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Prolog



Der Morgen, von dem hier die Rede ist, brannte sich in mein Gedächtnis ein, als wäre ein Brandeisen im Spiel gewesen.
Als die Sonne im Begriff war, hinter den Sümpfen unterzugehen, wo bereits der knallrote Ball mehr als seine Hälfte gegen den flimmernden Horizont eingebüßt hatte, löste sich dieses für mich auf seltsame Weise bedrückende Bild mehr und mehr in purpurn leuchtenden Zahlen auf. Eine Eins und noch eine Eins, gerade mal zwei schräge Striche mit einer unscharfen roten Aureole, die bis weit über den Wecker in die Schlafzimmerwand überstrahlten, als würde aus der Zahlenkombination der Uhr eine ungeheure Strahlkraft ausgehen, und die eigentliche Ursache, meine vom Schlaf getrübte Sicht, nicht so recht in die zarte Gedankenwelt dieser Stunde passen wollen.
Der Albdruck aus den vorangegangenen Stunden klebte an mir wie ein zähe Masse, deren schweres Gewicht mich vom Sonnenaufgang bis in diese fortgeschrittenen Morgenstunden regelrecht ins Bett drückten und mich daran hinderten, die Fesseln des Schlafes gänzlich zu entwirren und endlich aufzuwachen.
Albträume waren für mich seit der Kindheit regelmäßige Heimsuchungen, an die ich mich trotz der vielen Jahre nicht gewöhnen konnte, die, unsinnig wie nur Albträume sein können, mich häufig in panischer Angst aufwachen ließen und nicht selten tagelang auf meine Stimmung schlugen. Fantastische Gebilde, von denen ich bis heute noch nicht weiß, wozu sie eigentlich gut sein sollen und die mich immerzu an die Grenzen meiner Emotionen gebracht haben. Für nichts und wieder nichts.
Als hätte ich unter den Umständen, denen ich ausgesetzt war und die mein Leben bestimmt haben, nicht genug zu leiden gehabt, und das alles nur ein harmloses Vorspiel davon gewesen wäre, was ich Jahre und Jahrzehnte später noch in endlosen Nächten träumen sollte.
Eine lebenslange Strafe, Sühne und Vergeltung, nicht für die Verbrechen und Missetaten, die ich begangen hätte, auch gar nicht begehen wollte, aber vermutlich begehen könnte, so dachte ich oftmals.
Das generationsübergreifende Unglück war nicht genug gewesen, konnte die zuständigen Götter nicht beschwichtigen. Es sollte mehr abgefordert werden, von mir und von allen Beteiligten, denn es beschränkte sich nicht auf die Realität, sondern sollte mich auch noch in meinen Träumen heimsuchen, damit kein Winkel meiner Existenz davon verschont blieb.
So, oder so ungefähr verliefen meine Überlegungen an jenem Morgen.
Es stimmte schon, dass mich die Erinnerungen an diese Zeit manchmal an den Rand des Wahnsinns treiben konnten; mich meine Träume und Albträume aber weitaus schlimmer, regelmäßig über diesen Rand hinaus brachten, sodass ich tatsächlich verzweifelte und wenn ich davon aufwachte, nicht selten diese alles verschlingende Verzweiflung über Tage anhielt.
Der Albtraum jener Nacht unterschied sich von den bereits Beschriebenen wenigstens insoweit, dass ich an dem darauffolgenden Morgen keineswegs verzweifelt war, nicht einmal die Niedergeschlagenheit verspürte, die mir tagein, tagaus in den letzten Jahren ein so treuer Begleiter gewesen war.
Als sich endlich jener angsteinflößende Traum aufzulösen schien und ich noch in den endlosen Zwischenstufen des Bewusstseins wanderte, spürte ich, wie mein Herz wild und unregelmäßig schlug, es drohte gar meinen Brustkorb mit einem übermütigen Hüpfer zu verlassen, beruhigte sich aber wieder, als ein Sonnenstrahl durch den dicht bewölkten Himmel brach, durch die Jalousien zu einem schmalen Streifen geschlitzt auf mein Gesicht traf und hinter den geschlossenen Lidern kurzzeitig ein rötlicher Vorhang aufglimmte.
In dem gleichen Maß wie sich mein Herzschlag beruhigte, nahm ein schmerzhaftes Pochen in meinem Kopf zu.
Stumpfe Kopfschmerzen, die sich ganz allmählich aus dem halbwachen Stadium, in dem ich mich befand, in den Vordergrund drängten und dabei stetig an Heftigkeit zunahmen, soweit, dass sie mich am Vormittag vollkommen beherrschten und mich tatsächlich aus dem Bett zwangen.
Parallel zu diesem Vorgang geisterten noch einige Bilder vor meinen geschlossenen Augen; vom Schlaf getrübte, kleine, unscharfe Vignetten erschienen unvermittelt im Vordergrund, die davon handelten, was sich in der vorangegangenen Nacht ereignet hatte.
Allmählich, soweit ich das Bewusstsein wieder erlangte und der klopfende Inhalt meines Schädels es zuließ, wurde mir klar, dass nicht alles was sich in den Stunden davor abgespielt hatte, ein weiterer Albtraum gewesen war, sondern sich tatsächlich zugetragen haben musste.
Der unbeirrbar auf mich zusteuernde Tod, so wie ich ihn gespürt hatte, war, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, wirklich nahe gewesen. Die Ohnmacht und Verzweiflung, die mich in jenen Stunden beherrschten, waren ebenso reell gewesen, wie die Schmerzen, die mich schlagartig überfielen, kaum, dass ich mich ins Bett legte.
Es waren Schmerzen von einer Intensität und Stärke, die ich bis dahin nicht kannte und von denen ich darum dachte, dass es sich nur um einen weiteren Albtraum handeln könnte.
Als würde eine riesige Hand in meinen Eingeweiden wüten, während eine andere mir den Hals zudrückte, fühlte ich den krümmenden Schmerz in den Innereien während mir das Atmen immer schwerer fiel, bis ich das Gefühl hatte, hier und jetzt ersticken zu müssen.
Es war kein Albtraum.
Tatsächlich wäre ich in dieser Nacht beinahe gestorben, vielleicht nicht erstickt, wie ich befürchtete, aber doch am Ende tot. Vergiftet mit Kupferoxid aus unbekannter Herkunft sollte ich also für immer gehen müssen, und obwohl ich stets unter einem chronischen Mangel an Liebe für diese Welt gelitten habe, versetzte mich dieser Gedanken in panische Zustände.
Und dann waren da noch die unerträglichen Schmerzen: Bauchkrämpfe und Erstickungsanfälle, Fieberschübe begleitet von heftigem Zittern, Muskelstarre und Zähneklappern vor Eiseskälte; danach war es mir wieder so heiß, dass die Schweißströme aus dem Gesicht zu einem Rinnsal an meinem Mundwinkel zusammenliefen, um als steter Strom vom Kinn abzufließen, als handle es sich um einen Speichelfaden.
Als ich es doch noch auf die Toilette geschafft hatte, auf der Schüssel saß mit angezogenen Beinen und vor Schmerz nicht in der Lage war, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, erinnerte ich mich an die Geschichte, die ich einmal irgendwo gelesen habe, dass es nämlich bei einigen Piraten in der Karibik eine besonders grausame Todesart gab, die darin bestand, dem Gefangenen vorsichtig den Unterleib aufzuschlitzen, das Gedärm herauszuholen und an das Schiffsdeck zu nageln. Danach wurden die Opfer gezwungen, um ihre festgenagelten Eingeweide zu tanzen, bis sie tot zusammenbrachen.
Und noch ein weiterer Gedanke: dass ich mich schämte, mich schämte in dieser würdelosen Haltung sterben zu müssen, dass man mich erst nach Wochen oder vielleicht sogar Monaten so vorfinden würde, auf einer Toilettenschüssel kauernd, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Dass man mir vielleicht sämtliche Knochen brechen müsste, um mich in einen Sarg legen zu können.
Und ich schämte mich meiner Einsamkeit. Diese erbärmliche Einsamkeit, die mir nie so bewusst gewesen war, wie zum Zeitpunkt meines mutmaßlichen Todes.
Keinen Gedanken verschwendete ich daran, einen Notarzt oder zumindest die Ambulanz zu rufen, sondern ergab mich resigniert in das scheinbar Unabwendbare.
Ich wusste nicht mehr, wie ich es tatsächlich wieder ins Bett geschafft hatte; eine Ohnmacht, die mich, als ich von der Schüssel endlich aufgestanden war, urplötzlich und unerbittlich zu Boden zog, war das letzte, an was ich mich noch erinnern konnte.
Irgendwie muss ich mir am Türrahmen die Stirn angeschlagen haben, als ich bewusstlos zu Boden ging.
Ein roter Strich, der exakt auf dem Scheitel einer Schwellung verlief, erstreckte sich in einer kerzengeraden Senkrechten vom Haaransatz bis zum exakten Mittelpunkt zwischen den Augenbrauen. Bei genauerem Betrachten fiel mir auf, dass es sich nicht um einen glatten Schnitt handelte, sondern um eine Folge kleiner kreisförmiger Blutungen, aufgereiht wie eine Perlenschnur, als gäbe es eine Grenzmarkierung zwischen der rechten und der linken Stirnhälfte.
Noch heute betrachte ich manchmal mit Interesse die verbliebene, kleine Narbe, getarnt als eine weitere Falte zwischen meinen Augenbrauen, die nur für mich als solche erkennbar ist und mich stets an das Ereignis meiner vermeintlichen Todesnacht erinnert.
Dieser Beinahe-Tod oder der wirkliche, stetig aber unabwendbar heranrückende, für den ich ihn hielt, sollte in mancher Hinsicht mein Leben von Grund auf verändern.
Viele Ängste, an denen ich zu jener Zeit litt, allerhand konkrete Phobien, allgemeine Befürchtungen diffuser Natur, aber auch andere, verborgene, von mir bis dahin nicht als Ängste identifizierte Zustände, verschwanden mit diesem Ereignis.
Naturgemäß nicht ganz, jedenfalls aber so weit, dass ich ein deutliches Unbehagen an jenem Morgen verspürte, als wäre in jener Nacht ein Teil von mir abgestorben. Eine Gliedmaße, die, hätte man mich vorher gefragt ob ich sie überhaupt habe, die Frage lediglich mit einem Achselzucken beantwortet hätte.
Der Morgen oder Vormittag, den ganzen Tag und die noch darauffolgenden waren von einer unbeschreiblichen Klarheit. Nicht nur die Gegenstände, die mich umgaben, die Landschaft vor meinem Fenster, sogar meine Gedanken waren von einer bis dahin für mich unbekannten Schärfe. Es waren die gleichen Gegenstände, Landschaften und Gedanken, allerdings nicht mehr dieselben.
In ein anderes Licht getaucht hatten sie eine neue, vorher verborgene Dimension bekommen, so als wäre ich auf einem Spaziergang gewesen und wären nun auf dem Rückweg die Landschaft und der Weg selbst aus der neuen Perspektive nicht wieder zu erkennen .
Alles was vergangen war, buchstäblich alles bis hin zum Tag vor diesem Erwachen, war von nun an mit einer dicken Patina überzogen, eine vergilbte und abgedunkelte Firnis, die sich innerhalb einer einzigen Nacht über die Gegenstände und Ereignisse der Vergangenheit gelegt hatte.
Insofern war ich in jener Nacht in einer gewissen Weise tatsächlich gestorben und meine Vergangenheit blieb nicht länger die alltägliche Bedrohung meiner Existenz, sondern wurde endlich zur Episode. Schrumpfte nun zur einer Geschichte, wie es Tausende und Abertausende gibt, ein Schicksal unter Millionen und war nun weit weg; so weit, dass sie nicht mehr imstande war mich zu behelligen.
Denn sie hatte mich beinahe wahnsinnig gemacht, diese Ver-gangenheit, nun nur noch Geschichte. Immer wieder beschäftigte sie mich. Ob ich wollte oder nicht, ganz gegen meinen Willen, diese für alle Beteiligte beschämende Zeit zu vergessen, tauchte sie unvermittelt wieder auf, um mich zu quälen und regelrecht in den Wahnsinn zu treiben.
Nicht zuletzt hatte ich ihr meine Einsamkeit zu verdanken. Die Einsamkeit und ihre Erbärmlichkeit, die mir nie so bewusst waren, wie in jener Nacht, als ich dachte auch noch mein Leben verlieren zu müssen.

