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Nachbarn

Die Straße sonnt sich. Die Bäume an ihren Rändern werfen keine Schatten und die Mittagshitze lässt die Luft flimmern. Oben im tiefen Blau dröhnt der Motor eines Flugzeugs wie aus einer anderen Welt, traumhaft und schwerelos. Stillstand überall. Nur hin und wieder entwischen kleine Geräusche aus den Häusern, Wortfetzen und Tellerklirren.
Ein blaues Auto biegt ein. Vielleicht sucht es einen Parkplatz. Wer heute, trotz der Hitze, auf dem Balkon sitzt, registriert es, träge blinzelnd. Auch von der anderen Seite kommt jetzt ein Auto, ein weißes. Langsam kriechen die beiden aufeinander zu. Die Straße ist eng. Der Asphalt ist heiß. Aneinander vorbei können sie nicht. Dann stehen sie sich gegenüber. Die Leute auf den Balkonen ziehen eine Augenbraue nach oben. Ob der eine Fahrer dem anderen herausfordernd in die Augen starrt oder ob sie es vorziehen sich einfach und betont lässig zu ignorieren, kann man von oben nicht sehen. Nur die Sonne spiegelt sich in den Autodächern. Da stellt der Blaue den Motor aus. Zwei Sekunden später folgt ihm der Weiße.

Hinten, am Ende der Straße, taucht noch jemand auf. Ein Mann, so scheint es, mit einem Handwagen.
Dort steht das Haus mit der Nummer 2. Es ist von Efeu überwachsen und erinnert an ein kleines Schloss, dass sich jemand vor hundert Jahren zurecht geträumt hat, mit einem Balkon, der immer noch auf Prinzessinnen wartet, aber stattdessen wohnt hier ein altes Ehepaar, seit vierzig Jahren verheiratet; das Haus hatte früher ihren Eltern gehört, doch sie haben verkaufen müssen, nur die Wohnung ist ihnen geblieben. Er hat im Krieg Flieger werden wollen, war aber damals zu klein, doch die Frisur, die trägt er heute noch und auch das mit den Zigaretten kann er nicht lassen. Man merkt es gleich, er ist stur. Seine Frau sagt immer, dass liege daran, dass er im Mai Geburtstag hat. Er meint, das wäre doch alles der letzte „Scheißdreck mit dene Horoskope“, aber weil sie es so will, raucht er auf dem Balkon. Im Winter ist das manchmal ziemlich bitter, doch dafür kennt er die ganze Straße. Er erinnert sich auf Anhieb an über 25 „Keiner-gibt- nach- Fälle“. Weil es bald spannend werden könnte, zündet er sich heute noch eine zweite an.

Sein Blick fällt auf das Haus gegenüber. Man sieht es kaum, denn es steht ein bisschen weiter hinten und es ist fraglich ob es überhaupt noch zu der Straße gehört. Tagsüber schweigt das Haus, denn seine Bewohner sind jung und schnell und haben alle eine Arbeit zu der sie gehen müssen und Balkone haben sie auch nicht, aber in der Nacht ist das Haus eine Bühne, denn die hier wohnen mögen keine Vorhänge und man sieht sie Geschirrspülen oder unruhig in ihren Zimmern auf und abgehen, als seien die Gefängniszellen; man sieht sie manchmal mit den Armen fuchteln und dann scheint es so als schrieen sie: „Ich halte das hier nicht mehr aus!“, aber in Wirklichkeit erzählen sie nur, dass die Kantine sich immer noch weigert zusätzlich leichte Kost anzubieten.

Der Mann mit der Fliegerfrisur überlegt noch eine dritte Zigarette anzuzünden und wundert sich über sich selbst. Es ist schon lange her, dass er solche Wünsche unterdrücken musste. Aber der Blaue und der Weiße stehen unverändert. Wieder biegt ein Auto in die Straße ein. Als es sich den beiden von hinten nähert, wird es zögerlich langsamer. Der Fahrer hat nicht die Nerven, um sich auf so eine Geschichte einzulassen. Heute nicht. Er legt den Rückwärtsgang ein und verschwindet wieder.

