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Es war ein kalter, nebliger Herbsttag in den Endsechzigern. Mein Vater und ich – ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt – wollten mit der S-Bahn in den Grunewald, um Verwandte zu treffen. Wir liefen, die Mäntel bis oben zugeknöpft, zur S-Bahnstation. Mein Vater hatte seinen Kragen hochgeklappt, ich meinen Schal eng um meinen Hals geschlungen, und beide zogen wir die Köpfe ein, um uns vor dem scharfen Wind zu schützen. Mich an der Hand haltend zog er mich hinter sich her und ich rannte mehr als ich lief.
Endlich erreichten wir die Station Tiergarten; mein Vater kaufte zwei Fahrkarten und wir liefen schnell die Treppe hinauf zum Bahnsteig. Hier war es aber nicht wärmer, im Gegenteil, durch den offenen Bahnhof zog schneidend der Wind. Nur ein Dach schützte uns vor eventuellem Regen.
Da kam auch schon der rotgelbe Zug, der quietschend vor uns hielt.
Es war ein Metall auf Metall reibendes, schabendes, kreischendes Geräusch, das in den Ohren wehtat.
Mit einem kräftigen Ruck zog mein Vater die Tür auf. Rasch stiegen wir ein. Lange hielt der Zug nicht, kaum saßen wir auf den harten Holzbänken, fuhr er bereits los.
Der Wagon war in Vierergruppen eingeteilt, zwei links, zwei rechts, dann kam auf der jeweiligen Seite eine Tür. Die Menschen drinnen starrten mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin oder aus dem Fenster. Es roch stark nach dem typischen Desinfektionsmittel, welches damals verwendet wurde und sich für alle Zeit in meine Nase geätzt hatte.
Uns schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Wagons, saß ein Obdachloser. Er verbreitete einen üblen Geruch nach altem Fusel, und man roch, dass er sich lange nicht gewaschen hatte. Die Leute hatten keine Lust sich zu ihm zusetzen, dadurch hatte er das kleine Abteil für sich allein. So schlief er, halb sitzend, halb liegend, sein Haupt an die Scheibe gebettet, leise schnarchend, seinen Rausch aus. Mein Vater
zog missbilligend die Augenbrauen zusammen und schüttelte still seinen Kopf.
An der nächsten Station stiegen, betont cool, zwei Burschen ein und stellten sich breitbeinig in den Gang. Ihre Gesichter drückten überhebliche Langeweile aus. Mein Vater sah auf den ersten Blick, dass es sich nicht um freundliche Jugendliche handelte.
„Ey schau mal, der Penner!“ rief der mit der Jeansjacke - er hatte sein Haar nach hinten gekämmt und zu einen Pferdeschwanz zusammen gebunden - und stieß seinen Freund in die Seite um ihn auf den Obdachlosen aufmerksam zu machen. „Boh ey, der stinkt vielleicht“, sagte der andere mit den kurzen, stachligen Harren. „Dem sollten wir mal ´ne Lektion verpassen.“
„Super Idee, den greifen wir uns, der merkt sowieso nichts, der ist ja stockbesoffen“, stimmte ihm der Erste zu und trat dem Berber mit der Innenseite seines Fußes ins Gesicht. Der Zweite meinte: „Ja, immer in die Fresse.“
Abwechselnd traten sie ihn. Der Kopf des Opfer flog von rechts nach linkes, von links nach rechts wie ein Ping Pong Ball.
Wenn meine Mutter Schnitzel klopft, hört es sich genauso an. Übelkeit quoll in mir empor.
Plötzlich sprang mein Vater auf und machte einen Schritt auf die Schläger zu: „Das reicht jetzt“. Mit diesen Worten griff er sich den Ersten, zog ihn von dem Stadtstreicher weg und schubste ihn in Richtung Tür. Der Jeanstyp stolperte, fiel hintenüber und rollte sich zur Seite. Der Obdachlose wurde wach, schlug die Hände vor sein Gesicht und fing an zu wimmern. Der Stachelhaarige murmelte grummelnd: „Mach dein Testament, Alter.“ Verpasste meinem Vater einen Kinnhacken, den der prompt parierte und dem Angreifer den Arm auf den Rücken drehte und ihn festhielt. Der Puls meines Vaters beschleunigte sich, eine Ader an seiner Stirn schwoll an und ich sah kleine Schweißperlen an seiner Schläfe herunterrinnen. Der Typ mit dem Pferdeschwanz war auch schon wieder auf den Beinen und zückte ein Taschenmesser, das mit einem Klicken aufschnappte. Einige Leute schrien entsetzt auf und sprangen zur Seite.“ Pass auf Papa“, rief ich ihm zu. Sein Gesicht war weiß, verfärbte sich aber langsam ins rötliche. Zornesfalten durchzogen seine Stirn. Der Knoten in meinem Magen zog sich zusammen und ich zitterte.
Zum Glück kam der nächste Bahnhof in Sicht, die Rettung. Erleichtert atmete ich tief ein und aus. Mit einem Ruck riss sich der Kurzhaarige los und zerrte seinen Kumpel zur Tür. Der Zug stand noch nicht ganz, da stürzten sie hinaus, fielen der Länge nach hin, rappelten sich auf und jagten den Bahnsteig entlang auf den Ausgang zu.
Endlich kam Bewegung in die Fahrgäste und alle redeten durcheinander. Mein Vater half dem Obdachlosen aus dem Zug und ging auf den Bahnhofsvorsteher zu, der angerannt kam und über Funk einen Krankenwagen bestellte.
In dem Augenblick war ich sehr stolz auf meinen Vater.

Impressum

Texte: Copyright und Foto by Carola Leidholdt
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Vater,der am sechsten Dezember 2010 verstarb, gewidmet.

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