Und dann die Zeit, und wann das Leben
Du stehst am Fenster, starrst ins Glas und siehst nur dich,
und hinter dir die Straße und die Häuserwände unendlich.
Unscharf geht das Leben, geht an dir vorbei,
und es geht die Zeit, geht und kommt herbei,
geht und geht vorbei, bleibt niemals stehen.
Immer rascher tickt das Leben aus, kannst es kaum noch sehen.
Du siehst der Zeit nach, fragst nach ihrem Sinn: wo geht sie hin?
Und du stehst am Fenster, siehst nun dich selbst ganz unwahr,
und das Leben auf der Straße klar.
Du kannst es sehen und fragst doch wo es ist.
Du siehst es an dir vorübergehen. Wo geht es hin?
Du findest es da draußen, findest es aber nicht in dir drin.
Und du suchst nach dir, fragst wer du bist.
Du siehst dem Leben zu. Du lauscht der Zeit.
Alles rauscht an dir vorbei, rauscht in die Vergangenheit.
Und du, du siehst nur zu, siehst zu wie alles vergeht, wie du vergehst,
während du dich kaum bewegst, als du verwest,
während du nur dastehst, wirst mit der Zeit verweht.
Und du schaust, schaust nur zu, wie alles an dir vorübergeht.
Du fragst wann? Fragst nach dem Wann.
Fragst nach dem Dann. Wann ist deine Zeit zu leben?
Wann ist es endlich dein Leben? Wann ist dann?
Du hast das Gefühl du versäumst. Du fühlst, du verträumst.
Während alles geht, geht zu weit.
Du fragst nach dem Leben. Und du fragst nach dem Sinn.
Du fragst nach der Zeit.
Wo gehst du hin?
Vorwort
von Dr. Jasmin Novak
Der Begriff Borderline bedeutet Grenzlinie. An einer Grenze zu sein bedeutet: Es gibt ein Dies- und Jenseits der Grenze. Nahe an einer Grenze wird deutlich: Das Jenseits wirkt herüber, das Diesseitige hinüber. Beim „Borderline Syndrom“ begleitet uns diese Interaktion von Anfang an.
In der Frühzeit der modernen Psychologie gab es den schicken Begriff „Borderline“ noch nicht, aber es gab die Charakterstörung. Diese „Diagnose“ wurde insbesondere für Menschen verwendet, die zwar ein „schwieriges“ Sozialverhalten hatten – die aber eher nicht als seelisch krank verstanden wurden, sondern als grenzwertig zu einer manifesten Erkrankung. Auch unklare Störungen an Grenze von Neurose und Psychose wurden so bezeichnet. So schlimm, wie es unsere heutigen Ohren hören, war es zu Zeit, als der Stammvater der Psychotherapie, Sigmund Freud, diesen Begriff verwendet hat, aber nicht. Damals hat „Charakter“ bedeutet, dass es um die Art wie Menschen erleben geht – und die Art wie sie aus diesem Erleben heraus leben. Schon damals war klar – das ist im weiteren Verlauf der psychologischen Forschung über Phasen hinweg leider auch wieder verloren gegangen – dass es sich um ein schwer zu diagnostizierendes und zu therapierendes Phänomen handelt – unter anderem auch aber nicht nur deshalb, weil die Menschen, die es betrifft, mitunter keine „Krankheitseinsicht“ zeigen. Der Psychoanalytiker Adolf Stern hat dann Ende der 30er Jahre den Begriff „Borderline-Group“ geprägt … und „Borderline“ damit von vorne herein nicht als punktuell fixierte Krankheit verstanden.
In den 80er Jahren war „Borderline“ auf der Uni in, mysteriös, spannend, jedenfalls aber sehr angesagt. Zu Beginn der 90er Jahre ist in manchen Beratungszentren praktisch jeder 3. vor allem jüngere Klienten mit der „Diagnose“ Borderline zugewiesen worden. Ob nun vom Arbeitsamt, weil beruflich unorientiert oder vom Hausarzt, weil gefühlsmäßig instabil, oder auf Empfehlung von Lehrern wegen Schul- und / oder Disziplinprobleme. Praktisch jeder, der „irgendetwas“ hatte, bekam dieses Label verpasst. Solche Moden gibt es in den Humanwissenschaften leider immer wieder. Im Lauf der Jahre gab es Wellen von „Boderlinern“, „Multiplen Persönlichkeiten“, „ADHS-Fällen“ und neuerdings von „Burn-Out-Fällen“. Jeder dieser „Diagnosen“ schreit – jedenfalls nach Meinung derer, die sie vergeben – nach psychiatrischer, psychotherapeutischer und meist auch nach pharmakologischer „Behandlung“. Dahinter steckt ein Menschenverständnis, das davon ausgeht, die Betroffenen wären „krank“, die Krankheit gehöre jedenfalls behandelt, eigentlich aber eher „weggemacht“. Im Fall von „Borderline“ (aber nicht nur dabei) ist das aber oft nicht von Erfolg gekrönt, weil diese Menschen sich selbst oft nicht als krank befinden und folgerichtig auch das Behandelt – Werden ablehnen.
Was hat es mit „Borderline“ also auf sich? Wann liegt es vor, wie kann man es konstruktiv und sinnvoll verstehen? Es gibt heutzutage zwei international verwendete Diagnosesysteme für alle möglichen Erkrankungen und Leiden, damit Ärzte, Therapeuten usw. eine gemeinsame Klassifikation zur Verfügung haben, DSM IV und ICD10. DSM IV versteht Borderline als narzisstische (auf sich selbst hin fokussierte), histrionische (auf Dramatik hin angelegte) und antisoziale (d.h. im Zwischenmenschlichen zumindest konfrontative) Persönlichkeitsstruktur. Das klingt arg, auch wenn ich versuche, die Härte der Fachsprache in eine erträglichere Form zu übersetzen. Nicht mehr ganz so arg klingt es, wenn man sich die Kriterien ansieht, die DSM IV vorgibt, um „Borderline“ diagnostizieren zu können, mindestens fünf von neun müssen erfüllt sein:
Auch ICD10 geht in eine ähnliche Richtung, indem es eine „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung Borderline-Typus“ definiert. Hand aufs Herz: Viele dieser Zustände oder Verhaltensweisen kennen wir alle: Wer war nicht schon einmal völlig außer sich vor Wut? Psychiatrisch betrachtet kann das unangemessen wütend und unkontrolliert heißen. Wer hat sich nach Schicksalsschlägen oder Extrembelastung nicht schon vor der nächsten Katastrophe gefürchtet oder sich von Unglück oder Missgunst geradezu verfolgt gefühlt? Psychiatrisch gesehen wäre das eventuell paranoid. Wer kennt nicht unangemessenes Futtern und Trinken u.ä. – insbesondere unter Druck? Psychiatrisch gesehen wäre das autoaggressives Verhalten. Wer wird nicht manchmal schlicht fast verrückt vor Angst, von einem geliebten Menschen verlassen zu werden? Oder wahnsinnig wütend, wenn das passiert?
Die humanistische Psychologie steht in der Tradition, mit „Diagnosen“ sehr vorsichtig umzugehen. Nicht zuletzt, weil Menschen als Menschen verstanden werden, und nicht Träger von gesundem/krankem Verhalten oder gesunden/kranken Empfindungen – und weil sie davon ausgeht, dass menschliches Leben lebenslange Entwicklung ist: Körperlich, seelisch, geistig, zwischenmenschlich, emotional . in jeder Hinsicht ununterbrochen Bewegung, Fluss, Veränderung. Das heißt aber eben nicht: Hier das Gesunde/Normale und dort das Kranke/Abweichende – und Letzteres tun wir dann weg, oder lassen es wegtun. Auch dann nicht, wenn ein solches mechanistisches bzw. reparaturmedizinisches Verständnis in mancher Hinsicht der Leistungsgesellschaft, in der wir leben, sehr gerecht wird.