Die beiden Autos dagegen bleiben. Unglaublich lange dauert die Sache jetzt schon. Man könnte fast meinen, drinnen säße gar niemand . Geisterautos vielleicht. Doch dann geschieht es: der Fahrer des Blauen öffnet seine Türe. Ein riesiger Mann mit Glatze und rotem Gesicht steigt aus. Die Zuschauer ziehen die Luft ein. Sie kennen den Mann. Erst vor kurzem ist er in die Straße gezogen. Sonst fährt er ein schwarzes Motorrad. Jetzt wird er dem anderen die Meinung geigen. Der zittert sicher schon. Aber der glatzköpfige Mann beachtetet das andere Auto überhaupt nicht. Er geht um sein eignes herum, öffnet die Beifahrertür und zwei Frauen steigen aus. Der Mann schließt ab und sie unterhalten sich, während sie zu seinem Haus schlendern. Jetzt wird das weiße Auto den Rückwärtsgang einlegen. Die Zuschauer sind zwar ein bisschen enttäuscht, aber sympathisieren klar mit ihrem neuen Nachbarn. Der Mann hat Stil.

Auch das Haus, in dem der glatzköpfige Mann lebt, hätte einmal ein Schloss werden können. Das ist aber nicht gelungen, doch dafür trägt es auf dem Dach, auf der allerhöchsten Spitze, eine Laterne, die niemals leuchtet, und auf der zweithöchsten Spitze das Auge einer alten weisen Schnecke. Er lebt im obersten Stockwerk. Unter ihm wohnen zwei Schwestern, die eine ist dünn und die andere dünner, ihre Haare sind schwarz und wenn sie an den Abenden zusammen das Haus verlassen, manchmal in Trainingssachen, manchmal in Mänteln, manchmal Hand in Hand mit Männern, die selbstbewusst wirken, ohne erfolgreich zu sein, lehnen sich die Leute auf den anderen Balkonen weiter nach vorne und geben leise Kommentare ab. Unten, im ersten Stock, wohnt ein hässlicher Mann mit einem zerstörten Gesicht und dünnen Haaren, die er nach hinten klatscht, er hat einen neugierigen Gang und eine Wohnung voller Pflanzen und eine Frau, die sanft aussieht und klug. Wenn sie auf ihrem Balkon sitzen, der auch voller Pflanzen steht, stellt man sich vor, wie sie ein anderes Leben führen könnten. Heute ist der hässliche Mann allein, er sitzt in der Sonne und versucht ein Buch zu lesen, aber seine Gedanken zerren ihn hierhin und dorthin, er bemerkt, dass er schon wieder an die kleine Frau denkt, die auch in der Straße wohnt und ihm gelegentlich einen kurzen Blick zuwirft und er seufzt über die Hitze, in der die dummen Gedanken wachsen. Er schaut nach unten, aber die kleine Frau ist nirgends zu sehen, nur die beiden Autos stehen noch immer. Um irgendetwas zu tun, gähnt er.

Die Straße gähnt auch. In ihren eleganten Bäumen nisten Krähen, groß wie Raben. An den Abenden hört man ihr Knarrzen und in den Nächten wachen sie um Unsichtbares zu verscheuchen, aber jetzt sind sie fort. Neben der Krähenkolonie im Erdgeschoss vom Haus Nummer 11 lebt eine Hexe. Bei Neumond verwandelt sie sich in eine Katze mit hellgrünen Augen. Sie liebt Kinder, aber sie muss auf ihre schlanke Linie achten. Ihre Rollläden sind immer geschlossen und so sieht sie die Straße nie.

