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Die Straßen von Boston flimmerten in der Hitze, und die Nylons der feinen Damen schmolzen förmlich dahin. (Genaugenommen wurden Nylons nur noch selten getragen, außer dort, wo sie zur korrekten Berufsbekleidung gehörten.) Angeblich würde es noch fünf Milliarden Jahre dauern, bis die Sonne sich aufblähte und die Erde verschlang, aber den Temperaturen nach hatte ich den Eindruck, als sei es schon nächste Woche soweit.

Der Alltag hatte sich deutlich verändert. Niemand ging noch tagsüber hinaus, wenn es nicht gerade verdammt dringend war – und generell spielte sich das Leben nur noch nachts ab. Ansonsten liefen die Klimaanlagen im Dauerbetrieb, abgesehen von den sporadischen Stromausfällen, die in letzter Zeit häufiger geworden waren. Nicht nur das Land erlebte eine Hitzewelle durchaus geahnten Ausmaßes, sondern die ganze Welt.

Aber ich machte mir keine Sorgen um die Pinguine, sondern um einen Wolf.

Es hatte begonnen mit dem Anruf von Joe Conway, meinem Kontakt zum Boston Police Department. Das Gespräch war ungefähr so abgelaufen:

„Hi, Julie. Conway hier. Höllische Hitze, was? Hör mal, ich habe da mal so eine Sache…“

  • „Nicht interessiert. Ich habe genug zu tun.“

„Hast du immer, aber ich bräuchte den Rat einer Expertin.“

  • „Du solltest kündigen und Boston verlassen.“

„Ha, ha. Gerade weil die Stadt ein Hexenkessel ist, werde ich hier gebraucht. Die Gewalttaten nehmen erschreckend zu, und gerade jetzt kocht alles über.“

  • „Vielleicht hätte man die Müllabfuhr und die Buslinien nicht einstellen sollen.“

„Mag sein, aber das ist kein Grund für die Morde. Ich habe schon viel Mist gesehen; Bandenkriege, Überfälle, Schießereien, aber das jetzt ist etwas anderes… und daher musste ich dich anrufen.“

  • „Ich bin bloß Detektivin. Meine Klienten sind Firmen und misstrauische Eheleute, keine Serienmörder.“

„Aber um genau so jemanden könnte es sich handeln!“

  • „Siehst du, ich kann dir nicht helfen.“

„Und dein Vater war einer der großen Monsterjäger!“

  • „Mein Vater ist genau daran gestorben, nach einem Einsatz, und das weißt du genau. Ich will mit diesen Kreaturen nichts zu tun haben.“

„Julie, das verstehe ich doch. Aber du musst auch mich verstehen… die Kollegen haben sich die Wunden der Opfer angesehen und faseln von einem großen Hund. Oder einem Wolf, verstehst du?“

  • „In Boston? Lächerlich. Wildtiere meiden Großstädte.“

„Du weißt, welche Art von Wesen ich meine.“

  • „Und wenn schon: wir haben seit über 20 Jahren keinen Vorfall mehr gehabt, seit mein Vater das Vieh erschossen hat. Da würde ich ja noch eher auf Vampire tippen. Bei der ganzen Aktivität, die wir jetzt nachts haben, dürfte es ja ein Fest für sie sein. Das Essen kommt quasi von selbst vorbei.“

„Die Leichen sehen nicht nach Vampirbissen aus. Sie wurden von einem Raubtier zerfleischt. Willst du dir das vielleicht einmal ansehen?“

  • „Joe. Meine Zeiten als Jägerin sind vorbei. Ich habe damals meinem Vater geholfen, und das war schon schlimm genug. Ich war zu jung dafür. Was ist mit eurer eigenen Abteilung?“

„Lässt sich in einem Wort zusammenfassen: überlastet. Oder auch: Sparflamme. Rogers ist weg, Smith hat sich nach New York versetzen lassen und Stanton hat’s erwischt. Nächste Woche ist die Beerdigung.“

