Unentwegt starrte sie auf den grauen, kalten Marmor, der sich unter ihren Füßen ergoss. Sie unterdrückte den Drang, mit den Füßen darüber zu scharren. Schließlich wollte sie nicht das Bild vermitteln, ihr sei langweilig, oder sie wäre nervös. Herren schritten an ihr vorbei. Kaum einer beachtete sie. Sie wirkten betont gefühlskalt und unecht. Welche Lasten hatten sie sich wohl aufgebürdet?
Ihr Blick floss hinab zu den leeren Fenstern, die wie traurige Augen in eine wenig perfekte Welt blickten. Dann schwenkte sie zu den zahlreichen Türen, allesamt schwarz. Sie wurden von grauen Backsteinen eingerahmt, die an manchen Stellen schon fleckig wurden. Sie wirkten trostlos, als sähen sie keinen Sinn in ihrer Existenz. Wahrscheinlich waren sie aber das einzig Sinnvolle an diesem gesamten Gebäude. Ohne sie würde es nicht gegen den Wind und den Regen standhalten, die sich auch heute unberührt durch die Straßen pirschten. Ohne die traurigen Backsteine hätten all diese Herren keinen Ort, an dem sie untertauchen könnten. Ohne die Backsteine wäre dies ein Fleck grauer Erde. Toter als ein Grabstein. Sie hatten also einen Sinn in ihrem Dasein, sie mussten nicht trostlos sein. Außer ihre Träume wurden zerstört. Nichts machte trostloser als zerstörte Träume. Niemand wusste das besser als sie.
Die Empfangshalle, in der sie sich schon eine graue Stunde lang befand, schien sich nie zu leeren. Immer wieder kamen und gingen Leute. Und sie saß auf einer harten Bank und war ein Beobachter dieser Bewegung. Es gab nicht viele Beobachter, und die meisten von ihnen verschwanden nach und nach hinter den Türen. Es kamen auch keine weiteren Beobachter, nicht heute. Sie konnte nicht genau sagen, wie spät es war. Das Ticken der großen Uhr hatte sie betäubt, doch allmählich wurden es weniger Leute, die an der Bewegung in der Empfangshalle teilnahmen. Bald kamen keine Leute mehr, bald gingen sie nur noch. Die meisten bewegten sich passend zum Takt des Zeigers in der Uhr, der schleichend seine Runden drehte. Sie war es langsam leid, zu sitzen und zu warten. Schließlich war sie nicht einfach so hier. Schließlich hatte man sie eingeladen. Eingeladen ist ein sehr, sehr freundliches Wort für dieses Haus. Normalerweise müsste es vergehen wie eine Tulpe in der Wüste. Doch das tat es nicht.
Die letzten Herren eilten aus den Türen und den dahinter verborgen liegenden Zimmern um ihnen rasch zu entkommen. Wer weiß, was sie dort Tag für Tag erlebten. Doch einer der Herren ließ sich betont viel Zeit. Gerade als wäre er der Herrscher über sie. Seine Schritte durchmaßen den Raum anmutig und trotz seiner geringen Geschwindigkeit nicht weniger entschlossen. Sie lauschte seinen Schritten bis sie verklangen. Und sie verklangen genau vor ihr. Sie blickte auf teure Schuhe, gewiss waren sie aus echtem Leder. Langsam wanderte ihr Blick nach oben und sie sah schließlich in das schmale Gesicht eines jungen Mannes mit Augen, die alles gesehen haben zu schienen. Sie konnte sich nicht schnell genug von ihnen losreißen, er bemerkte es und ließ ein schmales Lächeln aufblitzen. Die grauen Backsteine heulten. „Guten Abend, meine Dame“, sagte er elegant, nahm ihre Hand und küsste sie flüchtig. „Was veranlasst Sie sich zu so später Stunde noch in diesem Haus aufzuhalten?“ Er ließ ihr Hand langsam sinken und blickte ihr in die Augen. Sie versuchte das Klirren der Fensterscheiben und das hektische Ticken der Uhr zu überhören. „Ich weiß nicht so recht. Man hat mich eingeladen, aber nicht hereingebeten.“ „Wie kann man solch eine entzückende Dame wie Sie nur so versetzen?“, fragte er mit der Miene eines wahren Schauspielmeisters. Das Ächzen der Türen kreischte in ihren Ohren. „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie freundlich. „Wer, wenn ich fragen darf, hat Sie denn eingeladen?“, fragte der Herr charmant. „Auch das weiß ich nicht“, antwortete sie lächelnd. „Man hat Sie anonym hierher gebeten?“ „Ganz so scheint es…“ Er empörte sich: „Was für eine Frechheit! Nun, aber so komme ich in den Genuss Ihrer Gesellschaft… Mein Name ist Theodore, es freut mich sehr.“ Er küsste erneut ihre Hand. „Ich bin Emilia.“ „Was für ein entzückender Name. Darf ich Sie heimbringen?“ „Sehr gern.“ Der Marmor weinte bittere Tränen.
