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Schlafe. Lass dich nicht stören von dem Restlicht der Speckfunzel. Achte nicht auf das lichtschwache Fächeln, das ich auf der Palette und meiner Leinwand ja mindestens noch brauche, damit ich die Farben nicht ganz verfehle. Tu so, als wäre ich nicht da, und die Funzel nicht, und gar nichts, was dich hindern könnte zu schlafen, kein Blick auf dir und nichts. Niemandem nützt es, wenn ich ungeduldig werde.

Bald wird der Mond richtig stehen.
Er wird sich aus dem oberen linken Fensterquadrat heraus vor die Landschaft quetschen, eine unförmige weiße Stirn zuvörderst, wie der Topfkopf des weißen Pottwals, uns zu necken, uns zu foppen, dann wird er schnell mehr von sich zeigen, die Gänze der zerschundenen Speckhaut, spottend mich den Jäger.

Aber nein, ich bin vorbereitet. Ich habe die Geschwindigkeit berechnet, sein Auftauchen im richtigen Quadranten, das Aufklappen der fahlen Kiefer über Tisch und Bett und Mensch, über Staffelei und Wand, ich weiß, wie wenig Zeit dem Harpunier im Ernstfall bleibt.

Ich nehme vom Öl und etwas mehr vom Terpentin und ziehe auf der Palette die weiche Fettspur, wie ich sie geträumt habe seit Tagen, mit dem Marderpinsel quer durchs hell vermischte Grau und Neapelgelb, ich bin, ich flüstere es mir zu: bin bereit.
Und du liegst seit Stunden bäuchlings auf dunklem Laken. So wolltest du, so beschlossen wir, dass es sei.
Ich kenne keine Darstellung Endymions, die seine Hinterbacken zeigt, aber ich glaube sehr wohl, dass die Mondin auch Endymions Hinterbacken liebt. Neapelgelb und sehr viel Weiß, aber ein schwaches Zinkweiß, kein Titanweiß, etwas Preußischblau, sehr wenig nur:
das ist die Art, auf die der Mond das Menschenfleisch zärtelt:
auf seine zurückhaltende Art, die zwar entblößt, aber nie an den Geheimnissen rüttelt.

Es ist wichtig, dass du schläfst und nicht nur so tust, als schliefest du. Ich achte auf deinen Atem. Du weißt, ich kann sehr pedantisch sein in manchen Belangen (ein richtiger Vater, wie du neulich mit gespieltem Abscheu meintest).

Der schwierigste Moment wird sein, wenn der Mond das Fensterkreuz erreicht, ich habe alles genau vermessen, auch die Hürden.
Das Hindernis wird auf deinen Rücken etwas Flirrendes pinseln, schwer zu fassen, auseinanderfächernd vom Nackenwirbel zum Steißbein, das wird der Augenblick sein, der über alles entscheidet, der unwiederholbare, zwei Katzenzungenpinsel liegen bereit, ein helles Grau ist angemischt und eines, dem ich einen Spritzer Rot zugesetzt habe, und doch kann alles anders kommen.

102:22:37 Houston: Eagle, Houston. We have you now. Do you read?
102:24:02 Aldrin: Loud and clear.
102:24:04 Houston: Roger. We see you Verb Four Seven.
102:24:12 Aldrin: Yeah. I don’t know what the problem was there. It just started oscillating around in yaw. According to the needle... We’re picking up a little oscillation right now, as a matter of fact.
102:24:23 Houston: Roger. We’ll work on it.

Zwei Wochen lang habe ich den zunehmenden Mond kurz vorm Untergang beobachtet, wie er das krumme Maul ins Fenster schob und aufquoll und hinunter glitt zum Fensterkreuz, habe das Zimmer beobachtet, habe den bleiblassen Schimmer auf dunklen Laken und fleischfarbenen Decken studiert, die sich öffnenden Kiefer, habe meinen nackten Arm ins Mondlicht gehalten und Mischverhältnisse ausprobiert, Neapelgelb und sehr viel Weiß, Titanweiß zuerst, aber das war falsch: ein verhaltenes Zinkweiß stattdessen, das hat auch mich überrascht, und etwas Preußischblau statt Schwarz, sehr wenig nur, und falls Kobaltblau, dann nur eine Messerspitze, denn ein Grün darf daraus keinesfalls entstehen, jedes Grün wäre eine Katastrophe, dann lieber eine Messerspitze von dem unsäglichen Schwarz als auch nur ein Spritzer zu viel von so tückischem Blau.
Und dennoch kann heute alles anders sein, ihr ahnt ja nicht, welche Überraschungen der Mond bisweilen bereithält.
Schläfst du schon? Ich horche auf deinen Atem. Der Mond schiebt sich ins Fenster.