Naturgemäß hatte ich oft mit dem Gedanken gespielt, die katastrophalen Ereignisse aufzuschreiben, aus deren bloßer Aneinanderreihung sich problemlos meine ganze Kindheit und die meiner Geschwister zusammensetzen ließen.
Fremde Mächte hielten mich davon ab.
Angst, Unsicherheit, Unvermögen, Faulheit, Eitelkeit, Bequemlichkeit, und so vieles mehr, das mein Leben bestimmte, unergründliche Ursachen, die mich mit ihrem leeren Glücksversprechen davon abhielten, die Dinge zu tun, die ich nun für meine Bestimmung hielt.
Als ich endlich in der Lage war, diese Geschichte in Worte zu fassen, und tatsächlich Wort an Wort reihte, erste Sätze bildete, Seiten und Passagen daraus entstanden, verschwand das, was ich einst als meine Kindheit und Jugend bezeichnet hatte, und mit ihm lichtete sich ein Nebel unguter Gefühle, um sich mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Satz und jeder weiteren Seite mehr und mehr zu entfernen, so weit, dass die wirklichen Gegebenheiten und Bedeutungen nur noch schemenhaft zu erkennen waren.
Von der Wahrheit, nichts als der Wahrheit, wollte ich erzählen. Die schlichte, kühle und erbarmungslose Wahrheit, von nichts als der nackten, unverstellten Realität wolle ich berichten.
Sie musste scheitern wie jede Unternehmung, die diesen eitlen Anspruch erhebt, denn Worte allein sind nicht in der Lage, auch nur eine einzige dieser Wahrheiten befriedigend wiederzugeben.
Bald musste ich einsehen, dass das, wovon ich berichten wollte, einige Schichten unter dem lag, was die nackte Realität, oder das, was ich dafür hielt, preisgeben könnte.
Trotz oder gerade wegen dieser Umstände kann ich mit Fug und Recht und ohne jegliche Einschränkung behaupten, dass alles, worüber an dieser Stelle berichtet wird, nichts als der Wahrheit entspricht.
Es handelt sich nicht um jene sachliche, kühle und erbarmungslose Wahrheit wie ich mir vorgenommen hatte; mehr um sinngemäßes also tatsächlich Vorgefallenes.
Nur über diesen Umweg war ich imstande, diese Geschichte, die aus der Summe der unendlichen Sekunden meiner Vergangenheit besteht, einigermaßen verständlich und wahrheitsgemäß wiederzugeben.
Im Sinne dieser, wenn nicht wahren, so doch wahrheitsgemäßen Schilderung, war ich manchmal gezwungen, Geschehnisse oder Abläufe im Verhältnis zur Realität meiner Erinnerungen abzuändern. Um einer besseren Verständlichkeit willen musste Gesagtes und manchmal auch Getanes verändert, weggelassen oder hinzugefügt, an manchen Stellen sogar in sein Gegenteil gekehrt werden. Unvermeidlich war auch, dass einige der hier auftretenden Figuren in Wirklichkeit nie existiert haben, dafür tatsächlich Existierende weggelassen werden mussten.

Auch wenn die hier geschilderten Abläufe nicht zwangsläufig mit den reellen Vorgängen übereinstimmen, wurde, wie schon gesagt, vieles geändert, weggelassen oder hinzugefügt; und trotz aller offensichtlichen Einschränkungen handelt es sich um eine Biografie. Geht man weiter davon aus, dass der Erzähler mit mir identisch ist, müsste man sie sogar als Autobiografie bezeichnen. Aber an diesem Punkt verlässt mich die Gewissheit.
Das, was wir Vergangenheit nennen oder dafür halten, unsere Erinnerungen und die der anderen, sind nicht in Fels gemeißelt, wie ich feststellen musste, vielmehr sind sie im weitesten Sinne Opfer unserer Gegenwart, weil nur sie die Deutungshoheit besitzen über die spärlichen Erinnerungen an das, was einmal die Folge von millionenfachen Ereignissen, Eindrücken und Gefühlen war.
Auch die folgenden Schilderungen sind Deutungen, Interpretationen, Annahmen im wahrsten Sinne des Wortes. Sie verlaufen nicht in unmittelbarer Übereinstimmung mit dem Zeitpfeil des wirklichen Geschehens, vielmehr in einer parallelen Dimension von Gefühlen, die in ihrer Summe aber mehr oder weniger exakt dem der reellen Ereignisse entspricht.

Noch eine Warnung: Wenn Sie ein glücklicher Mensch sind, wenn Sie sich mit der Welt in Einklang befinden, wenn Sie noch in der Lage sind, in Kategorien wie Gut und Böse zu denken, sollten Sie sich die Geschichte, die ich zu erzählen habe, nicht zumuten. Sie laufen Gefahr, in eine Welt zu blicken, die Ihren Glauben und Ihre Überzeugungen erschüttern könnte und würden in ebenso leichtfertiger wie sinnloser Weise Ihr Glück aufs Spiel setzen.


Kapitel 1




Das Abteil war kalt und feucht, die Fenster von innen so stark beschlagen, dass kleine Bäche Kondenswasser die Scheiben herabliefen.
Eine schmierige Pfütze war zu Tonys Füßen entstanden, die den zerschlissenen Linoleumbelag des Abteils inzwischen gänzlich bedeckte.
Tonys Schuhe standen in jener unansehnlichen Brühe, während seine bloßen Füße auf der gegenüberliegenden Bank lagen und obwohl seine Zehen sich weit unter dem Militärsack begraben hatten, waren sie kalt und schwer, als wären sie aus Eisen geschmiedet.
Das Abteil roch nach morastiger Feuchtigkeit, als würde der ganze Zug gerade einem Sumpf entsteigen und sich nicht bereits seit einiger Zeit die letzten Hügel einer Bergkette hinabwinden: eine von unvorstellbarem Grün umsäumte Talfahrt, wo hin und wieder das tief hängende Kiefergeäst mit einem unangenehmen Schleifgeräusch am Abteilfenster kratzte.
Die Socken lagen noch immer auf der Hutablage ausgebreitet, damit sie endlich durchtrockneten, was aber unmöglich zu sein schien. Es war schon an die drei bis vier Stunden her, dass er sie im Becken der Bordtoilette ausgewaschen hatte, um sie danach auf die Ablage zu legen, unmittelbar unter dem Lüftungsgitter der Warmluftzufuhr. Sie waren in dieser Zeit nicht im geringsten trockener geworden.
Seit dem letzten Halt war er allein im Abteil und Tony war unendlich dankbar gewesen, als der Fahrgast, der mit ihm an der Grenze den Zug bestiegen hatte, endlich wieder ausgestiegen war.
Die Stille zwischen ihm und jenem Fremden war so erdrückend gewesen, dass er während der Zeit der gemeinsamen Fahrt ständig das Abteil verlassen musste, um in den Gängen hin und her zu spazieren und obwohl er vom endlosen Zug fahren hundemüde war, beunruhigte ihn das erzwungene Schweigen derart, dass er kein Auge zubrachte.
Der Mitfahrer hatte durchaus versucht ihn anzusprechen, als er aber merkte, dass Tony kein Französisch sprach, verfiel er nach diesem zaghaften Versuch in eisernes Schweigen.
Dass er in diesem Zug saß, erleichtert darüber, dass er nicht weiter mit jenem stummen Fremden das Abteil teilen musste, wäre an sich nicht notwendig gewesen, wenn auch Tony das anders sah.
Begriffe wie Flucht, Not oder Vertreibung waren ihm nicht geläufig, jedenfalls hatte er bis dahin nicht darunter gelitten; vielmehr entsprang die Unternehmung der blanken Abenteuerlust und einer guten Portion Naivität, nicht zuletzt einem Gedanken, der sich schon vor langer Zeit in seinem Gemüt eingenistet hatte und gerade in den letzten Monaten seines Militärdienstes in Form einer fixen Idee oder Wahns jeden Winkel seiner Persönlichkeit auszufüllen schien.
Mit nichts weiter als hundert Peseten und einer Adresse in der Hosentasche hatte er in Sevilla den Zug bestiegen, um erst Andalusien, später sogar sein Land zu verlassen und weiter zu fahren, als er sich jemals hätte vorstellen können.
Den blutigen Bürgerkrieg hatte Tony nicht miterleben müssen, dafür war er noch zu jung, und die sprichwörtlichen Hungerjahre im Anschluss dank dem Einfallsreichtum seiner Mutter ohne größere Entbehrungen oder gar Hunger zu leiden überstanden.
Auch waren seine Kleidung und Schuhe stets angemessen.
Er besaß sogar einen schwarzen Anzug und die dazu passenden Schuhe.
Es war das Geschenk seiner weitsichtigen Eltern zum Abschluss des Militärdienstes und zugleich zu seiner Volljährigkeit gewesen.
Ein einziges Mal hatte er bis dahin Gelegenheit das teure Stück zu tragen: zur Tauffeier eines Neffen war er im nagelneuen schwarzen Anzug und den passenden Schuhen im Hof seiner Schwester erschienen und weigerte sich trotz der brütenden Julihitze das Jackett auszuziehen. Nachdem er sich von den dort anwesenden Verwandten und Nachbarn ausgiebig hatte bewundern lassen, kollabierte er völlig dehydriert und sank ohnmächtig in den staubigen Boden.
Es war unendlich mühsam gewesen, den Staub und die Lehmflecken aus dem Stoff zu bekommen. Schließlich gelang die Reinigung und er schwor bei der Gesundheit seiner Mutter den schwarzen Anzug mit den passenden Schuhen nur noch zu Anlässen in einer sauberen Umgebung anzuziehen, zu Gelegenheiten, an denen es in Zukunft nicht mangeln würde, jedenfalls war das seine Überzeugung.
Nun war er doch noch zu einem vorzeigbaren Mann geworden, wie er dachte; ein Mann, der sich zu jeder Gelegenheit, Hochzeit oder Beerdigung, einer dem Anlass würdigen Aufmachung präsentieren konnte.
Unter den wenigen Dingen, die in seinem olivgrünen Militärsack Platz gefunden hatten, befanden sich unter anderem auch der schwarze Anzug und die dazu passenden Schuhe, zwei weiße Hemden und eine Krawatte.
Und es wäre auch beinahe dabei geblieben, dass in dem Sack nichts weiter untergekommen wäre, wenn seine Mutter ihn nicht regelrecht gezwungen hätte, außer dem was er am Leibe trug noch etwas Unterwäsche und eine zusätzliche Hose einzupacken.
Wenigstens den Militärmantel aus dünner Baumwolle hatte er sich übergeworfen, um ihn lose über den Schultern zu tragen wie Errol Flynn in den alten Kriegsfilmen.
Auch wenn er schon endlose Stunden in diesem französischen Zug verbracht hatte und noch eine weitere Ewigkeit davor in einem spanischen, war er noch lange nicht an jenem Ziel angelangt, an dem er, ohne es zu wissen, zu einem der ersten Gastarbeiter werden sollte, die Anfang der fünfziger Jahre in die Trümmerlandschaften deutscher Bahnhöfe einfuhren.
Ausländische Sprachen waren für ihn so gut wie unbekannt. Freilich war er schon in Gegenden gewesen, wo die Einheimischen einen Dialekt sprachen, den er kaum verstand, zum Beispiel das Kauderwelsch der Bauern um Utrera oder die portugiesischen Matrosen im Hafen mit ihrem larmoyanten Genuschel, so richtiges Ausländisch aber, wo man nicht einmal Gesten oder Blicke versteht, war ihm noch nie begegnet.
Diese Einsicht ließen es sinnvoll erscheinen, er hielt sich schließlich für einen planvollen Menschen, sich vom Entlassungsgeld einen Sprachlehrgang in Deutsch zu kaufen. Noch in den letzten Tagen in der Kaserne blätterte er immer wider darin herum, sehr zum Vergnügen seiner Kameraden, die ihn ständig anbellten, um ihn unter höhnendem Gelächter anschließend dazu aufzufordern das Gebell und Geheul zu übersetzen.
„Lernen Sie Deutsch in 14 Tagen“ war der Titel jenes Machwerks, bei dem es sich weniger um ein Buch, sondern mehr um ein Heftchen von der Stärke eines Groschenromans handelte.
Vier Tagesreisen. Wenn er fleißig war, konnte er bei seiner Ankunft bereits ein Drittel der Sprache, so Tony. Der Rest wäre sicher dank seiner schnellen Auffassungsgabe in ein paar Wochen erledigt.

