Cover

Abschied

Es war ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne zeigte sich noch einmal von ihrer besten Seite und strahlte über das Land. Christina genoss diesen Tag wie immer, wenn sie sich Zeit für sich selbst nahm. Doch dieses Mal war es anders. Wehmut stieg in ihr auf und sie kämpfte mit den Tränen. Die wunderschönen Farben eines Schmetterlings, der sich gerade auf ein Kleeblatt niederließ, verschwammen vor ihren Augen. Sie fühlte sich so leer und ausgebrannt. Erinnerungen vermischten sich mit den Schmetterlingsfarben. Schöne, weniger schöne, hässliche und traurige, die ein Wechselbad der Gefühle in ihr hervorriefen. Sie hatte ihren Lieblingsplatz erreicht und setzte sich, wie so oft, wenn sie nachdenken wollte, auf den ihr so vertrauten Baumstumpf am Waldrand. Wie oft sie schon auf ihm gesessen, sie konnte es nicht sagen. Aus dem Wald klang helles Vogelgezwitscher und es roch schon nach Pilzen und Tannennadeln. Käfer liefen vor ihren Füßen und Ameisen zogen wie auf einer langen Autobahn emsig ihren Weg. Eine jede hatte wohl ihre Aufgabe in diesem Gefüge, ging es Christina durch den Kopf. Schön, wenn alles so in Einigkeit und Harmonie verlief. Von ihrem Leben konnte sie das leider nicht sagen. Wieder und wieder schluckte sie und kämpfte mit den Tränen. Nicht, dass sie nicht mit der Scheidung klarkommen würde schnürte ihr den Hals zu und ließ das Herz fasst still stehen, sondern dass sie nie wieder hier herkommen wird. Hier war sie geboren und aufgewachsen, eben ein Dorfkind. Verwachsen mit der Natur, den Tieren und den Menschen. Wie würde es nur ihr kleiner Sohn Wolfgang verkraften? Immer wieder stellte sie sich diese Frage. Dass sie Haus und Hof und die Tiere zurückließen, war sehr schwer.
Plötzlich lächelte sie vor sich hin, ja lachte leise in sich hinein. Da war die Geburtstagsfete im Nachbargarten. Sie waren ja alle eine richtig eingeschworene Gemeinschaft und wenn gefeiert wurde, dann alle zusammen. Die Geburtstagsdaten kannte man ja aus dem ff und wer wirklich mal einen vergaß, der merkte sehr schnell an den emsigen Vorbereitungen der anderen…. aha, da war doch noch was? Da war es nicht schlimm, wenn man mal, nur weil gerade Sonntag war, kein Geschenk hatte. Das wurde einfach nachgereicht. Nur das Beisammensein zählte. Mein Gott, hatten sie einen Spaß. Kalle war wie immer der Grillobermeister und schüttelte dieses Mal wohl die Bierflasche etwas zu heftig. Alle bogen sich vor lachen, als ihm der Schaum vom Kopf nach unten lief. Einer meinte sogar, so könne er sich doch gleich selbst auf den Grill legen, was bei den Frauen heftigen Protest hervor rief. Der Herr des Hauses schlief dann im schönsten Trubel auf der Hollywoodschaukel zum Ärger seiner Frau ein. Er hatte wohl zu oft auf ihren Geburtstag geprostet. Aber keiner nahm das wirklich tragisch. Die anderen Männer trugen ihn ins Bett und keiner nahm daran Anstoß. Warum auch. Meist traf man sich sogar noch einmal am nächsten Tag. Die Männer schon zum Frühschoppen und am Nachmittag wurden dann die Kuchenreste von allen vertilgt. Das Ende vom Lied war, dass es noch einmal in einen ausgelassenen Abend endete. Ja, sie konnten alle miteinander feiern. Aber sie waren auch wirkliche Nachbarn und Freunde. Einer stand dem Anderen zur Seite, wenn mal Hilfe nötig war. Sie konnten sich aufeinander verlassen. Selbst in den schwierigsten Situationen fand man gemeinsame Lösungen. Das alles sollte Christina aufgeben. Aber sie hatte nun einmal den Entschluss gefasst, nach der Scheidung in die Stadt zu ziehen.
Nanu, was war das? Gut einen Schritt weit von ihr entfernt begann sich die Erde zu bewegen. Als wenn da von unten wer raus wollte? Christina schmunzelte. Da war sicherlich ein Maulwurf am Werk? Ja, und er buddelte sich ziemlich flink nach draußen. Sie saß ganz still, um ihn nicht zu stören oder gar zu erschrecken. Dabei nahm sie den herrlichen Gesang einer Amsel wahr. Sie schaute nach oben in die Baumkronen und sah sie den Vogel sitzen. Nun, wenn die Amseln so trällern, dann kommt Regen, wusste sie von den Bauern und es hat auch immer zugetroffen. Sie seufzte tief und wieder kam die Wehmut in ihr hoch. Regen und Abschied, das passte irgendwie ja dann auch wieder zusammen. Noch einmal ließ sie ihre Augen über die Landschaft streifen, fühlte wieder diese verdammten Tränen und erhob sich von „ihrem“ Baumstumpf, der ihr so viele Jahre ein treuer Gefährte geworden war. Sie wusste, sie würde das alles hier niemals vergessen, aber sie mußte einfach lernen loszulassen. Sonst kann sie in der Stadt nicht Fußfassen, wie man so sagt. Würde sie eh niemals können! Dachte sie, warf den Kopf widerspenstig in den Nacken, drehte sich noch einmal zu ihrem Lieblingsplatz um, damit sich dieses Bild für immer in ihr Gedächtnis einprägt und ging. Man hatte sie nicht vermisst und so integrierte sie sich wieder nahtlos in den Tagesablauf.