102:43:46 Armstrong: Okay, how’s the fuel?
102:43:52 Aldrin: Eight percent.
102:44:02 Armstrong: Okay. Here’s a... Looks like a good area here.
102:44:04 Aldrin: I got the shadow out there.
102:44:07 Aldrin: Two fifty. Down at two and a half. Nineteen forward. (Pause)
102:44:13 Aldrin: Altitude-velocity lights.
102:44:16 Aldrin: Three and a half down, two twenty feet, thirteen forward. (Pause)
102:44:23 Aldrin: Eleven forward. Coming down nicely.
102:44:25 Armstrong: Gonna be right over that crater...


Und Endymion ist dein Auftrag an mich und mein Angebot an dich, mich einzulassen auf dein Anderssein, das ich undramatisch nenne, für das Verständnis zu haben ich dennoch erst lernen muss.
Deinen Freund hast du kennen gelernt, als ihr fünfzehn wart, seither habt ihr euch in mir unverständlichem Einvernehmen ausprobiert, mit jeweils anderen Jungs und Mädels. Aber jetzt, in diesem Sommer, seid ihr auf diese Weise schon fünf Jahre zusammen und versucht euch im Erwachsensein. Und du sagtest mir, Neil, denn du nennst mich plötzlich Neil und nicht länger Paps, du sagtest: Mal mir doch, Neil, ein Bild von mir, vielleicht einen Akt, den ich Chris schenken kann zum Fünfjährigen. Ein Bild, das ihm deutlich macht, ich liebe ihn und schenke mich ihm, und jetzt ist Schluss bei mir mit anderen Jungs, und das ihm sagt, ich fordere nichts im Gegenzug als nur: Sei nett zu mir, behüte mich, sei behutsam und tu mir niemals weh...

Und dann blicktest du mit Braunaugen in mein Schreckgesicht, das sich ballte um eine Angst und klein und runzlig wurde vermutlich: um einen brennenden Vorwurf und tausend gravitätische Ratschläge herum. Und du blicktest mit Großaugen, mit großen Jungenaugen, und sofort hörte es auf, mich von innen zu verschlingen, und dann sagtest du doch wieder Paps, denn:
Das kannst du doch! Paps?
Und ich sagte, das könne ich wohl, und du solltest dein Gemälde haben, es sei mein Geburtstagsgeschenk an dich; und wunderte mich nur, dass junge Menschen vor ihrem Vater keine Scheu mehr haben, nie hätte ich gewollt, als Kind nicht und mit zwanzig nicht, dass mich der Commander nackt sieht.
Ich platziere den Pinsel an die markierte Stelle der Leinwand, mitten ins vorgrundierte Blauschwarz, und merke sofort, fühle es: zuviel Farbe am Pinsel, es fühlt sich falsch an, viel zu weich, erster Fehler, ich zucke zurück, ich streiche die Pinselkante über den Rand der Palette, zurück zur Leinwand, ich korrigiere. So anzufangen ist keine Meisterleistung.
Du schlaf, Endymion. Schlaf, mein Junge.
Deine Schultern fast farblos jetzt, entfärbt vom Unlicht der Mondin.
Und ich will es gut machen, endlich richtig gut. Ich will doch, dass ihr stolz auf mich seid. Ich adoptiere deinen Chris, indem ich in das Ölbild, das du von mir verlangst, mein ganzes Können lege.
Und es mag zutreffen, was meine Freundin sagt, dass ich auch meinem verinnerlichten, inneren Vater eins auswischen will.
„Ich male meinem schwulen Sohn ein schwules Bild.“
„Was hälst du davon, Commander?“
Ja, und. Ich reise also wieder zum Mond. Auch wenn ich, während ich auf das richtige Licht warte und auf den Augenblick der flirrenden Schatten, mich dabei anstelle wie der wütige Kapitän der Pequod. Wenn ich aufgekratzt bin wie Ahab, der dem perfekten Pottwal die eigene, schreckliche Versehrtheit vor die Fluke knallt - und ihm den umgedrehten Spieß direkt ins Herz pflanzen will, als gewönne dabei einer ein Bein.

Und in meinen Augen, fragtest du mich vorhin, seist du also ein Endymion?
Nicht du, sagte ich, sondern was auf der Leinwand entstehe, enstehen könne, wenn du denn endlich schlafen würdest. Das war vor drei Stunden. Zwei Gläser warme Milch, ein Kännchen Baldriantee, zwei Flaschen Bier – längst hätten dir die Augen zugefallen sein sollen. Nenn mich einen Puristen, aber es ist wichtig: dass du, wenn die Schatten flirren, nicht nur so tust, als schliefest du.
Und was, fragtest du, unermüdlich wie ein kleines Kind, sei denn eigentlich ein Endymion?
Und ich kam mir plötzlich alt vor. Ob du denn nicht gegoogelt hättest, neckte ich dich, in Wikipedia reingeschaut, deine Chatfreunde gefragt. Und du zucktest die Schultern.
Er sei wohl sehr schön gewesen, sagte ich, ein griechischer Junge, in den sich die Mondin Selene verliebt hatte. Sie habe ihn in einen Schlaf fallen lassen, der allerdings ein Schlaf der besonderen Art gewesen sei, ein Schlaf, der das Altern, den Verfall aufgehalten hätte. Denn Selene sei es um nichts weniger als um die Ewigkeit gegangen, Himmelskörper hätten da wohl etwas altertümliche Vorstellungen.
Endymion, sagte ich, schlafe folglich bis heute, unverbraucht vom Leben wie Dorian Gray, aber ohne ein Bildnis, das statt seiner Buch geführt hätte über seine Lebensjahre, denn schlafend hat Endymion keine Lebensjahre, über die irgendjemand Buch führen müsste; nur deshalb zeigten alle Bilder von Endymion ihn noch heute so, wie er tatsächlich immer gewesen sei.
Du schütteltest den Kopf und erklärtest den Mond zu einer Tyrannin, und ich sagte, nur eine Diebin sei sie, aber darüber wolle ich mich nun nicht weiter ausbreiten; worauf es mir ankäme bei dieser Geschichte sei weniger, dass Selene ihren Geliebten nicht wirklich leben ließe, sondern dass sie im Gegenteil die Grenzen anerkenne, über die hinaus man einen Menschen und seine Träume nicht besäße, es sei denn, wir wollten ihn hässlich werden lassen. Sie streichelt ihn mit ihrem Licht und behütet ihn, und greift nicht nach ihm und dringt nicht in seinen Traum. Das sei es, was wir vom Mond lernen könnten, selbst dann, wenn wir ihm selbst entgegenjagten und unsere Fahnenstangen in seine Flanken stießen. Selene sei die Streichelnde, und ihr Streicheln sei ein so luftiges, berührungsloses, dass man zwar annehmen könne, Selene sei durch dieses nicht-greifende, luftige Streicheln zwar entweder weise geworden oder sehr melancholisch inzwischen, aber...

Hier brach ich meine Erörterungen ab, da du zwar nicktest, ich aber fürchtete, dich zu überfordern, weil ich dich mit einem Leiden konfrontieren müsste, das du vielleicht noch nicht kennen gelernt hattest, oder von dem ich nicht wusste, ob es dir schon bekannt sei, jedenfalls wollte ich es dir ersparen, mitten im Leben und in deiner Jugend dem Tod zu begegnen in irgendeinem unvorsichtigen Gedanken, und da ich dich plötzlich als schutzbedürftig begriff, und infolgedessen mich selbst in meiner Vaterrolle wiederfand, lehnte ich mich zurück und behauptete sehr bestimmt: Wenn dein Chris dich liebt, wird er jedenfalls das Bild zu würdigen wissen.
Und merkte sofort, dass du den Konjunktiv, den ich, einem glücklichen Reflex folgend, im letzten Augenblick zwar vermieden hatte, doch noch deutlich heraushörtest. Du errietst also meine Zweifel. Ich schämte mich für meine Zweifel, die dich verletzten, die meine Arroganz verrieten und mein Unverständnis, und so fügte ich schnell hinzu: Also wird er das Bild zweifellos lieben!
Und nun schlafe. Sofort!