Im mitternächtlichen Paris angekommen, pfiff ein eiskalter Wind durch die Bahnhofshalle und weiter ungebremst durch den dünnen Militärmantel und das Hemd, das er darunter trug. Einen Pullover hatte er erst gar nicht eingepackt, weil schließlich noch nicht einmal der Winter angefangen hatte und er vorhatte, die notwendige Winterkleidung in Deutschland zu kaufen, wo er mit Sicherheit eine bessere Qualität und einen günstigeren Preis bekommen würde.
Sein Anschlusszug war erst für den kommenden Morgen avisiert und Tony grauste schon vor dem Gedanken, in der bitterkalten Bahnhofshalle bis zum Morgengrauen ausharren zu müssen.
Die Bahnhofsgaststätte besprenkelte mit warmen Lichtflecken die Gleise.
Der Anblick der einladenden Farbe, die aus den Fenstern die Halle fluteten, der heimische Anblick der Gestalten an den Tischen, wie sie vor riesigen, dampfenden Kaffeetassen schlummerten, trafen sein Gemüt wie ein Stich, und eine kaum zu bändigende Sehnsucht trieb ihn regelrecht durch die verglaste Tür der Gaststätte.­
Tony besaß kein französisches Geld und überlegte wild und krampfhaft auf dem kurzen Weg zum Tresen, wie er es denn anstellen könnte, dort die restliche Nacht zu verbringen.
Dort angelangt nahm er seinen ganzen Mut zusammen und deutete mit einer lässigen Handbewegung auf den Wasserhahn.
Der große Mann, für Tony nur wenig mehr als ein Riese aus einer fernen Märchenwelt, bückte sich hinter den Tresen. Als der Koloss mit einer Flasche Mineralwasser wieder auftauchte, stellte er sie wortlos vor ihn hin.
In den folgenden Stunden, aufgewärmt und stolz auch diese Widrigkeit mit Bravour gemeistert zu haben, malte er sich die Zukunft in Deutschland in den schönsten Farben aus.
In einer Veranstaltung der Kommerzkammer in Sevilla hatte der Vertreter einer Industrie- und Handelskammer aus Deutschland versichert, dass jeder willkommen war, der sich für ehrliche Arbeit nicht zu schade war. Mehr noch, dass ihr besonderes Interesse den Andalusiern gelte, die in der ganzen Welt Sinnbild für Fleiß und Unerschrockenheit seien, so der Werber.
Vor sich hinträumend bestellte er in den nächsten zwei Stunden mehrfach Nachschub des Wassers in der hellblauen Flasche.
Gegen zwei Uhr morgens machte der Kellner Anstalten, der nachfolgenden Schicht die Kasse zu übergeben. Dieser Umstand wäre Tony nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht bemerkt hätte, dass der Hüne im Gespräch mit seinem Kollegen mehrfach auf ihn gedeutet hätte.
Ohne Argwohn, denn er führte diese Tatsache darauf zurück, dass er wohl hier in der Fremde reichlich exotisch wirken müsste, packte er seinen Reisesack, stand auf und begab sich stracks zum Ausgang. Noch bevor er diesen erreichen konnte, stürzte der Keeper hinter seinem Tresen hervor, holte ihn ein, packte ihn am Mantelkragen und schleifte den verständnislos dreinblickenden Tony zum Tresen zurück. Eine Pranke noch immer am Revers festgekrallt, hielt er in der anderen einen nassen Kassenzettel, mit dem er unentwegt vor dem erschrockenen Gesicht winkte. Mit heißerer Stimme brüllte er unverständlich gurrende Laute und starrte auf den armen kleinen Mann, der sich nur mit Mühe außerhalb seiner Spuckweite halten konnte.

Es hätte Wunder weiß wie enden können.
Vielleicht wäre er nur verprügelt worden, oder man hätte die Polizei alarmiert und er wäre für viele Jahre ins Gefängnis gewandert. Möglicherweise hätte man ihn auf die Gleise geworfen. Dem Riesenarschloch im verschwitzten Hemd wäre alles zuzutrauen gewesen.
Es fügte sich anders.
Eine kleine, dunkle Hand legte sich auf den mächtigen, von Sommersprossen übersäten Unterarm des Kellners. Ein tiefer ver-rauchter Bass, der im eklatanten Widerspruch zur dazugehörigen Witzfigur von einem Männlein stand, redete ruhig in dem gutturalen Idiom auf den Riesen ein.
Dieser blickte verwundert auf die Miniatur von einem Mann hinab, der mit seiner tiefen Stimme die Gläser auf dem Tresen zum Vibrieren brachte.
Als der Zwerg aufgehört hatte zu reden und nach wie vor dem bedrohlichen Blick standhielt, zögerte er kurz und ließ den völlig verwirrten Tony los.
Das Männchen holte eine winzige Brieftasche aus seinem Mantel, kramte einen braunen Schein hervor und steckte ihn, nicht ohne sich etwas recken zu müssen, dem verdutzten Barmann in die Brusttasche.

„Wo kommst du her, mein Junge?“, fragte er ihn auf Spanisch. Er sprach, wenn auch langsam, korrekt und fließend, das R betonte er falsch oder gar nicht, trotzdem lag ein südlicher Einschlag in der Art und Weise, wie er sich ausdrückte.
Sie nahmen Platz auf einer Holzbank in der eiskalten Bahnhofshalle und Tony erzählte, nicht ohne Misstrauen, in wenigen Worten, woher er kam und wohin er ging.
Pedro sei sein eigentlicher Name, aber hier in Frankreich nenne er sich Pierre, das gebe weniger Probleme und Fragen, sagte der Fremde eigentümlich leise. Seine Stimme hatte, gerade wenn er leise sprach, etwas Körperliches, so als würde das Gesagte nicht mit dem Gehör empfangen sondern vom Zwerchfell gefühlt.
„Weißt du, hier in Frankreich, in Deutschland kann ich es nur vermuten, ich bin ja nie dort gewesen, aber hier in Frankreich sind die Dinge ein bisschen anders als in der Heimat.“
Man müsse für alles bezahlen. Auch für das Wasser. Man könne nicht einfach ein Glas Wasser an der Theke bestellen und glauben es wäre umsonst. „Hier muss man für alles bezahlen. Für alles!“, wiederholte er mit Nachdruck.
Mit einer langsamen Bewegung zog Pierre eine blaue Schachtel aus der Hosentasche und hielt eine dicke, filterlose Zigarette in die Luft, die Tony ohne zu zögern mit noch zittrigen Fingern an sich nahm und ansteckte.
Der erste Zug brannte in seinen Lungen, es wurde ihm schwindlig und er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Offensichtlich war das seinem Gesprächspartner aufgefallen, denn dieser fragte, seit wann er nichts mehr gegessen habe. Tony, zu schwach, um das Misstrauen, dass er dem komischen Kauz gegenüber hegte, noch aufrecht zu halten, gestand, dass er das letzte Mal bei Zaragoza etwas zu sich genommen habe.
„Zu meinen Zeiten waren das noch zwei Tagesreisen. Heute geht das alles ja ein bisschen schneller, aber vierundzwanzig Stunden dauert es bestimmt. Kein Wunder, dass du so blass aussiehst“, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu. Mit nachdenklicher Miene stützte sich der Miniaturkopf auf ein winziges Fäustchen und starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Als er plötzlich aufstand, war Tony aus Schreck mit aufgestanden, musste sich aber wieder hinsetzen, weil es ihm so schwindlig war, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte.
Mit einem Lächeln, das einen Goldzahn aus den schmalen Lippen blitzen ließ, legte Pierre ihm die Hand kurz auf die Schulter, wendete sich ab und lief in hüpfenden Schritten davon.

