Nicht einmal die strahlenden Sonnenblumen im Salon konnten diese Kälte vertreiben. Sie war schon zu tief in das alte Gemäuer eingedrungen. Schon zu lange hatte sie Zeit gehabt, sich einzunisten. Doch die Hausherren wollten gar nichts tun, um die eisige Kälte zu vertreiben. Es war, als spürten sie ihre Finger nicht im Nacken. Als würden sie von den frostigen Berührungen der Kälte verschont. Der Kamin im Salon hatte schon lang kein flackerndes Feuer beherbergt. In diesem Haus herrschte eine unnatürliche Eiszeit, die jeden Besucher vertrieb. Nur ab und zu wurden Geschäftsleute gesehen.
Und seine Augen... sie waren so grau wie die Pflastersteine draußen auf der Straße. Und sie waren so kalt wie ebendieses Gemäuer. Er war hager und seine große Nase war etwas krumm. Um seinen Mund hatte er diesen ironischen Zug, der es einem unmöglich machte, ihn zu durchschauen. Doch ich kannte ihn bereits. Er war so etwas wie der Teufel auf Erden. Und wenn er den Leuten nicht gerade bei seinen Geschäften das Geld aus den Taschen zog, hatte er große Freude daran, anderen Menschen das Leben zur Hölle zu machen. Und genau deswegen war ich hier. Er hatte mich zu sich bestellt, um mir mein Leben zur Hölle zu machen. Wieder einmal. Ich wusste selbst nicht, warum ich eigentlich überhaupt gekommen war. Aber er war unberechenbar und niemand konnte es sich leisten, sich ihn zum Feind zu machen. Denn er war ein mächtiger, gefährlicher Feind, der sein Handwerk gut verstand. Doch ich wollte mich ihm nicht beugen. Ich wollte nicht zu seinen Opfern zählen. Zu seinen Spielsteinen. Und doch saß ich hier vor ihm in seinem unterkühlten Zimmer und musste mir sein siegessicheres Lächeln ansehen. „Schön, dass du gekommen bist…“ Seine Stimme war wie das Kratzen von Metall auf Glas. Ich kämpfte gegen den Drang an, mir die Ohren zuzuhalten. „Die Freude ist ganz Ihrerseits“, gab ich tonlos zurück. „Womit wollen wir uns denn heute beschäftigen? Deinen Finanzen?“ „Die hatten Sie bereits letztes Mal mit Freuden erläutert. Ich denke, ich kann mich noch gut an Ihre Ausführungen erinnern…“ Ich warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Seine Lippen kräuselten sich zu einem schmalen Lächeln. „Nun gut. Wie wäre es dann mit deinem gesellschaftlichen Umgang?“ „Ich halte ihn nicht für bedenkenswert…“, meinte ich unterkühlt. Er begann mit seinen Psychospielchen. Und er wusste, dass ich es wusste. Und er wusste auch, dass ich wieder mitspielen würde. Auch wenn ich mich dagegen sträubte. Er schaffte es immer wieder. Er war einfach ein Manipulator. Mit ihm konnte man es nicht aufnehmen. „Doch, ich finde es immer gut, seine Beziehungen neu zu bedenken. Manchmal wird man schlauer, wenn man denkt…“ Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich sah nur die Verächtlichkeit darin. „Mit wem pflegst du denn Umgang? Doch wohl nicht immer noch mit diesem Lawrence? Er ist ein Tagedieb, wie mir zu Ohren kam…“ Ich holte erst einmal Luft, bevor ich sprach: „Manchmal reden die Leute und dann kommt es vor, dass Gerüchte entstehen. Lustig, nicht? Den meisten sollte man keinen Glauben schenken…“ „Jaja… den meisten…“ Er stand auf, ging ans Fenster, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und blickte hinaus. „Komm! Was siehst du?“ Ich stand steif auf und ging zu ihm ans Fenster. Ich blickte ihn an. „Was siehst du?“, wiederholte er und hob den Blick nicht von der Straße. Dort lief eine junge Frau in dem Arm eines angesehenen Mannes. „Die Carringtons…“, murmelte ich. „Ja, und was sagt man über sie?