Du ließest den Oberkörper auf die Matratze plumpsen, kniffst die Augen zu, lächeltest breit, und es war wohl nicht daran zu denken, dass du so bald einschlafen würdest. Aber ich liebte dich sehr in diesem Augenblick, und es ist mir schwer erklärbar, wieso diese große Liebe mit einer ebenso großen Traurigkeit einherging, aber so war es. Ich glaube, ich trauerte um mich selbst, das heißt: um einen zu früh gescheiterten Entwurf meiner selbst.

Und du weißt um meine Liebe zu dir und kannst sie annehmen, und ich wusste nichts von der Liebe des Commanders zu mir und hätte sie auch niemals annehmen wollen, und ich salutierte irgendwann vor seinem Sarg und weinte nicht, aber das ist eine andere Geschichte, die nie erzählt zu werden braucht, nämlich eine Geschichte von unserer Machtlosigkeit und der Tatsache, dass die Dinge sich eben ergeben wie sich die Dinge ergeben, mit einer ziemlich abschüssigen Neigung hin zur Auslöschung der Dinge.
Der Mond steht vielleicht für Ungeträumtes, das plötzlich wahr wird; bevor man nicht Vater geworden ist, hält man es für normal, dass Menschen zur Welt kommen.
Es ist genauso wenig normal, dass Menschen zur Welt kommen, als es begreifbar ist, dass Menschen zum Mond gekommen sind. Du kamst zur Welt, und in Berlin fiel die Mauer.

Wie hat es sich angefühlt, zwanzig Jahre früher, zwanzig Jahre vor diesen beiden unglaublichen Ereignissen, als an einem bestimmten Julitag der Mond mir ins Bewusstsein gestürzt war; als die Mutter mich auf den Arm nahm, als sie auf den Mond zeigte und sagte:
Dort laufen jetzt welche herum, zweibeinige, ungefiederte Wesen; hüpfen von Krater zu Krater und sammeln Säcke voll Mondstaub!
Wie hat es sich angefühlt, als der Commander meinen Kinderstuhl vor den Schwarzweißfernseher schob, aus dem ein krächzendes Raunen in unverständlichem Idiom drang und nach jedem Krächzen ein kurzes, hochfrequentes Fiepen; auf dessen Schirm ein paar wolkige Muster vor grauem Nebel zu erkennen waren und zwischen den Mustern glühende Gestalten, die, vom eigenen Phantomschatten verfolgt, mit seltsam hüpfenden Zeitlupenschritten über eine helle, leicht gebogene Ebene liefen, etwas wie Koffer transportierten und vor allem diverse Spieße in den Boden rammten? Als die Mutter auf den Schirm zeigte und dann aus dem Fenster, mitten in den Himmel?
Vielleicht verstand das kaum dreijährige Kind, was eine Fernsehübertragung ist, vielleicht auch nicht; die Bilder aber, welche die Eltern in Euphorie versetzten, vergaß es seine ganze Kindheit nicht, und die ersten, einsamen Kinderspiele im Garten waren Mondlandungsspiele, das verschlossene Kind allein auf dem Mond, es imitierte die Bewegungen und krächzte und fiepte für sich und dachte sich den Garten schwarzweiß, während der Commander am Gartentor stand und ein Auge darauf hatte, dass es das Kind nicht zu bunt trieb, und das Kind rammte Holzspieße in den Sand, Spieß um Spieß. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an den neuen Namen gewöhnte, bis jetzt hatte ich Nestor geheißen, jetzt rief mich der Commander Neil.

Der Onkel allerdings erklärte dem Kind anhand eines Apfels und eines Springballs, wie es da vor sich ging im Weltall, und das Kind hörte zu, und nach einer Weile hatte es diese Dinge durchaus begriffen, aber der Onkel musste noch und noch ihm die unerhörte Mechanik der Himmelskörper erklären und wieso man von den Kugeln nicht herunterfiel, dann steckte sich das Kind den Gummiball in den Mund und schaute aus dem Fenster, wo ein schwach leuchtender Mond im Nachmittagshimmel hing, und es blinzelte angestrengt, ob sich dort tatsächlich etwas bewegte, ob da etwas hüpfte und am Mondgesicht kratzte, und mit konzentriertem Blick auf den Mond schlief es ein.