Tony musste kurz eingenickt sein, denn als er wieder aufwachte, hatte Pedro oder Pierre neben ihm wieder Platz genommen. Eine der dicken Zigaretten im Mundwinkel, blickte er in die dunkle Leere der nächtlichen Halle.
Nach ein paar Zügen wandte er sich Tony zu und zog aus der Papiertüte, die neben ihm auf der Bank lag, eine mit Salami belegte Stange Weißbrot. Noch mit dem Stummel im Mund und mit zusammengekniffenen Augen brach er sich selbst ein Stück ab und mit einem grinsendem „Mahlzeit, Antonio!“, übergab er ihm den Rest.
„Du kannst mich auch Tony nennen“, bot der sonst so wortkarge wie misstrauische Tony seinem Gegenüber an.
Während er aß, und es schmeckte ihm vorzüglich, hatte Antonio die Gelegenheit genutzt, ihn für einen kurzen Augenblick eingehender zu betrachten.
Seine Augen waren so tief in den dunklen Augenhöhlen begraben, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte, nur manchmal, wenn er zur Seite schaute, blitzte ein kleines weißes Feld aus dem dunklen Hintergrund. Schlank war er, wenn nicht sogar aus-gesprochen dürr. Antonio schätzte, dass er nicht mehr wog als ein zehnjähriger Knabe.
Die Haut in seinem Gesicht war in tiefe Falten geworfen. Eine scharf geschnittene Nase stach aus der braunen Hügellandschaft, die möglicherweise tatsächlich nicht besonders groß war und nur im Verhältnis zu seiner sonst kindlichen Anatomie überzeichnete. Die Haut, mit der die Hügel und Täler in seinem Gesicht überspannt waren, glänzte in der Farbe von poliertem Messing.
Das Alter war aus diesem seltsamen Männchen nicht heraus-zulesen. Wenn er grinste, zogen sich im Takt zu den Mund-winkeln die Augenbrauen hoch. Dabei sah er aus wie ein trauriges Kind. Wenn er vor sich hin starrte, die Zigarette im Mundwinkel, und die Falten noch mehr hängen ließ als ohnehin, sah er aus wie ein greiser Hund.
Antonio hegte einen schwerwiegenden Verdacht: Pedro, oder besser Pierre, war, zumindest zum Teil, Zigeuner. Er kannte solche oder ähnliche Physiognomien: der kleine Wuchs, die dunkle Haut, die fein geschnittene Nase, das pechschwarze Haar. Er war in einem Viertel aufgewachsen in dem viele Zigeuner herumstreunten, auf die man aufpassen musste, dass sie einem nicht die angezogenen Schuhe klauten.
Sie waren Habenichtse, Paria, die ihre armseligen Hütten aus Holzlatten und dem Blech von aufgeschnittenen Ölkanistern binnen Tagen auf der Brache am Ende der Straße errichten konnten.
Einige unter ihnen bewohnten diese Hütten andere wiederum Höhlen in den Hügeln, die die Oberstadt von der Unterstadt trennten. Bei ungünstigem Wind oder wenn der Regen die Abfälle die Straße hinunterspülte, roch es im ganzen Viertel entsetzlich nach Müll und Kloake. Die Zigeuner, die dorthin zogen, wurde man nicht mehr los. Sie hatten vor nichts und niemandem Respekt, ausgenommen der Guardia Civil. Sie war es schließlich, die nach einem nicht nachvollziehbaren Muster die eine oder andere Sippe vertrieb, was naturgemäß nichts änderte, denn kaum waren die einen weg, räucherten die nächsten bereits die verlassenen Höhlen aus, um sie sofort wieder zu belegen.

„Was machst du hier? Ich meine, du sprichst Spanisch als wärst du Ausländer. Hast aber einen eindeutigen andalusischen Schlag in der Aussprache. Mehr noch, so viele Buchstaben, die du nicht aussprichst, klingt es entfernt nach dem Dialekt, den man in der Gegend um Sevilla spricht. Du bist doch kein Franzose, oder?“
„Oh, Mann! Du bist ja ein gescheites Kerlchen“, gab der kleine Mann zurück. Mit unsäglicher Mühe zog er die tiefen Falten, die einmal Mundwinkel waren, zu einem müden Lächeln hoch und sein Goldzahn gab ein kurzes Blinken frei. Als wäre es ihm zu anstrengend, ließ er sie sofort wieder herunterhängen und steckte sich eine der dicken Gitanes zwischen die Lippen.
Langsam ließ er einen müden Blick zu Tony herüberwandern. „Das ist eine lange Geschichte“, grollte es aus den endlosen Tiefen seiner Brust. „Aber du hast ja Zeit“, setzte er hinzu und fing an im monotonen Singsang zu erzählen, der den spanischen Zigeunern eigen ist, wenn sie ihre langen, nie endenden Geschichten zum Besten gaben.

„Meine Sippe waren von jeher Korbflechter in Azahara gewesen. Meine Mutter stammte von einer angesehenen Zigeunerfamilie, die schon zu frühen Zeiten sesshaft geworden war und es mit dieser Kunst zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte. Mein Großvater hatte am Fischmarkt einen eigenen Stand, an dem die Waren an die Fischer verkauft wurden. Unglücklicherweise verliebte sich dort meine Mutter in einen der Aushilfsträger, die in der Thunfischsaison die Fischerboote ausluden und die Fische nach der Versteigerung zum Markt schleppten. Unglücklicherweise sage ich deshalb, weil dieser Tagelöhner kein Zigeuner war.
Die Aufregung war naturgemäß groß in der Sippschaft.
Stur wie meine Mutter war, ließ sie sich aber nicht beirren. Mit allerlei Ausreden, Ausflüchten und Lügen traf sie den „Weißen“ immer wieder. Bis der Skandal um eine außereheliche Schwangerschaft schwerer wog als die drohende Blutschande und mein Großvater zähneknirschend einer Hochzeit zustimmte.
Die Weißen sind unberechenbar, dumm und respektlos. Eine Redeweise von meinem Großvater, die sich zumindest in diesem Fall bewahrheiten sollte.
Mein Vater wurde in den Familienbetrieb eingewiesen, in dem er künftig arbeiten sollte, denn kein Zigeuner arbeitet für jemand anderen als für die eigene Familie. Es wurde auch ein bescheidenes Haus am Rand der Sumpfgebiete errichtet, sodass dem jungen Glück nichts im Weg stand.
Die Korbflechterei war allerdings nichts für meinen Vater. Weder war er geschickt, noch hatte er die erforderliche Geduld. Es fehlten ihm schlicht die wesentlichen Voraussetzungen für dieses Handwerk. Es dauerte nicht lange, bis er das Korbflechten über hatte und wieder am Markt für die Händler Thunfische schleppte.
Thunfischerei ist Saisonarbeit.
Man konnte damals als Schlepper gutes Geld verdienen, allerdings nur während dieser Zeit. Nach der Saison hing mein Vater nur noch in den Hafenkneipen herum, trank Rotwein und spielte Domino mit den Matrosen, die nun auch keine Arbeit mehr hatten.
Und es waren schwere Zeiten, wenn man keine Arbeit hatte.
Die politische Lage hatte sich zudem, es war die Zeit der Zweiten Republik, dramatisch angespannt. Ein jeder sprach nun von Politik. Die Lehrer, die Beamten, die Arbeiter, die Arbeitslosen und auch die Tagelöhner. Nur, sie verstanden am wenigsten davon. Sie konnten in der Regel nicht einmal lesen und schreiben. Wie mein Vater.
Nach einer der zahllosen Zusammenkünfte, die eine der frisch gegründeten Gewerkschaften in Hafenkneipen veranstalteten, schloss er sich der CNT an. Eine anarchistisch orientierte Gewerkschaft, die sich besonders für die Rechte der Tagelöhner einsetzte und in virtuoser Vereinfachung von politischen Zusammenhängen ihre Herzen scharenweise eroberte.
So wurde dieser Analphabet, wie so viele andere, zum Anarchisten.
Er nahm nun regelmäßig an politischen Veranstaltungen teil, verteilte Flugblätter, die er nicht lesen konnte, und half tatkräftig Streiks durchzusetzen.
Schenkt man den Angaben meiner Mutter Glauben, so war er zu der Zeit so glücklich, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Regelmäßig entlohnte die Führungskommission seine Arbeit mit Lebensmitteln und hin und wieder ein paar Peseten, sodass die kleine Familie ein bescheidenes Auskommen hatte.
In diesen für meine Familie sehr glücklichen Zeiten wurde ich geboren.“
Pierre hatte sich inzwischen die nächste Gitanes angezündet. Die Augen zu Boden gesenkt, ließ er den dichten grauen Dunst aus dem Mund entkommen. Als sein Kopf aus der Wolke wieder auftauchte, fragte Tony wie es denn weiter gegangen sei.
„Wie kommst du aber nun ausgerechnet nach Frankreich?“
„Ich habe dir gesagt, dass es eine lange Geschichte ist. Warum seid ihr Weißen denn immer so ungeduldig?“, setzte er noch mit einem leisen Seufzer hinzu.

