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Die große Standuhr neben dem Eingang zeigt achtzehn Minuten vor drei. Sie lässt ihren Füllfederhalter sinken. Es ist noch etwas Zeit. Ihre Finger umfassen das Glas mit dem Hagebuttentee, als wolle sie sich daran wärmen. Dabei ist es gar nicht kalt. Eine behagliche Wärme liegt über dem Kaffeehaustreiben. Die Kellnerin huscht in flachen Schuhen und einer Schürze über den hautengen Jeans zwischen den Tischen umher, das lange, dunkle Haar hat sie am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Jung ist sie, Anfang Zwanzig vielleicht. Ihr schmales Gesicht will so gar nicht zu dem breiten westfälischen Dialekt passen, mit dem sie spricht. Überall an den Backsteinwänden hängen große Spiegel und gerahmte Schwarzweiß- bilder rauchender Hollywood-Diven. In der Ecke rechts vom Eingang hat sich ein Mann in seine Zeitung vertieft. ‚Westfälische Nachrichten‘ steht in der Titelzeile, darunter ‚Schuldspruch sorgt für Empörung‘. Die Frau, die im Begriff ist, einen Traum zu zerstören, seufzt. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Teetasse und wendet sich wieder ihrem Notizbuch zu.

Wie wird es sich anfühlen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber- zustehen? Werden sie einander sofort erkennen? Wie stark wird er sein, jener Moment der Irritation, wenn sich ein inneres Bild plötzlich in Realität verwandelt? So viele Monate haben sie sich nur geschrieben, und sie haben beide lange gezögert, den Worten Taten folgen zu lassen. Die Wirklichkeit war eine Schwelle, die sie beide fürchteten, weil sie wussten, dass sie ihren Traum unwiderruflich verwandeln würde.

Drüben an der Theke zaubert der Barista die kunstvollsten Kreationen aus Milchschaum auf den Kaffee: Blütenblätter, Schmetterlinge, Löwenköpfe, Drachen. Elf Minuten vor drei. Sie überlegt, ob sie sich ausnahmsweise einen Latte Macchiato bestellen soll.

Nach dieser Begegnung wird nichts mehr so sein wie zuvor. Es ist der Schlussakkord unter einem unfassbaren Märchen. Wie hätte sie denn auch ahnen sollen, dass sich aus einer flüchtigen virtuellen Begegnung ein derartiges Epos entwickeln würde? Monatelang haben sie in Wortwolken getanzt, einander literarisch umgarnt, Geschichten miteinander geschrieben und sich rettungslos ineinander verliebt. Doch das ist Vergangenheit. Vorbei und verweht. Es gibt kein Zurück mehr.

Drei Minuten vor drei. Ihr Stift fliegt nur so über die Seiten. Und wenn er gar nicht kommt? Wenn er kalte Füße bekommen hat? Ihr in ein paar Minuten eine entschuldigende SMS schickt: Der Wagen. Die Wetterver- hältnisse. Liegengeblieben auf der Autobahn. Ich bin untröstlich, Liebes. Bitte verzeih!

Was wäre schlimmer: Wenn er sie versetzte oder wenn er tatsächlich in zwei Minuten dort drüben zur Tür hereinkäme? Pass gut auf dich auf, hat ihre Freundin ihr zum Abschied noch eingeschärft, ihre beste Freundin, die als einzige weiß, was sie heute vorhat. David weiß es nicht. Der wähnt sie gerade gemütlich ins Gespräch vertieft mit einer anderen langjährigen Freundin, die sie angeblich übers Wochenende besuchen fährt. Er war froh, dass er nicht mitkommen musste. Er hasst Small Talk.