  • „Verdammt. Stanton war ein guter Mann. Fast eine Legende.“

„Irgendwann sterben auch Legenden. Ich sage dir, da könnte ein Werwolf umgehen. Oder Schlimmeres. Komm schon. Um der alten Zeiten willen.“

Und damit hatte er mich. Er war ein guter Freund meines Vaters gewesen, hatte mir bei meiner ersten Wohnung geholfen und mich im Studium der Rechtswissenschaften unterstützt. Als ich nach meinem Abschluss allerdings bei einer Detektei angefangen hatte, war er enttäuscht. In seinen Augen hätte ich entweder Monsterjägerin oder Anwältin werden sollen. Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich ein halbes Jahr bei einer Kanzlei gearbeitet hatte und mich dort mein Reinlichkeitstick in den Augen der Klienten, selbst wenn ich nur als Anfängerin bei einem Gespräch dabeisaß, disqualifizierte. Mein Chef hatte mich schließlich gebeten zu gehen.

Ich habe das eigentlich inzwischen ganz gut im Griff, aber früher war ich als „Julie mit dem Putzfimmel“ angesehen worden, ähnlich wie Mr. Monk in der alten Fernsehserie. Meine Therapeutin meint, es könne mit meinem Vater zusammenhängen. Sicher. Seine Leiche war von einem Raubtier zerfetzt worden, das Blut war überall gewesen: in den Gardinen, auf dem Teppich, an der Tapete, auf dem Spiegel, auf dem Tisch. Drei silberne Kugeln hatte er der Kreatur hineingejagt, war aber schwer verletzt worden. Eine Woche später starb er im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Als ich aus Providence zurückkam, habe ich ihn beerdigt und das Wohnzimmer gereinigt, drei Tage lang. Ja, gut möglich, dass es damit zusammenhing. Für solche Erkenntnisse zahle ich der Therapeutin hundertsechzig Dollar die Stunde. Danke auch.

Immerhin hatte er nicht „um der guten alten Zeiten willen“ gesagt, denn gut war damals eigentlich gar nichts. Mein Vater war fast dauernd auf der Jagd, schon um das Scheusal zu finden, das meine Mutter umgebracht hatte, und als er es schließlich gefunden hatte, hetzte es seinen ganzen Clan auf ihn. Mit dem bekannten Ergebnis. Er brachte die ersten sechs zur Strecke, aber der letzte folgte ihm und rächte sich in unserem Wohnzimmer.

Und nun erhob sich die Frage, ob Dad wirklich alle erwischt hatte. Konnte es einen achten Wolf geben – einen, der damals auch dabei gewesen, aber entkommen war? Letztlich konnte man es nicht ausschließen.

Ich fühlte, wie lang vergessene Narben wieder aufbrachen. Jahrelang hatte ich angenommen, die Umstände um den Tod meines Vaters seien geklärt und alles sei abgeschlossen, aber ein möglicher achter Wolf veränderte alles. Theoretisch mochte sich auch ein neuer Wolf nach Boston geschlichen haben, aber seit den damaligen Vorfällen hatte Boston einen abschreckenden Ruf hinsichtlich Werwölfen. Trotzdem musste ich vorläufig von einem recht alten oder recht jungen Wolf ausgehen.

Ich nahm eine Rikscha zur Polizeiwache in der Sixth Street und suchte Conway auf. Es war Jahre her, dass ich diese Räumlichkeiten betreten hatte. Die Fenster waren inzwischen mit schwarzen Folien ausgekleidet, und alles sah irgendwie noch schäbiger aus, als ich es in Erinnerung hatte. Dabei war ich nur zwei- oder dreimal mitgekommen, um mir Phantombilder anzusehen.

“Ich werfe einen Blick in die Akten, das ist alles“, sagte ich ihm, nachdem wir uns begrüßt und er mir ein rares Glas kaltes Wasser hingestellt hatte. Die Klimaanlage schaffte es nicht, das Großraumbüro halbwegs auf eine erträgliche Temperatur zu bringen, und der große Deckenventilator drehte sich hypnotisch langsam.