Die personenzentrierte Psychotherapie, die dem humanistischen Ansatz entspringt, versteht „Borderline“ als jedenfalls sehr intensive Art des Erlebens, für Betroffene und mitunter auch für Angehörige manchmal fast unerträglich intensiv. Diese besonders ausgeprägten Erlebens-Intensitäten können auch in besonders ausgeprägten Intensitäten des Handelns münden. Der personenzentrierte Ansatz geht also nicht davon aus, dass jemand „Borderline hat“ oder „ein Borderliner ist“, sondern, dass jemand „Borderline erlebt“ – und das auch nicht immer, sondern in bestimmten, belastenden Situationen. Der niederländische Psychotherapeut Hans Swildens hat dafür die meines Erachtens sehr treffende Beschreibung „Das Selbst ist im Kriegszustand“ gefunden. Wenn Menschen, die zu dieser hohen Intensität des Erlebens fähig sind (…ja, das ist nicht nur ein Fluch, es ist wie das bemerkenswerte Buch von Carmen Rebecca zeigt, auch ein Segen), mit Belastungen, Einschränkungen, Bedrohungen u.Ä. konfrontiert sind, können sie sozusagen aus dem emotionalen Friedens- in den Kriegszustand wechseln. Das kann dann bedeuten: „Der Feind ist überall“. „Notstandsgesetze“ treten in Kraft, weil man sich im Krieg befindet, zB eine extreme Trennung zwischen Freunden und Feinden. Die einen ist man zu idealisieren geneigt (im Krieg braucht man Freunde, muss und will sich bedingungslos verlassen können), die anderen werden verteufelt (im Krieg erwartet man vom Gegner nur Übles). Es kann auch sein, dass Teile im Inneren abgespalten werden. So ist es etwas besser, gar nichts zu spüren als vor Angst oder Schmerzen fast umzukommen: Dissoziation tritt ein. Die Trennung in Freund und Feind kann auch auf die eigene Person hin Platz greifen: Das kann bedeuten, von sich selbst keinen Abstand nehmen zu können (also unmäßig in die eigene Position hineinfallen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten von anderen nicht mehr wahrnehmen). Es kann aber auch bedeuten, sich selbst dermaßen zu hassen, dass es nichts mehr gibt, was man an sich selbst „gut sein lassen“ kann. Und: Hass ist ein Gefühlszustand, der den Körper stark mitbetrifft. Die extreme auch körperliche Dynamik bei Hassgefühlen lässt sich nicht „so einfach hinunterschlucken“. Das muss man loswerden, sei es durch Ritzen, Extremsportarten, Fressattacken oder rabiates Rasen mit dem Auto usw. Borderline zu erleben bedeutet also, dass Menschen in ihrer Verletzlichkeit sehr intensiv erleben und daraus handeln. Aber diese Vulnerabilität ist für die Betroffenen und für die Menschen in ihrem Umfeld zunächst gar nicht so leicht zu verstehen. Sie liegt oft nicht offen auf der Hand, ist tief im Innersten da. Sie wirkt und sie wirkt sich aus, aber sie zeigt sich nicht direkt. Genau diese und ähnliche Phänomene sind im – ich wiederhole mich – sehr bemerkenswerten Erstlingswerk von Carmen Rebecca in berührender und präziser Weise dargestellt.
Wie kann man sich die Genese erklären? Aus welchen Gründen erleben manche Menschen Borderline und andere nicht? Personenzentriert würde man davon ausgehen, dass jemand, der sich in Bedrohung erlebt, bedroht ist. Wie kann es dann sein, dass manche sich relativ häufig bedroht erleben, andere aber kaum? Nun, es gibt ein Konstrukt des „Selbst“, nicht nur im personenzentrierten Ansatz, sondern auch in der Psychoanalyse und anderen Schulen. Dieses Selbst konstituiert sich sehr, sehr früh. Die Mehrheit der Schulen geht davon aus, dass dieser Prozess bereits im ersten Lebensjahr entscheidende Phasen durchläuft. Zuerst empfindet sich das Baby als Einheit mit der Mutter, erst im Lauf der Zeit begreift es, dass die Mutter und es selbst getrennte Wesen sind. Das ist eine der heiklen, schwierigsten Phasen menschlicher Entwicklung, die aber in eng umrissenen Zeitfenstern abläuft. Personenzentriert wird angenommen, dass die Entwicklung eines stabilen Selbst, das seinen sicheren Platz in der Welt findet, in einer dieser Phasen beeinträchtigt wurde. Traumata entspringen nicht nur aus offenem Fehlverhalten, auch ganz gewöhnliche und unvermeidliche Lebensumstände wie Spitalsaufenthalte u.Ä. können traumatisieren, vor allem wenn sie zur Unzeit auftreten.
Zum Schluss also noch die Frage: Was tun? Die personenzentrierte Antwort wäre: Das, was immer gut tut: Mit Offenheit, mit Einfühlung und mit Wahrhaftigkeit sich selbst und dem anderen begegnen. Sich darauf einlassen, was ist. Hinhören, hinschauen, aufnehmen, ernst nehmen. Wahrhaftig und ehrlich sein. Nichts vormachen. Nicht bewerten, sich nicht Erwünschtes herauspicken und Unerwünschtes ausblenden. Sich auf sich selbst und den anderen einlassen, so wie man / er ist. Da sein. Das unterstützt das „Selbst“, es kann sich entfalten, und es kann sich von Manchem auch befreien. Denken Sie an die Analogie vom Kriegszustand: Wenn Nationen in Konflikt miteinander geraten, gilt es, die diplomatischen Beziehungen gleichermaßen behutsam wie konsequent, gleichermaßen verständnisvoll wie fair, gleichermaßen berechenbar wie auch unermüdlich wieder aufzunehmen. Es gilt, sich hinzuwenden. Auch wenn es manchmal mühsam ist oder man vielleicht mitunter auch die Hoffnung verliert. In der Diplomatie wie im Seelenleben sind Machtworte und Gewaltakte genauso wenig produktiv wie harte Ultimaten. Entwicklung braucht Freiheit, Mut, Zuversicht und auch Zeit. Dann greift sie aus sich heraus Platz. Das schreibt und beschreibt Carmen Rebecca in „grenzwertig atmen“ sehr berührend.
Dr. Jasmin Novak ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Personenzentrierte Psychotherapeutin
grenzwertig atmen
von Carmen Rebecca
Teil I
Schon als Kind weiß Rebecca, sie möchte eines Tages Schriftstellerin werden. Als sie jedoch als Jugendliche einen völlig anderen Weg einschlagen muss, versucht sie sich aus dem falschen Leben zu befreien indem sie sich ritzt.
Kapitel: eins, zwei, drei
Teil II
Mit 22 Jahren hat sie eine Essstörung entwickelt. Der zweite Teil schildert aus der Perspektive der Betroffenen eine Woche mit der Krankheit Bulimie.
Kapitel: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag
Teil III
Der Weg aus der Krankheit hinaus, und zu sich selber hin, führt Rebecca durch viele Fragen über das Leben hindurch in ein Land voller Sonnenaufgänge.
Kapitel: Wüstenblume, ein schottischer Sommer, erwachte Träume, Rendezvous bei Grabkerzenschein, jetzt jetzt jetzt leben, Tänzer auf Glas, weiße Angst, grenzwertig, Sonnenaufgänge in Schweden
TEIL I
Und dann die Zeit, und wann das Leben
Du stehst am Fenster, starrst ins Glas und siehst nur dich,
und hinter dir die Straße und die Häuserwände unendlich.
Unscharf geht das Leben, geht an dir vorbei,
und es geht die Zeit, geht und kommt herbei,
geht und geht vorbei, bleibt niemals stehen.
Immer rascher tickt das Leben aus, kannst es kaum noch sehen.
Du siehst der Zeit nach, fragst nach ihrem Sinn: wo geht sie hin?
Und du stehst am Fenster, siehst nun dich selbst ganz unwahr,
und das Leben auf der Straße klar.
Du kannst es sehen und fragst doch wo es ist.
Du siehst es an dir vorübergehen. Wo geht es hin?
Du findest es da draußen, findest es aber nicht in dir drin.
