Cover

„Guten Morgen!“ Daniels Mutter rauschte in das Zimmer ihres Sohns. Wie jeden Morgen eilte sie zum Fenster, zog die Gardinen auf und öffnete beide Fensterflügel. Pünktlich um sieben Uhr. Daniel atmete auf. Die Nacht war vorüber. Welche Befreiung! Die Mutter brachte das Leben, ließ Licht und Luft herein. Sie huschte an Daniel vorüber und hauchte ihm einen Morgenkuss auf die Wange. Oder war es der frische Luftstrom, der den kleinen Jungen küsste? Die Mutter hatte das Zimmer schon wieder verlassen, das Morgenprogramm war eng kalkuliert.

Daniel sog langsam voller Genuss die belebende Luft durch die Nase. Sie roch so rein, so klar, sie ließ sich so mühelos einatmen. Die Luft in der Nacht war dick, sie wog schwer, sie wirkte wie pures Gift. Jetzt aber erlebte Daniel den schönsten Moment des Tages. Ein kurzer Moment des Glücks. Es waren wenige Minuten, in denen er kaum Schmerzen zu spüren schien. Ein flüchtiger Zeitpunkt, den er die ganze Nacht herbeigesehnt hatte. Ein kurzlebiger Augenblick, der dem Jungen mit den unendlich liebenswürdigen braunen Knopfaugen das Gefühl gab, als würde das Herz sich vor Wohltat strecken. Als würde der kleine Körper ganz leicht sein, sich regen und strecken. Und Daniel hatte das Gefühl, dass das Licht gemeinsam mit der klaren Luft durch seinen ganzen Körper bis in die Zehen strömte.

Eine Weile vergaß Daniel, dass sein Körper ihn im Bett festhielt und ihm unerträgliche Schmerzen zufügte. Sein Leib gestattete ihm wenig. Und jeden Tag entzog er Daniels immer noch lächelnden Augen mehr und mehr den Glanz.

Aus der Küche hörte er das Radio, das immer dann besonders laut wurde, wenn sich die Werbung einschaltete. Seine Mutter klapperte mit dem Geschirr. Viel Zeit hatte sie nicht mehr, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Sie hatte überhaupt wenig Zeit. Wie oft hatte sie gesagt, wann sie zurück sein werde und wie oft kam sie doch erst Stunden später nach Hause. Aber auch wenn es dann schon lange dunkel war: Manchmal las die Mutter Daniel noch eine kurze Geschichte aus einem Buch vor, bevor sie sich schlafen legte. Oft roch sie dann nach Bier und häufig las sie einige Wörter und Textstellen falsch vor, aber das machte nichts. Daniel kannte den Text auswendig. Er freute sich sogar, die Mutter zu korrigieren. Das gab ihm das Gefühl, auch etwas zu können.

Daniel war immer wach, wenn seine Mutter heimkehrte. Darauf konnte sie sich verlassen. Er schlief überhaupt nur sehr selten ein wenig, meistens am Morgen, wenn die Mutter zur Arbeit aufbrach. „Ich muss los, vergiss die Tabletten nicht und iss die Haferflocken auf. Soll ich das Fenster auflassen? Es ist ja heute wieder mild draußen.“ Der Junge nickte lächelnd und wenn er etwas mehr Kraft gehabt hätte, dann hätte er über das ganze Gesicht gestrahlt. Nichts war schöner, als bei offenem Fenster das Gefühl zu haben, ein wenig am Leben teilzuhaben.

Daniels Mutter brachte noch den gesäuberten Topf herein, der ihrem Sohn den Gang zur Toilette ersparte, denn diesen Weg bewältigte er schon lange nicht mehr. Kurz darauf hörte Daniel die großen Schlüssel im alten Türschloss des Hintereingangs drehen. Noch lange lauschte er den Schritten seiner Mutter im Treppenhaus. Sie wohnten in der obersten Etage im Seitenflügel eines großen alten Mietshauses. Über das offene Fenster zum Innenhof, der vollkommen umschlossen war, ließ sich im Nachhall der gesamte Weg der Mutter über alle vier Stockwerke verfolgen, bis zum Verlassen des Hofes. Wenn sie wieder nach Hause kam, nahm sie allerdings den vorderen Eingang, denn sie hasste es, über den dunklen Hof gehen zu müssen.

Dann war es still. Aber nicht so still wie in der Nacht, das war ein Glück. Daniel blickte auf die Tapete an der Wand. Sie war weiß, mit ganz schwachen grauen Linien darin, die, ungeordnet, den Anschein einer verputzten Wand geben sollten. Aber Daniel entdeckte alte Bekannte darin. Da war das Pferd, das sehr erschrocken blickte, der grimmige Zwerg, die Ziege, die auf einem dicken Stromkabel stand und der friedliche Mann mit dem Fischotter-Gesicht. Und natürlich die unheimliche Hexe mit den weit aufgerissenen tellergroßen Augen, aber Daniel vermied es, auf diese Stelle an der Wand zu blicken.

