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Binahni



Es geschah, in einem gar nicht so fernen Land, vor gar nicht so langer Zeit, dass ein Hirte seine Frau im Kindbett verlor. Geblieben war ihm nur sein Töchterchen. Die war ihm sein Ein und Alles. Nun zog er sein Kind auf inmitten seiner Herde Schafe. Er stillte ihren Hunger und Durst mit der Milch der Schafe und wiegte sie auf der Wanderschaft in seinen starken Armen. Und abends, wenn er sich zur Ruhe niederliess und ein wärmendes Feuer entfachte, da wiegte er sie mit seiner Flöte Gesang in den Schlaf. Und er nannte sie Binahni.

So zogen sie durch das Land, jahrein jahraus, bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter und lebten ein sehr genügsames doch glückliches Leben. Die Schafe gaben ihnen was sie zum Leben brauchten und kleine Abenteuer gab es alleweil. Manchmal nachts, da heulten die Wölfe und Binahni fürchtete sich sehr, doch ihr Vater sprach: „Fürchte dich nicht vor den Wölfen, auch sie sind Gottes Geschöpfe.“ Und so wuchs Binahni zu einer schönen jungen und mutigen Frau heran .

Eines Tages, es war im späten Herbst, da kam es, dass ihr Vater sehr krank wurde. „Binahni“ sprach er zu ihr „ich werde sterben. Sei gut zu den Schafen und allen Lebewesen. Hüte dich und die Herde vor den Wölfen und vor gierigen Menschen.“ Und er schloss die Augen und sie sah, wie der letzte Atemhauch seinen Lippen entwich und sich in der kalten Herbstluft auflöste. Wie sehr weinte Binahni da und fühlte sich gar einsam und verlassen. Aber sie war auch ein tapferes Mädchen und wie der Morgen kam, da löschte sie das Feuer, begrub ihren Vater unter einem Apfelbaum und zog mit ihren Schafen weiter.

Es wurde ein langer strenger Winter und Binahni musste manches Schaf verkaufen um ihn überstehen zu können. Und nicht immer fand sie ein warmes Plätzchen zum Schlafen, dann war ihr unheimlich wie eh und je wenn die Wölfe heulten.

Eines Tages im Frühjahr darauf, als der Tag sich zu Ende neigte und sie sich gerade ein Lager gerichtet hatte, stand auf einmal ein grosser grauer Wolf vor ihr. Wie erschrak sie sich da im ersten Augenblick. Aber sie fing sich und sprach: „Tu mir nichts, lieber Wolf. Lass mich und meine Schafe am Leben.“ „Liebes Kind, wie gerne würde ich dir nichts antun, aber es liegt in meiner Natur Schafe zu reissen und Menschen zu fressen.“ Da begann Binahni zu weinen aber sie beschloss sich ihrem Schicksal zu stellen. „Nun denn Wolf, so mögest du mich fressen, aber bitte verschone meine Schafe.“ Diese Rede erstaunte den Wolf gar sehr. „Hast du denn gar keine Angst vor mir?“ fragte er verwundert. „Ach lieber Wolf, wenn es denn in deiner Natur liegt, was kann ich anderes tun als mich in mein Schicksal zu ergeben? Ich kann nur hoffen, dass ich gross genug bin um deinen Hunger zu stillen auf dass du meine Schafe verschonst.“ Die Augen des Wolfes weiteten sich in grossem Erstaunen. „So viel Verständnis ist mir noch niemals begegnet. Du hast ein wahrlich grosses Herz für deine Schafe und mich. Doch was ist mit dir, du schönes Kind?“ „Ach was soll mir schon am Leben liegen? Meinen Vater habe ich beerdigt und meine Mutter nie gekannt. Was soll mir das Leben bedeuten?“ Das machte den Wolf traurig. „Liebes Kind nenn mir deinen Namen.“ „Binahni nannte mich mein Vater.“ „Liebste Binahni, nun kann ich dich nicht mehr fressen, denn kein Kind dieser Welt soll von ihr gehen ohne die Liebe zu finden.“ Binahni schaute ihn sehr ernst an: „Aber ich kenne die Liebe. Ich habe meinen Vater geliebt und ich liebe meine Schafe.“ „Gib mir eines deiner Schafe und ich werde dir die wahre Liebe bringen.“ bat der Wolf. Und so gab ihm Binahni eines ihrer Schafe. Der Wolf riss es, stillte seinen Hunger und dann zog er sich dessen Pelz über. „Warte hier bis ich wiederkomme und fürchte dich vor nichts.“ sagte er zu ihr und dann verschwand er in der Dunkelheit.

