Cover

Das eigene Leben im Text einholen....

Schreiben für meine Person ist Atmen. Ich bin ohne Schreiben ein seelisches Wrack.
Ein atmender Körper lebt; eine Seele, die schreibt,
schlägt Wurzeln im Erdreich der Sinne.
Ich atme, also bin ich.
Ich bin, also schreibe ich.
Es war notwendig zu schreiben, wie es notwendig ist,
zu atmen.
Seit der Zeit der ersten schriftlichen Aufzeichnung
wuchs in mir mit unverzehrbarer Sehnsucht die Vorstellung, alle anstehenden und von mir auszuführenden
Handlungen beschreibend zu inszenieren. Für die Ausgestaltung dieser Lebensmomente kam nur ein Werkzeug
in Frage: die Sprache. Sie allein ist mächtig genug,
die Lebensrätsel mit Stumpf und Sti<e>l zu benennen.
Aus heutiger Sicht empfinde ich die erstmalige
Expedition in die Welt der Worte wie ein Vorwärtstasten ohne Kompaß. Damals, in den Anfangsgründen
des Schreibens, fühlte ich mich der zoologischen
Gattung des Homo ludens angehörig.
Aus Worten eine Welt erschaffend, sollte sie derjenigen Welt ähneln, die beständiger organisiert
war, als das, was sich tagtäglich an Unzulänglichkeiten abspielt.
Die Lust am Text reichte allerdings nur für die
Prosa in Kurzform; es ist kurzatmige Gelegenheitsprosa, sozusagen sind es "short short stories".
Aufgrund der an mir vollzogenen Religionser-
ziehung wußte ich von Pubertätszeit an:
Am Anfang war das Wort,
und das Wort geschah -
vorzugsweise und bedingungslos bei Gott.
Es geschah dort an einem Ort, wo ich las und schrieb.
Vor allem, wenn ich schrieb, konnte mein Vor-
stellungsvermögen die Welt jenseits der leiblichen
Grenzen in Augenschein nehmen.
Seit dem Erwerb der Schriftsprache, des Lesens und des Schreibens, wurde es mir zur unerschütterlichen
Gewißheit, irgendwann einmal, sollte der Zufall mir
in die Hände spielen, die wie an Fassaden gemahnende Lebenswelt in der unfaßbaren Komplexität ihrer wirksamen Erscheinungen und Verflechtungen einsichtig
zur Darstellung zu bringen, aber bis sich diese
Vision umsetzen ließe, würde, so vermutete ich,
noch vielmals die Sonne auf- und untergehen.
Bezüglich dessen, was mir aus gegenwärtiger
Perspektive bei der Darlegung des Wunsches,
schreibend die Welt zu erfassen, vorschwebt,
besteht in der Notwendigkeit, nicht in der unter
dem Fluch verlorener Liebesmüh´ stehenden Anstrengung nachzulassen, den großen Atem bei der Fabrikation eines Romans durchzuhalten.
Als nebensächlich zu betrachtende Fußnote sei angemerkt, daß ich mir meiner Schwierigkeiten bewußt bin, den Schreibimpuls in wohlgeformte Bahnen zu lenken, lasse mich aber anderweitig zu der wissenschaftlich begründeten Einstellung verleiten, daß
der kleinmütige Blick auf den "großen Atem" auf der Tatsache beruht daß, literaturwissenschaftlich betrachtet, die Theorien der Postmoderne seit ihrem
einsetzenden Einfluß zu bestätigen vorgeben: die Zeit der "großen Erzählungen" ist passé, zumal im
Zeitalter pluralistischer Denkströmungen und deren Wahrnehmungsweise der Welt die Darstellbarkeit von
Totalität heterogen strukturierter Lebenswelten
semantische Unschärfen aufweist und damit an Authentizität einbüßt, sobald es darum geht, dem vielschichtigen Ablauf von Handlungsereignissen bezüglich des fiktiv vom Autor eingesetzten Protagonistenensemble abgründig nachzuspüren.
Währenddessen dem Idealismus verpflichtete Koryphäen
unter den Germanistik treibenden Lehrstuhlinhabern den Eindruck erwecken, nur wenige unter den arrivierten Literaten seien auserwählt, den ausgeklügelten Bedingungen eines im Elfenbeinturm residierenden
Literaturkunstwerks Genüge tun zu können, möge mir
der Hinweis gestattet sein, daß es von der Norm abweichende Literaturströmungen im europäischen Sprachraum gibt, deren Techniken der Textproduktion ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken ist.
Hinsichtlich dieser philosophischen Grundlegung
alternativer Darstellungstechniken prägen sich Namen ein wie etwa: Derrida, Deleuze, Barthes, Foucault und nicht zu vergessen die Bewegung der Art Brut.
Dada- und Surrealismus und deren Derivaten widerstanden dem dominierenden Zeitgeist, haben nicht
unwesentlich Beiträge zur Fruchtbarmachung des
Literaturbegriffs geleistet.
Summa summarum glaube ich, mich auf meine Überzeugung verlassen zu können, daß mir der handwerkliche Feinschliff in unmittelbarer Zukunft gelingen wird,
um in der "textbezogenen Denkpraxis" Fortschritte zu erzielen.
Nun darf allerdings eine Problemstellung nicht vernachlässigt werden: warum grassiert die Scham beim Schreiben? Warum raten mir Schullehrer im Fach Deutsch ab, Texte aus Spaß an der Freud' zu verfassen? - Deutschlehrer jeglicher Couleur waren in
meiner Schulbildung federführend. Ihre Direktiven lauteten: lies zu deinem Nutzen, es dient zu deiner Allgemeinbildung! Bitte laß bleiben, was Geistesgrößen von Geburt an leichter fällt. Zum Dichter wird man geboren! In diese Bresche schlug auch mein
Vater. Überraschte er mich beim Schreiben während meiner freien Zeit, so wußte er augenblicklich,
welcher Richtschnur ich zu folgen hätte. Ratschlagend empfahl er mir: gib dich keiner brotlosen Zunft hin!
Schreiben ist eine Angelegenheit für besserwisserische Tunichtgute, für singende Waschweiber und
nomadisierende Zigeuner! Lies Tageszeitung, da stehen knallharte Fakten drin, die können deinen Realitätssinn schärfen!
Moralische Schelten dieser oder jener Provenienz
haben nichts bewirken können, wovon ich überzeugt zu sein glaubte. Schreiben ist ein Ventil, um freier atmen zu können. Niemand unter den Menschen hat das
Recht, mir das Schreiben auszureden.
Ich halte am Schreiben fest wie an einem Kompaß oder
einer angeschlossenen Lungenmaschine. Jegliche Schlacke symbolischer
Natur, die in Lettern abgeworfen wird, dient mir erfahrungsgemäß als therapeutisches Placebo.
Wohlgemerkt: ich will meinem Denken nicht nur Flügel anlegen, um in fantastische Gefilde zu gelangen,
sondern ebenso die Zügel nicht über das von mir eingeforderte Maß an Zielstrebigkeit hinausschießen zu lassen.

Für mich gilt letztendlich: verfahre nicht im Duktus eines Zauberlehrlings, dem die Kräfte der Imagination aus dem Ruder laufen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /