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Bitter

 

 Ich schaltete den Fernseher aus.

Plötzlich war alles so still…

Nichts rührte sich, kein Geräusch verlangte meine Aufmerksamkeit.

Nur das stetige Ticken der Uhr verriet, dass die Zeit weiter ging, die Welt sich weiter drehte.

Es war 22.00 Uhr abends, die Nacht schien durch die Wohnzimmerfenster. Der warme Schein der kleinen Stehlampen verlieh dem Raum etwas Besinnliches.

Einsam saß ich in einer Decke eingehüllt auf meinem Sessel, starrte auf den Minutenzeiger und hoffte, dass jetzt genau in diesem Moment nichts passierte, was fatal wäre. Nichts an diesem anderen Ort, wo sie jetzt gerade war.

Sie war der Geist, der mich nicht ruhen ließ, der mich verfolgte, heimsuchte.

Doch was tun?

Denn kaum ließ ich mich von der Stille öffnen, kamen die alten Sorgen wieder hoch, wie Würmer die man unter einem Haufen Bioreste vergraben hatte.

Irgendwie vermehrten sie sich und fanden von ganz alleine zurück zum Tageslicht.

Und dann verpuppten sie sich, nur um einem wie lästige Fliegen um den Kopf zu schwirren.

Und so erschien auch wieder dieses Gesicht vor meinem inneren Auge. Und nicht ein einziges, immer gleich bleibendes, nein.

Sondern ein wunderschönes, von der Wintersonne beschienenes Gesicht, welches ans Meer und sein Rauschen erinnerte. An den hellen Sandstrand, von der untergehenden Sonne in warmes Gold getaucht, an unbändige Wellen deren Gischt krachend an die hohen Felsen schlug.

Leider war das ein Moment gewesen, den ich auf keine andere Weise als in meinem Gedächtnis hatte festhalten können.

Und immer wenn ich es -gewollt oder ungewollt- heraufbeschwor, sah ich auch das Meer vor mir und in ihren Augen einen sehnsüchtigen Blick. Sie wollte frei sein.

Doch plötzlich verschwand es und wurde durch eines ihrer mir wohlbekannten Fotos ersetzt.

Eines, auf dem sie lächelte. Als ich es damals zum ersten Mal gesehen habe, hat es so eine Leichtigkeit ausgestrahlt, dass ich fast geglaubt habe, all ihre Probleme und Sorgen seien von ihr abgefallen wie trockenes Laub von den Bäumen im Herbst.

Aber auf dem zweiten Blick, der immer genauer hinsah, wirkte dieses Lächeln gestellt. Ein Traum von etwas, was so bald nicht eintreffen würde. Wie auch neue Blätter nicht so schnell nachwuchsen. Ein trügerischer Hauch von Glück.

Die Sehnsucht nach ihr stieg wieder in mir auf. Da waren also die Fliegen.

Schon wieder.

Meine Hände wollten sie berühren, wollten ihr zeigen, wie sehr ich sie begehrte.

Meine Stimme jedoch wollte ihr Trost spenden, ihr über diese schwierige Zeit hinweg helfen, die sie gerade selbst durchstand.

Ich wollte, sie wäre hier, bei mir, auch wenn ihre Gedanken und Wünsche nicht mir galten.

Aber nichts von dem würde passieren.

In dem Moment, in dem mein Herz nach diesem Mädchen schrie, in dem einsamen Moment der Stille, in dem niemand da war, der mich verstand, hätte ich sie am allermeisten selbst gebraucht.

Stattdessen entsann ich mich etwas, das mir längst gehörte. Nur ein kurzer Augenblick, der alle vorher empfundenen Qualen nur noch vertausendfachte, hörte ich Worte, die mich noch tiefer in die Dunkelheit, in das Verderben, zerrten.

„Ich will dich nie verlieren. Ich liebe dich!“

Man nimmt immer an, sobald das menschliche Bewusstsein im Dunkeln versinkt, wird es von Vergessen umhüllt.

Aber dem ist nicht so.

Auch, wenn man nichts sieht, auch wenn man denkt, nichts zu hören; man fühlt. Man schmeckt.

Man fühlt die stechende Agonie der Sehnsucht, die sich wie ein hungriger Wurm durch die Mauern frisst, welche man versucht, um sich aufzubauen.

Man schmeckt den bitteren Nachgeschmack der kalten Sehnsucht nach Licht und Wärme.