Suche

Christina fuhr in die Stadt. Schließlich würde ihr ja keiner ein Wohnungsangebot nach Hause bringen. Es gab mehrere Anbieter und sie suchte erst einmal den größten und bekanntesten aus. Hier kannte sie eine ehemalige Schulkameradin, an die sie sich vertrauensvoll wandte. Schließlich war sie ja nun wirklich unerfahren, was so genannte Neubauwohnungen anging, hatte sie doch immer in einem Haus gewohnt. Sie bekam eine kleine Schachtel mit mehreren gekennzeichneten Schlüsseln und einen Zettel mit den dazugehörigen Adressen nebst einem Stadtplan in die Hand gedrückt. Das konnte ja heiter werden. Soviel Zeit hatte sie gar nicht einkalkuliert. Wichtig für sie war doch erst einmal nur, dass in Wohnungsnähe eine Schule sein sollte. Im Dorf legte Wolfgang den Weg zur Schule mit dem Fahrrad zurück, aber hier in der Stadt hatte Christina schon bedenken. Hier war doch der Straßenverkehr ein ganz anderer. Sie zögerte also nicht, ließ sich von ihrer ehemaligen Schulkameradin nur die Wohnungen benennen, die eine Schule in der Nähe hatten und suchte diese auf. Die allererste Wohnung lag gleich gegenüber der Schule, die Wolfgang auch besuchen mußte. Christina zögerte nicht lange, ging zum Wohnungsanbieter zurück und unterschrieb den Mietvertrag. Nur gut, dass keiner in sie hineinsehen konnte. Wie in Trance führte sie den Kugelschreiber über ein bedrucktes Blatt Papier, dass man ihr dann aushändigte. Dazu bekam sie die Wohnungsschlüssel, den Kellerschlüssel und die Hausordnung, sowie den Namen des Hausmeisters und dessen Diensttelefonnummer. Wie von Ferne hörte sie noch die Erklärungen für all das und verabschiedete sich mit einem artigen Dankeschön. Dann stand sie Draußen. Sie rang nach Luft. Öffnete ihre Jacke und atmete ganz tief ein. Aber nein, das ließ sie dann doch, denn die Luft war … sie konnte es nicht erklären, aber es war nicht die Luft, die sie gewohnt war einzuatmen, eher irgendwie stickig und bereitete Enge im Brustkorb. Langsam begann sie sich in Bewegung zu setzen. Sie hatte noch gut eine Stunde, bis ihr Bus wieder fuhr. Kurz entschlossen ging sie in Richtung Stadtmitte. Sicher war sie schon öfters hier einkaufen. Alles gab es ja auf dem Dorf auch nicht. Jedoch war die Stadt für sie immer nur Einkaufsziel geblieben. Mit keiner Silbe dachte sie jemals daran, hier wohnen zu wollen, mang all diesem Beton. Und jetzt? Alles erschien ihr so unwirklich, wie ein böser Traum. Sie schlenderte an den Schaufenstern entlang und betrachtete in den Scheiben manchmal die Menschen, die emsig an ihr vorbei hasteten, als säße ihnen irgend etwas im Genick. Sie schüttelte den Kopf, weil sie das nicht verstand. `Können die hier nicht anders? Ist das hier in der Stadt normal, dieses Hasten? ´, dachte sie und schwor sich, mal nie so durch die Straßen zu rennen. Andererseits merkte sie auch mit Entsetzen, das es ja hier gar nichts gab, was zum Verweilen, Stehen bleiben oder Innehalten einlud. Grausam, dachte sie und fragte sich allen ernstes, ob sie wirklich hier her wollte! NEIN, sie wollte nicht, sie mußte. Sie hatte sich keine andere Wahl gelassen. Da auch ihr Mann das Auto behielt, konnte sie hier in der Stadt wenigstens alles mit dem Fahrrad ohne größere Probleme erreichen. OH, sie hatte den ersten Vorteil herausgefunden. Na, das ist doch schon mal ein Anfang. Ein etwas klägliches Lächeln machte sich für einen kurzen Moment auf ihrem Gesicht breit. Vielleicht würde sie ja noch so ein paar Nebensächlichkeiten finden, die ihr Mut machten? Sarkastisch lachte sie in sich hinein. Plötzlich stand sie auf einem freien Platz vor einer alten Poststele. Die stand sicherlich noch nicht so lange hier. Zum ersten Mal nahm sie die wunderschön restaurierten Altbauten rund um diesen Platz wahr. Aber oh je, was war das? Das passte doch überhaupt nicht zusammen! Entsetzt schüttelte sie den Kopf. Nur drei Seiten waren Altbauten und die vierte Seite protzte mit einem modernen Rathaus und einem ebensolchen Bankenpalast. Das tat ja richtig weh! Christina stand fassungslos und schüttelte den Kopf. So hatte sie das alles überhaupt nie gesehen. Aber wann kam sie denn schon mal hier her? Sie brauchte keinen Markttag, denn alles was sie an Gemüse und Obst verwendete, wuchs in ihrem eigenen Garten und gegessen wurde schließlich immer á la Saison. Damit hatte man auch immer die Gesundheit auf seiner Seite, wusste Christina nur zu gut. Rund um den Platz hatten die Cafés und Restaurants noch Tische und Stühle draußen und die Menschen, wenn sie mal nicht gerade durch die Straßen hasteten, genossen bei einem Eis oder einem Kaffee die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen. Na schön, dachte sie, zwar kein Ersatz für die Gartenbank, aber vielleicht kann man ja hier auch mit Menschen Kontakte knüpfen. Sie kaufte sich ein Eis und begann sich vorzustellen, hier einmal an einem Tisch einen Eisbecher zu essen, mit fröhlichen Menschen zusammen zu treffen, zu lachen und Freude zu haben. Noch ein kleiner Lichtblick? Oder war das nur Schönreden? Sie ließ es einfach so in ihrem Kopf stehen. Schon als Kind konnte sie an keinem Eisverkäufer vorbeigehen und so genoss sie ihr Eis auf dem Weg zur Bushaltestelle, als gäbe es momentan nichts Schöneres auf der Welt, als Eis zu essen. Dann kam der Bus, sie stieg ein und setzte sich ans Fenster. Noch einmal nahm sie die vielen Neubauten wahr und ihr wurde bewusst, dass auch sie bald eine von den darin lebenden Menschen sein würde. Schrecklich. Wieder beschlich sie das Gefühl von Atemnot und wieder fragte sie sich, wie man zwischen soviel Beton glücklich sein könne. Gab es hier überhaupt Vögel? Sie hatte keine bemerkt. Wo sollten die denn aber auch herkommen, oder ihr Nest bauen? Ihre Gedanken gingen zurück zu ihrem Baumstumpf. Ja, dort gehörten die Tiere hin und fühlten sich mit Sicherheit auch wohl.