„Wenn ich jetzt zurückdenke, kommt es mir wie eine lange Zeit vor, rechne ich aber nach, können es nur wenige Jahre gewesen sein, von denen ich behaupten kann, dass ich nicht mehr oder weniger glücklich gewesen sein kann als jeder andere auch.
Die politische Situation im Spanien der Zweiten Republik wurde immer turbulenter.
Davon hat mein Vater aber nicht viel mitbekommen. Er dachte vielleicht, so stelle ich mir das jetzt vor, es wäre eine Revolution passiert, und jetzt wäre alles anders, diesmal zu seinen Gunsten, ausgefallen.
Er hatte keine Ahnung von Revolution.
Ein Wort, das er ständig im Mund führte, im Grunde aber nicht wusste, was es bedeutete. Auch seine Kameraden sprachen ständig davon, verstanden allerdings ebenso wenig wie er, was es auf sich hatte mit „alle Macht den Arbeiterkommissionen“, „Herrschaft der Arbeiterschaft über die Produktionsmittel“, „Zwangsvergenossenschaftung der Betriebe und Fabriken“ und anderen politischen Parolen der Zeit.
Ihr politischer Analphabetismus sollte sich bald bitter rächen.
Als sich im fernen Marokko Dinge zusammenbrauten, die für meine Eltern und so viele andere, die noch ahnungslos die alljährliche „Matanza“ in dem schönen Azahara feierten, in naher Zukunft Vertreibung, Elend und Tod bedeuten sollte.
Der Aufstand der Generäle verbreitete sich in dem kleinen Ort wie ein Lauffeuer.
Franco sei bereits mit seinen marokkanischen Truppen im nahe gelegenen Barbate gelandet und führe einen Aufstand gegen die Regierung an, hieß es.
Nur wenigen war bewusst, was das eigentlich bedeutete. Viele wussten nicht einmal, auf welcher Seite die Aufständischen waren. Im Grunde hatten sie überhaupt keine Ahnung von Politik.
Erst als Francos Truppen Cádiz besetzten und erste Gerüchte von Säuberungen und Erschießungen von Gewerkschaftern und Sozialisten kursierten, wurde ihnen klar, dass General Franco, auf welcher Seite er auch immer stand, nicht auf der ihren war.
Plötzlich waren auch wieder die Falangisten mit ihren blauen Hemden auf den Straßen und in den Kirchen wurde offen gegen Kommunisten und Anarchisten gehetzt. Es war viel von Vergeltung die Rede. So viel, dass auch meinem Vater langsam dämmerte, dass sich etwas veränderte. Seine Vorstellungskraft reichte jedoch noch nicht zur Erkenntnis aus, dass diese Veränderung gefährlich für ihn und seine Familie werden konnte.
Über weit größere Voraussicht verfügte mein Großvater, der umgehend seinen ungeliebten Schwiegersohn einbestellte und ihn aufforderte, die Gegend schnellstmöglich zu verlassen.
Er hatte zu oft die Erbarmungslosigkeit, mit der Vertreibungen geführt wurden, am eigenen Leib erfahren, um nicht zu erkennen, dass dieser Dummkopf die ganze Familie in allergrößte Gefahr gebracht hatte.
Er steckte ihm ein Bündel Scheine zu und nannte ihm den Aufenthaltsort von einem Zweig der Familie, die in den Bergen der Sierra Morena mit den Ziegen wanderte. Seiner Meinung nach die beste Möglichkeit unterzutauchen, denn mit Zigeunern, so der alte Herr, hatte keiner der Politischen, wie er sie nannte, etwas am Hut.
Leider verfolgte mein Vater diesen Rat nicht. Er nahm das Geld, ging zum Haus des Volkes und besprach sich dort mit seinen Genossen.
Es wurden beunruhigende Gerüchte ausgetauscht.
Konkret oder aus erster Hand wusste keiner etwas. Man wurde sich schnell einig, dass es die beste Möglichkeit sei mit dem Zug nach Sevilla zu fahren, danach weiter nach Valencia, wo es starke anarchistische Kräfte gäbe, um die Faschisten von dort aus zu bekämpfen.
Einige weniger Entschlossene wollten erst abwarten, wie sich die Situation weiter entwickelte und behaupteten, Franco würde es nicht wagen Azahara anzugreifen und gegen den freien Willen des Volkes etwas zu unternehmen.
In großer Aufregung kam er nach Hause.
Durch die Gerüchte von Massenverhaftungen nun doch beunruhigt, war er allerdings nicht sicher, welche die richtige Reaktion war. Er hatte Angst um sein Leben und das seiner Familie. Aber wohin sollte er gehen? Ziegen hüten unter Zigeunern. Selbst ein Zigeuner werden wollte er jedenfalls nicht. Nach Valencia war der Weg weit und ungewiss. Selbst wenn sie dort ankämen, was sollten sie dort? Er hatte keinen Beruf erlernt, seine Frau war Zigeunerin und dann war da noch ein kleines Kind, das vor nicht all zu langer Zeit gerade mal laufen gelernt hatte.
Eine Flucht kam also nicht in Frage.
Wenn sie kämen, würde er sich hier verstecken. In diesem kleinem Haus am Rand der Sümpfe, wo lediglich Zigeuner hausten, würde ihn keiner finden.
Es kam, wie es kommen musste: Die aufständischen Truppen hatten sich schon wenige Tage nach den ersten Gerüchten um die Landung Francos in Barbate auch in Azahara eingefunden. Die Parteihäuser der linken Parteien und die Sitze der Gewerkschaften wurden umgehend besetzt, viele seiner Freunde wurden verhaftet und in einer verlassenen Hacienda am Ortsrand, in der ein provisorisches Gefängnis eingerichtet wurde, festgesetzt.
Berichte von nächtlichen Razzien, willkürlichen Festnahmen und sogar Erschießungen machten die Runde.
Mein Vater traute sich nicht mehr in die Ortschaft, versteckte sich tagsüber in den Sümpfen und kam nur spät nachts in die Hütte um ein wenig Schlaf zu finden.
Mehrere Wochen vergingen. Hin und wieder brachte er uns ein paar Fische, die er in den Sümpfen geangelt hatte, von denen wir uns aber mehr schlecht als recht ernähren konnten. Regelmäßig tauchte jemand von der Verwandtschaft meiner Mutter auf und brachte uns zusätzlich Brot und Olivenöl.
Eines Nachts wachte ich auf, als mein Bett zu schaukeln begann. Es wurde plötzlich angenehm kühl und das Schaukeln nahm noch zu. Als ich, endlich wach, die Augen öffnete, sah ich leuchtende Sterne an der Zimmerdecke, die sich rhythmisch hin und her bewegten. Mein Bett hatte sich in einen Binsenkorb verwandelt und ich blickte hinauf auf das dunkle Profil meines Vaters, das in der mondbeschienen Nacht glänzte. Es dauerte eine ganze Weile bis ich begriff, dass wir uns im Freien befanden.
Wir waren auf der Flucht.
Am folgenden Tag quälten wir uns durch die Pfade der Viehtreiber über ausgedörrte Hügel, die erbarmungslose Sommersonne im Nacken.
Der Durst war unerträglich.
Die Hauptstraßen und Dörfer mieden wir aus Angst vor Soldaten. Hin und wieder hielten wir uns in der Nähe von Gutshöfen auf. Dort nahm mich meine Mutter in die Arme und trug mich zum Hof, um etwas zu trinken zu erbetteln, füllte unsere Wasserkrüge auf und manchmal bekamen wir von einem mitleidigen Gutsverwalter eine angebrochene Melone oder ein Stück Brot vom Vortag.
An einem jener glühenden Tage, von denen sich jemand, der noch nie im Süden Spaniens gelebt hat, keine Vorstellung machen kann, dass es sie gibt, erblickte ich zum ersten Mal Sevilla.
Der Himmel verschmolz am Horizont zu grauem Sand und ich sah die Silhouette der Stadt in der Ferne durch einen Vorhang aus Hitze flimmern, wie sie, von einem gelben Dunst umgeben, beinahe wie mattes Gold im Sonnenschein des Nachmittags glänzte.
Die Torre del Oro und das Flussufer des Guadalquivir waren, wenn auch unscharf, mühelos zu erkennen, weit dahinter eine gigantische Kathedrale, von der meine Mutter behauptete, dass sie die größte und schönste der Welt sei.
Vage kann ich mich noch an einen Streit zwischen meinen Eltern erinnern. Wir hatten unser kleines Lager unter einem Feigenbaum in Sichtweite der Hauptstraße zwischen Jerez de la Frontera und Sevilla errichtet, damit mein Vater die Lage kontrollieren konnte, wie er behauptete.
Als die Decken ausgebreitet und unsere Habseligkeiten im Schatten des Baumes vor Ameisen sicher verstaut waren, sprach meine Mutter davon, in die Stadt zu gehen und in der Kathedrale einige Ave-Maria zu beten und unsere Liebe Jungfrau um Hilfe anzurufen. Darauf hin bekam mein Vater einen solchen Wutanfall, dass er meine Mutter mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Er schlug mit einer solchen Heftigkeit zu, dass sie ein Stück des Schneidezahns verlor.
Sie schrie nicht auf und sagte keinen Ton. Stattdessen starrte sie ihn vorwurfsvoll an. Er senkte den Blick und ich konnte sehen, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen und zwei Dreiecke aus schmutzigen Schlieren seine Backen herunterliefen.
Als ich meine Mutter anschaute, und sah, wie ihr das Blut auf den Lippen klebte, ihr weiter bunter Rock, den ich so liebte, von Staub und Dreck bedeckt, das Blumenmuster darauf verwelkt, dachte ich, dass wir von nun an arme Bettler waren. So arm, wie die nach Anisschnaps stinkenden Männer, die ich von der Markthalle her kannte, die sich um die Köpfe und Eingeweide der Fische schlugen.“

Pierre schlug die Beine übereinander und warf den Kopf zurück, wobei er eine blaugraue Wolke ausstieß, die in langsamen, mäandernden Bewegungen himmelwärts aufstrebte, um sich in der eiskalten Hallenluft aufzulösen.
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort, nicht ohne einen kurzen Blick auf Tony zu werfen, der inzwischen den Kopf auf sein Bündel gelegt, die Beine angezogen hatte und auf der Bank gekauert gegen die Müdigkeit ankämpfte.
„Natürlich ging meine Mutter in die Stadt, sie war eigenwillig und stur und ihre Argumente zudem überzeugend. Wir brauchten schließlich Essen und Trinken. Es musste in Erfahrung gebracht werden, ob die aufständischen Truppen schon in der Stadt waren und wohin wir weiter ziehen konnten.
Im Nachhinein kam ich zu der Überzeugung, dass alles im Grunde von ihr vorgeschoben wurde, um doch noch in der Kathedrale beten können. Zwar war meine Mutter bis dahin nicht besonders religiös gewesen, jedenfalls ging sie nicht regelmäßig in die Kirche, dass hätte ihr mein Vater schon aus politischen Gründen verboten, aber sie hatte bestimmt gedacht, dass es, so wie die Dinge lagen, nicht schaden konnte.
Die Sonne war gerade untergegangen. In dieser farblosen Stunde, nicht mehr Tag und noch nicht Nacht, machte sich meine Mutter auf den Weg. Wir schauten ihr nach, wie sie hinunter zum Fluss lief, verschwand aber bald im dichten Blaugrau der hereinbrechenden Nacht.
Ein zischendes Gemurmel weckte mich mitten in der Nacht auf. Es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, denn die Grillen hatten aufgehört zu zirpen. Ein wässriger Mond war durch den Dunst gerade noch zu erkennen.
Meine Mutter war zurück und unterhielt sich flüsternd mit meinem Vater.
Schon von den wenigen Gesprächsfetzen, die ich aufschnappen konnte, schloss ich, dass wir in einer bedrohlichen Lage waren.
Ich bekam Angst. Furchtbare Angst.
Zum ersten Mal habe ich gespürt, was Erwachsene meinen, wenn sie „Angst“ sagen. Wenn man so will, hatte ich zum ersten Mal richtige, tief greifende Angst. Die Angst, die alles lähmen kann, sogar Gedanken. Eine Angst, die so präsent ist, dass man meint, mit ihr gefesselt zu sein, die einem die Kehle zuschnürt und die Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt.
Ich zitterte am ganzen Leib. Unfähig, meine Mutter um Hilfe zu rufen, auch nur die Augen zu öffnen, lag ich elend da und wollte am liebsten sterben.
„Pedrito ist kalt“, flüsterte sie meinem Vater zu, „er zittert am ganzen Leib, hoffentlich wird er nicht krank, das könnten wir jetzt gerade noch brauchen.“ Ich spürte ihre Brust an meiner Backe und wie sie mich mit ihrem Körper regelrecht umschlang. Die Wärme, die von ihr ausging, durchströmte mich und nach einiger Zeit hörte ich auf zu zittern, lag aber noch eine lange Weile wach in ihren Armen, bis es mir zu heiß wurde, mich aus der Umklammerung löste und wieder einschlief.“

Mit eigenartigen Kieferbewegungen formte Pierre Rauchringe.
Dazu öffnete er nur halb den Mund, fuhr mit dem Unterkiefer nach vorne, um ihn in einer ruckartigen Bewegung zurückschnalzen zu lassen, sodass ein perfekter Kreis aus seinem Mund schoss, der, während er sich unentwegt um sich selbst wickelte, im Dunkeln verschwand.

„Am Nachmittag brachen wir unser Lager ab, packten unsere Bündel und Körbe und machten uns auf den Weg nach Sevilla. Mein Vater sprach nicht oder etwas, dass kaum mehr als ein Zischen war und uns ständig zur Eile und Stille gemahnte. Wir liefen den morastigen Weg am Fluss entlang. Ich nehme an, dass meine Eltern, aus Furcht den aufständischen Soldaten in die Arme zu laufen, diesen umständlichen Weg in die Stadt wählten, anstatt die Richtung der Hauptverkehrsstraße einzuschlagen.
Dunkle Stechmückenwolken fielen über uns her.
Meine Mutter wickelte eine ihrer Blusen um meinen Kopf, bis von mir nur noch Augenschlitze zu sehen waren. Es war heiß und feucht unter dem Turban, ströme von Schweiß liefen meinen Körper hinab, bis sie schließlich den Gummibund meiner Hosen überwanden und sich im Schritt sammelten, sodass ich das Gefühl hatte, mir in die Hose gemacht zu haben.
Der Marsch wollte nicht zu Ende gehen, der Turm der Torre del Oro wollte keinen Zentimeter näher rücken, bis ich schließlich aufgab mich zu fragen, wann wir denn endlich ankommen würden. Eine Frage übrigens, die mir jene Zeit gründlich abgewöhnen sollte.
Wir erreichten die Stadt, als es bereits dunkel war. Die Ufer-promenade war stellenweise hell erleuchtet und viele Menschen schlenderten zwischen den aufgebauten Getränkeständen umher. Wir eilten durch sie hindurch, bis wir eine Stelle erreichten, an der einige Zigeuner auf Klapptischen bunte Kopftücher und geblümte Schürzen verkauften.
Während meine Mutter mit ihnen sprach, nahm mich mein Vater an der Hand und führte mich zum Geländer der Promenade etwas abseits von der Gruppe, wo wir unsere Habseligkeiten ablegten und uns auf den Boden setzten.
Ich blickte voller Neid zu einer Gruppe von Kindern, die in einiger Entfernung umher tollten. Jedes Kind hatte ein Limonadenglas in der Hand. Sie versuchten offensichtlich, sich gegenseitig ins Glas zu spucken. Dabei rannten sie, eine Hand als Deckel, zwischen den Erwachsenen hin und her.
Meine Zunge klebte am Gaumen und mein sehnlichster Wunsch in diesem Moment war, nur einen kleinen, winzigen Schluck der gelben Flüssigkeit, die so schön im Schein der Lampignons glänzte, kosten zu dürfen.
In diesem Augenblick hasste ich meine Eltern.
Mein Vater kauerte nach vorne gebeugt, das Gesicht im Dunklen verborgen. Seine schmutzigen Kleider waren vom gelben erdigen Boden der Promenade nicht zu unterscheiden und es hätte mich nicht gewundert, wenn sich die Fußabdrücke im sandigen Boden auf ihm fortgesetzt hätten.
Meine Mutter hatte inzwischen die Zigeunergruppe verlassen. Eine Hand den Rocksaum raffend, kam sie in eiligen Schritten auf uns zu. Als sie uns erreicht hatte, setzte sie sich neben meinen Vater und fing an, auf ihn einzureden. Dabei fiel mir zu ersten Mal der gebrochene Scheidezahn auf, der von da an bis zu ihrem Tod jedes ihrer Lächeln begleiten sollte.
Die Nacht verbrachten wir unter den Torbögen der Stier-kampfarena, auf der der Straße abgewandten Seite, in denen am Tag nach den Kämpfen das Fleisch der erlegten Stiere verkauft wurde.
Es stank entsetzlich.
Es waren noch andere Unglückselige dort. Man sprach kaum miteinander. Man hörte bestenfalls ein kurzes, heißeres Flüstern zwischen dem Gebell der umherstreunenden Hunde.
Früh am nächsten Morgen brachen wir auf in Richtung Bahnhof Santa Justa. Wir liefen durch die engen Gassen des alten jüdischen Viertels und brauchten mehrere Stunden, bis wir dem Labyrinth entkamen. Immer wieder mussten wir anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Endlich an einem offenen Platz angelangt, setzten wir uns auf die Eingangsstufen einer mächtigen Kirche, die zu dieser Stunde den halben Platz beschattete. Es war ein kleiner Markt zugange und ich blickte voller Sehnsucht auf die aufgetürmten Orangen und Zitronen der Händlerinnen, die mit heißerem Geschrei ihre Waren anpriesen.
Meine Mutter stand als erste auf und ging zu einem kleinen, seitlich der Kirche gelegenen Brunnen, dessen kraftloses Rinnsal aus einem Messingrohr träufelte. Sie legte ihr Kopftuch ab und öffnete ihr kohlschwarzes Haar. Mit einer Handvoll Wasser fuhr sie sich übers Gesicht und reinigte in gründlichen Bewegungen Augen und Ohren. Anschließend wusch sie das von grauem Staub und Sonne farblos gewordene Kopftuch so gut sie konnte, wickelte ihr Haar darin ein und drehte den ganzen Zopf zu einem Knäuel, den sie mit einem Kamm am Kopf befestigte. Als diese Morgentoilette vollbracht war, strahlte sie zu uns herüber und forderte mich auf, auch an den Brunnen heranzutreten.
Im Begriff aufzustehen, spürte ich die kräftige Hand meines Vaters wie sie mein Genick umfasste, mich ruckartig in seine Richtung zog und mich zu einer Drehung brachte, sodass er mir direkt ins Gesicht starrte. „Du bleibst hier! Nur Zigeuner waschen sich im Freien“, sagte er mit leiser aber drohender Stimme, wandte aber schließlich seinen Blick von mir ab und ließ mich endlich los.
Mein Herz klopfte aufgeregt und ich wagte keine Bewegung.
Es war das erste Mal, dass ich spürte, dass es etwas zwischen meinem Vater und meiner Mutter gab. Einen Unterschied, den ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte.

Wir setzten unseren Weg fort. Ich spürte eine angenehme Frische in meinen feuchten Haaren, die meine Mutter, nachdem sie mich genau so gründlich gewaschen hatte wie sich selbst, glatt nach hinten gekämmt hatte. Mit schnellen Schritten gingen wir, meine Mutter immer voraus, mein Vater und ich einige Schritte hinterher, in Richtung Fluss. Endlich am Bahnhof angekommen, setzten mein Vater und ich uns auf eine der Bänke auf dem Vorplatz, während meine Mutter in der Halle verschwand.
Der Vorplatz füllte sich allmählich mit Menschen. Einige glaubte ich in der Nacht zuvor an der Stierkampfarena gesehen zu haben. Sie bildeten kleine Gruppen, legten ihre Habseligkeiten auf den Boden und setzten sich im Kreis um die Körbe, Bündel und Koffer, die sie in der Mitte zu einem großen Stapel aufgeschichtet hatten. Im Verlauf der Stunden, die wir auf der gusseisernen Bank saßen, trafen immer mehr dieser traurigen Gestalten ein, sodass der Platz aus lauter Menschenkreisen bestand, in der Mitte jeweils die aufgehäuften Habseligkeiten.
Es dauerte bis zum Mittag, bis meine Mutter wieder zurückkehrte. Ihr Gesicht wirkte müde und aufgequollen, so als hätte sie geweint. Sie übergab mir einen fettigen Papierwickel und mein Gesicht hellte sich auf.
Es waren „Churros“. Schöne, braun gebackene Stangen, vor Fett triefend und noch warm, schob ich mir eine nach der anderen in den Mund. Hin und wieder nahmen sich meine Eltern vom Gebäck, aber eher lustlos.
Ich hatte den Eindruck als hätten sie gar keinen Hunger, was ich zwar nicht verstehen konnte, mir aber in jenem Augenblick bestimmt herzlich egal war, denn ich verschlang rücksichtslos meine Portion und einen Gutteil meiner Eltern.
Das Ergebnis waren heftige Magenkrämpfe und unvermeidlicher Durchfall.
Daraufhin bekam meine Mutter einen solchen Wutanfall, dass sie mir zwei kräftige Ohrfeigen verpasste, die meine Backen zum Glühen brachten.
Dieses Malheur zwang uns den Platz zu verlassen und hinunter zum Fluss zu gehen, wo ich in kurzen Abständen meine Notdurft verrichten konnte.
Kurz bevor wir wieder aufbrachen, ich hatte das Gröbste bereits überstanden, näherte sich uns auf der Uferpromenade eine kleine Gruppe, ähnlich bepackt wie wir auch, die sich in Richtung Torre del Oro bewegte. Als sie nur noch einige Meter entfernt waren, hellte sich das Gesicht meines Vaters auf.
Und er schrie.
Er schrie so laut, wie ich es von meinem Vater noch nie gehört hatte. Seine Stimme klang hell und zerbrechlich, wie wenn man Feuersteine gegeneinander stößt. Es war ein Freudenschrei. „Pepe! Pepe!“, wiederholte er mehrere Male, obwohl sie uns bereits gegenüberstanden.
Pepe war ein alter Kampfgenosse meines Vaters, ebenfalls Tagelöhner auf dem Markt und Mitglied der anarchistischen Gewerkschaft. Wie sich herausstellte, waren sie am gleichen Abend wie wir geflohen, da sie aber einen umständlicheren Weg gewählt hatten und Pepes Frau schwanger war, brauchten sie eine Nacht länger, um nach Sevilla zu gelangen.
Sie waren zu viert.
Pepes Bruder und dessen Verlobte, die mein Vater nur flüchtig kannte, wurden uns in aller Form vorgestellt.
Voller Freude stapelten wir die Koffer, Körbe und Bündel zu einem Haufen auf der Uferpromenade und nahmen um sie herum Platz.
Der Wasserkrug wurde den Ankommenden gereicht, die sich in gierigen Schlucken Staub und Hitze aus den Kehlen spülten. Auch Brot und Käse wurde in der Runde gereicht. Es war ein schönes Gefühl und obwohl ich unsere Gäste nicht kannte, liebte ich sie auf Anhieb und war dem lieben Gott unendlich dankbar, dass er sie zu uns geführt hatte.
In dieser Ausgelassenheit war meine Mutter die erste, ihre Erkenntnisse aus der Bahnhofshalle wiedergebend, die die traurige Wahrheit dieser Zusammenkunft zur Sprache brachte.
Sie berichtete, dass die Bahnverbindung nach Córdoba bei Carmona unterbrochen und der Bahnverkehr in diese Richtung bereits eingestellt sei. Nur die Verbindung nach Jerez und Cádiz, also Richtung Süden, hätten die Faschisten nicht gesprengt.
Die Gesichter in der Runde wurden plötzlich fahl, wie der Staub auf der Promenade und einen Atemzug lang war alles still.
Allerdings, so fuhr meine Mutter fort, hätte ein Zigeuner, der bereits einige Tage in Sevilla festsitze und dringend in familiären Angelegenheiten nach Córdoba müsse, ihr von seiner einzigen Hoffnung berichtet, doch noch nach Córdoba zu gelangen.
Bei der Puerta de Carmona, dort, wo sich die Lastwagen-werkstätten befinden, gebe es den einen oder anderen Fahrer, der gegen den Erlass der Stadtverwaltung bereit sei, Flüchtige nach Córdoba zu bringen. Gegen bares, versteht sich. Er selbst habe noch nicht davon Gebrauch gemacht, weil er alleine das geforderte Fahrgeld nicht aufbringen könne und deshalb jetzt nach möglichen Mitfahrern Ausschau halte.
Skeptisch blickten sich die Männer gegenseitig an.
Mein Vater ergriff das Wort: „Wir könnten doch hier in Sevilla bleiben. Es ist eine große Stadt. Hier wird man uns nicht so schnell finden. Wir können vielleicht Arbeit finden und uns durchbeißen bis es vorüber ist und dann nach Azahara zurückkehren. Es ist doch bestimmt alles in ein paar Monaten, in vielleicht nur Wochen, vorüber. Und überhaupt, die Faschisten können doch nicht halb Spanien in Lager sperren“, so mein Vater.
Daraufhin wurde es einen Augenblick still.
Pepes Bruder unterbrach das Schweigen.
Er sprach leise, aber sehr klar und gut verständlich.
Ich merkte, dass das, was er sagte, wohl überlegt war, auch wenn ich mich über die langen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen ärgerte und ihn am liebsten, so wie man ein kleines Boot zu Wasser lässt, damit es die Brandung überwindet, ein wenig angeschubst hätte.
„Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Francos Truppen sind bereits im Anmarsch auf Sevilla. Für sie ist das ein wichtiges Etappenziel. Hier sitzen Verwaltung und Behörden. Es ist immerhin die Regionalhauptstadt. Die faschistischen Truppen sind nicht im Vorbeimarsch. Sie werden sich hier festsetzen und von hier aus ihre Operationen in der ganzen Region steuern. Dabei werden sie jeden vernichten, der sich ihnen in den Weg stellt oder für sie eine Bedrohung darstellt.
Und das, mein lieber Pepe, geliebter Bruder, und ihr, die ihr genau so wenig Ahnung habt wie dieser Dummkopf, das seid ihr.
Sie werden euch finden.
Vielleicht nicht sofort, aber es gibt immer einen misstrauischen Nachbarn, der Fremde bei der Militärkommandantur meldet. Sie werden euch dann Fragen stellen, die ihr nicht beantworten wollt oder könnt.
Zum Beispiel woher ihr kommt.
Oder warum ihr weg seid von der Heimat. Warum ihr hier wohnt oder arbeitet. Sie sind schlauer als ihr. Sie werden eure richtigen Namen herausfinden. Sie werden sie mit den Listen abgleichen, die sie in den Gewerkschaftshäusern in Azahara beschlagnahmt haben und genau dort werden sie euch finden. Und ganz plötzlich seid ihr nicht mehr Andalusier oder gar Spanier, nein, dann seid ihr nur noch „Rote“; und was mit denen geschieht, wissen wir ja aus Cádiz.“
Es herrschte vollkommene Stille.
So kam es mir jedenfalls vor. Und ich hatte alles verstanden. Wort für Wort, Satz für Satz stand alles vor meinen Augen, unerbittlich wie ein Urteil.
Am späten Nachmittag machten wir uns auf den Weg nach Puerta de Carmona, der Stadtteil, in dem die Schmiede und mechanischen Werkstätten angesiedelt waren.
Wie sich herausstellte, hatte Pepes Bruder einige Zeit in Sevilla verbracht, wo er ein Schnellstudium zum Grundschullehrer absolvieren wollte, ihm aber vorzeitig das knappe Geld ausgegangen war und er unverrichteter Dinge wieder nach Azahara zurückkehren musste, wo er die letzten Jahre am Markt die Standgebühren eintrieb und verwaltete.
Er kannte sich in der Stadt sehr gut aus, was uns den Weg beträchtlich verkürzte. Er wusste auch, wo sich Trinkbrunnen befanden, sodass wir hin und wieder rasten und uns erfrischen konnten.
Als wir schließlich den riesigen Torbogen der Puerta de Carmona erreichten, hatte sich die Sonne bereits so weit gesenkt, dass sie hinter einer dichten Staubwand durch den Torbogen strahlte.
Unsichtbar hinter den goldenen Wolken auf dem Platz wurde gehämmert, geschliffen und gesägt. Maultiergebrüll und das Ächzen von Holzkarren, Menschengeschrei und Hundegebell zeugten von geschäftiger Betriebsamkeit.
Wir ließen uns in einer Seitengasse im Hinterhof einer stillgelegten Werkstatt nieder. Die Männer zogen los, um sich nach den Möglichkeiten einer Mitfahrt zu erkundigen. Die Frauen breiteten die Decken aus, legten ihre bescheidene Habe in die Mitte, und setzten sich hin. Ich meinerseits suchte mir eine weiche Stelle in dem Haufen, es waren die Kleiderbündel meiner Mutter, und kauerte mich hin, sodass ich Schulter und Kopf an das weiche Bündel lehnen konnte.
Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal Stimmen vernahm, war es bereits dunkel.
Es war stockfinster und ich konnte erstmal nicht erkennen, was vor sich ging. Es war ein Umherlaufen, ein Rütteln und Fluchen und auch ein leises Weinen war zu vernehmen, eigentlich mehr ein Wimmern oder Winseln.
Nach einiger Zeit wurde es wieder ruhiger. Ich sah die schlanke Silhouette meines Vaters im Gegenlicht eines vorbeifahrenden Lasters. Er hielt meine Mutter an sich gedrückt, ihre schmale Schultern mit seinen kräftigen Armen umschlungen.