Und man begehrt. Man begehrt die wirkliche Dunkelheit, das wirkliche Vergessen: den Tod.

„Ich will dich nie verlieren. Ich liebe dich!“

Dieser Satz hallte immer und immer wieder in meinem Kopf nach, machte mich wahnsinnig, zerrte an mir wie ein verbissener Hund.

Er würde mich auch nie von alleine loslassen, die Wunde immer vergrößern und irgendwann würde ich verbluten. Entzündet war sie bereits.

Keins von den Gefühlen die ich im Moment erfuhr, war sonderlich begehrenswert. Weder Wurm noch Hund.

Mein Freund war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben widerfahren ist.

Und meine Besessenheit von diesem Mädchen war alles andere als das.

Trotzdem gelang es mir nicht, mich von ihr abzuwenden, sie zu verbannen.

Sie zu vergessen. Das könnte ich nie.

Amor war ganz schön hinterhältig, überlegte ich. Oder seit wann durfte er Pfeile mit Widerhaken verschießen? Und dann auch noch zwei auf einmal.

Verwirrt und verletzt zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche, um die letzte ihrer SMSen noch einmal zu lesen. Es war schon fast zum Zwang geworden.

Im Hinterkopf immer noch die Worte meines Freundes, doch ihre Worte in den Händen.

Beide wollten gelesen, gehört, beachtet werden.

Es war wie ein kalter Krieg, der in mir um mein Herz tobte.

Um mein Seelenheil.

Heute abend jedoch gewann die SMS.

Mit einem schmerzerfüllten Jaulen zogen seine Worte sich zurück, hinterließen aber ein Echo der Qual.

„Vermisst du mich etwa?“

Oh Gott. Da war es wieder. Dieses Herzrasen.

Los, mach schon, flüsterte es in mir. Schreib es ihr noch einmal. Schreib es ihr…sag es ihr…

Noch ehe ich wusste, was ich da tat, drückte ich bereits auf „Antworten“ und brachte meine Gefühle ein weiteres Mal zum Ausdruck.

„Ja. Ja ich vermisse dich… weil du mir plötzlich so viel bedeutest. Oh Gott. Ich wünschte ich könnte es ändern…“

Und da war es wieder. Mein schlechtes Gewissen. Denn auch wenn das, was ich da sagte, der Wahrheit entsprach, wollte ich trotzdem alles andere als das. Und ich hatte Angst, sie würde es falsch verstehen. Oder ich würde sie nerven.

Bevor meine Finger sich erneut selbstständig machen konnten, speicherte ich die Nachricht und lies mein Handy verschwinden.

Ich würde diesem Mädchen bestimmt nicht durch meine Aufdringlichkeit den Abend versauen.

Fick dich, Amor. Heute nicht!

Immer noch verstört löschte ich die Lichter in der Wohnung und begab mich ebenfalls ins Bett.

Alleine wartete ich auf den Schlaf, doch er kam nicht. Dafür stahlen sich wieder Bilder in meine Sicht. Eine ganze Abfolge davon. Wie ich neben ihr stand, ihren Blick mied, wie sie auf mich zukam um mich zu umarmen und mich zu trösten.

Weil sie genau wusste, was in mir vorging. Und das war gut so, denn niemand anderes hätte mich momentan zu trösten vermocht.

Und dann etwas, was bisher noch nie geschehen war, es wohl auch nie würde.

Wie sie neben mir ging, draußen in der Mittagssonne und sich mit mir über sich und mich unterhielt.

Wie wir an einer Bank hielten, uns niederließen und uns ansahen.

In meiner Vorstellung teilte ich ihr mit, was sie natürlich längst schon wusste.

Und ich wusste auch schon, was sie antworten würde.

Zumindest in meiner Fantasie.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“, traurig betrachtete ich ihre Gestalt und schämte mich gleichzeitig dafür. Sie hatte doch wohl schon genug Probleme. Ich sah also weg. Das erforderte nicht nur in der Realität meine Disziplin.

Sie schaute mich an. Nur das. Keine Berührungen. Nichts dergleichen.

„Du musst auf dein Herz hören.“, sanft gab sie mir den Rat, den auch ich ihr schon mal erteilt hatte. Wie eine beruhigende Melodie erklangen ihre Worte.

„Ja, ich weiß. Das Problem ist nur“, mein Blick schlich zu diesem Engel zurück, „mein Herz spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe.“

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2015

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