Binahni entfachte ein Feuer, ass ein wenig Brot und einen Apfel vom Baum unter dem sie ihren Vater begraben hatte und sie trauerte. So sass sie da und wartete und wurde immer müder bis ihr die Augen zu fielen und sie einschlief. Und im Traum erschien ihr ein goldener Baum mit goldenen Früchten, doch als sie nach einer Frucht greifen wollte, da verschwand der Baum und sie erwachte.

„Guten morgen Binahni.“ sprach der Wolf der vor ihr stand. Er sah seltsam aus in seinem Schafspelz. „Ich habe dich nicht gefressen und ich möchte dich fragen ob du mir vertrauen willst? Ich werde dich zu deiner wahren Liebe führen.“ Sie schaute ihn an und wusste nicht genau was sie sagen sollte. Aber sie fasste sich ein Herz und all ihren Mut und nickte. „Dann nimm diesen kleinen Zweig. Gehe immer nach Norden und was immer dir im Wege steht berühre mit diesem Zweiglein.“ Der Wolf sprach’s und verschwand bevor sie noch etwas sagen konnte.

So machte sich Binahni auf den Weg nach Norden. Der kalte Frühlingswind blies kräftig und oft wurde sie von Regen oder Schnee auf ihrem Weg aufgehalten. So ging sie viele Tage und endlich kam sie mit ihrer Herde an einen grossen reissenden Fluss. Wenn sie nach Norden weitergehen wollte, musste sie ihn überqueren. Doch auch wenn sie vielleicht hinüberschwimmen konnte und im eisigkalten Wasser nicht ertrank, die Schafe würden niemals hinüberkommen. Sie würden ertrinken oder sie müsste sie alleine zurück lassen. „Vielleicht ist das nur eine List des Wolfes?“ dachte sie bei sich. „Vielleicht war ihm das eine Schaf nicht genug und er will sich die ganze Herde holen, wenn ich ertrunken bin?“ Doch dann erinnerte sie sich an die sanften Augen des Wolfes und seine Frage, ob sie ihm vertrauen wollte und an das Zweiglein, das er ihr gab. So nahm sie das Zweiglein und berührte damit das Flussufer und sprach: „Hilf mir über den Fluss.“. Kaum hatte das Zweiglein den Boden berührt da wuchs eine goldene Brücke vor ihren Füssen aus dem grünen Gras und wuchs hinüber zum anderen Ufer. Vorsichtig setzte Binahni einen Fuss auf die Brücke und sie hielt stand. So trieb sie ihre Schafe über die Brücke ans andere Ufer und setzte ihre Wanderung nach Norden fort.

Sie wanderte einundzwanzig Tage, da kam sie an einen riesigen Wald. Es gab keinen Weg um ihn herum, denn auch nachdem sie einen Tag und eine Nacht dem Waldrand entlang gelaufen war, fand sich kein Weg um ihn herum. Sie wusste, dass nur der Weg durch den Wald hindurch nach Norden führen würde. So trieb sie ihre Schafe in den dunklen Wald. Einundzwanzig Tage wanderte sie so durch den finsteren Wald. Jede Nacht erzitterte die arme Binahni bis ins Mark, wenn sie das Wolfsgeheul hörte, das mit jeder Nacht näher zu kommen schien. Doch in all den Tagen ihrer Wanderung sah sie den Wald aus seinem Winterschlaf erwachen. Goldene Spinnennetze säumten ihren Weg und kleine Vögel begleiteten sie immer wieder ein Stück. Dann kamen auch herrliche Blumen unter dem dichten Laub und Moos hervor und in der Dämmerung kreuzten Rehe ihren Weg. Und mit jedem Tag verging der Frühling der Sommer kam.

