Prolog
Simon sitzt auf der schäbigen Bank vor der "Arche Noah" und blinzelt in die Sonne.
Er denkt an seine Frau und daran, dass sie eigentlich schon lange nicht mehr fehlt. Er denkt an Bilder, die sprechen, und an tote Zwillinge. An Lissa und Maik. Und er denkt darüber nach, was er mit alledem zu tun hat. Aber er kommt nicht darauf.
Alles löst sich auf in seinem Kopf, und jeder Gedanke, den er zu halten versucht, verliert sich ins Nichts.
Es macht alles keinen Sinn, denkt Simon. Alles keinen Sinn.
Und er überlegt, ob er aufstehen und irgendwo hin gehen soll, aber er weiß nicht, wohin. Also bleibt er sitzen, und die Sonne wandert weiter.
1.Teil
Baby, Life's what you make it
(Talk Talk)
1.
Noch 6 Kilometer, zeigt das Navigationsgerät an. Leos Bus wackelt und röhrt und holpert durch einen Nachmittag, der gar keiner ist, und es würde mich nicht wundern, wenn er kurz vorm Ziel doch noch den Geist aufgeben würde.
Es ist, obwohl Spätsommer, so dunkel draußen, dass Leo das Licht angeschaltet hat. Regen peitscht die Straße und hämmert auf die Windschutzscheibe.
Wie gut, dass ich so wenig Dinge besitze. Sonst müssten wir den ganzen Krempel durch das Wetter da draußen schleppen.
Dieses Auto konnte mich noch nie leiden, da bin ich mir sicher. Wann immer Leo dabei war, war es lammfromm und beugte sich zahm meinem Willen, wenn ich mich hinter das riesige, von buntem Plüsch umhüllte Lenkrad klemmte. Aber kaum hatte er uns den Rücken zugewandt, kaum war er außer Sicht- und Hörweite – da versagte mit einem genüsslichen Gurgeln der Motor, entledigte sich der Wagen mit großer Selbstverständlichkeit seines Auspuffs, versank das Fenster auf der Fahrerseite mit einem kleinen, ärgerlichen Geräusch komplett in der Tür. Letzteres geschah selbstverständlich im Winter.
Ich rief Leo an und petzte, was dem Bus vollkommen klar sein musste. Leo eilte pflichtschuldigst herbei, um nach seinen Streithähnen zu schauen.
Deine Aura, sagte er dann immer, küsste mich und tätschelte den Bus, zu dem er ein sehr persönliches Verhältnis pflegte.
Deine alte Scheißkarre, hielt ich ihm entgegen. Aber eigentlich glaube ich auch, dass es meine Aura ist. Die hat so einiges auf dem Kerbholz.
Ich merke plötzlich, wie müde ich bin nach den letzten Tagen. Leo wirft mir immer wieder Blicke von der Seite zu. Je weiter wir aus der Stadt herausfahren, desto öfter. Ich schließe die Augen, aber der Satz kommt trotzdem, als es noch 3 Kilometer sind bis zu dem Haus, in das ich mich unsterblich verliebt habe:
"Lissa, wir haben es noch nicht ausgesprochen."
"Was?", murmle ich. Ich bin müde, signalisiere ich. Totmüde. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gespräche.
Aber eigentlich wissen wir beide sehr gut, dass es keinen richtigen Zeitpunkt für solche Gespräche gibt. Vor allem nicht mit mir. Ich weiß das am allerbesten. Ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Ich habe das alles schon sehr oft erlebt, aber einen richtigen Zeitpunkt hat es irgendwie noch nie gegeben ...
"Schau mich an."
"Du musst auf die Straße sehen", sage ich und füge hinzu: "Du hast schließlich äußerst wertvolle Fracht an Bord", aber meine Ironie versandet irgendwo zwischen mir und ihm, und er sagt unbeirrt:
"Das ist eine Trennung, nicht wahr?"
Ich schweige. Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich bin eine Meisterin in so etwas. Im Hinauszögern von Antworten. Im Winden und Selbst-nicht-wissen und Offen-lassen.
"Wir werden es sehen, Leo. Vielleicht tut uns die Distanz ganz gut."
"Ich hätte keine Distanz gebraucht, Lissa. Das weißt du."
Nun sieht er mich doch an, und ich starre demonstrativ auf die Straße und rufe "Vorsicht", als dreihundert Meter von uns ein müder alter Hund entlangschlurft.
"Ich fahre dich hier in die letzte Ecke dieser verdammten Stadt, weil du das so willst, aber ich hätte keine Distanz gebraucht."
Ich rauche.
"Ich liebe dich, Lissa. Und ich habe mir immer gewünscht, dass du mich brauchst. Aber ich glaube, du brauchst niemanden auf der Welt."
Warum tut er das jetzt? Eben haben wir noch einhellig über Musik geplaudert! Jetzt geht es plötzlich so pathetisch zu. Und dann diese kleine, wütende Bewegung, Handrücken auf Wange, dazu einmal kurz und scharf die Nase hochgezogen. Ich kenne das alles.