Umzug

Einen Tisch mit vier Stühlen, zwei Liegen, einen Fernsehapparat, einen Kühlschrank und ihren antiken Küchenschrank, mehr nahm Christina nicht mit. Das alles passte neben ein paar Kleiderkisten und Wolfgangs Schul- und Spielsachen auf einen Autohänger. Sie würde die Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft der Nachbarn sehr vermissen. Intuitiv war sie sich darüber im Klaren, dass so was in den Betonhäusern bestimmt nicht möglich war. Sie schaute in den mitleidvollen Blick des Nachbarn, als er die Hängerklappe schloss, sah ihrem Sohn zu, als er auf den Rücksitz des Autos glitt und schluckte. Dann biß sie die Zähne zusammen, ein kurzes Kopfschütteln und mit einem aschfahlen, starren Gesichtsausdruck stieg Christina auf den Beifahrersitz. Nein, sie wollte nicht noch einmal mit jemandem reden, oder von jemandem Abschied nehmen. Nein, sie wollte auch den Hund nicht noch einmal streicheln oder dem Kater noch einmal Milch geben. Sie mußte jetzt weg, einfach nur weg. Sonst hätte sie geschrieen, alles aus sich herausgeschrieen, was da so weh tat in ihr. Wolfgang saß auf dem Rücksitz und hatte wohl noch gar nicht begriffen, was hier vor sich ging. Immer wieder schaute er verstört auf seine Mutter, auf den Nachbarn und aus der Rückscheibe des Autos auf den Vater am Gartenzaun, der immer kleiner wurde, je schneller das Auto fuhr. Was mochte in seinem Köpfchen vorgehen? Er, der mit den Dorfjungen durch die Felder und Wälder tobte. Er, der auch die Freiheit in der Natur so liebte und gern die Tiere beobachtete? Nein, nein, nein! Weg mit all diesen Fragen jetzt! Sie zwang sich zu einem ganz nüchternen Denken. Sie mußte sich nun der Realität stellen, für die sie sich entschieden hat. Vor Veränderungen hatte sie noch nie in ihrem Leben Angst gehabt. Aber, wenn es Veränderungen gab, dann fanden die doch in ihrem gewohnten Umfeld statt. Das war sie nun gerade dabei zu verlassen. Wieder warf sie abrupt ihren Kopf in den Nacken und befahl sich, nicht schwach und sentimental zu sein, sondern nach vorn zu schauen. Das Auto stoppte und schnell waren die wenigen Habseligkeiten in die Wohnung getragen. Der Nachbar schloß für Wolfgang noch den Fernsehapparat an und stand dann in der Wohnungstür, um sich zu verabschieden. Mit letzter Kraft hielt Christina die Tränen zurück, meinte, sie sei ja nicht aus aller Welt und er könne den anderen gern den Weg zu ihr zeigen, um sie zu besuchen. Sie wusste, dass war nur Wunschdenken – es würde keiner kommen. Sie war nun keine mehr „von ihnen“. Einerseits um sich abzulenken und andererseits um den neugierigen Blicken der Nachbarn zu entgehen, brachte Christina erst einmal ihre Gardinenstangen und gleich danach die Gardinen an. Klemmte im Laufe des Tages ihre Lampen an, damit der Abend nicht im Kerzenlicht oder beim Schein des Fernsehbildes enden mußte. Die beiden Liegen hatte sie wie Ehebetten aufgestellt und sie war sich nicht so ganz im Klaren darüber, ob sie das nun für sich oder für Wolfgang so hergerichtet hatte. Aber ihr Gefühl sagte ihr, es ist genau das, was sie beide jetzt brauchten, nämlich ihre Nähe. So bezog sie die Betten, räumte etwas auf und fragte Wolfgang, ob er denn mit ihr in die Stadt gehen und etwas zum Essen einkaufen wolle. Er war neugierig und sofort dazu bereit. Viel konnten sie sich nicht leisten, aber eine große Pizza war schon drin, so zusätzlich zu dem Alltäglichen. Schließlich wollte Christina ihm den Anfang in ihrem neuen Leben etwas schmackhaft machen, denn sie merkte wohl, dass er sich vor dem Fernseher ziemlich verlassen vorkam.
Normalerweise ist das die Zeit, wo er nach den Schulaufgaben immer draußen mit seinen Spielkameraden zusammentraf. Aber jetzt waren ja Ferien, Herbstferien. Auf dem Dorf immer noch die Zeit vom Kartoffeln lesen, Eicheln sammeln und dem winterfest machen in Haus und Hof. Hier in der Stadt merkte man von all dem überhaupt nichts. Hier herrschte irgendwie Einöde. Es wurde hell, es wurde dunkel, man begann und beendete das Tagwerk im Einerlei. Christina mußte mit Gewalt die Gedanken aus ihrem Kopf verjagen und so zogen sie sich an und gingen zu ihrem ersten Einkauf. Für Wolfgang war das etwas ganz Neues. Bewußt nahm er die Läden in Augenschein, die ihm persönlich wichtig erschienen. Dazu zählten natürlich solche wie gewisse Fastfoodketten und Spielzeugläden. Er fand es aufregend und interessant zugleich und meldete schon mal für den nächsten Tag so seine Ansprüche des Haben wollens verschiedener Dinge an. Es bedurfte schon einiger handfester Argumente, dass das so gar nicht möglich ist, weil man das Geld, was zur Verfügung steht, erst einmal zur Einrichtung der Wohnung und zur Ausstattung seiner neuen Schulsachen braucht. Seine tränenvollen Augen ließen in Christina wieder Wut aufkommen. Wie viel blieb doch den Kindern auf dem Land von all dem hier erspart? Von all dieser Scheinwelt, in die sich die Stadtkinder integrieren? Oder integrieren müssen, weil sie ja keine Alternativen haben? Ihr drehte es das Herz im Leibe um und sie fühlte sich verdammt mies. Einfach, weil sie sich dafür die Schuld gab, dass auch ihr Sohn zu dem mutieren würde, was sie bereits jetzt schon an Stadtkindern nur im Kleinen gesehen hatte. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen.