Joe schob mir einen altmodischen Ordner hin. Fotos, Ausdrucke von Berichten, eine Kopie des Obduktionsbefunds und ein routinemäßiges Fax. Ich blätterte die Unterlagen durch, während er mit einem Kollegen über eine Razzia in einem Nachtclub telefonierte.

Die Fotos erinnerten mich an die Leiche meines Vaters, natürlich. Das Opfer sah ähnlich zugerichtet aus, wenn auch nicht ganz so schlimm. Dem Befund nach waren Klauen und Zähne für die Wunden verantwortlich. Klar, dass Joe eins und eins zusammengezählt hatte.

„Es gibt noch andere“, erklärte Joe. „Ein polizeibekannter Einbrecher, den wir vor einem halben Jahr in einer schmalen Seitenstraße gefunden haben, nicht weit von hier. Ein Zuhälter in einer Baugrube, vor vier Monaten. Und vor einem Monat dann jemand, den wir noch nicht identifizieren konnten. Aber das Entscheidende: die Daten passen zur Mondphase. Vollmond natürlich.“

Ich schüttelte den Kopf. „Vier Opfer in einem halben Jahr passen allerdings nicht dazu.“

„Es könnte mehr Opfer geben. Die wir noch nicht gefunden haben“, wandte er ein.

„Es könnte auch Zufall sein. Oder eine bewusst falsche Spur. Oder sonst was. Wenn diese Wunden nicht da wären, würde ich sagen, du bist auf dem falschen Dampfer.“

Er zuckte mit den Schultern. „Dir wird schon was einfallen. Du bist die beste Privatdetektivin, die ich kenne.“

Ich seufzte. „Ich bin die einzige Privatdetektivin, die du kennst.“

Er grinste. „Na trotzdem.“

Ich musste hier raus, sonst würde ich noch anfangen, den Boden zu wischen. So warf ich einen letzten Blick auf die Bilder. Auf dem Arm der Leiche befand sich eine undeutliche gezackte Markierung.

„Was ist das?“ fragte ich Joe und deutete darauf.

„Konnten wir nicht zuordnen. Die Spurensicherung hält es für einen alten Stempel aus einer Bar oder so. Eine Tätowierung ist es jedenfalls nicht, dafür ist es zu verblasst, und es lässt sich auch chemisch entfernen.“

„Habt ihr eine Adresse vom Opfer?“

„Leider nein. Kam wohl von außerhalb. Er hatte auch nichts dabei. Selbst die Zahnabdrücke haben nichts gebracht.“

„Und die Fingerabdrücke?“

Joe sah mich an. „Tja, wenn wir Finger gefunden hätten…“

„Also haben wir sonst nichts außer diesem Stempel?“ Man konnte mit viel Mühe einen mehrzackigen Stern ausmachen, mit einer Linie, die ihn durchstrich.

Joe hob die Schultern.

Ich trank mein Glas aus und wandte mich zum Gehen. „Mal sehen. Du weißt ja, wo du mich findest. Bleib kühl.“

Die Rikscha für den Rückweg kostete mich fast das Doppelte wie auf der Herfahrt, weil der Pullbot einen gehörigen Umweg machen musste: jemand hatte die Mülltonnen in der Binney Street auf einen Haufen geworfen und angezündet, und der Broadway war ohnehin nicht mehr befahrbar.

Zuhause in meiner abgedunkelten Erdgeschosswohnung suchte ich mühsam alle lokalen Referenzen zu Sternen und Linien heraus; das Netz schwankte wie üblich zwischen langsam und nicht verfügbar. Am ehesten ähnelte der Stempel wohl dem Logo vom Nachtclub Starstrike – einem siebenzackigen Stern mit einem durchkreuzenden Pfeil. Es kam mir bekannt vor, und beim Blick auf die Karte fiel mir auch ein, dass ich wohl schon öfters daran vorbeigegangen sein musste; er lag in der Marney Street, nur drei Straßen weiter. Das bedeutete, ich konnte heute Abend mal reinschauen, ohne eine Rikscha rufen zu müssen.

