In der vierten Woche meiner Gefangenschaft, als ich mich gerade von einer schweren Influenza erholte, überraschte mich mein Entführer mit einer unerwarteten Eröffnung:
„Ich habe, während du krank warst, viel über das nachgedacht, was du einst gesagt hast. Du hattest Recht: Wenn ich wirklich will, dass du dich mir aus freien Stücken hingibst, dann muss ich dir auch die Wahl lassen, es nicht zu tun. Ich habe daher einen Entschluss gefasst. Ich werde deine Gefangenschaft befristen, von heute an auf sechs Wochen. Nach Ablauf dieser Frist werde ich dich gehen lassen, wie auch immer du dich bis dahin entschieden haben magst.“
„Ist das dein Ernst?“ Ich traute meinen Ohren nicht.
„Ich gebe dir mein Wort darauf.“
Ich wusste nicht, welchem Umstand ich diese glückliche Wendung zu verdanken hatte, doch es war mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Freilich ließ Grischa seiner Eröffnung noch im selben Atemzug einen Nachsatz folgen:
„Ich stelle allerdings zwei Bedingungen und diese Bedingungen sind unverzichtbar. ... Die erste lautet: Keine Fluchtversuche mehr! Wenn du auch nur ein einziges Mal noch versuchst zu fliehen, verfällt unsere Abmachung sofort.“
Sein Tonfall war ungewöhnlich scharf. Aber seine Bedingung war keine Last für mich. Was kümmerten mich Fluchtgedanken, wenn ich darauf hoffen konnte, diese Mauern am Ende unversehrt verlassen zu dürfen?
„Nimmst du diese Bedingung an?“
Das Herz schlug mir bis zum Hals. „Ja, ja, natürlich!“
„Es ist mir wirklich ernst, Susanne, ich warne dich. Wenn du noch einmal so töricht sein solltest, an Flucht auch nur zu denken, schließe ich dich hier unten ein bis zum Sankt Nimmerleinstag.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich verspreche es. Ich werde nicht mehr versuchen zu fliehen.“
Mit der Aussicht auf meine künftige Freiheit war ich sicher, dass ich mein Wort halten würde.
„Und was ist die zweite Bedingung?“
„Ich möchte dein Tagebuch lesen.“
***
Wie sehr hat sie diese Szene geliebt! Sie weiß noch genau, welche Gefühle den Entstehungsprozess begleitet haben, sieht die inneren Bilder vor sich, die sie in Worte gegossen und in die Tastatur getippt hat. Susannes Bedrängnis, ihre Angst und ihre Verzweiflung sind ihr so präsent, als wäre es gestern gewesen.
Für den Fortgang der Geschichte war es wichtig gewesen, ihrer Heldin so zuzusetzen. Susanne musste sich ja entblößen, musste ihr Innerstes preisgeben, um dem männlichen Protagonisten und damit auch der Plotentwicklung in die Hände zu arbeiten.
Wie hätte sie damals ahnen sollen, dass die Wirklichkeit ihre Imagination so gründlich einholen würde?
Ihr Tagebuch ist seit Jahrzehnten ihr persönlicher Schutzraum, ein Ort, der nur ihr allein gehört. Hier ist sie frei, ihre Gedanken ungehindert aufs Papier fließen zu lassen, sie auch ins Unreine zu sprechen, ungeordnet, unzensiert, chaotisch und ohne jede Struktur. Während sie schreibt, lichten sich ihre Gefühle. Manche werden klarer, treten deutlicher hervor, andere verblassen und weichen zurück. Sie erlaubt sich sogar, Dinge auszusprechen und hinzuschreiben, für die sie sich schämt und die ihr zu schaffen machen, Gedanken, die sie lieber nicht denken würde, Wahrheiten, die nur schwer auszuhalten sind. Im Bannkreis ihres Tagebuches dürfen sie sich ausbreiten und Gestalt annehmen, dann können sie ihr im Alltag nicht so gefährlich werden. So manche ungeheuerliche Idee verliert an Macht und Bedeutung, sobald sie das Papier berührt. Und nun das!