Die Menschen auf der Straße wichen ihnen aus. Theodore schien das gewöhnt zu sein. Er störte sich nicht daran. Der Wind heulte durch die Straße und der Regen peitschte ihnen ins Gesicht. Auch das schien Theodore nicht zu stören. Er schien völlig unbeeindruckt von der Natur zu sein. Es wurde schnell dunkel. Bald spendeten nur noch die kahlen Laternen Kegel aus Licht. Sie wollte Theodore loswerden. Er war zwar freundlich zu ihr gewesen, doch langsam wurde er ihr unheimlich. Außerdem wollte sie nicht, dass er wusste, wo sie wohnte. Vielleicht würde er wieder kommen, sie beobachten. Daher wurde sie etwas langsamer und blieb schließlich unter einer Laterne stehen. Theodore blickte zu ihr zurück. „Was ist, Emilia?“ „Wir sind da. Es ist gleich hier um die Ecke.“ Er blickte sie durchdringend an. Sie hatte schon die Befürchtung, er hätte die Lüge durchschaut, doch seine Gesichtsmuskeln entspannten sich und er lächelte leicht. „Selbstverständlich. Dann bringe ich dich noch zur Tür“, schlug Theodore galant vor. Sie lächelte gezwungen und hoffte inständig, dass er es nicht bemerkte. „Natürlich, Theodore. Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ „Oh Emilia. Ich biete Ihnen das ‚du‘ an.“ Sie lächelte weiter verzweifelt. „Selbstverständlich. Danke, Theodore.“ Er blickte sie mit seinen hellen Augen an und sie konnte keinen seiner Gedanken erraten. Das Licht der Laterne schrie.
Sie ging zu einem der Häuser. Sie wusste nicht wer hier wohnte. Sie hatte keinen Schlüssel. Würde Theodore die Lüge bemerken? Sie hatte Angst. Das war sie nicht gewohnt. Sie hatte lange keine Angst mehr gehabt. Das hatte sie sich nicht erlaubt. Das war nicht nötig gewesen. Sie hoffte dass er nicht ihre Unruhe bemerkte. „Das ist ein sehr schönes Haus, Emilia“, sagte Theodore unvermittelt. Fast wäre sie hochgeschreckt. „Oh, Dankeschön.“ Sie lächelte zwanghaft. „Sag, Emilia. Wohnst du hier allein?“ „Ich denke, das braucht dich nicht zu interessieren, Theodore“, sagte sie entschieden. Sie standen vor dem Zaun am Gartentor. Es war ein niedliches Häuschen und in einem oberen Fenster war noch Licht. Sie betete, dass die wahren Besitzer des Hauses sie nicht bemerkten. „Verstehe“, sagte er leicht gekränkt. Theodore blickte sich noch einen Moment lang um, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. „Ich denke, ich sollte jetzt reingehen…“, meinte sie. „Oh sicher“, erwiderte er fügsam. Sie war erleichtert, doch das durfte sie sich nicht anmerken lassen. Zögernd betrat sie den Vorgarten. Sie widerstand dem Drang zu Theodore zurückzublicken und versuchte stattdessen entschlossen auf die Tür zuzugehen. Er folgte ihr. Das Licht in dem oberen Fenster erlosch mit einem Seufzen. „Nun dann…“, begann sie, doch wusste nicht weiter. Theodore lächelte. „Vielleicht solltest du die Tür aufschließen…“, bat er freundlich an. Sie begann in ihren Taschen nach dem nicht vorhandenen Schlüssel für jenes Schloss zu suchen, dass sie von Theodore trennen könnte, jedoch nie tun wird. Sie entschied sich, den Schlüssel für ihr eigenes Haus herauszunehmen und zu versuchen, damit die Tür zu öffnen, zumindest so zu tun. Das beklemmende Gefühl, dass Theodore nicht verschwinden würde, ehe sie das Haus betreten hatte, machte sich in ihr breit. Es verstimmte ihren Magen. Die Sterne glühten erbarmungslos herab, als sie den Schlüssel zitternd in das Schloss steckte. Einen Moment lang verharrte sie. In diese Stille sagte Theodore plötzlich: „Er passt nicht.