Ich wollte noch weiter recherchieren, aber dann war wieder mal die Verbindung weg, und erfahrungsgemäß dauerte es einige Zeit, bis das Netz wieder da war.

Die nächsten Stunden verbrachte ich mit dem Sortieren meiner Akten und der Erstellung eines Profils meines aktuellen Kunden, Maxwell Bilkinson. Er wollte wissen, ob sich seine Frau wieder mit Andrew, ihrem Ex, traf. Früher wäre das ein Standardfall mit Beschattung gewesen, aber seit dem Zusammenbruch des Verkehrswesens wegen der Ölkrise war es deutlich schwieriger, jemandem unauffällig zu folgen, vor allem in dieser Hitze. Manche Leute gingen ja wirklich noch tagsüber hinaus. Ich kannte noch Zeiten, da brauchte man nur mit der Hand winken, und ein Taxi kam angefahren. Jetzt musste man per App eine Rikscha buchen, die laut Plan innerhalb einer Stunde eintraf. So sagte es die Werbung. Aber wer glaubte noch der Werbung? Angeblich waren die Pullbots auch umweltfreundlich und fehlerfrei, aber ich hatte schon mehrfach von Fällen gehört, in denen sie sich an einer Bordsteinkante festgefahren hatten oder nur noch im Kreis fuhren.

Ich machte mich ein wenig zurecht und stakste auf meinen höchsten Pumps zum Starstrike. Mein Ring zeigte mir 11:27 p.m. in violettem Glühen. Gut. Nicht zu früh, nicht zu spät.

Die Straße war voller Menschen, die Abkühlung suchten. Tatsächlich wehte ein leichter Wind. Ich stellte mich in die Schlange vor dem Club, aber nach ungefähr zehn Minuten winkte mich der Türsteher durch, weil ich offenbar die einzige in hohen Absätzen war. Manchmal lohnt es sich, overdressed zu sein.

Im Halbdunkel des Clubs konnte ich schließlich ausmachen, was hier eigentlich angesagt war: Grunge, Plastik und Elektrozak. Ich stach heraus, als wäre ich aus den 90ern hier gelandet, obwohl der Name des Clubs und einige Poster ganz weit oben noch aus den 80ern zu stammen schienen. Andererseits geht ein kurzes schwarzes Kleid immer, und wenigstens hatte ich mit dem Makeup nicht gegeizt.

Ich arbeitete mich bis zur Bar vor und bestellte einen Cocktail. Dann versuchte ich vom Barmann etwas über den Toten zu erfahren, was schwierig war, da ich weder einen Namen hatte und ihn auch kaum beschreiben konnte. Es gab hunderte von mittelgroßen, dunkelhaarigen Typen, und den Stempel erhielt man nur am Wochenende. Mehr erfuhr ich nicht. Was hatte ich mir bei dieser Untersuchung eigentlich gedacht?

Die Musik war furchtbar und zu laut. Elektrozak soll an das Summen von Hochspannungsmasten erinnern, sagt man, und einige Zeit hatten Musiker und DJs wirklich die Oberschwingungen der Ströme von Überlandleitungen um einige Oktaven nach unten transponiert, um damit eine gewisse hypnotische Harmonik herzustellen. Das kam nur einige Zeit an, danach wurde es mit Grunge und Electro vermischt, und einige Moderichtungen der Subkultur orientierten sich an diesen Begriffen.

Während das grelle „Resonance“ von Richard Axos durch die Boxen dröhnte, tippte mir ein Mann auf die Schulter und hielt mir eine Flasche Bier hin.

„Na, auch hier, Julie?“

Seit der Hitzewelle ist es der Anmachtrick Nummer 1, zuerst ein Getränk anzubieten.

„Kein Interesse“, gab ich zurück. Der Kerl kannte mich wahrscheinlich aus der Nachbarschaft oder hatte einfach nur gut geraten. Vielleicht hatte er auch Kylie gesagt, bei dieser Lautstärke war das kaum zu verstehen.