Neuanfang

Die Herbstferien waren vorbei. Wolfgang hatte noch keine neuen Freunde gefunden. Dafür hatte Christina bereits weniger erfreuliche Bekanntschaft mit dem neuen Umfeld machen müssen. Sie hatte Wolfgang einen Roller gekauft, was ja mit 8 Jahren auf dem Dorf noch zum Lieblingsspielzeug gehörte. Hier wurde er dafür ausgelacht von den Stadtkindern und als er das Gefährt mal kurz in den Hausflur stellte, damit man ihn ihm vor der Haustür nicht wegnehmen konnte, wurde ein älterer Mitbewohner des Hauses ungehalten darüber und zeterte erst den Jungen und dann Christina an, dass so was nicht anginge, man das hier im Hause niemals dulde! Schließlich habe man einen Keller für so was. Dass Wolfgang ja nur zum Mittagessen rein gekommen sei und nach dem Essen auch gleich wieder mit dem Roller raus ginge, ließ der ältere Herr nicht gelten und drohte mit Beschwerde beim Vermieter mit der Bemerkung, dass das ein sauberer Hauseingang sei. Wolfgangs Blicke zu dem Herrn sprachen Bände und Christina hatte alle Mühe, dass er nicht etwas aus sich herausplatzte, was das Geschehen nur noch verschlimmerte. So guckte sie den Jungen nur streng an, der dann den Tränen nahe war. Wolfgang an der einen Hand, den Roller in die andere nehmend, ließ sie den Herrn in seinem sauberen Hauseingang stehen. Sie ging mit Wolfgang auf den nahe gelegenen Spielplatz gleich um die Ecke, setzte sich dort auf die Bank und versuchte ihm das Verhalten des Herrn aus dem zweiten Stock zu erklären – vergebens.“ So was wäre zuhause nie passiert, Mutti“, sagte er unter schluchzen und schaute flehend in ihre Augen. Wie ein Blitz durchzuckte es sie. Da war es, dieses Wort, das sie so fürchtete: zuhause! So war auch er noch nicht hier in der neuen Wirklichkeit angekommen und sein kleines Herz schlug noch in die Vergangenheit. Es tat so weh! Aber sie nahm all ihren Mut und ihre Kraft zusammen und versuchte ihm zu erklären, dass es sich hier ja um einen älteren Mann handelt, der eben nun mal keine kleinen Kinder mehr hat und vielleicht auch nicht Opa ist, so wie der Kalle vom Dorf. Deshalb könne er damit vielleicht nicht umgehen und das müsse man ihm doch nachsehen. „Da hast du Recht Mutti. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich werde ihm das einfach verzeihen. Vielleicht mag er mich ja dann.“ Was hatte sie da doch plötzlich für einen reifen kleinen Mann vor sich? Sie war fassungslos. Der alte Herr im Haus hätte das hören sollen, der wäre sicherlich genau so gerührt gewesen wie sie. Was hat sich nur ihn ihrem Achtjährigen jetzt abgespielt? Sie wusste es nicht, konnte es nur erahnen. Er würde sich viel schneller als sie hier lernen anzupassen. Er würde diese schöne Welt vergessen mit all ihren Vögeln, Wiesen, Feldern und Wäldern. Nicht einmal mehr erinnern wird er sich an seine Freunde, an die Ferienspiele, die Schnitzeljagdten und Räuber- und Schandarm-Spiele. Doch sie wollte alles tun, damit das nicht so schnell passierte.Sie begann auch darüber nachzudenken, ihm das Hiersein etwas zu erleichtern. So sah sie viele Kinder auf den Bürgersteigen und vor den Häusern mit Straßenkreide malen. Eigentlich haben sie das immer im Garten am Tisch gemacht, mit Papier und Buntstiften. Jedoch wollte sie ihren Jungen nicht schon wieder ausgrenzen und kaufte auch einen Eimer mit bunter Straßenkreide. Das nahm Wolfgang sehr gern an. Draußen auf dem Gehweg unter dem Küchenfenster begann er zu malen und Christina mußte immer wieder ihre Arbeit unterbrechen und aus dem Fenster schauen, was er denn kreiert habe. Sie lobte ihn und freute sich, dass er etwas Ablenkung gefunden hatte. Plötzlich hörte sie Gezeter und ging ans Küchenfenster. Da war eine alte Dame gerade dabei, ihrem Jungen das Malen auf den Steinen zu verbieten. Sie seien hier als Mieter alle bestrebt, dass es rundherum schön sauber sei und bleibe und so dahergelaufene Dorfkinder