Er hat recht. Ich brauche niemanden. Niemanden, der hier auf dieser Welt ist.
Schade, dass Leo so nett ist. Das tut mir leid.
Noch 200 Meter. Am Ende der Straße tauchen die Giebel meiner neuen Heimat auf: Kapellengässchen 23. Ich drücke die Zigarette aus und beuge mich nach vorne, um dieses Auftauchen voll auszukosten.
Ich weiß nicht so genau, was es ist, aber noch bevor ich meine zukünftige Wohnung das erste Mal betreten habe, dachte ich: Das ist es. Das ist das Haus. Da will ich leben.
Das hatte ich noch nie vorher. Der Mietvertrag war praktisch unterschrieben, bevor ich einen Fuß hineingesetzt hatte.
Ich war gar nicht so aktiv auf der Suche. Das hatte auch nichts mit Leo zu tun. Ich habe hin und wieder mal Anzeigen studiert, eher als Hobby, und diese klang toll, und das war es dann.
"Das letzte? Auf der linken Seite?", fragt Leo, aber ich antworte ihm nicht. Ich starre noch. "Riesiger Kasten, was?", sagt er.
Ja, es ist groß. Und total verspielt. Hier mal einen Erker angebaut, da mal ein Türmchen, da einen Balkon. Ganz oben habe ich beides: Einen Turm und einen Balkon. Das alles zu einem Mietpreis, der sich eher liest wie ein Garagenstellplatz – in der Innenstadt, zugegeben. Aber trotzdem.
"Ziemlich verfallen, Liss", murmelt Leo mit belegter Stimme. Passt doch zu mir, will ich sagen, aber ich spar mir das. Er ist niemand, den man ärgern möchte. Warum sollte ich ihm so etwas sagen. Ich lächle bloß auf eine Art und Weise, von der ich vage hoffe, dass sie zuversichtlich wirkt.
In der Tat mache ich mir keine Sorgen über solche Dinge. Dieses Haus und ich – das war klar. Das war einfach klar. Und ja, es ist ziemlich heruntergekommen. Aber es gibt wenigstens nichts anderes vor.
"Es ist ein ehrliches Haus", versuche ich es, aber Leo schaut mich bloß an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte.
Und auch das stimmt ja nun. Leo ist ein kluger Junge. Und schleppen kann er wie ein Maultier.
Die Wohnung ringt ihm dann doch Respekt ab. Sie ist groß. Sie wäre hell, wenn es draußen hell wäre. Und überall liegt schöner Holzfußboden, dunkelbraun und warm.
Zugegeben, die Wände brauchen einen Anstrich – aber das ist kein Problem. Ich habe ja nur drei Möbel, ungefähr. Die kann ich ein bisschen herumrücken beim Streichen. Und auch Bad und Küche müssen gründlich in die Mangel genommen werden. Aber ich habe alle Zeit der Welt.
Ein Neuanfang. Ich fange ganz langsam an. Ich bin nicht unbegabt in diesen handwerklichen Dingen, und manchmal mache ich sie gern. Gerade habe ich Lust darauf.
"Du wirst Hilfe brauchen", sagt Leo, gebückt, weil beladen mit meinen Dingen. Ich winke ab.
"Du musst nicht immer so hilfsbereit sein", möchte ich ihm sagen, er soll mal an sich denken, ich zum Beispiel denke unentwegt an mich – aber ich sage nichts.
Er fragt sich natürlich, was ich mit all dem Platz will. Schließlich sind wir nur dreimal nach oben gestapft, und jetzt ist alles wirklich wichtige hier. Aber auch dazu äußere ich mich nicht. Ich möchte die Rücklichter seines Busses im Regen verschwinden sehen. Dann schau ich in aller Ruhe weiter.
Der Flur riecht, wie ein Hausflur riechen muss: nach Holz, nach Staub, nach dem Essen, das meine neuen Nachbarn sich gekocht haben. Die Treppe wird nach oben hin immer schmaler, in meinen höchsten Stock hinauf windet sich nur noch eine knarrende Holzstiege. Der Hausflur ist durchbrochen von großen halbrunden Fenstern und von kleinen, runden Mosaikfensterchen, und im vierten Stock, kurz vor dem letzten Absatz, thront ein kleiner Erker, den allerdings ein staubig-trauriger Birkenfeigenbaum vollkommen in Beschlag genommen hat. Er starrt nach draußen, und ich fühle mitleidig seine Erde und bringe ihm Wasser.
Ich habe Leo meine Pflanzen geschenkt – sie mögen keine Umzüge. Ich überlege, welche Pflanzen ich brauche. Birkenfeigenbäume sind immer gut, denke ich.
Als erstes schließe ich meine Stereoanlage an. Abends zünde ich ein paar Kerzen an und schalte die Lampen aus, die mein Vormieter hinterlassen hat. Ich lege mich in meinem Türmchen auf die Erde und starre durch das Fenster nach draußen in den Nachthimmel. Mittlerweile ist es aufgeklart, und ein paar schüchterne Sterne blinken.