Er grinste und nahm selbst einen Schluck. „Immerhin bist du besser drauf als letztens.“

Ich hatte nicht vor, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Darauf fiel ich nicht herein. Aber zumindest sah er nicht gefährlich aus – weder muskulös noch groß noch aggressiv. Doch wenn er ein Werwolf war – wer weiß?

Ich seufzte. Besser eine miserable Spur als gar keine Spur.

„Hast du letztens einen Typen gesehen, dunkle Haare, mittelgroß, vielleicht Stammkunde und irgendwie seltsam?“

Er wies lässig auf die anderen Gäste, von denen die Hälfte auf meine Beschreibung passte. Dann richtete er seinen Blick auf mich. „Aber ich habe eine Lady gesehen, rassig, voll im Elektrozak und total aufgeladen. Ich weiß ja nicht, welches Zeug du da drin hattest, aber ich will auch was davon!“

Okay, ich hatte unrecht. Besser keine Spur als einen Vollidioten, der mich mit einer zugedröhnten Zak-Tussi verwechselte. Ich packte meine Handtasche fester und wandte mich zum Gehen. Er rief mir noch irgendetwas nach, aber seine Worte gingen im Schlagzeugsolo von „Resonance“ unter.

Ich torkelte nach draußen und sog die frische Luft ein – soweit man die Luft von Boston noch als frisch bezeichnen konnte. Aber sie war wenigstens einen Hauch kühler als drinnen.

Meine Fersen taten weh, und ich ging langsam nach Hause. Der Typ hatte zwar einen Knall gehabt, aber er hatte mich auf eine Idee gebracht. Soll keiner sagen, Julie Redgrave sei nicht einfallsreich.

Natürlich hasse ich meinen Nachnamen. Als ich noch ein Kind war, war ich stolz darauf, weil es der Name einer berühmten Schauspielerin war. Aber als ich mit sechzehn meinen Vater beerdigen musste, kam es mir wie bitterer Hohn vor. Die Dinge wandeln sich vor meinen Augen, selbst Bedeutungen. Im Prinzip war mir nur Joe geblieben, und daher war ich auf seine Bitte eingegangen.

Am nächsten Morgen rief ich Joe gutgelaunt an – es ist immer ein guter Tag, wenn das Festnetztelefon mal funktioniert – und fragte nach den Fundorten der anderen Leichen. Vielleicht gab es eine Verbindung zu diesem Nachtclub.

Ich hörte ihn blättern, und dann meinte er: „Der erste wurde hinter einem Busch auf dem Donelly Field gefunden, der zweite unter dem McGrath Highway, der dritte an der Baustelle am Twin City Plaza, der letzte passenderweise im Gore Park.“

„Das ist ja alles nicht allzu weit auseinander“, sinnierte ich.

„Hast du schon eine Theorie?“

„Spontan keine.“

„Und nicht spontan?“

„Drogensüchtige aus dem Starstrike-Club.“

„Mit Reißzähnen?“

Oh, da war ja was. Tja, das erledigte diese Theorie.

„Ich melde mich wieder, wenn ich was Neues habe.“

„Okay. Bleib kühl.“

Wie schnell sich Redewendungen einschleichen. Vor ein paar Jahren hatte man damit höchstens „schön ruhig bleiben“ gemeint. Jetzt war es die gängige Grußformel und wurde im wortwörtlichen Sinn benutzt.

Dann eilte ich ins Büro: keine neuen Nachrichten. Also konnte ich auch observieren. Ich benutzte ausgiebig die Sonnencreme, setzte die Sonnenbrille auf und bezog Position im Schatten gegenüber von Bilkinsons Wohnung. Er war längst bei der Arbeit; die Firmenrikscha holte ihn stets um 8:30 a.m. ab. Und was machte seine Frau? Sie bestellte sich gegen Mittag eine Rikscha und fuhr weg. Ich hatte nur meinen lumpigen E-Roller dabei und hoffte, daß der Akku nicht zu früh schlappmachen würde. Gemessen an den wilden Verfolgungsjagden, von denen Fernsehen und Kino früher voll gewesen waren, war dies eine lächerliche Verfolgung. Und dazu kam, dass der Pullbot mit 25 mph unterwegs war und ich nur mit 15. Auf einer freien Straße hätte mich die Rikscha im Handumdrehen abgehängt. Aber die verstreuten Tonnen und Müllhaufen, zum Teil brennend, zwangen den Bot die Geschwindigkeit herabzusetzen, so dass ich ganz gut mithalten konnte.