Da kam sie nach langer Wanderung endlich an das Ende des grossen Waldes und vor ihr lagen Felder, Wiesen, Hügel und Auen. Und mittendrin ein grosses, graues Schloss. Es war umgeben von einer riesigen Mauer ganz und gar von wilden Hecken überwuchert. Binahni musste einen ganzen Tag lang gehen bis sie vor dem grossen Schlosstor ankam. Und wie sie davor stand, nahm sie ihr Zweiglein, berührte damit das Schlosstor und begehrte Einlass. Wie fürchterlich knarzte und knarrte das grosse hölzerne Schlosstor als es langsam aufging. Sie trat mit ihren Schafen ein und fand sich in einem grossen Schlosshof wieder. Das Schloss war ganz und gar leer und unbewohnt. Doch weil es ihr gefiel, beschloss sie sich für ein paar Tage mit ihren Schafen hier auszuruhen. Endlich gab es wieder Gras satt zu fressen für die armen Tiere nach der langen Wanderung durch den Wald. Müde bettete Binahni ihr Haupt auf ein Seidenkissen und freute sich auf eine ruhige Nacht in einem weichen Bett.

Und wie sie schlief erschien ihr im Traum der goldener Baum mit den goldenen Früchten wieder. Sie griff nach einer Frucht, doch als sie eine davon kosten wollte, da erwachte sie und es war ein neuer Tag. Welch Schreck traf sie, als sie am Ende ihres Bettes den grossen grauen Wolf im Schafspelz vor sich sah.

„Guten morgen Binahni.“ sprach der Wolf „Hast du mich endlich gefunden.“ Er schien zu lächeln. „Nun muss ich dich bitten eine Aufgabe für mich zu erfüllen.“ Binahni schaute ihn verschlafen und verwundert an. „Draussen im Schlossgarten steht ein Baum mit goldenen Früchten. Bitte bring mir eine davon.“

Nun fürchtete sich Binahni sehr, denn in ihren Träumen konnte sie die Frucht nie bekommen. Doch sie fasste sich ein Herz und wollte dem Wolf seine Bitte erfüllen. So ging sie hinaus in den Schlossgarten zum goldenen Baum. Wie glänzte und glitzerte dieser in der hellen Morgensonne. Die goldenen Früchte leuchteten schon von weitem und sie rochen gar lieblich und süss. Binahni streckte die Hand aus und griff nach einer Frucht, da erbebte die Erde und aus dem Baum heraus trat eine goldene Gestalt.

„Was erdreistest du dich Mädchen!“ rief diese Gestalt erbost. So schön sie anzusehen war, so garstig war ihre Stimme. „Wie kannst du es wagen meine Frucht zu stehlen?“ „Ach habe Mitleid mit mir“ sprach Binahni „ich brauche nur eine einzige Frucht um sie dem Wolf zu bringen.“ Wie erschrak sie als die goldene Gestalt aus dem Licht heraus trat. Sie sah eine grosse Frau mit stechendem goldenen Blick. „Wenn du eine Frucht willst, dann musst du sie dir verdienen.“ sprach sie mit eisiger Stimme. „Du sollst drei Jahre bei mir dienen, dann sollst du als Lohn eine Frucht bekommen.“ Binahni erschrak. Drei lange Jahre sollte sie dieser bösen Frau dienen, für eine einzige Frucht für einen Wolf den sie gar nicht kannte? Was wollte der Wolf denn mit dieser Frucht? Und warum sollte sie das auf sich nehmen, sie hatte doch eine Herde zu versorgen. Doch nach einer kurzen Zeit des Ringens mit sich selbst sagte sie zu. Da lachte die goldene Hexe und mit einem goldenen Sog zog sie Binahni mit sich in den Baum hinein.

Da war sie nun gefangen im Inneren des Baumes und es war gar eng und dunkel. Alles Gold und Glanz waren erloschen und aus dem Dunkel hörte sie die fürchterliche Stimme der Hexe: „Hier sollst du warten bis drei Jahre um sind.“ Wie traurig wurde es Binahni da um’s Herz. Hätte der Wolf sie doch besser gefressen. Wer versorgte nun ihre Schafe? Vermutlich hatte der Wolf sie in eine Falle gelockt und würde sich nun über ihre Schafe her machen. Da kam ihr das Zweiglein in den Sinn und sie berührte die Wände ihres Kerkers damit. Doch nichts geschah. So trauerte sie und versank in ihrem Schmerz. Doch nach einundzwanzig Tagen versiegten ihre Tränen und nach weiteren einundzwanzig Tagen auch der Schmerz. Und als ihr Blick von Tränen wieder klar war, erkannte sie, dass sie nachts die Sterne und den Mond sehen konnte. Und tagsüber hörte sie die Schafe vor ihrem Gefängnis grasen. So war der Wolf vielleicht doch nicht so böse und frass ein Schaf um das andere? Vielleicht war sie selber auch gar kein solches Schaf, das jedem auf den Leim ging?