sich nicht alles herausnehmen könnten. Da platzte Christina der Kragen. Sie lief aus dem Haus und verlor zum ersten Mal ihre Fassung. In zwar höflicher aber sehr direkter Wortwahl wies sie die Frau in die Schranken. Damit hatte diese wohl nicht gerechnet und lief keifend davon. Christina sah sie nur noch im nächsten Eingang verschwinden. Da vier Neubaublöcke im Karré um den Wäscheplatz standen, gingen natürlich viele Fenster auf und man verfolgte den Disput mit der Neuen. Scheinbar konnte keiner die alte Dame so richtig leiden, denn von dem Tage an hatten Christina und auch Wolfgang selbst bei dem alten Herrn im Haus gewonnen. Erst viel später erfuhr Christina, dass diese besagte Dame eine ehemalige Lehrerin der so genannten „alten Schule“ ist. Jedenfalls schwor sie sich, diese Frau nie wieder zu grüßen. Wer Kinder nicht mag, den mag auch keiner. So beschloß sie das für sich. Damit hatten wohl beide ihre Feuertaufe im Neubau bestanden. Jedenfalls hatten sie das Gefühl, dass man ihnen von nun an wohl gesonnen sei. In jeder freien Minute ging Christina mit auf den Spielplatz. Eines Nachmittags war eine Gruppe Jugendlicher auf dem Kletterturm. Sie hielten Bierbüchsen und Zigaretten in den Händen und eine Schnapsflasche ging reihum. Wolfgang lief zu den Schaukeln und Christina setzte sich auf eine Bank. Sie hatte ihr Strickzeug mitgebracht und wollte für den Jungen einen dicken Winterpullover stricken. Plötzlich flog eine Bierdose vor ihre Füße und einer der Jugendlichen rief: „He Oma, willste nich auch buddeln? Am besten du buddelst dich gleich ein, wa.“ Er schnippte seine brennende Zigarettenkippe in Richtung Schaukel und neben ihm quietschte ein junges Ding vor Freude über diese Rede und meinte: „ Ich schick dir meine Alte dazu, dann mußte nich alleene buddeln“. Alles brach in schallendes Gelächter aus. Christina schätzte das Durchschnittsalter so auf zwölf Jahre und fragte sich allen Ernstes, was denn da für Elternhäuser dahinter stecken würden. „Komm, wir gehen. Die sind doof, ich mag hier nicht mehr spielen“, unterbrach sie Wolfgang in ihren Gedanken. Sie war gerade dabei festzustellen, dass es wieder einen Ort weniger gäbe, an dem sich ihr Sohn heimisch fühlen könnte. Sie war ratlos und auch machtlos. Bald würde die Schule beginnen und Christina zog es den Hals eng, wenn sie daran dachte. Bei dem Wenigen, was sie bisher schon in zwei Wochen an Negativem erlebten, wie würde es erst in der Schule werden. Wie würden die neuen Klassenkameradinnen und Kameraden Wolfgang annehmen. Christina wollte ihm seine offene und ehrliche Umgangsform mit anderen Menschen nicht ausreden. Sie hielt das für wichtig. Aber es kam, wie es kommen mußte. Selbst die Klassenlehrerin hatte keine Ahnung, wie sie die Hänseleien unterbinden könne. In den Pausen machten sich die stärkeren an Wolfgang heran, schubsten und zeckten ihn, warfen ihn hin und traten nach ihm. Er schützte seinen Kopf nur mit den Armen und wehrte sich nicht. Er hat das nicht gelernt, vor allem ja nie gebraucht. In seiner Dorfklique war das auch nicht nötig. So voller Freude, wie er immer gern in die Schule gegangen ist, es ließ nach und wurde für ihn nur noch eine Tortur. Selbst in der Freizeit, wenn er im kleinen See baden ging, war er vor Hänseleien nicht sicher und so machte ihn das mit der Zeit hart. Sein Herz begann immer weniger die schönen Dinge des Lebens zu sehen und er entfernte sich immer weiter von Christina. Ihre Gespräche schliefen mehr und mehr ein. Sie hatte sehr schnell die Ursache dafür mitbekommen: entweder war er einer von denen da draußen oder eine Mama -Memme und mußte verprügelt werden, passte nicht ins Klisché. Ohnmacht überkam Christina. Sie war machtlos dem Gesetz von Fressen oder Gefressenwerden ausgesetzt. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weiter gehen sollte, geschweige denn noch, wie es enden würde.