***
„Nein!“, entgegnete ich heftig. „Grischa, das geht nicht. Bitte verlang das nicht von mir.“
„Einverstanden, vergessen wir die ganze Angelegenheit.“
Entsetzt starrte ich ihn an. Stellte er mich wirklich vor diese Wahl? In meinem Tagebuch standen Dinge, die er auf gar keinen Fall erfahren durfte. Ich trug es ständig bei mir oder versteckte es unter dem Kopfkissen aus Angst, dass er es heimlich lesen könnte. Ich konnte es ihm nicht geben. Das konnte er unmöglich von mir fordern.
„Bitte, Grischa, dieses Tagebuch ist der letzte Rest von Würde, der letzte Rest von Privatsphäre, den du mir gelassen hast. Nimm mir das nicht auch noch weg.“
„Mach dir deswegen keine Sorgen, Susanne. Es ist völlig in Ordnung. Ich werde deine Weigerung ohne Wenn und Aber akzeptieren. Wahrscheinlich war das alles von vornherein keine so gute Idee.“
Er spielte mit mir. Es war ein grausames Spiel.
„Heißt das, du ziehst dein Angebot wieder zurück?“
„Ich sagte dir, diese beiden Bedingungen seien unverzichtbar.“
„Aber warum? Warum?“, fragte ich tonlos.
„Du musst mir eine redliche Chance geben, dieses Spiel trotzdem zu gewinnen. Durch die Befristung deiner Gefangenschaft gebe ich freiwillig einen beträchtlichen Teil meiner Vorrangstellung auf. Ich möchte diese Einbuße durch einen Einblick in dein Tagebuch wieder wettmachen.“
***
Seine Worte klingen noch in ihren Ohren. Ruhig und kaltblütig hat er sie ausgesprochen, mitleidlos und unerbittlich. Er hat keinerlei Hemmungen, eine derartige Forderung zu stellen. Schließlich hat sie ihn betrogen, hat ihn belogen und hintergangen, und nun soll sie beweisen, dass sie wirklich bereit ist, alles zu tun, was nötig ist, um ihre Beziehung zu retten.
„Gib mir dein Tagebuch. Ich will wissen, was du in den letzten drei Monaten gedacht hast.“
In all den Jahren, die sie zusammen leben, hat er nie danach gefragt, was sie in ihr Notizbuch schreibt. Sie konnte ihre Hefte offen herumliegen lassen und sich dennoch sicher sein, dass er nie einen Blick hineinwerfen würde. Nicht nur weil er ihre Privatsphäre bis zum heutigen Tag vorbehaltlos respektiert hat, sondern auch weil er nicht gerne liest. Er hasst Buchstaben und quält sich nur widerwillig durch beschriebene Seiten. Dass er nun dennoch ihre geheimsten Gedanken studieren will, zeigt ihr, wie verletzt er ist.
Sie kennt ihn so gut. Sein Ansinnen ist keine Drohung. Es ist ein Hilferuf. Die verzweifelte Suche nach einem Strohhalm, der sie beide retten kann. Er will wissen, wie schlimm es wirklich ist – und ob es eine Chance gibt, ihr zu verzeihen. Er ringt um eine Möglichkeit, sie nicht zu verlassen.
Vermutlich würde der Einblick in ihr Tagebuch ihn sogar beschwichtigen. Seite um Seite hat sie darin um ihre Liebe gekämpft, hat ihre Nöte und Zweifel dargelegt, ihren Kummer und ihre Verlassenheit in Worte gefasst. Ja, gewiss, sie hat auch von jenem anderen Mann gesprochen, der mit Macht ihr Herz berührt hat, aber sie hat ihren Liebsten dabei niemals bloßgestellt. Auf jeder einzelnen Seite ist spürbar, welchen Platz er in ihrem Herzen hat, auch wenn sie sich nicht mehr sicher ist, ob sie wirklich mit ihm leben kann.