Und du suchst nach dir, fragst wer du bist.
Du siehst dem Leben zu. Du lauscht der Zeit.
Alles rauscht an dir vorbei, rauscht in die Vergangenheit.
Und du, du siehst nur zu, siehst zu wie alles vergeht, wie du vergehst,
während du dich kaum bewegst, als du verwest,
während du nur dastehst, wirst mit der Zeit verweht.
Und du schaust, schaust nur zu, wie alles an dir vorübergeht.
Du fragst wann? Fragst nach dem Wann.
Fragst nach dem Dann. Wann ist deine Zeit zu leben?
Wann ist es endlich dein Leben? Wann ist dann?
Du hast das Gefühl du versäumst. Du fühlst, du verträumst.
Während alles geht, geht zu weit.
Du fragst nach dem Leben. Und du fragst nach dem Sinn.
Du fragst nach der Zeit.
Wo gehst du hin?
grenzwertig atmen
von Carmen Rebecca
Teil I
Schon als Kind weiß Rebecca, sie möchte eines Tages Schriftstellerin werden. Als sie jedoch als Jugendliche einen völlig anderen Weg einschlagen muss, versucht sie sich aus dem falschen Leben zu befreien indem sie sich ritzt.
Kapitel: eins, zwei, drei
Teil II
Mit 22 Jahren hat sie eine Essstörung entwickelt. Der zweite Teil schildert aus der Perspektive der Betroffenen eine Woche mit der Krankheit Bulimie.
Kapitel: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag
Teil III
Der Weg aus der Krankheit hinaus, und zu sich selber hin, führt Rebecca durch viele Fragen über das Leben hindurch in ein Land voller Sonnenaufgänge.
Kapitel: Wüstenblume, ein schottischer Sommer, erwachte Träume, Rendezvous bei Grabkerzenschein, jetzt jetzt jetzt leben, Tänzer auf Glas, weiße Angst, grenzwertig, Sonnenaufgänge in Schweden
TEIL I
eins
Es ist etwas ungewöhnlich, dass ich mit vierundzwanzig Jahren bereits meine Geschichte erzähle, denn für gewöhnlich schreiben reifere Menschen rückblickend auf ihr Leben ihre Biografie. Doch ich denke, dass jeder von uns, egal wie alt er ist, eine Geschichte zu erzählen hat – und wahrscheinlich sogar mehrere. Deshalb sollte es auch egal sein, wie alt man ist, um seine Geschichte erzählen zu dürfen. Ich habe eine zu erzählen und meine ist etwas ungewöhnlich, denn eine Zeit lang habe ich gar keine Geschichte gehabt.
Als ich am 27. April 1986 zur Welt komme, gibt mir meine Mama zwei Namen. Auch meinen Brüdern wird sie später zwei Namen geben, und sie sagt uns, dass jeder von uns zwei Namen bekommen habe, damit wir später im Leben eine zweite Chance hätten, falls uns der erste Name eines Tages nicht mehr gefallen würde. Aber ich spüre schon als kleines Mädchen, dass diese zweite Chance eine andere Bedeutung für mich haben würde.
Das kleine Mädchen, das da mit herangezogenen Beinen am Fenster hockt und in die Dunkelheit späht, das bin ich. Ich warte auf Papa. Mama sagt, er sei bei der Arbeit, aber da war er doch erst gestern. Mama sagt, er müsse jeden Tag zur Arbeit. Ich frage, jeden Tag? Sie sagt, jeden Tag, außer Sonntag. Ich frage, wann wieder Sonntag ist. Erst in fünf Tagen. Noch fünf Mal schlafen, dann haben wir Kinder den Papa wieder für uns. Und wann er endlich heim kommt der Papa, frage ich. Bald. Aber bald ist der ganze Tag vorbei, er kann doch nicht so lange in der Firma eingesperrt sein, die können ihn doch nicht so lange festhalten. Es ist freilich Winter, meint die Mama, und da wird es schon früher finster. Trotzdem ist der Tag vorbei. Das sind ja neunhundertundneunundneunzig Stunden am Tag, stöhne ich empört. Mama erklärt mir, dass kein Tag so viele Stunden hat, sondern vierundzwanzig und davon arbeitet Papa höchstens zehn. Für mich ändert das gar nichts, denn für ein Kind sind zehn Stunden eine Ewigkeit. Mindestens eine Milliarde und neunhundertneunundneunzigtausend und einmal unendlich viele Minuten sind das für mich. Es ist schwierig, mir als Kind auszumalen, was Arbeit ist, und weil mir der Gedanke einfach Angst macht, male ich ihn nachtschwarz aus. So wird mein Papa, in meiner kindlichen Vorstellung, von diesem schwarzen Nichts morgens verschluckt und eingesperrt und abends wieder ausgespuckt und freigelassen. Dieses Zeitloch, in dem die Großen tagsüber verschwinden, ist ebenso gespenstisch wie die Dunkelheit der Schlafenszeit und macht mir genauso viel Angst. In diesem Nichts geistert es, gleich wie nachts, und die Geister darin sind Zeitdiebe, die den Erwachsenen kostbare Zeit stehlen, Lebenszeit. Wenn ich erst einmal groß bin, passe ich besser auf meine Zeit auf, die mir der liebe Gott geschenkt hat. Meine Zeit nimmt mir keiner weg, ich hab doch noch so viel vor, bevor ich in den Himmel komme. Zur Arbeit möchte ich nie gehen. Ich habe meine eigenen Pläne hier auf Erden.
Es war einmal … ein kleines Mädchen, das träumte davon, lesen und schreiben zu lernen. Als kleines Mädchen lasse ich mir von den Erwachsenen immer wieder dieselben Geschichten vorlesen. Dabei sind es nicht allein die Geschichten, die mir so am Herzen liegen, sondern die Worte, mit denen sie erzählt werden. Während ich dann gespannt den Erwachsenen zuhöre, jedes Mal fast so, als höre ich die Geschichten zum ersten Mal, hängen meine Blicke auf ihren Lippen und lesen ihnen ein jedes Wort davon ab. Ich selbst kenne ein jedes Wort der Erzählungen auswendig, so wie das Kinder eben machen, die noch nicht lesen können. Sie prägen sich die Worte ins Herz ein. Solange die Augen die Worte nicht erkennen, merkt sie sich das Herz. Wenn man erst das Lesen erlernt hat, fällt einem das Merken viel schwerer. So trage ich jedes Wort im Herzen. Ein jeder Herzschlag sagt ein Wort auswendig. Ein Schlag – ein Wort, so schlägt es Wörter hervor. Als Gott mich erfunden hat, so hat er mich wohl aus Worten gemacht, denn mein Herz ist voll davon. Während des Vorlesens versuche ich es jedoch vor ihnen zu verstecken, mein Herz, das die Worte spricht. Das säuselnde Murmeln auf meinen Kinderlippen, wenn mein Kindermund dieselben Worte flüstert wie der Erwachsenenmund, fast so, als lese er mit. Mein Stimmchen ist meist nur ein Flüstern, das sich im Schatten der Erzählerstimme verbirgt. Und doch verrät mich mein Herz zu oft. Es spricht zu laut. Immer dann, wenn die Erwachsenen die falschen Worte gebrauchen, dann sagt es ihnen die richtigen ein. Dann entschuldigen sie sich und sagen, sie hätten sich verlesen. Aber das glaube ich ihnen nicht. Und wenn sie dann erst wissen, dass ich die Geschichte vortragen kann wie ein Gedicht, dann macht ihnen das Erzählen nicht mehr so viel Freude und sie wollen mir eine andere vorlesen, eine, die ich noch nicht kenne. Dabei ist es für mich so wichtig, dass sie mir immer dieselben Geschichten vorlesen, weil ich doch herausfinden möchte, ob es so etwas wie das Lesen wirklich gibt. Deshalb achte ich auf ein jedes Wort, das ihren Mund verlässt. Wenn eines davon nicht stimmt, dann zweifle ich bereits wieder. Da hat sich das Herz einmal wieder ein falsches Wort gemerkt, das da gar nicht hingehört. Denn wenn ich manchmal meine Märchen alleine durchblättere, dann sehe ich mir die Zeichen ganz genau an. Dann streifen meine kleinen Fingerkuppen über die geheimnisvollen