Hoffnung

Der Winter ging ins Land, aber es war gar kein richtiger Winter. Schnee, viel Schnee, so wie Christina es aus ihrer Schulzeit kannte, gab es schon lange nicht mehr. Klimawandel hieß das neue Zauberwort, das dafür verantwortlich sein sollte. Alles Quatsch, dachte sie. Da wird wieder etwas an den Haaren herbei gezogen, damit man die wirklichen Ursachen verschleiern kann. Oh diese Kleingläubigen. Sie schüttelte den Kopf. Das Frühjahr kam und mit ihm kam auch für Christina auf einmal die Traurigkeit. Bei der Wohnungssuche hatte sie nicht darauf geachtet, dass ein Balkon dazu gehört. Nun war sie, die jede Menge Natur gewöhnt war, auch noch im Sommer in diesem Betonbau eingesperrt. Es blieb also keine andere Wahl, als ständig die Wohnung zu verlassen um irgendwo hin zu gehen, damit sie Wiesen, Blumen, Schmetterlinge und all die Dinge genießen konnten. Als die Ferien nahten, hatte Christina gemischte Gefühle. In der Schule war Wolfgang immer noch gut aufgehoben, da ja stets Erwachsene um ihn herum waren. Was würde aber in den Ferien sein, wenn er baden gehen wollte im nahen See? Oder überhaupt draußen herum stromerte? Schließlich konnte sie ihn ja nicht einsperren. Er hatte sich auch nach einem Schuljahr noch nicht in der Stadt eingelebt und wenn sie es recht betrachtete, sie auch nicht. Es war eine andere Welt. Die Menschen liefen an einander vorbei. Kaum einer kannte den Nachbarn. Aber jeder hing seinen Kopf aus dem Fenster, wenn irgendwo etwas interessant erschien. Am Schlimmsten war es für Christina immer, wenn sie von allen Seiten begutachtet werden konnte beim Wäscheaufhängen. Am liebsten hätte sie die Wäsche nur in der Wohnung getrocknet. Doch da war sie wieder, die schon bekannte Bewegung mit dem Kopf nach hinten und sie schalt sich töricht, sich so von ihrer Umwelt abhängig zu machen. Was war los? Wo blieb ihr Selbstbewusstsein? Das mußte sie unbedingt ändern! Der Sommer war gottseidank sehr schön und so konnten beide fasst jeden Tag an den nahe gelegenen See zum Baden radeln. Wolfgang bekam gar nicht genug vom Wasser. Das war etwas, was sie in ihrem Dorf nicht hatten. Na, und baden war doch allemal etwas für Kinder. Aber auch Christina war eine Wasserratte und so hatten beide viel Spaß den ganzen Sommer über. Schnell war so die Ferienzeit vorbei und die Schule begann. Alle hatten wohl die Hoffnung, dass es ein besseres und erfolgreicheres Schuljahr für Wolfgang werden würde. Aber Kinder sind nun mal grausam. Vor allem wenn Dorfkinder und Stadtkinder aufeinander treffen. Das bekam sogar Christina bei den Elternversammlungen von Seiten der Eltern zu spüren. Man kam sich wie eine Aussätzige vor, dachte sie nach der ersten Versammlung. Wie man sie anschaute, beobachtete. Sie hätte so viele Fragen gehabt. Stellte sie aber erst im Anschluß in einem persönlichen Gespräch mit der Klassenleiterin. Hier verstand sie auch zum ersten Mal, warum ihr Junge es so schwer unter seinen Klassenkameraden hatte. Sie mußte ihm einfach Mut machen. Schließlich stirbt die Hoffnung ja zuletzt. Ihre Gedanken gingen zurück, zurück in eine andere Zeit.

Vergangenheit

Lange war es her, dass Christina zur Schule ging. Lange war es her, dass auch ihre beiden ältesten Söhne die Schulbank drückten. Und es waren andere Zeiten, ein anderes Bildungssystem. Ja ein anderes Staatssystem. Es gab für alle Kinderkrippen und Kindergärten. Denn auch die Mütter gingen der Arbeit nach, teilweise sogar im 3-Schicht-System. Heute will man den jungen Müttern einreden, ihre Kinder würden darunter leiden, wenn sie so beaufsichtigt werden würden. Christina zog die Stirn kraus. So ein Quatsch! Die Kinder sind in der Gemeinschaft, unter ihresgleichen gewesen. Haben so gelernt sich in ein großes Ganzes einzufügen. Wußten was Kameradschaft und Hilfsbereitschaft und Zusammenhalten bedeutet. Hatten aber auch jede Menge Spaß am Tollen und Toben und vor allem am Blödsinn machen. Es gab keine Gameboy´s oder Computer oder Wookman´s. Man baute sich Knüppel und zog durch Wiesen und Felder. Baute sich Bunker und Baumhäuser. Wenn sie abends dann heim kamen, oh je. Christina lacht leise in sich hinein. Da mußte so manches mal die Scheuerbürste ans Werk.
Jeder freute sich auf seine Schultüte, wenn die Zeit gekommen war. Streng ging es zu. Plötzlich hieß es stillsitzen und zuhören, schreiben lernen, nur sprechen wenn man gefragt wird und essen und austreten in den Pausen. Ein ganz anderer Tagesrhythmus war das. Aber da gab es auch Arbeitsgemeinschaften und jeder konnte sich aussuchen, ob und in welcher er gern mitmachen möchte und das tolle daran: sie kosteten nichts. So ging man nach der Schule nach Hause, machte seine Hausaufgaben und anschließend besuchte man seine AG. Viele Schüler blieben aber auch gleich nach der regulären Schule im eigens dafür geschaffenen Schulhort. Dort gab es für jeden ein warmes Mittagessen und Pädagogen betreuten bei den Hausaufgaben bis hin zur AG. So waren die Kinder wieder in ihrer Gemeinschaft, lernten mit Technik, Chemie, Keramik und vielen handwerklichen Dingen umzugehen. Lernten sich zu helfen, zu unterstützen, die Schwächeren mitzunehmen. Schön waren die Abende nach der Kartoffelernte auf den Feldern, wenn die Bauern das Kartoffelkraut verbrannten und die Kinder nach dem gemeinschaftlichen Kartoffellesen an diesen Feuern Kartoffelstücke an einfachen Stöcken ins Feuer hielten, bis sie schon fasst schwarz waren. Aber sie schmeckten und man hatte jede Menge Spaß miteinander. Christina schmunzelte, denn ihr fiel ein, dass Hannes und Ingeborg mal so sehr miteinander rangelten, wer wohl die erste Kartoffel gar hätte, dass sie beide fasst ins Feuer fielen. Ach ja, und der Lothar hatte sich so ein kurzes Stöckchen für seine Kartoffel gefertigt, dass er ganz fix eine große Brandblase am Zeigefinger hatte. Oh je, das war ein Geplärre. Der hatte sich aber auch immer affig. Nur beim Lieder singen, da war er der Erste. Er trällerte ja auch in der Schule die ganze Zeit wie eine Heidelärche. Kein Wunder also, daß er in der AG Chor sein Domizil gefunden hatte. Christina erinnerte sich auch daran, dass selbst in den Ferien ja Ferienspiele stattfanden. Die Eltern mussten sie nur anmelden und einen Unkostenbeitrag von Drei Mark für drei Wochen bezahlen. Die große Turnhalle war mit Bänken und Tischen ausgestattet worden, an denen man sich schon früh um acht Uhr zum gemeinsamen Frühstück traf. Um neun ging es dann in die einzelnen Gruppen, die sich jeder auswählen konnte. Einige gingen zum Fußballspielen, andere ins Schwimmbad. Wieder andere wanderten oder bastelten. Für jeden gab es etwas. Beim Mittagessen, welches von den im Ort befindlichen Betrieben kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, waren schon bei einigen erste Ermüdungserscheinungen zu bemerken. Eine Stunde Ruhe auf ausgebreiteten Sportmatten in der Turnhallenecke brachte schnell die verbrauchten Energien zurück und bei einem anschließenden Marmeladenbrot und einer Tasse Malzkaffee war jeder wieder hellwach. Viel zu schnell war manchmal der Tag vorbei. Mit Wehmut dachte Christina an diese Zeit. Ihre Ältesten konnten davon ja auch noch berichten. Nur Wolfgang nicht mehr, was sie sehr schade fand. All das war jetzt nicht mehr möglich und sie fand keine Antwort für das Warum. Aber eins wusste sie: die Kinder waren froh und glücklich, hilfsbereit und freundlich, kameradschaftlich und gesünder als heute.

