Schon als kleines Mädchen habe ich mit großer Begeisterung Entführung
gespielt. Meist mussten mein bester Freund oder mein Cousin dafür herhalten. Ich ließ mich von ihnen fangen und als Geisel in dunklen Verliesen einsperren. Ärgerlich war nur, dass mein sechsjähriger Freund den Handlungsstrang stets dahingehend abwandelte, dass er lieber Lösegeld für mich erpressen wollte, als mir seine brennende Liebe zu gestehen. Mein Cousin, der ein paar Jahre älter war als ich, war da schon gefälliger. Er mimte den bösen Räuber, packte mich, drohte mir und hielt mir den Mund zu, wenn ich mit klopfendem Herzen 'Nein' und 'Bitte nicht!' wisperte. Diese Spiele waren ungemein prickelnd und aufregend – und sie waren geheim. Mir war vollkommen klar, dass ich darüber lieber nicht mit meinen Eltern redete. Noch Jahre später konnte ich meinem Cousin bei gelegentlichen Familientreffen kaum ins Gesicht sehen, weil ich mich zutiefst schämte für das, was wir als Kinder miteinander geteilt hatten. Ich begegnete ihm kühl und abweisend und eines Tages brach unser Kontakt ganz ab. Mittlerweile habe ich ihn seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Bücher und Filme wurden das Medium für meine verborgene Neigung. Nichts ließ mein Herz höher schlagen als schöne Hofdamen, die von hartherzigen Raubrittern zur Ehe gezwungen wurden, Fürstentöchter, die wilden Räuberbanden in die Hände fielen, oder Sängerinnen, die von maskierten Ungeheuern in unterirdischen Gewölben gefangen gehalten wurden. Wann immer eine Heldin gefesselt und geknebelt neben einem grausamen Schurken saß, spürte ich ein verbotenes Prickeln und insgeheim galt meine Sympathie immer dem Bösewicht. Wider alle Vernunft hoffte ich, dass er die Oberhand behalten würde, und konnte mich einer leisen Enttäuschung nicht erwehren, wenn am Ende einmal mehr der strahlende Held seine Angebetete befreite.
Noch größere Scham jedoch empfand ich dabei, dass selbst wahre Geschichten mein sinnliches Interesse weckten. Zeitungsnotizen über Vergewaltigungen, Reportagen über Sexualstraftäter oder ausführliche Berichte über Entführungsopfer dienten mir als Quelle für meine eigenen Phantasien. Natürlich war mir bewusst, dass diese Ereignisse nichts Erotisches an sich hatten, und ich empfand aufrichtiges Mitgefühl mit den Opfern. Wäre mir selbst etwas Derartiges widerfahren, hätte ich ganz sicher nicht mit Lust, sondern nur mit Entsetzen reagiert. Die Wirklichkeit war wesentlich brutaler und unbarmherziger als das, was sich hinter meinen geschlossenen Augen abspielte. Dennoch nährte sie meine Imagination. Ich wandelte das Gelesene und Gesehene stets dahingehend ab, dass der Täter in Liebe zu seinem Opfer entbrannte und sie zwar grausam überwältigte, niemals jedoch zerstörte.
Irgendwann fing ich an, meine Tagträumereien literarisch zu gestalten und sie in meinen privaten Tagebüchern festzuhalten. Ich hatte nie vor, sie zu veröffentlichen, dazu waren sie mir zu intim. Doch ich fand Vergnügen darin, mir detailreiche, groß angelegte Szenarien auszudenken, die ich in üppigen, teilweise obszönen Worten aufs Papier fließen ließ. Ich glaubte meine Phantasien zwischen den Buchdeckeln meines Tagebuchs sicher aufgehoben. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass irgendjemand sie eines Tages lesen und für bare Münze nehmen würde?
Nun aber bin ich einem Mann begegnet, der die vielschichtigen Nuancen meiner Sehnsucht nicht nur auf Anhieb erfasst und verstanden hat, sondern sich in ihnen sogar vollständig wiederfindet. Er ist der dunkle Held meiner Kindheit, der schwarze Prinz, den ich so gerne triumphieren sehen wollte, ein Meister der zärtlichen Grausamkeit.
Wenn er doch nur nicht so schrecklich real wäre...
