Kerzengerade saß sie da. Der Oberkörper aufgerichtet, die Knie zusammen, die Füße korrekt nebeneinander. Selbst die Hände, die eine altmodische Handtasche aus schwarzem, steifem Leder umfassten, waren starr. „Was ist das für ein Zimmer, wie komm ich hier her?
Allein in diesem kahlen Zimmer wurde sie nervös. Das ehemals Weiss der Wände wurde von einem schmutzigen Grau verdrängt. Schlagartig stieg ihr Hitze ins Gesicht und die Zehen fingen an zu prickeln.
Vor ihr der Schreibtisch war leer und ihr Blick glitt über den unbesetzten Stuhl hinüber zum Fenster. Es war dunkel draußen und leer, nur einzelne Schneeflocken verfingen sich im trocknen Geäst eines Baumes.
Verwirrt schaute sie in das Gesicht, welches sich im Fenster spiegelte.
„Das bin nicht ich. Nein. So alt bin ich nicht. Wieso sind meine Haare grau und ungepflegt?“
Fassungslos betrachtete sie einen Fleck auf ihrer Bluse und ihr Mantel hatte auch schon bessere Tage gesehen.
„Ich lege wert auf ein tadelloses Äußeres.“ Ihre Empörung wuchs.
Abrupt erinnerte sie sich. Einzelne Momente blitzten vor ihr auf.
„Mein Name ist Elfriede von Plötnitz. Geboren in Pommern.“
Einzelne Bruchstücke ihres Lebens zogen an ihr vorüber, jedoch richtig fassen konnte sie sie nicht, sie konnte sie nicht korrekt miteinander verbinden, sie verschwanden wieder.
Die Geburt ihres unehelichen Sohnes und Jahre später dessen unerwarteter Tod. Es schnürte ihr das Herz zu.
Schlagartig begriff sie. Sie war entmündigt worden.
Das Amt hatte ihr alles weggenommen. Zuerst ihre geliebten Vierbeiner, weil sie die Hunde angeblich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dann das kleine Haus, weil es angeblich schmutzig und verwahrlost war, und sie anschließend in ein Pflegeheim gesteckt.
„Die haben über meinen Kopf hinweg entschieden.“
Sie bekam Kopfschmerzen, es pochte heftig an ihren Schläfen. Trotzdem saß sie immer noch stocksteif da.
Sie musste hier weg, das war ihr klar, sonst drohte wieder das Heim. Wohin war ihr egal, nur weg.
Unerwartet öffnete sich die Tür, ein uniformierter Mann betrat das Zimmer und setzte sich ihr gegenüber.
„Gut, dass sie sich beruhigt haben, Frau von Plötnitz.“
„Woher kennen sie meinen Namen? Und wieso wieder beruhigt?“ Ihre Anspannung wuchs.
Der Mann lehnte die Unterarme auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihr hinüber.
„Sie sind eine alte Bekannte von uns. Schon mehrmals aufgegriffen. Diesmal beim Schwarzfahren“, seufzte er.
„Was erlauben sie sich, junger Mann!“
Stille trat ein. Der Polizist sah sie mitleidig an.
Tatsächlich fiel es ihr wieder ein. Sie war einfach aus dem Heim spaziert. Sie lächelte. Ein Mitbewohner hatte einen Anfall und die Pfleger waren abgelenkt.
Niemand hatte sie aufgehalten. Dass sie in eine Bahn eingestiegen war, daran erinnerte sie sich nicht.
"Junger Mann, könnte ich ein Glas Wasser bekommen?"
Ohne zu antworten, stand er auf und verließ das Zimmer.
Langsam erhob sie sich und ging zur Tür. Zögernd griff sie nach der Klinke und drückte sie herunter. Behutsam öffnete sie die Tür und spähte hinaus.
„Keiner zu sehen", dachte sie und zitterte am ganzen Körper. Nun öffnete sie die Tür ganz und trat auf den Gang. Eine Diele knarrte. Sie blickte den Korridor entlang. „Ganz ruhig Elfriede. Dort hinten sehe ich eine Treppe. In diese Richtung. Geh würdevoll Elfriede, nicht rennen. Du bist eine ehrenwerte Dame, die hier nichts verloren hat."
Zur Rechten wurde die Korridorwand von zwei Fenstern unterbrochen, zur Linken von zwei Türen.
"Hoffentlich kommt niemand aus den Zimmern."
Festen Schrittes ging sie auf die Treppe zu. Sich am Geländer festhaltend stieg sie die Treppe hinunter, in Richtung Ausgang. Eine Frau hielt ihr die Tür auf und Elfriede bedankte sich mit einem leichten zur Seite geneigten Kopfnicken.
Endlich.
Erleichtert trat sie durch die Tür, befreit atmete sie auf.
Weiche Schneeflocken umspielten sie. Elfriede schaute einem Blatt nach, welches mit den Schneeflocken in die Dunkelheit hinein tanzte und sie lächelte, fühlte sich frei.
Plötzlich bekam sie ein ungutes Gefühl, konnte sich nicht mehr erinnern, und ihr Blick wurde ausdruckslos. Als der Krankenwagen vor ihr hielt, wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand, geschweige denn, wie sie hier hergelangt war.
„Kommen sie Frau von Plötnitz, wir bringen sie heim“,
sagte ein Mann in einem weißen Kittel und fasste sie behutsam am Ellenbogen. Widerstandslos ließ Elfriede es geschehen.
Texte: Copyright by Carola Leidholdt
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2010
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