Wie viele lustige und unheimliche Geschichten hatten sich hier abgespielt. Schon oft hatte Daniel versucht, seiner Mutter die Figuren zu zeigen, aber immer vergebens. Er hatte ihr empfohlen, die Augen ein wenig zusammenzukneifen, denn dann würden noch viel mehr Figuren zu erkennen sein. Aber die Mutter erblickte nichts. Nur einen kleinen Fingerabdruck, den sie gleich mit einem Lappen beseitigte. Das habe er nur geträumt, sagte sie. Sie hat ja wenig Zeit, wahrscheinlich braucht man einfach etwas Zeit, um die Figuren zu erkennen, dachte Daniel.

Daniel öffnete langsam die Augen. Er hatte wohl geschlafen. Und ungewöhnlich lange, denn es dämmerte bereits. Sein Kopf pulsierte. Seine Glieder schmerzten und im Innern des Körpers schien sich langsam eine heiße Säure auszubreiten, um alles zu verflüssigen, was mit ihr in Berührung kam. Er durfte sich nicht bewegen, um ihr Werk zu begrenzen. Aber plötzlich flog ein kaum wahrnehmbares Lächeln in Daniels Mundwinkel. Er hörte einen wunderschönen Gesang. Eine Stimme, die er kannte.

Es war eine Amsel, die schon vor einigen Tagen auf der gegenüberliegenden Dachrinne des Innenhofs ihre Abendlieder sang. Daniels Augen wurden langsam größer, es kehrte ein Glanz zurück, der längst verblasst war. Die Amsel erfand ständig neue Melodien für ihn. Sie waren lustig und keck, aber auch geheimnisvoll und sentimental. Zwischendurch machte sie eine kleine Pause, wahrscheinlich, um sich ein neues Lied auszudenken. Diese Pause nutzte Daniel manchmal, um selbst eine Tonfolge zu pfeifen. Und die Amsel griff seine Töne auf, wiederholte sie, erweiterte sie, spielte damit.

Seit jenem Tag kam die Amsel täglich zur gleichen Zeit wieder und setzte sich an die selbe Stelle, um ihm vorzusingen und mit ihm gemeinsam zu musizieren, davon war Daniel überzeugt.

Er hätte die Amsel so gern seiner Mutter gezeigt, aber wenn sie nach Hause kam, war die Amsel bereits weg. So konnte er ihr nur davon erzählen. „Ich wär auch so gern eine Amsel“, schwärmte Daniel ihr noch vor zwei Tagen vor. „Dann könnte ich überall hinfliegen. Ich wär so leicht und könnte gemeinsam mit der Amsel überall da singen, wo es uns gefällt. Sie hat genau solche dunklen Augen wie ich, das habe ich genau gesehen! Nie mehr müsste ich in einem Bett liegen, denn Amseln schlafen im Stehen, weißt du. Das wär so schön! Meinst du, ich kann mir das vom lieben Gott wünschen? Wenn ich ihn jeden Abend im Gebet darum bitte?“ Die Mutter zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Bitten kann man Gott um alles. Aber ich habe den Eindruck, dass er keine Zeit hat.“

Daniel war völlig erfüllt von der Anwesenheit der Amsel. Ihr Gesang durchströmte ihn. Er spürte, dass die Melodien sich in seinem ganzen Körper ausbreiteten. Sie legten sich wie eine Schutzschicht in sein Körperinneres und dämpften die unerträglichen Schmerzen. Daniel fühlte sich zunehmend leichter. Vorsichtig bewegte er sich. Das war so einfach! Er schaffte es, sich aufzusetzen – und blickte direkt in die runden kleinen Knopfaugen der Amsel.

„Das ist Glück, so fühlt es sich an, glücklich zu sein“, dachte der kranke kleine Junge, irgendwo im vierten Stock eines Hinterhofs. Seine Arme fühlten sich beim Heben fast wie Flügel an. Die Amsel sang plötzlich, ohne Pausen einzulegen. Daniel verschmolz förmlich mit den Melodien der Amsel. Und er fühlte sich so leicht. Er zog die Bettdecke beiseite und stellte die Füße auf den Boden. Auch wenn die Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten, dass der bleiche Junge alle Kräfte in sich mobilisierte: Daniel strahlte kraftlos, aber glücklich.

So unendlich glücklich, wie er sich in seinem Leben noch nie erlebt hatte. Dass er aufstehen konnte, war unfassbar. Und dass er gehen konnte, gekrümmt, sich an Gegenständen festhaltend, glich einem Wunder! Aber Daniel wurde ganz ruhig. Er lächelte die Amsel mit einer tiefen Gewissheit an. Und die Amsel unterbrach kurz ihren Gesang.

Es war noch nicht dunkel. Daniels Mutter war früher nach Hause gekommen. Sie hatte sich Zeit genommen. Jetzt brauchte sie Zeit, um Daniel zu suchen. Und etwas Zeit, um festzustellen, dass er nicht da war. Sie ging zum offenen Fenster in Daniels Zimmer. Sie schaute nicht nach unten in den Hof. Nicht heute. Nicht jetzt. Sie schaute lieber nach oben, in den Himmel. Auf der Dachrinne gegenüber saß eine Amsel. Und neben ihr noch eine zweite. Als hätten sie nur auf diesen einen kurzen Blickkontakt gewartet. Die Mutter schloss das Fenster. Heute Abend würde sie einmal zeitiger ins Bett gehen dachte sie - kurz bevor sie zusammenbrach.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /