Enough is enough is enough
I can’t go on, I can’t go on, no more no
Wie in Trance starrte sie aus dem Fenster auf das schmutzige Grau der Betonwände. Nur beiläufig registrierte sie das Aufflackern und Verlöschen der vorüberfliegenden Neonleuchten. Der Sitzplatz, den sie ergattert hatte, und die Kopfhörer ihres MP3-Players isolierten sie vollständig von den übrigen Fahrgästen, die im Feierabendverkehr dicht gedrängt in den Gängen der U-Bahn standen.
Enough is enough is enough
I want him out, I want him out that door now
Der Disco-Beat des alten Donna-Summer-Songs grub sich mit jeder Wiederholung tiefer in ihr Hirn, mischte sich mit den gleichmäßigen Erschütterungen der Räder auf den Schienenschwellen. Ihre Finger krampften sich um die Tasche, in der sie ihre monatliche Gehaltsabrech- nung trug. Diesmal würde der Betrag nicht mehr ausreichen, ihr Konto auszugleichen.
Is enough is enough is enough is enough
is enough is enough is enough is ENOUGH
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
Es war genug, in der Tat.
Seit fast zwei Jahren war er arbeitslos und in den letzten Monaten hatte er nicht einmal mehr Anstalten gemacht, sich einen Job zu suchen. Angesichts seines abgebrochenen Studiums und seines haarsträubenden Lebenslaufes standen seine Chancen, eine halbwegs brauchbare Stelle zu finden, tatsächlich schlecht. Die wenigen halbherzigen Bewerbungen, die er auf den Weg gebracht hatte, hatte man ihm postwendend wieder zurückgeschickt. Es hätte einer besonderen Findigkeit und beharrlicher Willenskraft bedurft, um trotz dieser widrigen Umstände beruflich wieder Fuß zu fassen, und mit beidem hatte das Schicksal ihn nicht gerade großzügig ausgestattet.
Er schätzte es nicht, sich anstrengen zu müssen. Rückschlägen, Hindernissen und Frustrationen ging er am liebsten weiträumig aus dem Weg. Er genoss es, in den Tag hinein zu leben, sich an den kleinen Dingen zu freuen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Und ganz besonders liebte er es, Geld auszugeben – jenes Geld, das sie mit ständig steigenden Überstunden und nächtlichen Bereitschaftsdiensten verdiente.
Dabei war sein Konsum keineswegs selbstsüchtig motiviert, oh nein! Seine Ausgaben dienten in erster Linie ihrem gemeinsamen Vergnügen. Er kaufte ihr sündhaft teure Spitzenunterwäsche oder erstand handgefertigte Lederpeitschen, Pranger und antik anmutende Eisenfesseln, um sie leiden zu lassen wie eine Königin. Das Problem war nur, dass sie sich diesen Luxus auf Dauer nicht leisten konnten.
Ihn jedoch schien das nicht weiter zu kümmern.
„Ach komm, Süße, lass den Kopf nicht hängen! Wir sind nur einmal jung“, antwortete er leichthin, wenn sie sich über seine Verschwen- dungssucht beklagte. „Du bekommst doch bald wieder Weihnachtsgeld – und auf dem Sparkonto haben wir auch noch ein paar Euro.“
Gewiss, sie verdiente nicht schlecht, aber sie war es doch immer gewohnt gewesen, mit ihren Finanzen sorgsam zu haushalten. Schulden zu machen lag nicht in ihrer Natur. Und es machte ihr schwer zu schaffen, dass er sich so schamlos von ihr aushalten ließ. Aber das gemeinsame Konto aufzulösen, sein Budget streng zu begrenzen und ihm das Haushaltsgeld einzeln in die Hand zu zählen, brachte sie noch viel weniger übers Herz. Sie ertrug seinen Zorn und seine Enttäuschung nicht, wenn sie das versuchte. Es war entwürdigend, wenn sie ihn derart bevormundete, ihn kurz hielt wie einen kleinen Jungen.
Entwürdigend für sie beide.
Deshalb würde sie ihre Beziehung heute beenden.
Es war der einzige Ausweg, den sie noch sah.
Sie hatte sich alles schon ganz genau ausgemalt: Sie würde ihren Mantel an den Haken hängen, sich an den Küchentisch setzen, die Schultern straffen, tief durchatmen und ihn ansehen. Und dann würde sie es ihm sagen. Es ist aus
, würde sie sagen, und: Ich will, dass du ausziehst.
Sie hatte keine Kraft mehr, diese Beziehung noch länger fortzusetzen. Sie fühlte sich wie gefangen, die ständigen Sorgen und Zweifel schienen sie von innen her aufzufressen. Noch nie zuvor in ihrem Leben war sie mit einem Mann so unglücklich gewesen. Er mochte ein wunderbarer Liebhaber sein und sie geradezu abgöttisch lieben. Aber am Ende des Tages waren es andere Dinge, die zwei Menschen zusammenhielten.