Hier passiert aber weiter nichts. Das weiße Auto will einfach nicht aufgeben. Die Beobachter stellen im Geist Vermutungen über den Fahrer an. Der hellste kann er nicht sein, aber auf jeden Fall beeindruckend stur. Er müsste nur etwa fünf Meter rückwärts fahren. Er müsste ja nie wieder durch diese Strasse fahren. Er braucht deshalb auch keine Angst zu haben, dass ihm die Kinder aufs Auto schreiben: „Verlierer“. Aber er bleibt. Da sitzt er also, allein in seinem Auto, er sieht sie zwar nicht, aber er kann es fühlen, die Augen der Straße beobachten ihn spöttisch und der Andere, der rotgesichtige Typ, hat doch tatsächlich sein Auto hier, mitten auf der Straße, abgestellt, als wärs sein gottgegebenes Recht, und sitzt jetzt wahrscheinlich schon mit einem Bier in der Hand auf der Couch, in der anderen die Fernbedienung und denkt nicht mal mehr an die ganze Sache. Da würde ja jeder rückwärts fahren.
Doch der Fahrer des weißen Autos ist anders. Er öffnet seine Türe und steigt auch aus. Und jetzt sehen die Leute auf den Balkonen zu ihrer Überraschung: das weiße Auto hat gar keinen Fahrer. Es ist eine Fahrerin. Sie ist sehr lockig und ein bisschen dick und irgendwo in dem Alter, nach dem man lieber nicht fragt. Huhu! ruft sie mit dieser gezierten, etwas lächerlichen Stimme. Dann setzt sie sich wieder hin. Und es wirkt. Tatsächlich.

Der Mann mit der Glatze erscheint. Er würdigt den Weißen nach wie vor keines Blickes; geht um sein Auto herum und steigt ein. Vielleicht wird er den anderen jetzt rammen. Erst ein Stückchen rückwärts und dann voll drauf. Vielleicht lässt ihn die Sache doch nicht sooo kalt. Daheim hat er gemerkt, dass sein Blutdruck wieder ganz oben ist, während er gewütet hat: diese Tussi, diese Weiber, die sinds, warum er immer so einen Stress hat, - denn die beiden anderen, vielleicht seine geschiedene Frau und ihre Freundin und leidenschaftliche Familientherapeutin, haben ihm von hinten immer zugerufen: „Du kannst doch den Wagen nicht einfach so stehen lassen. Das geht doch nicht. Guck mal, die fährt ja immer noch nicht! Und da biegt schon wieder einer ein...“
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Das neue Auto findet aber wie durch ein Wunder einen Parkplatz und muss jetzt gar nicht vorbei. Eine Frau mit kurzen grauen Haaren und zwei Kindern. Umständlich steigt sie aus und wirft immer wieder Blicke um sich. Das ist verständlich, denn schließlich ist hier die Straße, in die sie ziehen wird. Den Wohnungsschlüssel hat sie schon. Alleine wird sie leben, das heißt, nur mit den Kindern, denn sie und ihr Mann haben sich getrennt, es gab keinen besonderen Grund, aber gerade das kann ja einer sein. Einen Hauch mulmig fühlt sie sich, jetzt und hier, aber schließlich ist sie erwachsen und kompetent sowieso. „Vielleicht“, denkt der hässliche Mann mit dem Buch in der Hand, „vielleicht würde sie mehr zweifeln, wenn sie wüsste, wer vorher in der Wohnung gelebt hat, in die sie zieht.“

Es ist die Wohnung im Erdgeschoss von Nummer Neun. Sie steht schon lange leer, bis auf einen Kerzenständer aus Zinn, den jemand auf dem Fensterbrett vergessen hat. Im Winter wohnte hier noch ein Pärchen. Als die Schneewälle an den Ränder der Straße ungefähr bis zu den Knien reichten, ist die Frau zur nächsten Telefonzelle gegangen. Sie hatte Angst, ihre eigene Leitung könnte abgehört werden. Vor nicht allzu langer Zeit musste sie noch beeindruckend ausgesehen haben, aber jetzt hatte ihre Schönheit bereits die Koffer gepackt und die Tür hinter sich zugeknallt. Sie wählte eine Nummer nach der anderen; sie war auf Entzug und ihr Typ hatte mal wieder ein Glas nach ihr geworfen.
Er konnte aber auch lieb sein, tröstete sie unten am Fluss, auf einer der hölzernen Bänke, wenn es bei ihr überall nur noch dunkel war. Er wollte das Ganze noch nicht so recht wahr haben, rauchte lieber Zigarren und machte sich Gedanken über seine Kleider und das Leben an sich, dafür hatte er einen Sinn, denn er war Künstler, eigentlich, aber morgens ging auch er immer auf die öde Suche.