Jahre später

Die Schulzeit ging dahin und Wolfgang hatte mit der fünften Klasse begonnen ein richtiges Stadtkind zu werden. Christina drehte es den Magen um. Er hatte keinen Blick mehr für die Natur und selbst das füttern der Vögel im Vogelhäuschen im Winter war im suspekt. Immer wieder versuchte Christina ihn an seine guten Manieren zu erinnern und ihn auf den rechten Weg zu bringen-vergebens. Sogar eine Lehrstelle hatte sie für ihn gefunden.Doch für sie war er „Einer von denen da draußen“ geworden. Sie kam nicht mehr an ihn heran. Um aber draußen anerkannt zu werden, hat er eine eigene Welt für sich geschaffen. Er fing immer mehr an, sich in schwarz zu kleiden. Christina wusste, dass schwarz eine Schutzfarbe ist und hat sich nichts weiter dabei gedacht. Bis er sich von seinem Weihnachtsgeld einen langen schwarzen Rock und ebensolchen Mantel kaufte. Sie war entsetzt und wollte mit ihm reden. Wo war er an den Nachmittagen und den langen Abenden? Mit wem war er zusammen und was machte er? Angst beschlich sie. Es gab Gruppierungen in dieser Stadt, von denen man nicht gut sprach. In welcher war ihr Wolfgang gelandet? Sie bat ihn um ein Gespräch und er willigte ein. Besondere Mühe gab sie sich beim Herrichten des kleinen Kaffeetisches im Wohnzimmer. Stellte ein paar hübsche Blümchen und eine Kerze auf den Tisch und hatte Wolfgangs Lieblingskuchen gebacken. Er hat schon immer ihre selbst gemachte Quarktorte besonders gemocht. Aber enttäuscht mußte Christina feststellen, daß er gar keine Notiz von dem Kuchen nahm, ihn einfach wegaß, den Kaffee hastig trank und ständig auf die Uhr schaute. Das war für sie das Signal, dass er schnell wieder verschwinden würde. Aber so leicht wollte sie es ihm nicht machen. Irgendwie wusste sie nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Wolfgang nahm ihr das recht lapidar ab. „ Ich bin ein Gothic, falls du eine Ahnung davon hast, was das ist? Nee, haste nich… seh ich doch“, sagte er und schaute sie triumphierend an. Er sprach es englisch aus und hatte wohl gedacht, dass seine Mutter damit nichts anzufangen wüsste. Aber ob nun mit t oder mit s gesprochen, sie fragte ihn einfach, ob er damit die Menschen aus der Zeit des 12. – 15. Jahrhunderts meine? Die Zeit der Ritterspiele, der Burgfräulein, der Hexen und schwarzen Künste? Das hätte er nicht gedacht, dass sie so genau Bescheid wusste und war sehr erstaunt. Jedenfalls erklärte er ihr, dass er sich solchen Gruppierungen hier in der Stadt angeschlossen habe und sich dort wohl fühle. Vor allem gäbe ihm das Schutz vor den anderen, die ihn nicht leiden mochten. Es folgten Schimpftiraden auf die Rechten und die Friedhofsgänger und noch viele andere. Schnell merkte Christina, dass er völlig haltlos war und wohl auch noch nicht so richtig bei den Gothic´s angekommen schien. Sie sprach positiv über die gotische Zeit und zeigte ihm damit, dass sie seine Einstellung dazu tolerierte. Sie bat ihn aber, seine Lehre nicht zu vernachlässigen und zu bestimmten Anlässen nicht in schwarz zu erscheinen, denn nicht jeder Mensch und jede Institution könne damit umgehen. Er werde leider viel zu schnell in eine Schublade geworfen, in die er aber gar nicht reingehöre. Das verstand er dann weniger und es gab immer wieder Ärger. Er konnte nicht verstehen, dass man ihn nicht so ließ, wie er war. Er tat ja nichts Schlechtes. Betrat er in seinen schwarzen Sachen das Jobcenter, seinen Ausbildungsbetrieb oder andere öffentliche Bereiche, sah man ihn von der Seite schräg an und selbst jeder Blinde merkte die sofortige Verachtung und Ablehnung. Christina fand es entwürdigend, wie man doch rasant einen Menschen nur nach seinem Äußeren aburteilte. Meist nahm sie dann die Gelegenheit beim Schopfe und fragte diese Menschen auf den Kopf drauf zu, was sie denn zu solch einer abwertenden Reaktion veranlasste, ohne zu hinterfragen, was dieses Aussehen denn bedeuten würde. Da man ihr dann die Antwort schuldig blieb, sprach sie über die Gotic und deren Hintergründe. Es war erschreckend, wie wenig die Menschen wussten. Man stufte ihren Sohn überwiegend rechts ein und das ist verachtend und darf nicht sein. So etwas dürfe man nicht dulden - Punkt! Christina sträubten sich buchstäblich die Haare und überall versuchte sie nun Aufklärungsarbeit zu leisten. Es war gar nicht so einfach, denn viele gaben sich gar nicht die Mühe ihr zu zuhören. Zur Arbeit durfte er nicht in diesen Sachen kommen, in der Berufsschule verpönte man sein Aussehen, die Rechten und auch die Friedhofsgänger jagten und verprügelten ihn. Letztendlich traute er sich am Tage nicht mehr auf die Strasse, seine Lehre ging den Bach lang runter und Hartz IV war das Ende vom Lied. Nun sitzt Wolfgang zuhaus und weiß mit sich und der Welt nichts mehr anzufangen. AG´s gibt es nicht, Treffpunkte oder ähnliches für junge Leute auch nicht oder nur gegen Eintrittsgeld oder Mitgliedsbeitrag für wenigstens ein Jahr. Nur Auflagen vom Arbeitsamt, vom Gesetzgeber. Wolfgang hatte sich von seinem Lehrlingsgeld einen gebrauchten Computer gekauft und sich nun in diese Welt geflüchtet… wie so viele andere seinesgleichen. Zwar trug er nach wie vor seine schwarzen Sachen, aber er ging nicht mehr so oft weg. Dafür saß er jetzt nächtelang vor dem PC. Er zockte, wie er es nannte. Ließ seine Wut am PC aus. Die Spiele? Nein, das berühre ihn nicht wirklich, meinte er. Das ist eine ganz andere Welt, in die man sich hinein versetzt. Wenn man aus dem Spiel rausgeht, ist man wieder in der Wirklichkeit. Er hat da kein Problem damit. Ein Problem, ja hat er – aber mit der Realität, mit dem täglichen Leben. Warum man ihn nicht versteht, ihn nicht ernst nimmt, ihn abfällig behandelt, nur weil er schwarze Sachen trägt. Warum man ihn nicht erst einmal fragt, was er damit sagen will, bevor man ihn so aburteilt. Jedoch befolgte er fortan Christinas Rat und begab sich wieder wie früher in Jeans, Hemd, Schlips und Sakko zu den Ämtern und auch Arbeitgebern. Und er hatte Glück. Er machte eine Ausbildung zum Altenpfleger und ist mit Leib und Seele bei den alten Menschen. Seine schwarze Kleidung trägt er nun in seiner Freizeit. Dass er damit noch immer in eine rechte Ecke geschoben wird, stört ihn nicht mehr.