Schriftzeichen und ich träume davon, sie zu verstehen. Aber das ist aussichtslos, denn da sind unvorstellbar unendlich viele davon. Und wie sollen die Augen bitteschön so viele Worte so schnell nacheinander erkennen, dass sie sogleich aus dem Mund der Erwachsenen fließen können? Das ist einfach unmöglich, sage ich mir. Nein, niemand kann lesen können. Diese Zeichen sind nur Zierde. Die Erwachsenen tun nur so, als ob sie lesen könnten. Das ist eine ihrer großen Lügen. Ich denke, es muss so viel einfacher sein, alle Bücher auswendig zu lernen, als lesen zu lernen. Deshalb habe ich meine eigenen Vorstellungen davon. Da niemand auf der Welt lesen kann, müssen die Erwachsenen alle Geschichten im Herzen tragen, Wort für Wort, wie wir Kinder. Wenn sie uns Märchen vorlesen, dann erinnern sie sich auch nur daran zurück, wie sie ihnen als Kindern erzählt worden sind. So sind aus den Erzählungen Erinnerungen geworden, die von Generation zu Generation weitergetragen worden sind, von Herz zu Herz. Und damit kein einziges Wort davon verloren geht, und man wirklich alle, alle Geschichten, die es auf der Welt gibt, eines Tages weiß, fängt man in der Schule damit an, sie auswendig zu lernen. Das ist es, wozu man zur Schule geht, um auswendig zu lernen. Jedes Mal, wenn das Kinderbuch zugeklappt wird, wünschte ich seufzend, das Lesen wäre nicht nur ein Märchen. Welch ein Wunder das wäre. Wie zauberhaft und praktisch zugleich es doch wäre, wenn man dann auch noch wirklich schreiben könnte. Dann könnte ich all die Worte, die ich im Herzen trage, aufschreiben, Wort für Wort. Ja, als kleines Mädchen träume ich vom Schreiben. Aber da es so etwas wie das Lesen und Schreiben in meiner Welt nun mal nicht gibt, habe ich meinen eigenen Plan. Eines Tages, wenn ich groß bin, werde ich mit Worten Geschichten malen und Bücher daraus machen. Denn da ja überhaupt gar niemand auf der Welt weder schreiben noch lesen kann, werde ich die Worte eben mit meinen Farbstiften malen. Zwar nicht Wort für Wort, aber immerhin habe ich einen Weg gefunden, meine Herzwörter auf Papier zu tragen, damit sich auch die Augen erinnern können. So habe ich das Schreiben neu erfunden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, flüstern Mamas Worte in mein Ohr. Dann küsst sie meine Stirn und macht das Licht aus. Schlaf gut, sagt sie. Schlaf gut, sage ich auch. Ich träume schon wieder bevor ich schlafe. Das mache ich mein ganzes Leben lang, mit offenen Augen träumen und Worte malen.
Im Kindergarten muckse ich das erste Mal auf, weil man mich festhält und mir Zeit wegnimmt. Ich komme wohl sehr nach meinem Papa, der selbst immer gegen alles revoltiert hat, um seinen eigenen Weg zu gehen. Im Kindergarten fühle ich mich fürchterlich eingesperrt. Ich kann mich an die warmen Farben des Herbstlaubes erinnern und wie es über den Asphalt fegt, wie ich allein am Fenster stehe und davon träume, ihm hinterher zu jagen. Als ich meine Kinderhand auf die Scheibe lege, ist es mir, als wäre das alles in diesem Glas und der Herbst wäre darin eingeschlossen. So stehe ich traurig da, denn man hat mich ausgeschlossen aus meiner Welt. Ich sehe doch, wie die älteren Kinder zur Schule müssen, zum Rechnen und Auswendiglernen. Sie werden erst gegen Mittag freigelassen. So weiß ich, was mir blüht. Ich würde noch früh genug wie sie weggesperrt werden und dann würde man mir so unendlich viel Zeit stehlen. Bis dahin möchte ich wenigstens frei sein. Alles Einreden meiner Eltern auf mich, dass die Tante Käte mich doch vermisse, wie toll es sei, mit anderen Kindern zusammen zu sein, hilft nichts. Ich bleibe wie immer stur. Denn ich will mir meine Freiheit und meine Zeit nicht stehlen lassen. Ende des Herbstes male ich im Zimmer schon wieder meine Herzwörter in Symbolen auf Papier und jage draußen ausgelassen den Laubwirbelstürmen hinterher. Glücklich darüber frei wie der Wind zu sein.
Als ich in die Volksschule komme und endlich das Lesen erlernen sollte, da will es nicht in meinen Kopf gehen, denn ich habe das Lesen zu etwas Unmöglichen gemacht. Doch ich erinnere mich an die Worte, die ich im Herzen trage, und an das Geheimnis der Erwachsenen. Also lerne ich alle Worte auswendig. Mimi. Haus. Maus. Mama. Ja, keiner merkt etwas davon, außer Mama. Sie ahnt davon, dass ich ihr Geheimnis kenne und prüft mich. Sie zeigt auf Mimi. Ich sage, Mimi. Sie zeigt auf Haus. Ich sage, Haus. Doch dann nimmt sie ein Stück Papier, das mein Herz sich noch nicht gemerkt hat. Sie zeigt auf Momo, ich sage Mama. Lies das, sagt sie. Ich sage, Mami. Sie sagt streng, ich solle lesen. Ich sage alle Worte aus dem Herzen auf, die ich aus der Schule kenne. Ich rate nur, sagt sie. Dann sagt sie erneut, ich sollte lesen was da steht. Aber ich weiß nicht, was sie meint. Was ist lesen? Niemand auf der Welt kann lesen. M – o – m – o, sagt Mama. Ihr Finger fährt dabei von M zu o zu m zu o. Mama ist ganz schön geschockt, als sie merkt, dass ich nicht lesen kann. Und wütend ist sie. Wütend auf die Schule, die mich auswendig lernen lässt, mein Lesen. Also nimmt Mama das selbst in die Hand. Sie bastelt Kärtchen für mich und malt bunte Gegenstände auf die Rückseite. Auf der Vorderseite muss ich die Buchstaben zu einem Wort in meinem Mund formen. Also ist sie es, die mir das Lesen beibringt, meine M – a – m – a. Da es so etwas Unmögliches wie das Lesen wirklich gibt, entschließe ich, dass ich eines Tages die Worte doch in die Bücher hineinschreiben werde, anstatt sie zu zeichnen. Und glücklich über die schriftlichen Wörter in meiner Welt, benenne ich alle Gegenstände mit Namen. Schreibe Baum auf jeden Baum und Stein auf jeden Stein und manchmal schreibe ich ganze Sätze in den Himmel, wenn ich träume. Wenn ich denke, so bestehen meine Gedanken aus beschrifteten Bildern, und manchmal schreibe ich nur in Gedanken, ganz ohne an Bilder zu denken. Dann male ich nur Worte aus in meinem Kopf. Und obwohl ich über und über voll mit Worten bin, habe ich noch Schwierigkeiten mit dem Lesen in der Schule, aber nur dort. Meine Lehrerin ist kein sonderlich sensibler Mensch und versteht meine ungewöhnliche Liebe für Worte nicht. Sie hat einen besonderen Test für uns, mit dem sie uns immer wieder prüft. In einer möglichst kurzen Zeit sollen wir einen ausgewählten Text lesen. Da ich aber Worte auf der Zunge zergehen lasse wie Bonbons und sie hinunter ins Herz fließen lasse, ist es für mich eine Unart, Worte so schnell zu verschlingen. Dann kann man sie doch gar nicht richtig fühlen. Also lese ich gar nicht, sondern lasse meine Blicke nur schnell über das Buchstabengewürfel huschen, und dann sage ich möglichst bald, stopp, damit ich eine gute Lesezeit bekomme. Natürlich weiß ich danach keine Antworten auf die gestellten Fragen, ich habe doch auch kein Wort davon gelesen. Eigentlich habe ich mir die Worte nur schnell angesehen. Daraus schließt die Lehrerin, dass ich die Klasse wiederholen sollte, denn ich kann ja nicht lesen. Mama stellt sich aber schützend