Wenn sie den unvermeidlichen Schritt noch länger hinausschob, würde sie an dieser Liebe früher oder später zugrunde gehen.
***
Er saß im abgedunkelten Wohnzimmer vor dem Fernseher, als sie nach Hause kam. Über den 40-Zoll-Flachbildschirm, den sie einst gekauft hatte, als sie noch daran geglaubt hatte, dass ihre Liebe für ein ganzes Leben reichen würde, flimmerte irgendein Spielfilm aus der Videothek. Das heißt, jetzt gerade flimmerte es nicht, denn er hatte die Pausentaste gedrückt, wie immer, wenn er ihren Schlüssel im Schloss hörte.
Sein Lächeln schnitt ihr ins Herz.
„Hallo, meine Schöne, wie war dein Tag?“
Mit hellen, wachen Augen sah er sie an. Es lag so viel Wärme, so viel Liebe in diesem Blick. Sie konnte darin lesen, wie glücklich es ihn machte, sie zu sehen.
Eine bleischwere Müdigkeit legte sich auf ihre Schultern. Die wenigen Schritte bis zum Küchentisch kamen ihr vor wie die letzten Kilometer eines Marathonlaufs.
Sie starrte auf den Küchenboden, der leidlich sauber war.
„Du siehst erschöpft aus.“ Er erhob sich vom Sofa und kam zu ihr herüber. „Hat euer Chefarzt dich wieder geärgert?“
Wie beiläufig strichen seine Fingerspitzen über ihre nackten Arme.
Sie spürte, wie ihre Haut diese zarte Berührung gierig in sich aufsog.
„Lass mich!“, fauchte sie, wohl eine Spur zu heftig, und suchte seine Hände abzuschütteln, als wären es lästige Fliegen. Doch er ließ sich nicht so leicht vertreiben.
„Süße, was ist denn los? Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“
Er strich ihre Haare zur Seite und küsste sie auf den Nacken.
„Zieh dich aus!“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Ich werde schon dafür sorgen, dass du deinen Ärger vergisst.“
Seine Stimme hatte diesen unmissverständlichen Klang, diese Mischung aus hungrigem Begehren und unbändiger Zärtlichkeit. Alles in ihr schrie danach, ihm zu gehorchen. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, seiner Wärme, seinen Berührungen, nach seiner sanften und dennoch unnachgiebigen Führung. Noch nie zuvor hatte sie ihn so sehr gewollt wie in diesem Moment. Aber es ging nicht, sie durfte ihrem Sehnen nicht nachgeben.
Sie hatte sich anders entschieden.
„Nein!“ Woher nahm sie nur die Kraft, jetzt aufzustehen und sich damit seiner fordernden Umarmung zu entziehen? „Ich will das nicht. Nicht heute. Nie mehr!“
Einen Moment lang Stille.
Dann sein fragendes Echo: „Nie mehr?“
Seine Augenbrauen wanderten in Richtung Haaransatz. „Nie mehr? Bist du sicher?“
Sie durfte jetzt nicht den Fehler begehen, in seine Augen zu schauen. Sie kannte diesen unschuldigen, weichen, leicht schelmischen Kinderblick, kannte ihn nur zu gut, kannte das zarte, wehmütige Sehnen darin und dahinter, auf dem Grund der blaugrauen Iris, den leisen, kaum wahrnehmbaren Spott, der ganz genau um ihre Schwäche wusste. Wenn sie jetzt in seine Augen sah, war sie verloren.
Also wandte sie sich zum Fenster und blickte starr hinaus, den Rücken gerade, die Füße fest verwurzelt.
„Es ist vorbei“, sagte sie, die Stimme so fest, wie es ihr nur irgend möglich war. „Ich will, dass du ausziehst.“
***
Die Stille im Raum war erdrückend.
Nur das unregelmäßige Surren und Raunen der Spülmaschine durchdrang das Schweigen.
Sie wollte sich am liebsten umdrehen, um eine Ahnung von seiner Reaktion zu erhaschen, doch sie wagte es nicht, seinem Blick zu begegnen. Deshalb starrte sie weiter aus dem Fenster, auf das graue, fleckige Pflaster der Terrasse im Erdgeschoss, an dessen Rändern der ungepflegte Rasen ihres Nachbarn wucherte.
Wie oft hatten sie gemeinsam hier am Fenster gestanden, während die Abendsonne die Wipfel der Lindenbäume zum Leuchten brachte, er dicht hinter ihr, die Arme eng um ihren schlanken Leib geschlungen, sein spürbar hartes Glied an ihren Hinterbacken, seine Lippen dicht an ihrem Ohr! Wie oft hatte sie sich in seinen Armen verloren, hatten ihre Brüste, ihr Herz, ihr Mund und ihr Schoß in seinen Befehlen und seinen Liebkosungen eine Heimat gefunden!
Doch das war Vergangenheit.
Sie konnte, sie durfte nicht mehr zurück.