“ „Wie bitte?“, fragte sie mit trockener Stimme. „Er passt nicht. Dein Schlüssel“, wiederholte Theodore hart. „Das ist auch nicht dein Haus“, fuhr er fort. „Du wohnst nicht einmal in dieser Gegend. Du wohnst ein gutes Stück weiter. Wo die Tannen grüner und die Blumen farbiger sind… Ich weiß genau, wo du wohnst. Warum willst du mich in die Irre führen? Zu welchem Zweck?“ Ein Baum knarrte bedrohlich. Sie wich zurück, doch er schloss die entstandene Lücke sofort wieder. „Antworte mir!“, sagte Theodore bedrohlich. Sie stand mit dem Rücken zur Hauswand, unfähig sich zu rühren. Ihr Blick schoss unruhig durch die Gegend. Doch es gab kein Entrinnen. Theodore stand direkt vor ihr, nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander. Sie wagte kaum zu atmen. Er hob seine Hand und legte sie an ihren Hals. Sanft wie ein Liebhaber. Seine Finger wanderten langsam zu ihrer Wange hinauf. Der eisige Wind durchschnitt die Luft und raubte ihr den Atem. „Theodore…“ Mehr brachte sie nicht heraus. „Ja, Emilia? Was ist? Hast du mir etwas zu sagen? Die Wahrheit vielleicht?“ Sein Griff wurde fester und er zog sie an sich, sodass sich ihre Nasen berührten. Sie blickte Theodore mit aufgerissenen Augen an. Seine Augen waren kalt. Kälter als der Winter. Eisiger als grauer Sturm. Härter als Stahl. „Aber das ist nicht der richtige Ort…“, flüsterte Theodore. Mit diesen Worten riss er sie mit sich. Er zerrte sie durch die tristen Straßen. Sie versuchte sich zu wehren, doch sein Griff verhärtete sich und sie wurde fast ohnmächtig vor Schmerz. „Wo bringst du mich hin?“, fragte sie schwach. Und Theodore antwortete ihr: „An einen schönen Ort…“ Raben krächzten über ihren Köpfen. Sie waren schwarze bedrohliche Schatten.
Nach einer grauen Ewigkeit hielt er an und sie glitt zu Boden, als er sie losließ. Sie wusste nicht, wo sie waren. Theodore beugte sich bedrohlich über sie. Der Regen durchnässte sie und sie begann zu zittern. „Wer bist du?“, stotterte sie. Doch er ignorierte sie und ließ seinen Blick kurz schweifen. Schließlich blickte er sie an und sagte: „Weißt du es denn nicht?“ Er machte eine Pause. Ein Vogelschrei zerriss die Luft. „Ich bin dein Tod.“ Nun zitterte sie vor Angst. Theodore war wahnsinnig. Sie sah es in seinen Augen. Die Schatten flossen dahin, kreisten sie ein, beobachteten sie mit ihren schwarzen Augen. Er kam langsam auf sie zu, sie versuchte nach hinten auszuweichen, doch sie spürte schon bald eine unerbittliche Wand im Rücken. Dies war ihre graue Stunde. Theodore zückte einen blanken Dolch und beugte sich zu ihr herab. „Warum?“, wimmerte sie. Theodore war nur eine handbreit von ihrem Gesicht entfernt. „Weil du es so wolltest…“ In diesem Moment küsste er sie und ließ die Klinge ihr Herz durchbohren. Ihrer Kehle entschwand ein schwaches Seufzen und sogleich sank sie auf den erbarmungslosen Asphalt. Die umstehenden Bäume knarzten ein entstelltes Wiegenlied. Theodore verschwand im wimmernden Dunkel und ließ den Regen von ihrem Blut kosten.
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2014
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