Wünsche

Krank, die Gesellschaft ist krank. Christina kann das alles nicht mehr nachvollziehen. Was macht man mit den Menschen hier nur? Wolfgang hat zu ihr zurück gefunden. Er hat nicht nur von seiner Mutter, sondern auch in seiner Gotic-Szene gelernt: nur gemeinsam lassen sich Probleme lösen. Christina ist froh, dass sie den Hilferuf ihres Sohnes verstanden hat. Aber es geht ihr nicht aus dem Kopf, wie viele junge Menschen mag es da draußen in der großen Stadt noch geben, deren Hilferufe irgendwo im Niemandsland verhallen, weil keiner sie hört oder hören will? Wie viele Jugendliche haben wohl die gleichen Probleme wie ihr Junge? Jedoch keiner hört ihnen zu, nimmt sich ihrer an. Ja, versucht sie nur ein ganz kleines Stück zu verstehen? Niemand! Sie sitzen auf Pflastersteinen, in Straßenecken, bei Alkopops und manche auch bei Drogen. Die Wenigsten tun eigentlich irgendjemand etwas, wollen nur noch in Ruhe gelassen werden. Denn sie haben ja begriffen, dass sie keine Chance haben verstanden zu werden, wenn sie aufbegehren. Und Zukunft, an die glauben sie schon lange nicht mehr!
Christina stehen Tränen der Wut in den Augen. Was ist das für eine Welt, in der Jugendliche um sich schießen, weil sie verzweifelt sind? Weil sie in ein Loch gefallen sind, aus dem sie allein nicht rauskommen? Aber auch keine Hand da ist, die ihnen liebevoll entgegen gestreckt wird? Kein Ohr, dass ihnen einfach nur zuhört? Kein Herz, dass sie wirklich versucht vorurteilsfrei zu verstehen? Kein Mensch, der mit ihnen spricht? Warum gibt es immer mehr Gesetze und immer weniger Nächstenliebe und stets nur Gegeneinander statt Miteinander? Sollten noch Kinder in diese Welt geboren werden, bevor wir nicht wieder gelernt haben mit dem Herzen zu sehen, anstatt mit dem Kontostand?
Ihr Wolfgang hat den Weg für sich gefunden, weil sie ihn versucht hat zu verstehen und ihm zugehört hat. Weil sie ihn durch ihr Verstehen nach Außen verteidigt, Aufklärungsarbeit leistet. In Gedanken nimmt sie ihren Sohn liebevoll in den Arm, stellvertretend auch für die vielen Anderen, denen diese Möglichkeit nicht gegeben ist. Aber sie weiß auch eins: sie wird sich mit Sicherheit für andere einsetzen, wo immer sie die Möglichkeit hat. Irgendwann, so hofft sie, wird doch der Hilferuf der Jugend mal dort ankommen, wo er hingehört? Wo die Ursachen dafür zu finden sind? Alles was sie dazu beitragen kann, wird sie tun. Das ist ihr Versprechen an die Jugend.

Und doch, ganz im Stillen wünscht sie sich, man möge sie und ihren Jungen aus dieser Stadt heraus holen… zurück zu ihrem Baumstumpf, wo die Welt noch in Ordnung war.

Impressum

Texte: Copyright by Carla Gabriel
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /