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„Niemals!“ rief Mirjama aus und warf ihre Muschelschale voller Meeresoliven auf den Palastboden, direkt vor die Füsse des Königs des Meeres. Traurig sah dieser auf seine jüngste Tochter und strich sich betrübt durch seinen langen, dichten grünblauen Bart.
In Mirjamas dunkelgrünen, langen Wimpern hingen Tränen der Trauer und des Zorns.
„Mein liebes Kind“, versuchte die Mutter zu beschwichtigen „versuch doch zu verstehen. Wir müssen dem Orakel gehorchen. Du wurdest nun mal erwählt den Himmel und das Meer zu einen.“
„Ich soll verstehen, dass ihr mich an einen weitentfernten, eisigkalten Herrscher verschachert? Dass ihr mich einfach so an die Himmelsgestirne ausliefern wollt?“ schimpfte Mirjama.
„Das Schicksal unseres ganzen Volkes hängt davon ab“, sprach der König mit sanfter Stimme wieder auf sie ein.
„Ich soll das verstehen und hinnehmen. Aber keiner versteht mich, nimmt Rücksicht auf meine Wünsche, zum Beispiel mir den zum Manne zu nehmen, den ich liebe und der mich liebt! Opfern wollt ihr mich auf dem Altar der Gezeiten! Niemals!“, und wütend schlug Mirjama mit ihrem schönen silbergeschuppten Fischschwanz auf, dass es sie schmerzte.
„Mirjama. Es ist deine Pflicht. So wie es schon seit Anbeginn der Zeiten die Pflicht einer Tochter des Meeres ist, die Verbindung mit dem Reich des Mondes einzugehen, um damit unser aller Fortbestand zu sichern.“, sprach der König beschwörend auf sie ein, während er liebevoll seinen Arm um sie legte.
„Verdammt soll es sein, dieses elende Orakel! Ausgerechnet mich zu verkaufen und verraten.“, murrte Mirjama weiter.
„Schweig, Kind! Versündige dich nicht!“, bei diesen seinen Worten legte sich die Stirn des Königs in Falten, in denen das feine Moos sichtbar wurde, welches seine alte Haut überzog.

Noch während Mirjama den Arm ihres Vaters wie eine lästige Meeresalge abschüttelte, verdunkelte sich die grosse Halle des Palastes über ihnen. Wie aus dem Nichts einer dunklen Wolke erhob sich die uralte, in dunklem Silber schimmernde Gestalt der alten Wellenherrscherin Ondinae. Alles Meervolk, ausser Mirjama, verneigte sich ehrfurchtsvoll vor der alten weisen Frau. Ondinae sprach mit klarer, keinen Widerspruch duldender Stimme zu Mirjama: „Das Orakel richtet das Schicksal der Welt und auch das deine. Was denkst du wer du bist, um dich dem Schicksal zu entziehen, welches das Orakel für dich vorgesehen hat? Morgen mit der ersten Flut wirst du an die Gestade des Meeres von A’hat’Taif reisen und den Mondkönig empfangen! Nur durch deine Ehe mit ihm sichern wir die Gezeiten, und damit den Fortbestand unserer Welten und die der Menschen.“
„Niemals!“, murmelte Mirjama nun etwas eingeschüchtert aber immer noch dickköpfig.
„Eher will ich in einem alten Brunnenloch verschimmeln, als mich irgendeinem vom Schicksal bestimmten, ungeliebten Mann zu unterwerfen. Himmel und Meer werden auch so weiter bestehen. Und was kümmern mich die Menschen und ihre Welt?“
„Dein Wunsch soll dir erfüllt werden“, rief die alte Ondinae ehrfurchtgebietend aus und wob eine dichte Zaubergischt um das widerspenstige Mädchen. Das sprudelnde, tobende Wassergebilde hob die arme Mirjama empor und trug sie durch die offene Kuppel der grossen Palasthalle hinaus. Quer durch das Meer von A’hat’Taif trug die Zaubergischt Mirjama. Sie flog mit ihr über die Küste, deren Strand dessen Ebbe im Mondlicht schimmerte. Sie trug sie hinweg über Wüsten, Berge und Täler, entlang dichter Palmwälder um sie mitten in einem dunklen verlassenen Palmenhain in einem grossen Brunnen abzusetzen. Die Zaubergischt vereinte sich mit dem Quellwasser liess und Mirjama einsam in dem alten, bereits etwas baufälligen Brunnenloch zurück. Verloren blickte die arme kleine Nixe um sich und wusste nicht wie ihr geschehen war. Das Mondlicht schien freundlich auf sie herab, während sie zwar niedergeschlagen, aber immer noch trotzig, nach dem ersten Schreck ihr neues Heim zu untersuchen begann. Gefangen war sie, in diesem vermaledeiten Brunnen aus dem es kein Entrinnen zu geben schien, denn das Wasser führte nur zu einer Quelle im dichten Palmenhain.

...



Dieses Märchen könnt Ihr nachlesen in der Märchesammlung »Seelen des Orient«


von Carolyn Pini www.carolyn.pini.org
Zwölf magische, fantastische Märchen wie aus 1001 Nacht mit wunderschönen Illustrationen von Bettina Luise Körner: www.artbytheweek.com

erschienen November 2011, im Re Di Roma-Verlag www.rediroma-verlag.de
ISBN 978-3-86870-396-2
Softcover, 210 Seiten
EUR 18.95 (D)

Impressum

Texte: Cover: © Bettina Luise Körner
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2010

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