vor mich, denn sie weiß, dass es nicht gut für mein Selbstvertrauen sein würde. Also übt sie zuhause weiter mit mir das Lesen, während ich meine Welt beschrifte. In der dritten und vierten Klasse Volksschule bekommen wir einen neuen Klassenvorstand. Sie besitzt die nötige Sensibilität für mich und ich himmle sie an wie einen Engel. Morgens wird gebetet und für Gott ein Lied gesungen, und Apfelputzen müssen ganz aufgegessen werden, bis auf den Stil, weil auch die Kerne sehr gesund sind. Das ist, was sie uns gleich am ersten Tag lehrt. Sie schließt mich sofort in ihr Herz und entdeckt dabei meines, das voller Wörter ist. Oft bleibe ich in den Pausen im Klassenzimmer in der Leseecke hocken und schmecke Worte. Wenn wir Schularbeiten haben, dann sind es immer zu viele Worte, die aus meinem Herzen in die Geschichte wollen, zu viele für das Papier, zu viele für die vorgegebene Zeit. Meine Lehrerin gibt mir dann Extrazeit und lässt mich in der Pause weiterschreiben, und manchmal sogar noch in die Rechenstunde hinein. Und wenn wir die Schularbeiten zurückbekommen, dann muss ich meine jedes Mal vorlesen. Manchmal darf ich auch Hausarbeiten und andere Texte vor der Klasse vortragen. Meine Volksschullehrerin ist sehr berührt von meiner besonderen Liebe zu den Worten und von den Aufsätzen, die dabei entstehen. Sie meint, ich habe eine schöne Begabung. Sie sagt, sie glaubt ganz fest an mich. Deshalb hänge ich an ihren Lippen, weil sie meinen größten Herzenswunsch aussprechen. Sie sagen, eines Tages wirst du eine Schriftstellerin sein. Sie hält meine Welt, wie eine Glasschneekugel mit all den Worten gefüllt, behutsam in ihren Händen und flüstert ihre Wünsche hinein. Und weil alles, an was man glaubt, in meiner Welt wahr wird, glaube ich auch ganz fest an ihre Worte.
Nach der Volksschule sollte ich unbedingt aufs Gymnasium nach Rein, denn um eine Schriftstellerin zu werden, sollte ich die bestmöglichste Ausbildung in Deutsch bekommen. Darin sind sich meine Eltern und meine Lehrerin einig. Auch ich kann es kaum erwarten, endlich aufs Gymnasium zu kommen. Aber da meine Welt nicht länger in dem Nest ihrer Hände und dem Schatten ihrer Flügel geborgen ist, fühle ich mich plötzlich schutzlos. Wie ein Küken, das aus dem Federkleid der Henne geschubst worden ist, ängstlich und verletzlich. Der Ton und Umgang der Klassenkameraden ist mir zu hart und ihre Sprache zu derb. Ich bin zu naiv und unerfahren für sie. In meinem Lieblingsfach kann ich zwar den Lehrer weiterhin mit meinen Geschichten erstaunen, aber es sind nur fünf Rechtschreibfehler erlaubt und so helfen mir meine Erzählungen nichts, wenn die Worte aus dem Herzen fehlerhaft sind. Da unsere Arbeiten strenger benotet werden, wirkt sich das auf unsere Noten aus, und nicht selten weine ich deswegen. Und noch etwas hat sich verändert, wir haben nicht nur viel mehr Fächer als in der Grundschule, wir lernen hier tatsächlich auswendig; und zwar ganz schön viel davon. Ich kann mich zwar im zweiten Semester behaupten und komme inzwischen ganz gut aus mit meinen Klassenkameraden, doch es ist bereits zu spät, ich habe mich entschieden Rein zu verlassen und in die Hauptschule zu gehen. Man nimmt mir hier zu viel Zeit, um zu leben. Zu viele Stunden sind wir in der Schule eingesperrt, und dann die vielen Fächer, für die wir alle Hausaufgaben machen müssen und lernen. Erst sind die Eltern dagegen, aber ich bleibe wieder hartnäckig, solange bis ich auf die Hauptschule darf. Ich werde diese Entscheidung in meinem späteren Leben auch nicht bereuen. In der Hauptschule sollten wir uns langsam entscheiden, was wir mit unserem Leben anfangen möchten. Ich weiß es längst. Doch die Lehrer sind etwas überfordert mit einem Mädchen, das Schriftstellerin werden möchte. Selbst als ich einen Schreibwettbewerb gewinne, sagt man mir, es sei kein Beruf, zu schreiben. Was mich sonst noch interessiert? Sonst? Alles. Alles interessiert mich irgendwie und alles kann ich mir vorstellen vielleicht zu machen. Alles und nichts. Von der Kindergärtnerin über die LKW-Fahrerin bis hin zur Mechanikerin ziehe ich wirklich alles in Betracht. Gäbe es den Allesberuf, wie in den Kindertagen, ich würde ihn erlernen. Damals hat man noch alles in einem Beruf sein können. Der Allesberuf. Da bin ich Postfrau gewesen, Sekretärin, aber nur wegen dem tollen Aktenkoffer, den wir auf dem Sperrmüll gefunden hatten, Verkäuferin, Trafikantin, Lehrerin, Zustellerin, Reitlehrerin, Blumenverkäuferin, Friseurin, Sängerin, Schauspielerin und Superstar. Letzteres erwähle ich dann heimlich zu meinem Wunschberuf, da Schriftstellerin ja kein Beruf ist. Ich müsste etwas Realistisches auswählen, sagt man einer Träumerin wie mir, der die Realität so gar nicht schmeckt. Mir schmecken doch Worte. Dann möchte ich eben Kindergärtnerin werden. Bei meinen Schnuppertagen bin ich etwas verlegen, als man mich nach meinen Kindheitserfahrungen im Kindergarten fragt. Ich erinnere mich zurück, dass ich dort keine Zeit verschwenden wollte. Dennoch entscheide ich mich dafür diesen Beruf zu erlernen. In meiner Realität bedeutet das, selbst ewig Kind zu bleiben, da man in der Fantasiewelt der Kinder bleibt, indem man mit ihnen spielt. Wie Peter Pan, der ewig Kind bleiben könnte. Die Fantasie ist eben mehr meine Wirklichkeit. Mein Entschluss, was ich werden möchte, steht also fest, als man mir erklärt, es gäbe schon zu viele Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, und weil es zu viele Lehrerinnen gäbe, würden die schon als Kindergärtnerinnen eingesetzt werden, weshalb fertig ausgebildete Kindergärtnerinnen ohne Job dastehen würden und erst etwas anderes machen müssten. Und ich wollte doch nicht die schwere Kindergartenpädagogik mit diesem umfangreichen Lehrstoff abschließen, um dann ohne Job da zu stehen, wofür ich so viel gelernt hätte, dass mir dabei gar keine Zeit mehr zum Leben geblieben wäre. Besonders Letzteres hat mich dann davon überzeugt, dass ich keine Kindergärtnerin werden möchte. Weil die Hauptschule so einfach geendet hat, ohne dass sich eine Ersatzberufung für mich gefunden hätte, haben meine Eltern mich an verschiedenen Schulen beworben. Ich wäre gerne auf die Ortwein für Kunst gegangen, um Drehbücher zu schreiben und Filme zu machen. Wie gerne hätte ich aus Worten, Bildern und Musik Filme entstehen lassen, die Geschichten erzählten. Wie verwandt Filme doch mit den Büchern gewesen sind und wie gerne ich die Skripten dafür geschrieben hätte. Aber da hat man mich eben nicht gleich aufgenommen, aber an der Ortwein für Mode. Also gehe ich einen Tag lang auf die Ortweinschule für Mode. Ich sitze genau eine Stunde in dieser Schule, genau so lange, wie man mir den Stundenumfang vorliest. So besuche ich das Polytechnikum, und nach einem weiteren Jahr mit dem Berufsziel Allesberuf, folge ich wie ein Lemming den anderen Mädchen in meiner Klasse. Wenn alle ins Büro gehen und damit glücklich werden, dann werde ich das wohl auch werden, sage ich mir.
