangt und Lily klopfte wie wild und schrie: „Grandma!“ Doch es kam keine Antwort. Schnell zog ich meine Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Wir gingen rein und Lily schloss die Tür von innen ab. Sie schob sogar den Riegel vor. Dann kam sie zu mir auf die Couch und starrte wie besessen aus dem Fenster. Ich hatte meine Stimme fast wieder, also versuchte ich etwas zu sagen.
„Was war das eben?“, flüsterte ich in einem normalen Ton, so als wenn ich Lily gerade dabei erwischt hätte, wie sie vor ihrem Spiegel tanzt.
„Ich versteh das nicht“, begann sie und schaute mich verwirrt an. „Die können sich normalerweise nur bei Vollmond verwandeln!“ Dann sah sie auf ihren Arm und erstarrte. Schnell folge ich ihrem Blick und sah dann Lily in die Augen. „Es hat dich gebissen?“, fragte ich ungläubig und wollte gerade aufstehen und Tücher holen, aber sie hielt mich am Handgelenk fest und zog mich wieder auf die Couch.
„Schon okay“, murmelte sie kaum verständlich. „Ich muss dir alles erzählen, bevor es zu spät ist.“ Verwirrt sah ich sie an und erkannte ein Flimmern in ihren Augen. „Ein Werwolf hat uns gerade angegriffen, Cassie.“ Ich fasste mir mit beiden Händen an den Kopf.
„Werwolf...“, wiederholte ich. Sie nickte und sah mir direkt in die Augen.
„Ich wollte es dir schon lange sagen, aber ich konnte es nicht, Cassie. Jetzt bleibt uns keine Zeit mehr.“ Sie machte eine kurze Pause und atmete tief durch. „Ich bin ein Formwandler. Meine Mutter war es. Mein Vater ist es. Und mein Bruder wird es werden. Wir können uns in jedes Tier verwandeln, dass wir uns eingeprägt haben.“

Impressum

Texte: Die Rechte der Idee und ds Textes liegen nur bei mir.
Bildmaterialien: Model: Phoebe Tonkin, Bildquelle: Faye aus The Secret Circle
Lektorat: Mary1602
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Würdest du deine Gabe benutzen, um dich an denen zu rächen, die dir deine Geliebten genommen haben?

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