Aber wenn sie ihm jetzt ihr Tagebuch überlässt, dann zerstört sie damit ihren Schutzraum. Sie wird nie wieder eine Zeile zu Papier bringen können, ohne daran zu denken, dass er sie womöglich lesen wird. Sie wird nie wieder frei sein. Der Zauberraum, in dem sich ihre Seele auf so wundersame Weise reinigt, heilt und klärt, ist dann für sie verloren, und zwar unwiderruflich.
***
Sein Ansinnen war vollkommen logisch und einleuchtend. Zumindest aus seiner Sicht. Ob er ahnte, wie sehr er mit seinem Wunsch ins Schwarze getroffen hatte? Wenn ich ihm dieses Tagebuch aushändigte, lieferte ich mich ihm damit gänzlich aus. Er hätte mich dann völlig in der Hand.
„Bitte gib mir Bedenkzeit. Ich kann das nicht sofort entscheiden.“
„Nein. Ich möchte nicht, dass du Seiten herausreißt oder Stellen schwärzt. Entweder du gibst es mir jetzt auf der Stelle oder wir diskutieren diese Angelegenheit nicht länger.“
Aufgewühlt wanderte ich zwischen Bett und Regal auf und ab, die Hand auf meinen Mund gepresst, mein Blick unstet und ruhelos.
„Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst? Woher weiß ich, dass du mich am Ende wirklich gehen lässt? Wer sagt mir, dass du nicht einen Tag vor Ablauf meiner Frist deine Meinung erneut änderst und dann doch beschließt, mich dauerhaft hier zu behalten?“
„Niemand.“ Er schüttelte den Kopf. „Du wirst mir vertrauen müssen. Ich gebe dir mein Wort darauf. Wenn du deinen Teil der Abmachung erfüllst, erfülle ich auch meinen. Das ist ein Versprechen und ich pflege meine Versprechen zu halten. Aber beweisen kann ich dir das natürlich nicht.“
In mir tobte ein heftiger Aufruhr. Er bot mir die geschützte Aussicht auf Freiheit, auf ein zeitlich klar definiertes Ende dieses Alptraums. Der Preis jedoch dafür war die völlige Entäußerung meiner Seele. Was sollte ich nur tun? Wie konnte ich sein Angebot annehmen, ohne dafür alles andere aufs Spiel zu setzen?
„Ich muss wieder nach oben, Susanne. Um zwei erwarte ich einen Anruf. Entscheide dich. Jetzt!“
Ich schloss die Augen. Es gab für mich keinen anderen Ausweg. Meine einzige Chance, diesem Schrecken zu entrinnen, führte mitten durch die größte Gefahr. Wie in Trance holte ich das Tagebuch unter meinem Kopfkissen hervor, drückte es noch einmal an mich und atmete tief durch. Dann drehte ich mich um und überreichte es meinem Entführer. Es kostete mich alle Kraft, die ich noch hatte, ihn dabei anzusehen.
***
Er schaut sie an. Bittend, flehend geradezu. Sie spürt, wie sehr schon allein ihr Zögern ihn verletzt. Er kann gar nicht fassen, dass sie immer noch zaudert. Dass sie nicht mit fliegenden Fahnen zu ihm überläuft, nicht freudig diese Chance ergreift, ihre Beziehung zu retten. Sie muss sich jetzt zu ihm bekennen, sonst hat sie ihn verloren.
Wortlos greift sie nach ihrer Handtasche und holt ihr Tagebuch heraus, ein kleines Heft mit festem Einband, die Seiten eng beschrieben. Die Heimat ihrer Seele.
Sie sieht zu ihm auf und ihr wird klar, dass dies das Ende ist.
Wenn sie ihm dieses Buch überreicht, wird sie ihn danach nicht mehr lieben.
Es gibt nur eine einzige Antwort.
Nein.
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2011
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