zwei
Da ich meine Entscheidung zu spät getroffen habe, muss ich erst einmal eine Zeit lang auf eine Lehrstelle warten. Alle anderen haben sich schon zu Ostern beworben, als ich noch von der LKW-Fahrerin bis zur Mechanikerin alles werden wollte. Erst sieben Monate später gehe ich drei Tage lang in die Schnupperlehre bei Frau Sorglos. Frau Sorglos betreibt ein kleines Rollladengeschäft mit ihrem Sohn als Juniorchef, einer Büroangestellten und den Monteuren. Die Büroangestellte heißt Alex, sie ist erst Anfang zwanzig, aber bereits Lehrlingsausbildnerin. Sie erzählt mir, dass sie schon einige solcher Versuchslehrlinge wie mich hatten, aber sie sind mit keinem so recht zufrieden gewesen. Mit niemandem, frage ich erschrocken. Doch, eine wäre da gewesen, fällt ihr ein. Von der wäre Frau Sorglos ganz angetan gewesen. Was aus ihr geworden sei, frage ich sie darauf und denke mir, wie schade, dass sie die nicht genommen haben. Nun ja, die Chefin hätte sie unbedingt einstellen wollen, weil sie so fleißig und tüchtig gewesen sei. Und sehr aufnahmefähig sei sie gewesen, hätte sich alles schnell gemerkt und gleich richtig umgesetzt. Aber als die Chefin das junge Ding gefragt hat, ob sie denn bei ihr in die Lehre gehen wollte, da habe sie nicht gleich ja gesagt. Was sie geantwortet hätte? Sie hat gar nicht geantwortet. Ich staune. Wie, nicht geantwortet? Sie hat stattdessen eine Frage gestellt. Welche Frage? Sie hat gefragt, ob sie darüber nachdenken könne. Das hat Frau Sorglos gar nicht gefallen. Darüber sei sie so entrüstet gewesen, dass sie das Angebot zurückgezogen habe. Ein Mädchen, das nicht weiß, was es will, ist hier nicht richtig. Es gibt genug Mädchen, die auf eine Lehrstelle warten. Wenn sie erst überlegen muss, dann hat sie vielleicht etwas Besseres. Ich möchte ein Mädchen, das nichts anderes auf der Welt will, als bei mir in die Lehre zu gehen. So seien ihre Worte gewesen. Mir schaudert. Immerhin habe ich großen Respekt vor der Chefin. Sie ist eine große, robuste Frau, so wie man sich eine Chefin vorstellen würde, die einen Männerbetrieb wie ein Rollladengeschäft mit Montage führt. Eigentlich sollte ich eine Woche lang dort sein. Doch bereits am Mittwoch bin ich krank. Ich fühle mich wie erschlagen. Von Kopf bis Fuß hat etwas auf mich eingeschlagen. Auf den Rücken hat es besonders oft und heftig eingetreten, denn es ist mir, als wären mir davon beulende Knoten gewachsen, die auf die Wirbelsäule drücken, egal ob ich sitze oder liege. Es ist mir zumute, als wäre ich so wild geschüttelt worden, dass ich mich fiebrig und schwindelig davon fühle, und im Kopf ist noch dieses Beben. Aber erhöhte Temperatur habe ich keine. In den Ohren höre ich das Blut rauschen, wie ein tosender Gebirgsfluss. Die Halswände drücken nach innen, dass ich am Schlucken fast ersticke. Selbst die Stimmbänder haben mir die verengten Halswände abgeschnürt. Blaue Flecken und rote Blutergüsse breiten sich über den zertrümmerten Knochen aus. Ich spüre sie pochen, obwohl da keine sind. Die Muskeln sind bleiern schwer und brennen, als würde das Quecksilber aus dem Fieberthermometer durch meine Blutbahnen zu meinen Muskelzellen fließen. Auf dem ärztlichen Bescheid steht nur grippaler Infekt. Am Freitag sitze ich gerade wieder an der Schreibmaschine und klopfe mit den Fingerkuppen dicke Lettern aufs Papier, als Frau Sorglos mit diesem Lächeln näher rückt. Alex sitzt dahinter, mit demselben verräterischen Lächeln der Lippen, das schon alles sagt, bevor der Mund noch zu sprechen begonnen hat. Liebe Rebecca, beginnt Frau Sorglos ihre Ansprache, und sie erhebt sich sogar feierlich dabei. Sie spricht viel. Sie spricht über mich. Aber ich sehe nur ihre Lippen, die sich bewegen. Und ich möchte sie am liebsten davon abhalten, indem ich meine Hände auf sie drücke. Diesen Vokale formenden Mund. Ich möchte ihn zuhalten und die Worte damit ersticken, die heraus wollen, die zu mir wollen. Aber natürlich tue ich nichts. Und dann hat sie es gesagt, ihre Lippen sind es gewesen, noch vor dem ganzen Mund mit Ton. Ja, schon ihr Lächeln hat die Frage gestellt, bevor es ihre Worte getan haben. Ich hätte sie doch zuhalten sollen, die Lippen. Ob ich mir das überlegen darf, das ist das Erste, was mir einfällt. Aber dann fällt mir gleich wieder die schreckliche Geschichte von Alex und dem Mädchen, das genau dieselbe Frage gestellt hat. Frau Sorglos und Alex sehen doch so glücklich aus. Ich kann ihnen ihr Lächeln nicht kaputt machen. Ihr Lächeln sagt JA. Aber in mir schreit es so laut NEIN, dass ich das innerliche NEIN fast nicht zurückhalten kann. Es ist das lauteste NEIN, das je in mir geschrien hat. Eine so laute und klare innere Stimme vernimmt man selten im Leben. Vielleicht nur einmal, und dieses eine Mal bebt noch heute in meiner Seele. Doch mein Verstand sagt mir in diesem Moment, es gibt keine Perspektiven, und wenn ich nicht mit einem überspitzt fröhlichen JA antworte, versäume ich diese Chance. Dann nimmt Frau Sorglos ihr Angebot zurück, denn sie will ja ein Mädchen, das gleich die richtige Antwort kennt. Meine Antwort ist NEIN. Aber ich weiß ja nicht, wo ich sonst hin soll. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Also höre ich auf meinen Verstand und mein JA wird zur größten Lüge in meinem Leben. Ich lasse das Herz oder den Bauch, oder welches Organ auch immer schreit, verzweifelt weiterschreien. NEIN hallt es in meinen Ohren, bebt es in meinen Knochen, vibriert es in meiner Seele. NEIN. So ein Echo wird wohl ewig nachbeben.
Als ich nachhause komme, habe ich ein blasses, kränkliches Gesicht und ich fühle mich benommen. Was denn los sei? Meine Eltern machen sich Sorgen. Ich sage, ich sollte eigentlich glücklich sein und mich freuen, aber ich bin es irgendwie nicht. Worüber? Darüber, dass ich eine Lehrstelle habe. Mama und Papa fragen mich, ob ich bei Verstand sei. Der Verstand hätte ja auch JA gesagt. Sie ist bei Verstand. Na Gott sei Dank. Wenigstens Mama und Papa sind überglücklich und erleichtert. So eine tolle Chance und endlich und überhaupt, überschlägt sich ihre Begeisterung in ihren Worten. Ich solle glücklich sein, denn ich habe doch keine Perspektiven und eigentlich keine Wahl mehr. Meine Wahl habe ich in der Schule gehabt und dort habe ich sie nicht genutzt. Es sei ohnehin zu spät und längst an der Zeit.