Die Standuhr schlägt drei. Ein heller, durchdringender Klang. Das erste, was sie von ihm sieht, sind seine Hände, die eine Stuhllehne umfassen. „Hallo, Liebes.“ Ihr Blick fliegt nach oben und landet auf seinem Gesicht. Es sind erstaunlich weiche, sinnliche Züge, die ihr da entgegen lächeln. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Es war immer klar, dass es in einem Desaster enden würde. Sie zwingt sich, Gruß und Lächeln zu erwidern. Er setzt sich neben sie, über Eck, aber nah genug, dass seine Linke und ihre Rechte sich berühren könnten, wenn sie wollten. „Und nun?“ Er zieht die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nicht“, antwortet sie scheu. Ihre Hand rührt eifrig in der Teetasse, obwohl sie gar keinen Zucker in den Tee getan hat. Sie spürt, dass er sie beobachtet. „Ich bin so nervös“, sagt sie leise. Er nickt. „Ja, ich habe auch Angst.“

Das war’s. Jetzt könnte man eigentlich gehen.

Aber sie gehen nicht. Wie Schiffbrüchige sitzen sie auf ihrer kleinen Insel und weigern sich, erneut die Segel zu setzen, obwohl sie doch wissen, dass sie hier nicht bleiben können. Weich und warm breitet sich das Schweigen zwischen ihnen aus, gar nicht schwer und bleiern, wie sie es befürchtet hat. Er bestellt sich einen Cappuccino. Der kommt mit einem Segelschiff aus Milchschaum, einem Dreimaster. Sie starrt auf seine Hand, die den Löffel mitten in das Kunstwerk taucht und es mit zwei, drei winzigen Bewegungen zerfetzt. Wie es sich wohl anfühlen mag, von diesen Händen in Stücke gerissen zu werden? Es kostet sie alle Kraft, die sie aufbringen kann, ihn nicht zu berühren.

In einem anderen Leben wäre er ihre große Liebe gewesen. Aber in diesem Leben ist es längst zu spät. Er ist seit zwanzig Jahren verheiratet. Er hat Kinder. Und daheim wartet David auf sie. „Darf ich dein Haar anfassen?“ Sie nickt stumm, muss die Tränen wegschlucken angesichts seiner sanften Berührung. Gott, nichts wie raus hier! Zwölf Minuten nach drei.

Was hat sie nur veranlasst, auf diesem Treffen zu bestehen? Sie weiß es nicht. Es gab wohl keinen anderen Ausweg. Sie wäre zugrundegegan- gen an ihrer Abhängigkeit von seinen geschriebenen Worten, an ihrem unmäßigen Hunger, den Buchstaben allein nicht mehr stillen konnten. Einmal nur. Ein einziges Mal. Und dann nie wieder.

„Wir wussten beide, dass es nicht leicht sein würde.“ Seine Stimme hüllt sie zärtlich ein. „Ja. Trotzdem.“ Sie schaut ihn an. Die Farbe seiner Augen ähnelt ihrer eigenen. Ich möchte ihn so gerne küssen, denkt sie. Aber sie tut es nicht. Er seufzt. „Der Konjunktiv ist ein gemeiner Schuft.“ Sie muss lächeln. „Ein richtiger Sadist!“, nickt sie.

Am Ende küsst er sie doch. Ganz sittsam auf die Stirn. Sie möchte sich hineinfallen lassen in diese zarte Liebkosung. „Danke“, murmelt sie. „Danke, dass du gekommen bist.“ Acht Minuten nach vier. Es war nur ein Wimpernschlag. Ein kurzer Absatz inmitten einer langen Geschichte. Womöglich der letzte. Geredet haben sie kaum miteinander, nur ein paar Belanglosigkeiten und Banalitäten, um die Stimme des anderen zu hören und seine Bewegungen beim Sprechen zu beobachten, nicht um Informationen auszutauschen.

Später im Zug wird sie sich an jenen allerletzten Moment erinnern, an jenen schmerzlichen Blick und die widerstrebende Geste, mit der ihre Rechte und seine Linke sich voneinander lösten und kraftlos nach unten sanken. Sie werden einander nie wieder sehen. Vielleicht werden sie sich nicht einmal mehr schreiben. Aber nun wenigstens weiß sie es. Es war keine Illusion. Alles in ihr schreit nach seiner Nähe. Ihr ganzer Körper ist ein einziges Ja.

Nun endlich hat sie Klarheit.

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Tag der Veröffentlichung: 17.09.2011

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