Am nächsten Morgen, wir kampierten immer noch in dem verlassenen Hof, fragte ich, was denn letzte Nacht geschehen sei und wo die anderen seien.
„Sie sind fort, Richtung Córdoba“, antwortete mein Vater mit gepresster Stimme, „es war nicht genug Platz auf dem Laster und Pepes Frau ist ja krank gewesen, deshalb hat man ihnen den Vortritt gelassen.“
Unendlich traurig und völlig verzweifelt über diese Nachricht musste ich weinen, laut und hemmungslos. Ich schrie, warf mich zu Boden, strampelte mit den Füßen so heftig, dass sich eine dichte Staubwolke bildete, die meine Eltern verschwinden ließ. Mit den bloßen Fäusten hieb ich auf die Erde ein, als wollte ich den allgegenwärtigen Staub verprügeln.
Nach einiger Zeit, als mein Ausbruch nachgelassen hatte, richtete ich mich wieder auf, hockte mich hin und lies den Kopf sinken. Ich wagte nicht den Blick auf meine Eltern zu richten und schämte mich in Grund und Boden. Ich war niemals ein weinerliches Kind gewesen und fürchtete nun von meinem Vater eine Tracht Prügel oder zumindest von meiner Mutter eine ihrer berüchtigten Ohrfeigen zu bekommen.
Nichts dergleichen geschah. Mein Vater hatte den Blick von mir abgewendet und schaute scheinbar ungerührt zum Platz hinüber. Meine Mutter war aufgestanden, hatte sich einen Krug genommen und machte Anstalten Wasser zu holen. Mein Weinen und Schreien hatte sie nicht einmal dazu veranlasst, sich nach mir umzudrehen. Inzwischen war sie am Ende der Gasse angekommen, wo sie abbog und aus meinem Sichtwinkel verschwand.“

Bei diesen letzten Worten rieb sich Pierre mit der freien Hand die Augen, und wischte blind mit der anderen in der Luft. Mit seinem goldfarbenen Rauchfinger immer noch einen kurzen weißen Stummel haltend, malte er bedeutungslose Rauchzeichen in die Luft. Als er mit dem Erzählen fortfuhr, sprach er leiser und seine Stimme stürzte abermals in kaum mehr hörbare dunkle Tiefen.
Obwohl Tony mit geschlossenen Augen gegen den Schlaf ankämpfte, hörte er noch zu.
Ihm war, als würde er träumen. Er sah die grüngraue Landschaft der Guadalquivir-Ebene, die im Dunst flimmerte, roch die feuchte, mit Staub vermengte Luft, die aus den Sümpfen am späten Nachmittag zur Stadt emporstieg. Dachte an den Parque de María Luisa mit seinen nach Jasmin, Kamelien und Bougainvilleen duftenden Nachmittagen, wo er noch vor wenigen Wochen mit seinen Kameraden nach Dienstschluss unbesorgt und voller Hoffnungen geschlendert war. Vergaß für einen Moment die klirrende Kälte der Bahnhofshalle und wünschte sich sogar, Pierre möge mit der Geschichte noch lange nicht zu Ende sein.

„Letztlich hatten wir auch ein bisschen Glück in dieser unglücklichen Lage. Mein Vater hatte es tatsächlich geschafft, einen Fahrer zu finden, der bereit war, uns bis nach Córdoba mitzunehmen. Es war ein mit Wassermelonen beladener, kleiner LKW. Meine Eltern nahmen in der Kabine neben dem Fahrer Platz und ich sollte es mir auf den Melonen bequem machen. Erst war mir ein wenig bange. Die aufgehäuften Melonen lagen in der Mitte höher als die seitlichen Holzplanken und ich fürchtete, bei einer heftigen Bewegung des Fahrzeugs unvermeidlich auf die Straße zu fallen.
Der Fahrer versuchte, mich zu beruhigen und meinte, dass die Melonen sich durch das Gerüttel nach einiger Zeit gleichmäßig über die gesamte Pritsche verteilen würden. Dann hätte ich den bequemsten Platz an Bord.
Anfangs war es gar nicht so leicht sich irgendwo hinzusetzen. Die Melonen kullerten nach jeder Kurve in eine andere Richtung. Nahm ich vorne an der Kabine gelehnt auf den Holzplanken Platz, rollten mir ständig die schweren Kugeln über die Füße, oder schlugen mir gegen das Schienbein, was natürlich weh tat. Setzte ich mich auf das hintere Teil der Pritsche, rollten die Früchte zwar nur im Anfahren in meine Richtung, ich musste sie aber, da ich auf dem Boden saß, mit den Händen abwehren, was im Grunde noch anstrengender war. Mich auf die hinteren Planken zu setzen wagte ich nicht, weil ich Angst hatte, beim Anfahren aus dem Laster zu fallen, ohne dass meine Eltern es bemerken würden.

Eine sternenklare Nacht war angebrochen, als wir in Úbeda einfuhren. Wir waren am späten Nachmittag losgefahren und in der Zwischenzeit lag ich recht gemütlich auf den Früchten.
Tatsächlich hatten sie sich nach einiger Zeit auf der ganzen Ladefläche verteilt und so ineinander verkeilt, dass sie sich kaum noch bewegten. Sie stapelten sich zum Teil in Formationen, die bis zu drei Melonen hoch waren. In einer dieser stabilen Anhäufungen hatte ich es mir bequem gemacht.
Es war wundervoll.
Mein Körper lag ausgebreitet auf der untersten Schicht, Arme und Beine leicht angewinkelt auf einer darüber liegenden. Auf die oberste Frucht hatte ich meinen Kopf gelehnt, ein Bündel Wäsche als Kopfkissen, sodass ich wie in einem überdimensionalen Sessel aus lauter Kugeln lag und die unzähligen Sterne betrachtete, wie sie vom vorbeifahrenden Geäst unterbrochen, immer wieder am gleichen Platz auftauchten.
Wir passierten das spärlich beleuchtete Úbeda rasch. Ich hatte es mir eigentlich größer vorgestellt und war ein wenig enttäuscht, als wir kaum in der Ortschaft eingefahren, sie bereits wieder verließen. Kurz darauf hielt der Laster am Straßenrand an, wo wir an einer in Steine gefassten Quelle eine kleine Pause einlegten. Der Fahrer nahm eine der riesigen Wassermelonen von der Pritsche, schnitt einige Halbmonde davon ab und bot sie uns an.
Das rote Fruchtfleisch schmeckte vorzüglich und wir alle aßen so gierig, dass uns bereits nach den ersten Bissen der Saft übers Gesicht lief und vom Kinn träufelte. So standen wir im Halbkreis um eine kleine Petroleumlampe, die der Fahrer an einer der Planken befestigt hatte. Als die Lampe aufflackerte, sahen wir uns gegenseitig vom Staub und Melonensaft verschmiert und mussten dabei so lachen, dass uns die Tränen liefen.
Der Rastplatz lag oberhalb einer serpentinenreichen Straße, sodass man einen recht guten Überblick hatte, und einige Zeit im Voraus wusste, ob sich ein anderes Fahrzeug näherte.
Immer wieder schaute der Fahrer ins dunkle Nichts, bewegte dabei seinen Kopf langsam hin und her, um sicher zu gehen, dass ihm kein auch noch so kleines Geräusch entging. Urplötzlich hielt der Kopf mitten in einer dieser schwenkenden Bewegungen inne und verharrte einige Sekunden. Wie von der Tarantel gestochen drehte er sich plötzlich um, rannte in Richtung des Lasters und forderte uns auf, sofort aufzusteigen. Auf unsere verdutzte Reaktion hin zischte er nur „Soldaten sind im Anmarsch“, „eine ganze Kolonne“ setzte er noch rasch hinzu. Meine Mutter stotterte irgendetwas von „was für Soldaten sind…?“ Ohne auch nur das Ende der Frage abzuwarten, fuhr er sie im scharfen Ton an: „Egal welche, du dumme Kuh, ich riskiere Kopf und Kragen. Wenn sie mich mit Flüchtlingen erwischen, bin ich dran.“
Ich hatte gerade die Pritsche erklommen, als das Fahrzeug sich bereits in Bewegung setzte. Mit klopfendem Herzen tastete ich mich zu meinem Melonensessel. Er war noch genau so beschaffen, wie ich ihn verlassen hatte. Der kräftige Anfahrtsruck hatte ihn nicht verschoben und sogar mein Kopfkissen aus dem Kleiderbündel lag noch an seinem Platz. Ich hatte noch ein großes Stück der leckeren Melone retten können, der Rest war in der Hektik am Straßenrand liegen geblieben. Ich ließ mich in meinem bequemen Sessel nieder und blickte hinauf ins von Sternen durchsetzte Nichts. Hin und wieder gönnte ich mir einen Bissen von dem saftigen roten Fruchtfleisch.
Schon nach kurzer Zeit hatte ich die Angst vergessen. Mein Herz schlug wieder unhörbar in meiner Brust und eine angenehme Müdigkeit überkam mich. Anfangs hielt ich noch Ausschau nach den uns folgenden Fahrzeugen, konnte aber im dichten Schwarz der Nacht nichts erkennen, sodass ich schnell aufgab und meinen Blick alsbald wieder dem Gestirn über mir widmete.