An all das denkt der hässliche Mann mit dem Buch jetzt, aber seine Augen sind schon zu den beiden Autos zurückgekehrt. Der glatzköpfige Mann sitzt wieder hinter dem Lenkrad, alles ist wie vorher. Man sollte vielleicht Bewunderung für so viel Zähigkeit aufbringen, aber da könnte man auch nachts einen Parkplatz beobachten. Wer bis jetzt noch auf dem Balkon ausgehalten hat, geht aufs Klo, an den Kühlschrank oder vor den Fernseher. Nach zehn Minuten kommt die Sache aber doch wieder hoch und so wird noch mal ein Blick auf die Straße geworfen. Die beiden Autos stehen.

Die fette, böse, schöne Frau aus Nummer fünfzehn oben rechts schüttelt energisch den Kopf. Ihre Mundwinkel zeigen wie immer hart nach unten.. Seit kurzem ist sie Buddhistin, deswegen nimmt sie sich zusammen. Um sich abzulenken, rührt sie noch einmal den Gehirn und Gurken- Eintopf um, aber es fällt ihr mal wieder ungeheuer schwer die Finger vom Karma zu lassen.

Langsam wächst das Vergessen um die beiden Autos. In hundert Jahren wird einer kommen, der sich mit der Machete einen Weg durchs Gestrüpp schlagen muss. Er findet zwei Mumien, bräunlich- augedörrt und - man möchte wetten - sicherheitshalber angeschnallt.
Die Straße schläft wieder ein. Fast schon im Traum bemerkt sie den Mann mit dem Handwagen. Er ist sehr alt und winzig und ähnelt im Profil einer freundlichen Landschildkröte. Er durchsucht die Tonnen vor den Häusern. Jetzt gerade ist er vor der Nummer 13.
Die Nummer 13 ist für französische Offiziere gebaut worden, auch die Nummer 11 und die Nummer 15, da gibt es nichts als grade Linien, wie vom Himmel geworfen und auf den Millimeter exakt aufgesetzt. Aber die Franzosen sind weg und jetzt wohnen in der Nummer 15 kaputte Familien, manche sind nur noch die Hälfte und andere doppelt so viel wie früher.
Im Haus Nummer 13 dagegen leben die ganzen und gesunden Familien. Der alte Mann mit der Fliegerfrisur sagt gerne zu seiner Frau, wenn die mal sterben, dann lassen die sich verkompostieren und dazu wahrscheinlich Mozarts Requiem. Ökologisch abbaubar sind die eh“ Daran denkt er immer, wenn er herüber schaut, so wie jetzt auch, denn wie es der Zufall will haben sich die beiden Autos fast genau vor der Nummer 13 getroffen.

Da sind sie, der Blaue und der Weiße, keinen Meter weiter der alte Mann, der sich auf die Zehenspitzen stellen muss um in die Tonnen schauen zu können. Ansonsten beachtet er nichts und niemanden.

Und jetzt....biegt wieder Einer ein. Ein Kleiner, Roter. Er hupt einmal, zweimal, dann steigt eine Frau aus, sie ist jung und sie will vorbei. Sie geht auf die beiden Autos zu und plötzlich öffnen sich die Fahrertüren und der inzwischen äußerst rotgesichtige Mann und die Frau, die mittlerweile genauso aussieht, reden durcheinander, aber man kann nicht verstehen was sie sagen und die letzten Zuschauer ertappen sich dabei, wie sie über das Geländer lehnen oder hinter sich rufen: „Es geht was! Schnell“.....aber inzwischen sind alle schon wieder eingestiegen. Die junge Frau im Roten weicht geschmeidig aus. Das kann sie, so klein ist ihr Auto. Der Weiße fährt seine fünf Meter rückwärts und der Blaue legt auch den Rückwärtsgang ein, und dann ist keiner mehr da.

Der hässliche Mann betrachtet die Stelle, wo eben noch gekämpft wurde, und der Mann mit den Zigaretten geht in die Küche, weil seine Frau den Kaffee fertig hat und beide denken sie: „ein bisschen schade ist es schon.....“
Der winzige Mann nimmt seinen Handwagen auf und zieht weiter. Hinten am Horizont flockt der Himmel zu einem Meer blasser Schäfchenwolken; und die Leute auf den Balkonen fragen sich, wann wohl der Regen kommen wird, von dem der Wetterbericht heute morgen gesprochen hat. Unwillig reibt sich die Straße die Augen.


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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2009

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