“, bohrte er weiter. Widerstrebend musste ich zugeben: „Dass er sie mit ihrer jüngeren Schwester betrügt…“ „Und? Stimmt das? Was denkst du?“ Ich schwieg lange. „Ich glaube nicht an Gerüchte…“, sagte ich schließlich. „Mhm…“, brummte er. „Du kannst vielleicht mich belügen, aber dich selbst… das kannst du nicht. Du hast das Gerücht geglaubt, wie jeder hier in dieser Stadt und ich werde dir die Wahrheit verraten… Denn ich kenne sie von Carrington persönlich. Ihre Schwester ist um einiges attraktiver. Doch der Alte wollte zuerst die Ältere loswerden. Carrington meinte, er würde sich nur nehmen, was ihm zustehe. Hat ja damals um die Hand der Jüngeren angehalten. Ich kann ihn nur verstehen…“ Er lächelte, doch es sah aus wie eine gehässige Grimasse. Er ließ den Vorhang los und der Lichtstrahl, der das Zimmer erhellt hatte, verschwand. Dann ging er zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich in seinen Ohrensessel fallen. „Setz dich!“, befahl er barsch. „Du machst mich noch nervös.“ Ich hasste mich dafür, dass ich tat, was er sagte. „Kommen wir zurück zu Lawrence, dem Tagedieb…“ Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Hör auf, dich mit ihm zu treffen, sonst kommt er noch auf dumme Gedanken… Vielleicht bittet er um deine Hand, und Gott bewahre, was hat er schon? Was kann er dir bieten? Nichts, genau. Also, hör auf, denn du leistest nicht nur Widerstand gegen mich, sondern gegen die gesamte Gesellschaft! Denkt doch nur an seinen Stand!“ „Es ist mir völlig egal, ob Ihr ihn Lügner, Tagedieb oder Gauner nennt… Er ist ein guter Freund und ich werde ihn weiterhin aufsuchen!“ Er massierte sich den Nasenknöchel und meinte dann: „Das werden wir ja noch sehen… Aber wie sieht es denn mit dem Fräulein Knightsburgh aus? Mit ihr hast du doch Kontakt?“ „Ich kann sie nicht ausstehen. Warum sollte ich mich mit ihr treffen?“ „Weil sie einen guten Umgang hat. Und einen reichen Vater, der ein angesehener Mann ist. Außerdem hat er einen erfolgreichen Sohn. Du solltest dich näher für die Menschen in deinem Umfeld interessieren, statt dich nur mit dem Gesindel herumzutreiben…“ „Aber vielleicht wurde mir der junge Knightsburgh auch schon vorgestellt und ich habe ihn nicht leiden können. Er ist geradezu anmaßend arrogant.“ „Leiden?! Es kommt nicht darauf an, dass du die Menschen leiden kannst, sondern Kontakt zu ihnen hast. Eines Tages werden dir solche Kontakte ein angenehmes Leben sichern.“ „Nun, wenn ich aber gar nicht will, dass…“ „Was du willst und was gut für dich ist, sind zwei grundlegend verschiedene Dinge!“, sagte er barsch. „Aber das Einzige, was die Knightsburghs von Lawrence unterscheidet, ist, dass sie Geld haben und er nicht! Wie könnt Ihr nur so falsch sein?!“ Er lachte. „Ihr…“, wiederholte er verächtlich. „Warum nennst du mich immer so?“ „Weil ich nicht die Nähe zu Ihnen habe, Sie zu duzen.“ „Nähe?!“, er fuhr hoch. Er sagte scharf: „Du hast nicht die Nähe, mich zu duzen? Deinen eigenen Vater?“ Er war wütend, denn seine Nasenflügel bebten kaum bemerkbar. „Du behandelst mich wie einen Fremden!“ „Und du mich wie ein Kind!“, schrie ich ihn an. „Außerdem habe ich in dir nie etwas anderes als den eiskalten, ignoranten Fremden gesehen! Du hast dich nie um mich gesorgt. Du hast Mutter geschlagen und mir erzählt, der liebe Gott wolle, dass du uns bestrafst. Ich hatte immer mehr Angst vor dir, als vor Gott und wegen dir habe ich ihn auch noch verantwortlich gemacht, den lieben Gott!