„Zoe, lass mich los!“
„Nein! Du kannst das nicht einfach so entscheiden! Wenn er sagt, dass er das nicht will dann hast du das zu akzeptieren!“
„Ich hab immer alles gemacht, damit es ihm gut geht, hab immer Rücksicht genommen und ihn nie überfordert. Ich möchte einmal etwas für mich tun und glücklich sein und ihm zeigen, dass das durchaus möglich ist, auch wenn er Angst davor hat.“
„Er wird dich hassen!“
„Er wird mich nicht hassen, das kann er gar nicht!“
„Sei nicht so selbstüberzeugt. Außerdem kannst du ihn eh nicht zwingen.“
„Manche Leute muss man aber einfach zu ihrem Glück zwingen.“
„Alex, bleib hier!“
„Nein!“
Ich reiße mich von meiner besten Freundin los, die weiterhin erfolglos versucht mich zurück zu rufen. Wir sind auf unserem Abi-Ball. Endlich sind wir mit der Schule fertig und an diesem Abend wollen wir das feiern. Mir ist nur leider so gar nicht nach Feiern zu Mute. Der Grund? Mein Freund. Mein Freund, von dem niemand weiß, weil er das nicht will. Er ist auch hier. Ich habe gewollt, dass wir zusammen hingehen, unsere Schulzeit ist jetzt vorbei und somit ist es auch egal, was die anderen von uns denken. Davor hat er noch immer Angst, Angst vor Ablehnung, Hass und Feindseligkeit. Er ist nie besonders beliebt gewesen. Er ist ein Außenseiter gewesen, bis auf einen Freund hat er niemanden gehabt. Zumindest nicht, bis ich da gewesen bin und ich bin es immer noch. Ich liebe ihn und ich weiß, dass er mich auch liebt, selbst, wenn er es nicht oft zum Ausdruck bringt.
Im Gegensatz zu mir hat er auch keine andere Begleitung. Zoe und ich sind zusammen hier, weil sie keine Begleitung gewollt hat, ich schon. Mein Freund ist nicht der typische Mädchenschwarm, obwohl er hübsch ist. Niedlich ist er auch. Aber auch schüchtern. Kein Mädchen möchte einen hübschen, schüchternen, niedlichen Jungen als Begleitung, ein Mädchen möchte jemanden wie mich. Groß, gut aussehend, sportlich, mit einem breiten Kreuz. Ich bin oft gefragt wurden, aber ich habe immer abgelehnt, bis zur letzten Stunde habe ich gehofft, dass mein Freund doch mit mir zum Ball gehen würde. Aber er hat abgelehnt. Ich habe darauf bestanden, aber er ist nicht bereit gewesen nachzugeben. Dabei ist doch schon lange egal, wir sehen all diese Idioten niemals wieder.
In der Schule haben wir so getan, als seien wir Freunde. Niemand hat sich dann noch getraut ihn anzurühren oder auszulachen. Es ist ihm dann besser gegangen und mir auch, weil ich gewusst habe, dass er glücklich ist. Für mich ist es immer das Wichtigste, dass er glücklich ist. Für mich gibt es nichts schöneres als den Anblick meines lachenden oder lächelnden Freundes, dann bin auch ich glücklich, so sehr, dass ich das Gefühl bekomme, mein Herz würde überlaufen vor Freude. Genauso ist es, wenn er mich küsst, oder besser gesagt, wenn er sich von mir küssen lässt. Er macht nie den ersten Schritt, aber ich finde das vollkommen in Ordnung. Er war bestimmt überrumpelt, als ich ihn angesprochen habe, zumindest hat er so ausgesehen. Damals habe ich ihn gefragt, ob er mir bei meinen Mathehausaufgaben hilft. Er ist wahnsinnig inteligent, er hat ein richtig gutes Abitur geschafft, er möchte Biologie studieren. Wir haben sogar beide an der gleichen Uni einen Studienplatz bekommen, ich werde bald Psychologie studieren. Wir haben sogar schon eine kleine Wohnung im Auge, in die wir zusammen ziehen wollen. Trotzdem leugnet er noch immer unsere Beziehung. Das tut mir weh, ich möchte das nicht mehr. Also habe ich einen Entschluss gefasst und egal wie viel Theater Zoe deswegen gemacht hat, ich werde meinen Plan in die Tat umsetzen.