Frau Sorglos ist nicht nur eine rechtschaffene Geschäftsfrau, sondern auch eine charakterstarke Persönlichkeit. Ich habe Achtung vor ihr und an manchen Tagen wirkt sie sogar respekteinflößend streng auf mich, wahrscheinlich weil sie so bestrebt an Geschäftliches herangeht. Dafür schwingt sie an anderen Tagen harmlos durch die Räume. Obwohl sie von Klasse ist und mit vielen Geschäftsleuten verkehrt, von denen sie uns mal stolz und mal belustigt erzählt, besitzt sie dennoch eine bodenständige Natur. Sie hat Stil und ist oft von delikater Strenge, aber dann hat sie wieder diese unbefangen Eigenschaften, die sie ungeniert aus dem Nähkästchen plaudern und dabei so herzhaft auflachen lassen. Eine ihrer Eigenarten ist es, sich uns von Zeit zu Zeit besonders erhaben und adelig mitzuteilen und dabei spricht sie mit fein gewählten Worten. Dann tut sie das mit Noblesse und mit nasaler Stimme, und natürlich lächelt sie verschmitzt dabei, denn sie meint es ja nur halbernst. Aber ich werde dabei immerhin zum Fräulein und gnädig gesprochen. Gnädiges Fräulein Rebecca, sagt sie dann, wenn Sie vielleicht die Güte besäßen, um mir den Akt zu reichen? Im nächsten Augenblick schlägt ihre Stimme dann wieder um und sie erzählt uns einen Schwank aus ihrem Leben, eben meist aus der vornehmen Geschäftswelt. So unterhält sie uns des Öfteren mit ihren Geschichten und ich genieße die kleinen staunenden Pausen des Tages. Ich höre ihr gerne zu, da sie es versteht, uns ihr Erlebtes spannend zu erzählen, und ich mag ihre oft ulkigen Ansichten, die sie so sympathisch normal und gleichgesinnt machen, als sei sie eine Arbeitskollegin und nicht die Vorgesetzte. Meist ist es an einem Tag so und an einem anderen ganz anders. Oft ist sie am einen Tag die stoische Chefin, mit den streng nach hinten frisierten, nachtschwarzen Haaren, vor der ich etwas Angst habe, und am anderen ist sie die heitere Geschichtenerzählerin, die uns auch mal die Handlung eines Romans offenbart, den sie soeben zu Ende gelesen hat.
Ihr Sohn ist so amüsiert über die Antworten bei meinem Aufnahmetest, dass er beschließt, mir jede Woche ein neues Land mit seiner dazugehörigen Hauptstadt beizubringen. Und er beginnt damit gleich am ersten Tag. Dafür, dass mir nicht einmal die gängigsten Städte Europas bekannt sind wie Bratislava, Oslo und Sofia und ich Prag zur Hauptstadt Polens mache und dafür Warschau zu einem eigenen Land ernenne, bringt er mir eigentlich ziemlich kryptische Städte bei. Was die Hauptstadt von Vietnam sei? Ich weiß nicht einmal, dass das ein eigenes Land ist. Hanoi, sagt er. Und dass ich mir das auf ewig merke, prüft er mich jede Woche alle Städte, die er mir beigebracht hat. Und dann ist da noch Alex, meine Ausbildnerin, zu der ich ein sehr freundschaftliches Verhältnis habe. Sie hört teilweise dieselbe Musik wie ich und sieht sich auch dieselben Filme an. Wir haben eine gute Gesprächsbasis und das macht uns zu Vertrauten. Ich weiß, dass ich gut bei ihr aufgehoben bin, wenn es um berufliche oder um private Dinge geht. Wie eine große Schwester lehrt sie mir alles, was ich in diesem Familienbetrieb wissen muss. Geduldig erklärt sie mir Arbeitsvorgänge erneut und macht mich auch mit bestimmendem Ton auf Fehler aufmerksam. Sie macht sich immer wieder stark für mich und stellt sich schützend vor mich, wenn es nötig ist. In den Mittagspausen sitzen wir oft zusammen. Dann erzählt sie mir auch aus ihrem privaten Leben. Ich höre ihr gerne zu, weil alles so geregelt scheint. Zuhause hat sie ihre Jugendliebe und hier geht sie in ihrem Job auf, weil ihr das Koordinieren und Ordnen einfach liegen. Es scheint ihr ein gewisses Gefühl von Frieden und Sinn zu geben, hier alles am Laufen zu halten. Das merke ich an ihrem Engagement, mit dem sie sich hier einsetzt. Für mich besteht das Bürowesen aus immer denselben trockenen und unkreativen Beschäftigungen, die mich in ihrer Nüchternheit ersticken. Ständig etwas am Laufen zu halten, ohne wirkliche Ergebnisse zu sehen. Dabei fühle ich mich wie die Maus im Rad, die niemals ankommt. Doch für Alex scheint eben das Sinn zu machen, dass alles rund läuft. Alex ist eines der Mädchen, das Frau Sorglos in ihrem Unternehmen haben will, und ich erkenne in ihrem Einsatz immer mehr die Lüge hinter meinem JA. Ich bin nicht das Mädchen, das Frau Sorglos beschrieben hat. Auch wenn ich mich bemühe. So sehr, dass es niemand merkt. Dass ich es nicht bin.
Manchmal träume ich aus dem großen Auslagenfenster hinaus, lausche den Worten in meinem Herzen und stelle mir vor, dass ich irgendwo in der Welt da draußen bin und Frau Sorglos hier drinnen von meinem Roman erzählt, den sie soeben zu Ende gelesen hat. Dann spricht sie mit Noblesse und nasaler Stimme eine vorzügliche Kritik aus. Anschließend erzählt sie einen erheiternden Schwank, indem sie sich an mich zurück erinnert.
Fünf Wochen später fragt mich der Juniorchef die gelernten Hauptstädte ab. Vietnam. Hanoi. Hawaii. Honolulu. Honduras. Tegucigalpa. Kuba. Havanna. Nepal. Kathmandu. In der sechsten Woche lerne ich keine Hauptstadt, da bin ich krank. Weil ich dann immer wieder krank bin, verordnet mir Frau Sorglos mittags im hinteren Trakt des Gebäudes in ihrem privaten Rosengarten zu sitzen. Sie meint Sonne und frische Luft würden mir gut tun und mich gesund halten. Damit ich an der Luft aber auch nicht krank werde, hüllt sie mich in Decken ein. Und dann füttert sie mich noch mit diesen Vitamintabletten, die sie schon in der Schwangerschaft mit ihrem Sohn genommen hat, sagt sie. Nur Gott weiß, wie alt der Juniorchef ist. Bis Alex mich in die Apotheke schickt, um frische Vitamine zu kaufen. Dann sitze ich in ihrem zauberhaften Rosengarten und träume davon, eines Tages selbst so einen Garten zu haben. Vielleicht so einen, wie Frau Sorglos ihn hat. Dann werde ich dort mit meinem Laptop sitzen und meine Bücher schreiben und von Zeit zu Zeit an hier zurückdenken. Aber noch hocke ich hier unter meiner Decke, während sich das Sonnenlicht schimmernd auf die Rosenblütenblätter legt. Es macht ihren Duft ganz warm. Und der warme Duft steigt in die Luft und verdickt sie, macht sie zu Rosennektar. Rosenluftnektar kann man auf der Haut spüren, er fühlt sich an wie der Samtflaum auf den Rosenblüten. Und überall im Duftgemisch schwirren Duftdiebe. Bienen surren kreisend über den Honigkelchen und flatternde Tagpfauenaugen zwinkern mir zu. Vogelgezwitscher und Schmetterlingsflügelschläge. Überall Flügel. Ich bin im Himmel und träume. Ich hoffe, im Himmel da oben gibt es einen Rosengarten, wie den der Frau Sorglos.