Mrs. Bilkinson stieg vor einem Nagelstudio aus und ging hinein. Das war also ihr Geheimnis. Ich wartete ein wenig, dann schlenderte ich am Schaufenster vorbei, um zu sehen, ob sie wirklich noch da war. Sie hätte ja auch einen Hinterausgang nehmen können oder mit dem Geschäftsführer zum Matratzentest nach oben entschwunden sein können. Aber sie saß bloß an einem der Tische und schwatzte mit einer asiatischen Nageltechnikerin, welche ihr gerade verschiedene Lackierungen und Feilen vorführte.

Ich schwitzte zwei Stunden im spärlichen Schatten, bis sie wieder aus dem voll klimatisierten (so stand es an der Tür) Laden herauskam. Auf den letzten Yards der Rückfahrt ging mein Akku zur Neige. Das Zielobjekt verzog sich wieder in seine Wohnung, dabei mehrmals anerkennend auf die Fingernägel blickend. Ich schob meinen E-Roller heim und ging unter die Dusche.

Die Strapaze der letzten Stunden hatte mich hungrig gemacht. Ich machte mir zwei Hamburger und verzichtete auf den Salat. Ich verstehe die Veganer nicht, man wird einfach nicht satt von dem Gemüse.

Während meines Aufenthalts im Bad musste ein Bote dagewesen sein. Unter meiner Tür war eine Mappe durchgeschoben worden. Ich nahm sie auf und blätterte sie durch: alles Auszüge aus Strafakten. Am Rand klebte ein Post-It von Joe: „Aktuelle Verdächtige. Schau doch mal durch.“

Das war ein schöner Haufen von Galgengesichtern, wie man im Western gesagt hätte. Aber keiner davon kam mir bekannt vor. Zwei von ihnen hatten allerdings fünfzackige Sterne mit einer querlaufenden Kompassnadel als Tätowierung. Ich recherchierte das Symbol: es war die Northstar-Gang, die den Bereich zwischen Somerville und Chelsea kontrollierte. Der unbekannte Tote konnte also gut ein Anwärter der Gang gewesen sein, kein harmloser Besucher eines Nachtclubs bei mir um die Ecke.

Und dann lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Das hätte sich gut anfühlen müssen, tat es aber nicht. Denn ich fühlte einen Verdacht in mir aufsteigen. Soweit ich wusste, waren all diese Toten Verbrecher gewesen. Dass die Todesfälle ebenfalls in meiner Nähe aufgetreten waren, war mehr als eigenartig. Und nun stieß mich Joe mit der Nase auf weitere Gestalten.

Ich musste ihn zur Rede stellen. Und einen Beweis haben. Gut, dass ich über hinreichende Detektivausrüstung verfügte. Ich kramte aus der hintersten Ecke meiner Technikschublade eine winzige Kamera heraus, die man mit einem Clip oder Magneten an Kragen oder Gürtel befestigen konnte. Sehr praktisch. Vorsichtshalber nahm ich die Micro-SD-Karte heraus und schaute am Laptop nach, ob noch genug Platz darauf vorhanden war. Gut, ich hatte noch etliche Gigabyte Speicherplatz frei, es war nur ein einziger Clip darauf. Er war knapp vier Monate alt. Bei welchem Fall hatte ich die Kamera verwendet?

Ich klickte auf die Datei.

„…um diese Zeit?“ fragt Joe. Das Bild ist relativ dunkel und schief, aber es zeigt ihn, irgendwo im Hinterhof der Polizeiwache.

„Hör auf mit den Spielchen!“, sagt meine Stimme, aber sie klingt rau und verärgert.

„Aber Julie…“ Er gestikuliert vage.

„Du hast mich für deine Drecksarbeit eingespannt, immer wieder. Du hältst mir einen angeblichen Fall hin, ich gehe der Spur nach und treffe auf das von dir ausgewählte Ziel. Immer, wenn Vollmond ist. Dann verwischst du die Spuren und ich vergesse alles. Richtig?“

Er sieht erschrocken aus, zögert… und nickt dann, wirkt entschlossener. „Wir räumen den Abschaum von der Straße, Julie. Wir sind ein gutes Team.“

Meine Stimme knurrt: „Team? Du nutzt mich aus. Du nutzt meine Lage aus, ich weiß nur nicht wie. Und es gibt Gesetze, die regeln, wie man mit Verbrechern umgeht. Ein System. Auf das du geschworen hast!“

„Das System ist längst zusammengebrochen, merkst du das nicht? Du bist die Nemesis, die wenigstens die Schlimmsten unter ihnen neutralisiert. Keiner außer dir kann das. Du hast damit schon eine Fehde unter Gangs verhindert und Leben gerettet, die auf Todeslisten standen.“

„Und warum weiß ich von all dem nichts?“

Joe zögert abermals. Dann: „Der Wolf kommt bei dir langsamer heraus und geht langsamer zurück als üblich. Vielleicht liegt das daran, dass du nicht gebissen wurdest, sondern nur damals mit dem Blut des toten Werwolfs in Kontakt gekommen bist, als du die Wohnung gereinigt hast. Ich bin dir einmal nachgegangen und habe mit einem Nachtsichtgerät von einem Gerüst aus sehen können, dass du nach der Rückverwandlung alles putzt und dich dann wieder ins Bett legst. Anscheinend hast du keine Erinnerung an diesen Zwischenzustand.“

„Ich bin ein Monster, aber du bist ein größeres Monster!“, schreie ich.

„Ich bin nur ein Polizist, der seinen Job macht: die Stadt vor Verbrechern zu schützen. Und ich schütze dich gleichermaßen, denn wenn du über normale Bürger herfallen würdest, dann müsste man dich einsperren – lebenslänglich.“

Damit endet der Clip.

Ich weiß nicht, was ich sagen, was ich denken soll. Das alles ist schon einmal passiert. Ich war schon genau an diesem Punkt, habe ihn überschritten… und wieder vergessen. Wie soll das weitergehen? Ich bin nervös, gehe auf und ab. Was soll ich tun? Kann ich so weiterleben? Joe, den ich für einen Freund hielt, hält in Wirklichkeit meine Fäden in der Hand. Ich selbst, die ich mich für eine unbedeutende Detektivin hielt, bin in Wirklichkeit der Wolf von Boston.

Ich gehe zum Fenster.

Hinter dem Mission Hill steht der abnehmende Mond. Ja, er ist nicht mehr in der vollen Phase, aber es ist immer noch der Mond…

Ich schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, ist es stockdunkel. Mein Ring zeigt 3:44 a.m. Zeit, ins Bett zu gehen. Von fern höre ich eine Polizeisirene. Tja, so ist Boston.

Ich mache das Licht an. Auf dem Boden liegt meine kleinste Detektivkamera. Da muss ich wohl draufgetreten sein, denn jetzt ist sie kaputt. Ich sehe sie mir kurz an: eine Karte ist nicht drin. Ich räume sofort die Reste weg und sauge den Boden mit dem Hoover. Erst dann hat alles wieder seine Ordnung, und ich lasse mich erschöpft vom Tag ins Bett fallen.

Morgen werde ich Joe fragen, ob es etwas Neues gibt. Ich glaube, wir sind ein gutes Team.

 

Impressum

Cover: Pixabay Licence. Free for commercial use. No atttribution required.
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2022

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Widmung:
Ein Beitrag zum August-Wettbewerb 2022 der Anthologie-Wettbewerbsgruppe (Platz 2). Das Thema lautete: "Tier(e)".

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