Ziellos laufe ich durch den Saal, bin auf der Suche nach meinem Freund. Dann sehe ich ihn, mit seinem einzigen Freund. Sie sitzen in einer Ecke und unterhalten sich. Endlich zielstrebig laufe ich auf sie zu.
„Hallo.“
„Ich hab dich schon die ganze Zeit gesucht.“
„Warum?“
„Ich vermisse dich. Ich vermisse dich eigentlich immer, wenn du nicht bei mir bist.“
„Sag so etwas nicht.“
„Es ist aber die Wahrheit.“
„Sie gehört aber nicht hierher.“
„Heute schon. Besonders heute. Komm mit.“
Ich schnappe mir einfach sein Handgelenk und ignoriere den leisen Protest. Er ist immer leise, ich weiß nicht warum, aber er hebt nie die Stimme. Einmal haben wir uns gestritten, das erste Mal und auch das letzte Mal, und ich bin laut geworden, ich bin so wütend gewesen. Schweigend hat er mir zugehört und nichts gesagt, nur einen Satz und den hat er gemurmelt. Die Wirkung diesem einem kleinen Satzes ist viel größer gewesen, als wenn er ihn geschrien hätte. Damit hat unser Streit ein Ende gehabt.
Vor dem DJ-Pult mache ich Halt und der junge Mann dahinter beugt sich zu mir herunter. Ich rufe ihm etwas ins Ohr, damit er mich auch versteht und er nickt, reicht mir ein Mikrofon. Die Musik verstummt und die tanzende Menge sieht sich irritiert um. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet, weil ich noch immer mit meinem Freund vor dem DJ-Pult stehe und ein Mikrofon in der Hand halte. Ich merke, dass ihm die Aufmerksamkeit unangenehm ist, aber ich kann leider keine Rücksicht darauf nehmen, nicht jetzt, nicht heute. Ich kann ihm nur das leise Versprechen ins Ohr flüstern, dass es gleich besser werden wird. An seinem Gesichtsausdruck kann ich sehen, dass er mir nicht glaubt. Zoe steht vorn in der ersten Reihe und funkelt mich wütend und vorwurfsvoll an. Aber das ist mir egal. Ich hebe das Mikrofon an meine Lippen.
„Wer von euch hat einen Partner, eine Beziehung?“
Hände fliegen in die Luft.
„Geht auf die linke Saalhälfte, mit eurem Partner, wenn er da ist, wenn nicht, dann stellt euch nach rechts. Der Rest weicht zurück.“
Alle tun, was ich ihnen aufgetragen habe, obwohl sie keine Ahnung haben, was das soll.
„Ich bin mir sicher, dass ihr alle froh seid, wenn ihr mit eurem Partner hier tanzen könnt, dass ihr ihn zärtlich anschauen könnt, ohne, dass man euch komisch ansieht.“
Kollektives Kopfnicken.
„Ich würde das auch gern tun. Aber da gibt es ein Problem. Mein Partner will nicht. Ich kann das verstehen, aber ich will trotzdem nicht mehr Verstecken spielen.“
So langsam scheint der Menge zu dämmern, worauf ich hinaus will.
„Wer spielt auch verstecken?“
Eine Hand in der Menge ohne anwesenden Partner geht hoch. Fünf in der Menge ohne Partner. Langsam treten sie vor, mutig genung, um es mit erhobenden Kopf zu tun. Zwei Mädchen sind dabei, sie halten sich an den Händen. Ich kenne sie flüchtig. Drei Jungs treten vor, zwei davon sind unverkennbar ebenfalls ein Paar, sie haben die Arme um die Hüfte des anderen gelegt. Der Übrige lächelt schüchtern und spielt mit seinen Händen, bis noch eine Hand in die Luft geht und ein Bekannter von mir hervor tritt. Er flüstert dem allein Stehenden etwas ins Ohr und dieser lächelt glücklich weiter.