Ein lautes Gelächter weckte mich auf.
Erst war es ein Traum, vielmehr ein Albtraum, unter dem ich als Kind oft gelitten hatte.
Ich träumte, dass ich aus dem Haus ging und die Straße hinauf bis zur Schule trottete. Die Kinder spielten im Hof. Es war offensichtlich Pause. Als ich am Geländer vorbei lief, schauten mich alle an und zeigten auf mich. Und sie lachten, grölten und jaulten, den Zeigefinger auf mich gerichtet.
Der Grund war mir nicht klar, aber ich schämte mich zutiefst. Ich rannte zurück nach Hause, noch das johlende Gelächter im Ohr, und suchte verzweifelt nach meiner Mutter. Als ich sie in der Küche antraf und mich in ihren Schoss werfen wollte, hielt sie mich zurück und sagte: „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht nackt herumlaufen, du bist doch kein Baby mehr!“
Mit diesem Schamgefühl wachte ich auf. Die frühen Sonnenstrahlen blendeten mich und erst als sich ein dunkler Kopf vor die Sonne stellte, realisierte ich, dass ich eingeschlafen sein musste und nun der Morgen angebrochen war.
Wer aber war dieser fremde Kopf, der sich regelrecht vor Lachen schüttelte, der sich zwischen mich und die Morgensonne geschoben hatte?
Als er sich etwas beruhigt hatte, gab er glucksende kehlige Laute von sich und es sprangen andere Männer auf die Pritsche, die bei meinem Anblick auch sofort in schallendes Gelächter ausbrachen.
Nachdem ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte und wieder etwas klarer durch meine verschlafenen Augen sehen konnte, erkannte ich, dass es sich um Soldaten handelte.
Inzwischen waren sie auf sämtliche Bohlen, die das Geländer der Pritsche bildeten, gestiegen. Es müssen mindestens fünfzehn bis zwanzig gewesen sein, offensichtlich wollte sich keiner die Vorstellung entgehen lassen. Und sie lachten, dass ihnen die Tränen über ihre dunklen Gesichter liefen.
Irgendwo sah ich den Kopf meiner Mutter. Sie versuchte durch eine Lücke auf die Pritsche zu klettern. Als man ihr Platz machte und sie endlich auf die Ladefläche blicken konnte, hielt sie einen Moment in der Aufwärtsbewegung inne, schaute mich an und fing auch zu lachen an. Es war ein lustiges Lachen, wie ich es von ihr von den Familienfesten kannte, wenn jemand einen Witz erzählt hatte, der ihr Gefallen fand, oder sich jemand beim Tanzen ungeschickt anstellte. Dieses Lachen beruhigte mich und auch die Scham war verflogen.
Sie streckte mir im Lachen noch die Hand entgegen, um mich zum Aufstehen aufzufordern, was ich sogleich tat. Dabei merkte ich, dass ich noch ein Stück Melone in meiner Hand hielt, und warf es auf die Seite, was mir sogleich wieder einen Schwall Gelächter entgegenbrachte.
Unten angekommen nahm mich meine Mutter in die Arme, allerdings nicht ohne mir mit ihrem Kopftuch und ein wenig Spucke über das Gesicht zu wischen.
Mein Vater und der Fahrer saßen mit grauen Gesichtern am Straßenrand. Soldaten hatten sich vor ihnen aufgestellt, während ein anderer, nicht ganz so dunkler Soldat in einigen Metern Abstand in einem Büchlein blätterte, dass ich als unser braunes Familienbuch erkannte.
Er blickte kurz auf und kam auf uns zu. Er war etwas rundlich, nicht ganz so groß wie mein Vater, und trug ein kleines Käppi, das aussah wie ein Papierschiffchen, an dem eine kleine Quaste hing, die im gleichen Rhythmus wie sein Körper beim Gehen hin und her schwankte. Er beugte sich zu mir hinab und ich erkannte einen schmalen Schnurrbart, der mit einigen wenigen weißen Haaren durchsetzt war. Freundlich lächelte mich sein rundes Gesicht an und er legte eine Hand auf meinen Kopf. Mit der anderen griff er in eine lederne Tasche, die ihm um die Schulter hing, kramte etwas umständlich darin herum, bis er schließlich einen faustgroßen Strohwickel Feigen hervorholte und mir in die Hände drückte. Fragend blickte ich zu meiner Mutter, die mir von jeher eingebläut hatte, nichts von Fremden anzunehmen. Mit einem kurzen Nicken gab sie mir schließlich die Erlaubnis, das Päckchen anzunehmen.
Auf eine Handbewegung dieses freundlichen kleinen Mannes hin setzten sich die Soldaten in Bewegung und bestiegen ihre Fahrzeuge. Unter dem knatternden Geräusch der Motoren drängte sich die Kolonne langsam an unserem Laster vorbei.
Es müssen Hunderte von Lastern, Geländewagen und Motorrädern gewesen sein, denn die Schlange der vorbeifahrenden Fahrzeuge schien mir unendlich.
Unser Fahrer saß noch immer am Straßenrand, als das letzte Fahrzeug die verengte Fahrbahn passiert hatte und blickte unbeweglich in seinen Schoß. Mein Vater war in der Zwischenzeit aufgestanden und wir begegneten uns etwa auf halbem Weg zum Laster. Sein Gesicht hatte nach wie vor die Farbe der staubigen Piste. Seine kräftigen Schultern hingen herunter, als könnten sie selbst ihr eigenes Gewicht nicht mehr tragen. Seine Arme wurden dabei so lang, als wollten sie den Boden berühren, um ihn zu stützen.
Als er uns erreicht hatte, umarmte er uns und hielt uns einen Moment lang fest an sich gepresst, sodass ich spüren konnte, wie sein ganzer Körper zitterte.
Es dauerte einige Zeit, bis die allgemeine Aufregung vorüber war und wir uns wieder beruhigt hatten. Die Erwachsenen rieben sich die Gesichter mit feuchten Tüchern ab, tranken Wasser und aßen sogar ein wenig Brot, das noch vom Vortag übrig war. Danach kehrte wie von Zauberhand die alte Farbe in ihre Gesichter zurück.
Wir saßen auf dem Boden auf einer alten Schilfdecke, die normalerweise dem Fahrer als Nachtlager diente, als meine Mutter die nahe liegende Frage wagte, wer denn diese Soldaten gewesen seien.
Der Fahrer atmete tief ein, bevor er zum Sprechen ansetzte, überlegte es sich noch einmal und mit einem tiefen Seufzer gab er zu verstehen, dass er noch nicht in der Lage sei, darüber Auskunft zu geben. Er nahm noch einen langen Schluck Wasser aus dem Botijo und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, bevor er tatsächlich berichtete, was er wusste.
Der untersetzte rundliche Herr mit dem Schnurbärtchen müsse einer der aufständischen Generäle sein, die bei Barbate vor einiger Zeit gelandet waren. Sein Name sei ihm entfallen. Die marokkanischen Truppen, die er bei sich führe, seien berühmt und berüchtigt wegen ihrer Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit. Es sei derselbe, der vor einigen Jahren einen Arbeiteraufstand in Asturien niedergemetzelt hätte. Normalerweise machen sie mit Verdächtigen kurzen Prozess: Sie schneiden ihnen einfach die Kehle durch, hieß es, so der Fahrer, und weiter, dass er sich nicht erklären könne, warum sie uns verschont hätten.
Meine Mutter schloss auf diesen letzten Satz hin ihre Augen, lächelte und schüttelte langsam den Kopf.
„Offensichtlich waren sie gut gelaunt, wie man am Gelächter unschwer erkennen konnte“, so meine Mutter. Auf die Frage des Fahrers hin, weshalb sie denn so lauthals gelacht hätten, brach meine Mutter abermals in Gelächter aus.
„Ihr hättet es sehen müssen. Es war ein Bild für die Götter, wie der kleine Pedrito zwischen den Melonen lag. Alle Viere von sich gestreckt, das Gesicht vollkommen vom roten Saft verschmiert, der ganze Körper mit schwarzen Kernen übersät und mit der einen Hand noch an einem vermanschten Melonenstück festgekrallt.“ Ihr liefen beim Erzählen die Tränen übers Gesicht und sie hatte Mühe, die Sätze zu Ende zu sprechen. Als sie versuchte einen Schluck Wasser zu trinken, prustete sie von neuem los, sodass ihr das Wasser aus der Nase lief. Spätestens jetzt lachten alle, auch ich, wenn ich mich auch ein bisschen dabei schämen musste.“

„Tony, bist du eingeschlafen?“, fragte Pierre plötzlich flüsternd, als ob er ihn in diesem Fall nicht wecken wollte. Tatsächlich war Tony leicht eingeschlummert. Hörte dabei aber immer noch fasziniert zu. Zwischen Traum und Wirklichkeit schoben sich Bilder von staubigen Landstraßen. Er roch den schweren Duft der Eukalyptus- und Pinienbäume in der Nachmittagssonne und der süßliche Geschmack nach Wassermelonen hatte sich in seinem Mund ausgebreitet.
Tony richtete sich auf und stützte sich mit den Ellenbogen auf die schmale Lehne der Bank. Er rieb sich die Augen, sodass er Pierre wieder scharf sehen konnte. Der kleine Mann saß nach vorn gebeugt da. Der gesenkte Kopf schaute auf seine zusammengefalteten Hände hinab, von denen ein dünner Faden Rauch aufstieg. Wenn er diese gekrümmte Haltung einnahm, schob sich eine Hautfalte vom Hals zum Kinn hin, die aussah als hätte er ein Strick um den Hals.
Pierre zündete an seiner Kippe einen weiteren Glimmstängel an, den er Tony weiter reichte. Vorsichtig zog Tony an der Zigarette, die um so vieles stärker war, als alles, was er bis jetzt geraucht hatte. Bisher

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rafael Cardenas
Bildmaterialien: Rafael Cardenas
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2012
ISBN: 978-3-95500-160-5

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