Doch trotz der mittäglichen Kuren im Rosengarten, werde ich mit beständiger Regelmäßigkeit krank. Keiner weiß warum. Kein Mädchen hat so oft die Grippe im Jahr wie ich. All die Ärzte, bei denen ich gewesen bin, haben mir immer nur dasselbe gesagt, dass mein Immunsystem einfach zu schwach sei. Ich denke nicht, dass es an meinem Körper liegt. Es ist eher alles in meinem Körper tief drinnen, das ihn so kaputt macht. Weil sich alles in mir wehrt hier bei der Arbeit zu sein. Dass ich innerlich tobe, schreie und um mich schlage, weil ich mich so gefangen fühle. In mir, in diesem Leben, in der Arbeit. Daher kommen die blauen Flecken und die roten Blutergüsse in mir drinnen. Ich denke, dass meine Seele den Körper krank macht, weil sie nicht hier sein will. Warum ich es hier nicht aushalte, das kann ich kaum erklären und dies hier bleibt auch nur ein Versuch, denn ganz verstehe ich mich dabei ja selber nicht. Es kommt eine Panik in mir auf, wie Platzangst oder das Gefühl eingesperrt und festgehalten zu werden, während ich draußen mein Leben versäume. Eine Panik ist aber rational nicht wirklich zu erklären, sie ist vielmehr eine Reaktion auf Angst durch Flucht. Erst kommt dieser Gedanke. Ich will hier weg, sagt er. Dann werde ich panisch. Ich kann hier nicht atmen. Flucht, schreit es in mir und ich will loslaufen. Wie gerne würde ich loslaufen. Einfach weg. Denn mein Arbeitsplatz hier ist zu einem Ort geworden, an dem ich es auf keinen Fall aushalten kann. Ich fühle mich so festgehalten und eingesperrt. Es ist unvorstellbar, noch länger hier zu sein, denn hier zu sein macht mir Angst und macht mich panisch. Also will ich weg. Sofort! Aber die Angst und die Vernunft lähmen den ganzen Körper. So schaue ich fassungslos zu, was mit meinem Leben geschieht und tobe nur innerlich. Dieses narkotisierende Nervengift zerfrisst wahrscheinlich mein Immunsystem und macht den Körper krank. Mein einziger Trick, um es hier auszuhalten, ist das Atmen. Einatmen. Ausatmen. Sage ich mir dabei. Und es wird zum Takt meines Tages, bis ich ihn weggeatmet habe, den ganzen vergeudeten Tag. Um eher verstanden zu werden, sollte ich mich und meine Situation noch besser erklären. Ich bin eine Träumerin. Eine Träumerin, der man sagt, sie soll mit dem Träumen aufhören. Aber wenn eine Träumerin nicht träumt, dann denkt sie. Das ist ein Grund, warum ich es hier nicht aushalte. Ich denke ständig. Ich denke und denke und denke und meine Gedanken reden mich dabei um den Verstand. Wie die Rädchen im Uhrwerk die Zeit vorantreiben, unaufhaltsam, so kreiseln meine Gedanken endlos in mir. Ich denke andauernd. Ich denke über alles nach. Ich denke sogar darüber nach, ob man einfach aufhören kann zu denken. Dann versuche ich nicht zu denken, und während ich nicht denke, denke ich darüber nach, wie es ist, nicht zu denken. Ich denke, ich denke einfach zu viel. Manchmal denke ich mich traurig. Oft denke ich mich verrückt. Wenn ich so viel reden würde, wie ich denke, würde ich wahrscheinlich an meinen Worten ersticken, deshalb bin ich oft lieber still für mich und höre meinen Gedanken zu. Es ist gut für mich eine Aufgabe zu haben, um nicht sinnlos zu denken. Nur diese ewig fortlaufende Arbeit, die so vorhersehbar unveränderlich vorangeht, sie fordert mich geistig einfach zu wenig. Sie beansprucht nicht meine ganze Konzentration und meine gesamten Gedanken, also sind da noch genügend freie Gedanken, und die füllen den ganzen Raum mit meinen Worten. Und die Worte reden auf mich ein. Es ist ein murmelndes Stimmengewirr von hundert verschiedenen Gedanken. Ja, oft denke ich mich verrückt. Was machst du hier eigentlich? Dieser eine Gedanke kommt immer wieder und macht mich panisch. Ich denke, es ist das Mädchen in mir, das mir diese Frage stellt. Es hat doch ganz andere Pläne gehabt. Es schimpft mit mir, weil ich seine Träume kaputt mache. Und das Mädchen fragt, was ist los? Wieso schreibst du meine Herzensworte nicht auf? Wieso lässt du sie sinnlos Räume füllen, bis sie dich verrückt reden? Weißt du denn nicht, dass sie nur aufgeschrieben werden möchten? Also, was machst du hier eigentlich? Ich denke, das kleine Mädchen in mir stellt mir diese Frage immer dann, wenn ich glücklich Zeit wegatme, weil es das Einzige hier ist, das mir Freude bereitet, es hinter mich zu bringen. Denn das ist die andere Sache, weshalb ich nicht hier sein möchte. Die einzige Tätigkeit, die mir hier gefällt, sind die morgendlichen Einkäufe, mein Freigang. Dann schlendere ich verträumt mit dem schaukelnden Korb am Arm durch die Gassen. Dabei komme ich mir vor wie ein Schulkind, das man fragt, was ihm am besten an der Schule gefalle, und es antwortet, die Pause. Selbst der Schriftverkehr ist trocken und frivol. Auch hier findet sich kein Platz für meine eigenen Worte, kein Platz für mein Leben, denn ein jeder Brief ist ein Baukasten aus vorgefertigten Sätzen. Einen Brief zu erstellen ist dasselbe, wie Kästchen in einem Formular anzukreuzen. Dabei ist ein jedes Schreiben gleichsam unpersönlich und charakterlos. Die steifen Phrasen sind zwar alle gehoben formuliert, doch klingen sie dabei so nüchtern und steril, dass ich lieber das leerweiße Papier ins Kuvert stecken würde. Ich habe mir gedacht, toll Schriftverkehr, das klingt doch gut, das ist was für mich. Sogar in meinen Bewerbungen habe ich das als Begründung angegeben, wieso gerade ich ins Büro passe. Weil ich so gerne schreibe. Verdammt, was habe ich mir nur dabei gedacht? Wie habe ich Träumerin mir das nur wieder vorgestellt? Dass ich den Geschäftspartnern und Kunden bunte Aufsätze mit kleinen Gedichtchen und Schmetterlingen in der Zierleiste schicken würde? Büroarbeit bedeutet für mich, tagsüber etwas instand zu halten und abends den Arbeitsplatz zu verlassen, ohne das Produkt meiner Arbeit ansehen zu können. Mit dem letzten Blick auf das Entstandene noch einmal zu sehen, dies habe ich heute geschaffen. Aber da ist nichts zu sehen. Unproduktive Arbeit bleibt irgendwie unsichtbar und ich fühle mich leer und unbefriedigt davon, weil es sich anfühlt, als hätte ich nichts getan. Dies gibt meinem ganzen Tag ein unnützes Gefühl. Ein vergeudeter Tag nach dem anderen lässt das ganze Leben vergeudet und sinnlos erscheinen. Es ist für mich, wie an den Rädchen zu drehen, die die Uhr weiterlaufen lassen. Eine bedeutende Aufgabe. Nur ich fühle, dass es nicht meine Aufgabe im Leben ist. Gott hat mich nicht erfunden, um an der Uhr zu drehen. Während die Zeit vergeht, sieht man sie auch nicht, und wenn sie vorbei ist, fragt man sich nur, wo sie hin ist. Das kleine Mädchen in mir würde die Zeit am liebsten aufhalten. Nein, es möchte nicht alles am Laufen halten. So wie es ist, soll es doch nicht einmal sein. Es möchte die Zeit nicht vorwärtsdrehen. Gerade das macht ihm doch so Angst, dass alles so weitergeht. Aber eigentlich ist es genau das, was ich hier tue. Eigentlich tue ich nichts anderes. Ich drehe nur das Rad der Zeit weiter. Ich arbeite und atme hier nur die Zeit weg. Ich lebe dabei noch nicht einmal. Das Leben findet für mich vor dem Auslagenfenster statt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2012
ISBN: 978-3-7309-0008-6
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