Das Mikrofon brauche ich nicht mehr, es ist still im Saal, alle beobachten das Schauspiel, dass sich ihnen bietet. Ein Nicken von mir zum DJ reicht, damit ein Lied erklingt. Ein Lied, das ich unbedingt in diesem Moment hören will.
So, so you made a lot of mistakes
Walked down the road a little sideways
Cracked a brick when you hit the wall
Yeah, you've had a pocket full of regrets
Pull you down faster than a sunset
Hey, it happens to us all
When the cold hard rain just won't quit
And you can't see your way out of it
Es ist nicht einfach meinen Freund davon zu überzeugen mit mir zu tanzen, er steht stocksteif vor mir und kann wohl nicht so ganz fassen, was eigentlich passiert ist. Ich hebe seine Arme etwas an und lege sie auf meine Schultern, umfasse dann mit meinen Händen seine Hüfte und wiege mich im Takt der Musik. Er ist gezwungen sich anzupassen. Auch die anderen Paare haben sich dazu gesellt.
You find your faith has been lost and shaken
You take back what's been taken
Get on your knees and dig down deep
You can do what you think is impossible
Keep on believing, don't give in
It'll come and make you whole again
It always will, it always does
Love is unstoppable
Langsam taut mein Freund auf. Er legt sogar seinen Kopf an meine Schulter und ich höre ihn erleichtert ausatmen. Er verschränkt seine Hände in meinem Nacken, so langsam findet er Gefallen am unserem Tun. Sogar Zoe, die noch immer an der Seite steht, sieht nicht mehr böse aus. Sie lächelt zufrieden.
Love, it can weather any storm
Bring you back to being born again
oh, it's a helping hand when you need it most
A lighthouse shinning on the coast
That never goes dim
When your heart is full of doubt
And you think that there's no way out
Immer mehr Paare kommen dazu, es ist absolut still, nur die Musik erfüllt den Saal.
You find your faith has been lost and shaken
You take back what's been taken
Get on your knees and dig down deep
You can do what you think is impossible
Keep on believing, don't give in
It'll come and make you whole again
It always will, it always does
Love is unstoppable
Leises Klatschen kommt nun dazu. Es stammt von denen, die nicht tanzen und trotzdem an dem Schauspiel teilnehmen. Von denen, die sich trotzdem von den Gefühlen, die greifbar den Saal erfüllen, mitreißen lassen.
Like a river keeps on rolling
Like the north wind blowing
Don't it feel good knowing
You find your faith has been lost and shaken
You take back what's been taken
Get on your knees and dig down deep
You can do what you think is impossible
Keep on believing, don't give in
It'll come and make you whole again
It always will, it always does
Love is unstoppable
Beim Tanzen haben mein Freund und ich uns langsam in die Mitte des Saal bewegt. Um uns herum dreht sich alles und ich bin stolz darauf.
Love is unstoppable
So you made a lot of mistakes
Walked down the road a little sideways
Love, love is unstoppable
Die Musik verstummt. Die Tänzer halten inne.
„Ich liebe dich Jakob. Ich liebe dich so sehr.“
Ich spreche laut, mit fester Stimme, alle können mich hören, weil es wieder so still ist. Mein Freund springt mir förmlich in die Arme. Er antwortet nicht, aber ich weiß, dass er mich auch liebt. Er hat lediglich eine andere Art mir das zu zeigen und damit habe ich mich auch schon angefunden.
Überrascht reiße ich erst die Augen auf und schließe sie dann genießerisch. Jakob hat mich geküsst. Von selbst, von ganz allein, aus eigenem Antrieb. Damit macht er mich so glücklich wie nie zuvor in meinem Leben. Ich hebe ihn hoch und drehe mich ausgelassen im Kreis, begleitet von dem Applaus der Menge.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir, außer der Songtext, der gehört Rascal Flatts
Bildmaterialien: http://fc08.deviantart.net/fs71/f/2010/269/6/8/love_is_unstoppable__by_abiiii_x-d2zi179.jpg
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die auch verstecken spielen.