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Ich hoffte inständig, dass sie irgendwann Vertrauen zu mir fassen würde. Natürlich verstand ich, dass sie immer wieder Zweifel befielen und ihr Widerstand aufflammte. Im Gegensatz zu mir hatte sie keine elf Monate Zeit gehabt, sich auf unser Rendezvous vorzubereiten. All das traf sie völlig überraschend und ohne jede Vorwarnung. Ich war für sie ein Fremder.
Sie hingegen war mir so vertraut, als hätten wir schon Jahre zusammen verbracht. Wie oft hatte ich sie schon beobachtet, wenn sie auf ihrer Veranda saß, im Garten arbeitete oder sich mit ihren Freundinnen in der Stadt traf. Meine Kamera hatte ein ausgezeichnetes Teleobjektiv, das es mir erlaubte, ihr auch aus der Ferne ganz nahe zu sein.
Wann immer es mir möglich war, streifte ich durch ihr Haus. Schon bald hatte ich herausgefunden, wo sie den Ersatzschlüssel für ihre Eingangstür versteckt hielt. Das ermöglichte es mir, mich auch längere Zeit in ihrer Wohnung aufzuhalten, wenn sie Kurse gab oder an Lesungen teilnahm. Ich nutzte die Zeit, um ihre Tagebücher zu lesen, ihre Gewohnheiten zu studieren und gelegentlich meine Nase in einem der Kleidungsstücke zu vergraben, die sie getragen hatte.
Schon damals war ich völlig besessen von ihr. Wenn ich längere Zeit keine Gelegenheit hatte, ihr zu folgen, weil meine eigene Arbeit mich zu sehr in Anspruch nahm, wurde ich missmutig, unruhig und gereizt. Von daher graute mir vor der dunklen Jahreszeit, die sie meinen Blicken viel zu lange entziehen würde.
Den gesamten Winter verwendete ich darauf, ihr Zimmer vorzubereiten. Die vorhandenen Wasseranschlüsse erlaubten es mir, ihr ein kleines Bad einzurichten. Ich verkleidete die Wände des Raumes mit Dämmplatten, ersetzte die ursprüngliche Tür durch eine schalldichte Doppeltür und stattete die Lüfteröffnungen mit Dichtlippen aus.
Natürlich gelang mir nicht alles auf Anhieb. Ich war kein Handwerker und mehr als einmal fluchte ich wie ein Pferdekutscher, weil die Rohranschlüsse nicht passten oder das halbe Bad unter Wasser stand. Doch ich fand Rat und Hilfe in diversen Heimwerkerforen und schließlich konnte ich mein Vorhaben wohlbehalten beenden.
Mit einem geliehenen Lieferwagen transportierte ich die Einrichtungsgegenstände in mein Haus, schaffte alles in den Keller und schraubte dort die Möbel zusammen. Ich bestellte die Bücher, die ich ihr zur Verfügung stellen wollte, kopierte die Musikdateien auf ihrem Rechner und kaufte ihr Kleidung.
Schließlich besorgte ich unter der Hand das Betäubungsmittel. Alles war für sie bereit. Und als ich las, dass sie sich für eine Weile aus der Öffentlichkeit zurückziehen wollte, um sich ihrem neuen Roman zu widmen, da hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, sie endlich zu mir zu holen.
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Dies ist kein Spiel. Es ist bitterer Ernst. Dieser Mann ist wild entschlossen. Er ist mit jeder Faser seiner Seele davon überzeugt, mir einen Gefallen zu tun. Für ihn bin ich eine verwunschene Prinzessin und seine Aufgabe in diesem romantischen Epos ist es, mich zu erlösen. Als gesichtsloser Fremder kam er in mein Haus, griff nach mir und trug mich einfach fort. Er nahm mir den Himmel, den Wind und die Erde, raubte mir die Sonne und den Gesang der Vögel und reduzierte mein Dasein auf weiße Wände und eine bleigraue Tür.
Seine Forderungen sind klar und unmissverständlich: Nur wenn ich mich ihm hingebe, mich all seinen sexuellen Wünschen unterwerfe und bereit bin, Schmerz und Demütigung für ihn zu ertragen, wird er mich am Ende frei lassen. Einen anderen Weg hier heraus gibt es nicht.
Was für eine Ironie des Schicksals! Zum ersten Mal in meinem Leben bietet sich mir die Chance, den Triumph meines düsteren Heros‘ hautnah mitzuerleben. Die Sache hat nur einen Haken:
Sein Triumph ist mein Verderben.
Texte: Titelbild (c) Rainer Sturm / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2011
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