Später, gegen Ende der Pubertät, schämte sich der junge Mann seiner früheren Faszination und zog sein Interesse von dem Thema ab. Es schien ihm nicht länger angebracht, neben der Liebe und dem Weltfrieden einem amerikanischen Mythos seine Aufmerksamkeit zu widmen. Nixon war wie Ronald Reagan nur ein kalter Krieger gewesen, und Kennedys Vision hatten ihm die Militärs diktiert, for sure.
Irgendwann allerdings fiel die Mauer und du kamst zur Welt, du blinzeltest in den Julinachmittag. Ich lernte wieder zu staunen, und im Fernsehen wiederholten sie die Bilder der ersten Mondlandung. Du hattest die Augen offen bei der Geburt, ich bin mir ganz sicher.
Und noch einmal sind zwanzig Jahre vergangen, und während ich dich male, landen Neil und Buzz ein drittes Mal auf dem Mond, und Michael Collins hockt wieder eingekapselt in seiner Blechdose und sieht kein einziges Bild auf dem Monitor, aber er kommentiert, was er nicht sieht, und sagt „great“ und immerzu „great“ und „great!“

Ich habe nicht mehr viel Zeit. Schon streicht dir Selene sanft ein fahles Walfett über die Flanke, ich muss richtig hinschauen, denn Weiß ist nicht Weiß, das faule Hirn gaukelt uns ein Farbloses vor, aber die Natur mischt den Regenbogen nie zu makellosem Weiß. Die Welt ist bunt, auch in ihrer scheinbaren Reinheit.

Sie wagt es, dich schamlos zu berühren. Sie wagt es, deine Nacktheit offen zu legen, sie tastet sich vor, deinen schmalen Rücken hinunter. Du schläfst heute für sie und weißt es nicht. Und jede ihrer Berührungen vollziehe ich nach, ich streichle die Leinwand, nicht dich, aber Malen ist Lieben, das klingt esoterisch und banal, aber so ist es, denn sonst säße ich nicht hier mit einer Speckfunzel, lauernd auf ihre Fächerfinger, lauernd auf die Eigenheiten des gestohlenen Lichts, denn der Vollmond stiehlt sein Licht, er hat kein eigenes, Selene ist eine Diebin, und mein Pinsel gleitet über die Leinwand, ich bin kein Anfänger, ich weiß:
so- und soviel Zeit bleibt mir, so- und soviel Licht bleibt mir noch, das Licht hat einen genau berechneten Winkel, meine Harpune ist scharf und dreifach gehärtet, mein Arm geübt, und bevor der Wal abtaucht, hebt er die Fluke auf unverwechselbare Weise.

Ich stelle mir deinen Chris vor, wie er eifersüchtig wird auf die Mondin, und deshalb stehle ich ihr, soviel ich ihr in der kurzen Zeit ungestraft stehlen kann. Und schon erreicht sie das Fensterkreuz, und dessen Schatten kippt langsam über die Wand dir zu. Die Luft im Zimmer flirrt.

102:45:17 Aldrin: Fourty feet, down two and a half. Picking up some dust.
102:45:21 Aldrin: Thirty feet, two and a half down. (Garbled) ...shadow.
102:45:25 Aldrin: Four forward. Four forward. Drifting to the right a little. Twenty feet, down a half.
102:45:31 Houston: Thirty seconds (of fuel left).
102:45:32 Aldrin: Drifting forward just a little bit; thats good. (Garbled) ... (Pause)
102:45:40 Aldrin: Contact Light.
102:45:43 Armstrong: Shutdown.
102:45:44 Aldrin: Okay. Engine stop.
102:45:45 Aldrin: ACA out of Detent.
102:45:46 Armstrong: Out of Detent. Auto.
102:45:47 Aldrin: Mode Control, both Auto. Descent Engine Command Override, Off. Engine Arm, Off. Four-One-Three is in.
102:45:57 Houston: We copy you down, Eagle.
102:45:58 Armstrong: Engine Arm is Off.
(Pause)
Houston, Tranquility Base here.
The Eagle has landed.

Der vorpräparierte Pinsel. Eine lange, überzeugte Bahn, ohne abzusetzen. Die Ränder. Anders als erwartet.
Das Flirren sieht anders aus auf deinem Rücken, als ich es erwartet hatte. Da kann man noch so vorausschauend sein, noch so...
Aber es geht. Es wird gut werden. Ich denke an Chris und wie er damit umginge.