Ich bin glücklich. Ich bin voller guter Vorsätze. Ich werde mein Abitur nachmachen, und dann werde ich studieren – auf Lehramt, vielleicht, Lehrer suchen sie doch gerade wie bescheuert. Sprachen. Am liebsten Literatur. Oder Musik, oder Kunst. Ich werde tagsüber arbeiten und abends die Schulbank drücken, und ich werde nicht mehr von Leo abhängig sein und auch von keinem anderen.
Ich lausche auf die leisen Klänge, die sich aus dem Alltag der Menschen unter mir hinaufschummeln. Ein Fernseher. Ein Kinderlachen. Ein Knall – was auch immer. Ich lächle bei dem Gedanken, dass sich meine Alltagsgeräusche nun unter die der anderen mischen. Mit ihnen eine Alltagsmelodie ergeben, die für keinerlei Ohren gedacht ist, die keinen weiteren Sinn erfüllt.
Vielleicht bringe ich ein Schild mit meinem Namen unten an – dann werden sie neugierig darauf lugen und einen Moment hoffen, dass ihnen mein Name etwas darüber sagt, wer ich bin. Vielleicht werde ich aber auch eine ganze Weile keinen Namen unten anbringen. Eigentlich gefällt mit der Gedanke viel besser.
Ich fange gerne neu an. Ich mag es, wenn mein Leben in Bewegung ist.
Was Leo betrifft: Er konnte nicht ernsthaft damit rechnen, dass das lange hält zwischen uns. Ich meine, ich habe ihm nie etwas vorgemacht. Er kennt mein bisheriges Leben – den Flickenteppich, der sich so nennt. Als ich ihn kennen gelernt habe, hatte ich nicht mal eine Wohnung.
Menschen, die Anspruch auf Stabilität erheben, machen mich nervös. Ich wundere mich immer ein wenig darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ausgerechnet auf ihre Mitmenschen bauen wollen. Als ob es das alles nicht gäbe: Gefühle, die sich ändern, Krankheiten, Tode. Und trotzdem versuchen sie es immer wieder.
Ich habe Leo gesagt, dass ich immer einsam sein werde. Wenigstens bin ich mir darüber im Klaren.
Die Maschine gurgelt und schmatzt und weiht meine neue Küche mit dem Geruch nach frischem Kaffee ein. Ich habe kaum geschlafen und mir aus dem Schlafzimmerfenster den Sonnenaufgang angeschaut. Keine Wolke am Himmel heute. Nun drehe ich, die Kaffeetasse in der Hand, eine Runde durch meine neue Bleibe, um mir im Detail anzuschauen, was so getan werden muss.
Einiges. Aber ich habe ja Zeit. In anderthalb Wochen erst gehen die Kurse der Abendschule los.
Ich brauche Lappen. Reinigungsmittel. Farbe. Im Kopf mache ich eine Liste. Ich bin gespannt darauf, wie lange ich die Umgebung erkunden muss, um diese Dinge zusammenzubekommen.
Wie fände er es?
Nein!
Welche Ecken würden ihm am besten gefallen?
Ein kurzes Herzrasen – zu vertraut ist die Situation, als dass sie über weiche Knie weit hinausgehen würde. Ich sacke in der Küche in mich zusammen, lehne mich an die Wand, schlinge die Arme um meine Beine.
Nein – nein – nein.
Was würde er denken angesichts der großen Sonnenvierecke auf dem Boden, der verranzten Küche, der Aussicht auf das halb verfallene Hinterhäuschen, überwuchert vom Grün des Gartens?
Was habe ich gedacht? Was kümmert ihn ein Umzug? Kaum bin ich hier, erhält auch er Einzug. Streift mit mir durch die Wohnung, schaut mit mir nach draußen, lauscht mit mir Tom Waits' rauchiger Stimme. Und hinterlässt mich stets mit der Frage:
Was würde er denken? Was würde er sehen? Was würde er als erstes tun?
Er ist immer da. Aber immer in Form einer Frage, einer Leerstelle, einer fehlenden Hälfte.
Nein, ich bin nicht mehr erstaunt.
Ein paar Mal habe ich gedacht, es wäre vorbei. Und nun weiß ich, dass es nie vorbei sein wird. Eigentlich weiß ich es längst.
Ich werde mein Leben führen an der Seite eines Loches. Wenigstens das ist gewiss. Ich muss mich damit abfinden und den Rest einfach darum herum aufbauen. Wir zwei, das ist alles. Wenigstens sind wir wieder alleine.
Alles andere habe ich in der Hand: ein Abitur, ein Studium, ein Beruf.
Im Hinterhaus steht einer am Fenster und raucht. Gute Idee. Ich beschließe, noch ein wenig auf dem Boden in der Sonne zu sitzen und den Beginn meiner Renovierungsarbeiten noch etwas zu vertagen.
Erst mal ankommen.
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2011
Alle Rechte vorbehalten