Sein Schweigen irritierte sie nun doch.
Als sie sich umdrehte, lehnte er am Kühlschrank und sah sie aufmerksam an. „Du verlässt mich also, weil ich in deinen Augen ein nichtsnutziger Versager bin.“
Seine Stimme klang ruhig, fast sachlich. Doch er vermochte sie nicht zu täuschen. Der haarfeine Sprung in seinem Timbre schnürte ihr fast die Kehle zu.
Trotzig musterte sie die schmutzigen Kacheln über dem Herd.
„Du bist kein Versager. Aber ich kann so auf Dauer nicht leben.“
„Und du denkst, ohne mich kannst du es?“
Ich hoffe es
, fuhr es ihr durch den Sinn.
Statt einer Antwort presste sie nur die Lippen fest aufeinander.
„Was ist, wenn ich mich weigere zu gehen?“
Entgeistert starrte sie ihn an. „Du kannst nicht…“
„Doch, ich kann. Ich liebe dich, Bettina, und ich werde ganz sicher nicht kampflos von dannen ziehen.“
Hörbar sog sie die Luft ein.
Sie spürte, dass die Situation ihr zu entgleiten drohte. Auf gar keinen Fall durfte sie zulassen, dass er ihr die Zügel aus der Hand nahm.
„Dies ist meine Wohnung, Michael. Ich allein entscheide, wer hier ein und ausgeht.“
Schweigen.
Er stand vollkommen reglos, mit vor dem Brustkorb verschränkten Armen.
Bitte geh
, flehte sie in Gedanken. Bitte zwing mich nicht, dich raus- zuwerfen!
„Also gut“, sagte er schließlich, „ich akzeptiere deine Entscheidung. Unter einer Bedingung.“
Mit einer gemessenen Bewegung löste er sich vom Kühlschrank und kam auf sie zu. Ehe sie es sich versah, fand sie sich in seinen Armen wieder, ihre Handgelenke mit festem Griff auf dem Rücken gekreuzt. Sein Atem streifte ihre Stirn.
„Ich gehe. Wenn du willst, gehe ich auf der Stelle. Du musst nur eines tun: Sieh mich an und sag mir, dass du mich nicht mehr liebst.“
Sie erstarrte. Wurde zur Salzsäule in seinen Armen.
„Das ist doch gar nicht der Punkt…“, presste sie hinter zusammen- gebissenen Zähnen hervor.
„Doch, das ist der Punkt. Für mich ist das der einzige Punkt, der wirklich zählt. Ich liebe dich, Bettina. Du bist die wundervollste Frau, die mir je begegnet ist. Und wenn ich auch deinen Erwartungen vielleicht nicht gerecht werde, so hast du mich doch lange Zeit geliebt, so wie ich bin. Du musst mich nur ansehen und mir sagen, dass das vorbei ist, dass du aufgehört hast, so für mich zu empfinden, dann verschwinde ich aus deinem Leben und behellige dich nicht länger mit meiner liederlichen Lebensart.“
Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.
„Lass mich los!“, keuchte sie.
„Du weißt, was du tun musst, damit ich dich loslasse.“
„Was bist du nur für ein gottverdammter Arsch! Ich hasse dich!“
„Tu dir keinen Zwang an, meine Liebe.“ Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „Du darfst mich von ganzem Herzen hassen, solange du mich trotzdem liebst. Sag mir, dass du keine Liebe mehr für mich empfindest, und ich gehe auf der Stelle.“
Der Kloß in ihrem Hals verwandelte sich in einen dicken Klumpen.
Von aufrechtem Rückgrat und festem Stand konnte keine Rede mehr sein.
„Bitte tu das nicht“, krächzte sie, „verlang das nicht von mir.“
Seine Hände gruben sich in ihr Haar, zogen sanft, aber bestimmt ihren Kopf in den Nacken.
„Sieh mich an.“ Sie starrte auf sein Kinn. „Sieh mich an, Bettina!“
Es war längst zu spät.
Ihr Versuch war kläglich gescheitert.
In dem Moment, da ihre Blicke sich trafen, wusste sie, dass sie verloren hatte.
Sie weinte, als er sie an sich zog und sie küsste, weinte auch noch, als er sie ohrfeigte und bäuchlings über den Küchentisch warf, er wolle sie lehren, ihn noch einmal so zu erschrecken.
Ja, sie weinte sogar noch, als sie Stunden später in seinen Armen lag und seinen ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen lauschte, wohlig geborgen, befriedigt und gesättigt, die Haut von Striemen übersät.
Mit brennenden Augen starrte sie in die Dunkelheit, während der immer gleiche stählerne Refrain unerbittlich gegen ihre Schläfen hämmerte.
Enough is enough is enough
I can’t go on, I can’t go on, no more no
Morgen.
Morgen wäre sie stark genug.
Morgen würde sie ihn verlassen.
Texte: Titelbild (c) Uwe Duwald / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2011
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