102:46:06 Houston: ... Roger, Twan... er, Tranquility. We copy you on the ground. You got a bunch of guys about to turn blue. We’re breathing again... Thanks a lot.

Wer sich einlässt mit dem Mond oder sich hinsetzt und malt, oder wer sich auf die Suche macht nach dem großen, weißen Wal, oder wer ein Kind zeugt, oder wer aufs Leben schaut und auf das, was sie Geschichte nennen, und wer alle diese Dinge erzählen will: der sollte darauf gefasst sein, dass ihm dort, wohin es ihn zuletzt absetzt, andere Dinge begegnen, als er erwartet hätte; der sollte den Umgang mit dem Fremden üben, und mag er sich zuvor auch den Kopf wund und alle zehn Finger krumm gerechnet haben, am Ende knickt das Landegestell der Mondfähre nicht ein und die Leiter reicht nicht bis zum Boden.

Das Bild ist fertig. Mein schwules Bild für meinen schwul gewordenen Sohn. Du schläfst, ich erkenne es an der Art, wie du atmest. Ich ziehe eine Bettdecke über dich, mache ein Bier auf und setze mich ans Kopfende der Matratze. Ich fische dir eine Locke aus dem Gesicht. Ich will dir glauben, dass Chris dich liebt. Alles andere geht mich nichts an.
So sitze ich mehrere Stunden. Ahab macht seinen Frieden mit dem Wal. Es wird hell. Aus dem Radio dringen immer noch leise Stimmen, dringt immer noch das hochfrequente Fiepen, das anzeigt, dass ein anderer Sprecher das Wort ergreift.

Sie flogen dort hinaus. Das ist vierzig Jahre her. Jetzt sind sie wieder dort oben, Neil und Buzz, und erneut sitzt Mike Collins in seiner schwebenden Blechdose ohne ein Bild von dem Geschehen unten, und ich blicke auf und sehe aus dem Fenster, schaue hoch zum Firmament, aber der Mond ist inzwischen untergegangen.
Der Himmel ist weit und ohne Sterne, und nichts scheint sich dort zu bewegen.
Wenn man dort draußen herumfliegt, eingeweckt in eine Blechbüchse, abgekapselt von allen übrigen Erdenbewohnern, dann füllt man die Stille mit technischen Durchsagen, Berechnungen, mit gesteigerter Aufmerksamkeit für Anzeigen und Schalter. Der Lärm der Sonne bleibt einem erspart, im luftleeren Raum existiert kein Schall, das Dröhnen des Sonnenofens würde uns wohl sonst den Verstand rauben.
Sie sahen wenig unterwegs. Die Erdenmurmel, klein, blau, zerbrechlich. Sie umflogen den Mond, und ins Bild schob sich graue Spachtelmasse, sie verschluckte die Glasmurmel, und dann wurde es sehr still, denn jetzt musste auch Houston schweigen. Und dort, auf der anderen Seite des Mondes: sahen sie hinaus ins unfassbar Weite? Sie kannten noch nicht die Hubble-Bilder von verrührten Eidottern hinter Rauchglas, sie sahen nichts von den Darmschlingen der Raumzeit, von den in Zeitschleifen festgezurrten Flocken explodierender Welten.
Als sie gelandet waren, wunderten sie sich, dass sie das Meer der Ruhe kaum aufgewühlt hatten, es entstand nicht einmal ein winziger Krater unter dem Triebwerk.
Sie wunderten sich über die Abwesenheit von Staubwolken, es gibt keine Wirbel auf dem Mond, jedes aufgescheuchte Staubkorn folgt einzeln einer exakt festgelegten ballistischen Bahn. Sie wunderten sich, obwohl sie letzteres durchaus berechnet hatten. Dann stiegen sie aus und hämmerten ihre Fahnenstange in den Mond.

Fast wäre ich eingeschlafen. Ich streiche mit dem Handrücken über deine Wange, verlasse das Atelier und lasse dich dort zurück.
Endymion. Morgen wirst du wachwerden und als erstes das Bild sehen. Der Mond hat es gemacht.
Ich fühle mich gut. Ich bin froh. The Eagle has landed.
Tranquility Base here.


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Tag der Veröffentlichung: 18.12.2008

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