“ „Gott…“, spukte er aus. „Hör mir auf mit diesem Unfug! Der liebe Gott hatte nur nicht die nötigen Mittel, das durchzusetzen, was er wollte. Dafür bin ich ja da…“ „Du hältst dich also für einen Propheten Gottes? Wie kannst du es nur wagen? Gott verachtet Menschen wie dich! Du betrügst und bestiehlst deine Mitmenschen!“ „Was kümmert es ihn, wie ich mir mein Geld verdiene?“, fragte er barsch. „In den Geboten heißt es: Du sollst nicht stehlen!“ „Ja… Aber in den Geboten heißt es auch: Du sollst Vater und Mutter ehren. Du solltest mich also ehren. Und nicht verachten. Interessant, nicht wahr? Warum verstößt du gegen dieses göttliche Gebot?“, meinte er spottend. „Wie kannst du es nur wagen, die heiligen Gebote zu benutzen, um mir etwas vorzuwerfen und dein Handeln zu rechtfertigen? Gottes Sohn ist am Kreuz gestorben, um dich von deiner Sünde zu befreien und du… du sündigst wissentlich fröhlich weiter!“ Ich wandte mich von ihm ab und atmete tief durch. „Und du fragst dich, warum ich mich nicht zu dir als Vater bekenne? Du willst wirklich wissen, warum du wie ein Fremder für mich bist? Warum mir eine väterliche Nähe fehlt? Ich sag es dir, denn du würdest nie darauf kommen: Du bist nicht mein Vater! Mein Vater ist der liebe Gott und nur er allein!“ „Was hat dir deine Mutter da nur für Flausen in den Kopf gesetzt? Der liebe Gott dein einziger Vater?“ „Er war mir mehr Vater als du…“ Er fuhr ungerührt fort: „Hat sie deine Geschwister auch so vergiftet mit ihren schändlichen Worten? Hat sie euch alle drei vor ihrem Tod mit ihrem Glauben vertraut gemacht?“ „Wie kannst du nur so ungerührt von ihrem Tod sprechen? Sie hat dich geliebt! Sie hat dieses Monster, das du bist, geliebt! Wahrscheinlich war sie die Einzige, die dich jemals wirklich geliebt hat! Und nun, da sie von uns gegangen ist, Gott hab' sie selig, da sprichst du über ihren Tod wie ein schlecht gelaufenes Geschäft! So eiskalt, als würde es dich kaum noch etwas angehen! Wo ist dein Mitgefühl geblieben? Der Mensch in dir?“ Mir standen Tränen in den Augen. Die Erinnerung an Mutter war schmerzhaft. Ich musste mich zusammennehmen, um den Tränen nicht freien Lauf zu lassen. „Das reicht jetzt!“, sagte er schneidend. „Ich sehe, du machst es mir heute schwer… Aber bilde dir darauf Nichts ein! Vielleicht magst du ja herausgefunden haben, wie du dein Mundwerk zu benutzen hast, um nicht vor mir zu sitzen wie ein ängstliches Kind… Aber das ist noch nicht einmal der Anfang!“ Er machte eine Pause, die mir dennoch keine Zeit ließ, etwas zu entgegnen. „Du wirst jetzt gehen. Ich sehe dich am Donnerstag wieder.“ Er schnitt mir das Wort mit einer Handbewegung ab und ich wünschte mir hasserfüllt, er würde eines Tages an der Kälte in seinem Herz sterben. Ich wollte nicht gehen, ich wollte nicht wiederkommen. Ich wollte es ein für alle Mal geklärt haben. Mit diesem Mann wollte ich kein weiteres Mal reden. Kein weiteres Mal gedemütigt werden. Ich wollte nie wieder hierher zurückkehren. Und ich war froh, der Eiszeit zu entkommen. War froh, mich aus ihren Krallen zu befreien und ins wahre Leben zurückzukehren. Als ich die Tür öffnete, schien mir die warme Sonne ins Gesicht und ich roch den Duft der Blumen in den Kästen an den Fenstern. Und ich wandte mich ein für alle Mal von dem eiskalten Gebäude ab, mit diesen eiskalten Herren und warf keinen einzigen Blick zurück.
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2014
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