Und eines Nachts, gerade als der Vollmond besonders gross und schön am Himmel stand, da hörte sie einen wundersamen Gesang der von draussen zu ihr hereindrang. Wie traurig war sie, als der Tag anbrach und der Gesang verstummte. Doch als die Nacht zurückkam, da kam auch der Sänger wieder. Und nach drei Nächten fasste sie sich ein Herz und sprach aus dem Baum heraus: „Wer bist du, der du so schön singst?“ Der Gesang verstummte. Wie erschrak sie da und fürchtete, den Gesang verloren zu haben. Doch dann sprach eine wunderschöne, samtene Stimme: „Ich bin Olneanon, ein verirrter Wanderer. Bist du der Baumgeist?“ „Ja, ich bin der Geist dieses Baumes“ seufzte Binahni. „Wenn du ein verirrter Wanderer bist, Olneanon, dann wirst du mich bestimmt bald verlassen“ sprach sie weiter. „Nun, wenn ich nach Hause finden würde, dann würde ich das tun.“ „Bitte sing mir noch eine Nacht vor“ bat Binahni und Olneanon versprach es.

Von da an kam er jede Nacht an den Baum und sang für Binahni. Und sie erzählten einander von ihrem Leben und gewannen sich immer lieber. In einundzwanzig Nächten erzählte Binahni ihre Geschichte. Und dann erzählte Olneanon seine Geschichte: „Ich kam vor vielen Monden hierher zu diesem Schloss. Ich war viele Tage gereist und kam von weither im Norden. Mein Vater ist der König der Eiskrone und er wollte, dass ich heirate. Aber da ich nur meine wahre Liebe heiraten will, machte ich mich auf um sie in der Welt zu finden. Ich bestand viele Abenteuer und reiste durch viele Länder.“ Und viele Nächte lang erzählte er über seine Abenteuer auf seiner Suche nach seiner wahren Liebe, die er jedoch nirgends fand. „Dann kam ich eines Tages zu diesem verlassenen Schloss. Und wie ich im Garten vom goldenen Baum eine Frucht pflücken wollte um meinen Hunger zu stillen, da erschien eine goldene erboste Hexe und verwandelte mich in einen Wolf. Als solcher war ich dazu verdammt, alle Menschen die ich traf zu verschlingen. Erlösen sollte mich nur meine wahre Liebe, wenn sie mir eine goldene Frucht von diesem Baum pflückte. Doch die konnte ich nicht finden, denn jedes Mädchen das ich traf und das vor Furcht erzitterte, musste sein Leben unter meinen Zähnen lassen.“ Seine Stimme erzitterte und er seufzte. „Und dann traf ich dich, meine süsse, liebe Binahni. Und nun hat uns die Hexe betrogen, denn ihr Versprechen war eine Lüge.“ So schloss er seine Geschichte in der einundzwanzigsten Nacht und Binahni und Olneanon weinten gemeinsam einsame Tränen. Doch wie Binahni’s Tränen auf das Zweiglein fielen, da brach ein kleiner Teil der Zauberkraft der goldenen Hexe. Ihre Tränen flossen durch eine kleine Ritze des Baumstammes und als sie sich mit den Tränen des Wolfes mischten, da sprang die Rinde des Baumes auf und Binahni war befreit. Wie umarmten sich die beiden, denn über all diese Nächte hatte Binahni ihren Wolf sehr lieb gewonnen.

Nun berührte sie mit dem Zweiglein eine goldene Frucht die dem Wolf direkt in den Schoss fiel. Und wie er davon ass, da verwandelte er sich in einen schönen Königsohn. Da bebte die Erde und die goldene Hexe erschien. „Ihr lieben Kinder, verzeiht mir, aber ihr habt die wahre Liebe gesucht die nur durch schwere Prüfung zu finden ist. Nehmt diese goldenen Ringe und meinen Segen mit euch. Du Olneanon führe deine Braut heim zu deinem Vater.“ Da waren beide froh und glücklich, bedankten sich und machten sich mit den Schafen auf dem Weg ins Königreich der Eiskrone im hohen Norden.

Doch das ist eine andere Geschichte die noch erzählt werden muss.

Impressum

Texte: Cover: Carolyn Pini
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für meinen Mann in ewiger Liebe

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