Cover

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Von diesem Lied hat man mir schon berichtet. Alle scheinen es zu fürchten; die Blicke werden unstet, die Gesten vage, wenn das Thema darauf kommt. Doch es ist wohl noch nicht bis hierher vorgedrungen, nicht bis in diese winzige Stadt am Meer. Jedenfalls heißt es, das Übel würde von Süden aus heraufziehen, sich ausbreiten wie Rauchschwaden im Wind. Während die Seeleute besorgte Blicke austauschen und die Kneipen leerer sind als sonst, weil jene ihre Schiffe bereitmachen für was auch immer, sitze ich noch recht gelassen da und greife zum nächsten Krug.

Dieses Lied rührt mich nicht. Es soll an Klagen und Leid und Ungerechtigkeit erinnern, soll die Herzen der Menschen ansprechen und ihren Geist erschüttern, bis er nachgibt und sich dem Willen der Hexenkönigin unterwirft, die es ausgesandt hat in die Welt, um sie sich zu eigen zu machen. Manche deuten an, hier sei finsterste Magie im Spiel. Andere ziehen Parallelen zu den Jungfrauen des Meeres, die auf Felsen und Inseln warten, bis arglose Seeleute durch ihren Gesang angelockt und dazu verführt werden, in die Tiefen zu springen, in die endlose Weite des Meeres.

Mein Meer ist die Stille.

Es ist schwer für mich, überhaupt etwas Neues zu erfahren, aber der Wirt kennt mich inzwischen und vermittelt das Notwendigste. Und ich habe in den letzten fünf Jahren gelernt, zumindest einige Worte aus den Gesichtern und Bewegungen zu deuten.

Aber ich spreche nicht mehr, weil ich nicht sicher bin, wie es klingt, und ob es überhaupt noch das ist, was ich sagen wollte. Für die meisten hier bin ich die stumme Frau, die in der schäbigen Kate nebenan wohnt und ihre Ruhe haben will.

Ironischerweise habe ich Stille genug, aber manchmal legen es arme Narren darauf an, mich zu verspotten und handgreiflich zu werden. Der Wirt grinst dann nur, weil er weiß, wie es ausgeht, und niemals verrät er ihnen vorher, dass ich eine Soldatin im Dienst von König Denio III. war, bis der magische Donnerhagel von Emporkömmling Briallo auch noch mein gutes Ohr innerlich zerfetzt hat. Das andere hatte ich schon als Kind an das Rotfieber verloren. Von außen sieht man natürlich nichts, also beginnt eine Begegnung mit Fremden meist, indem ich auf meine Ohren zeige und den Kopf schüttle. Außer wenn sie sich schlecht benehmen; dann gehe ich milder mit ihnen um, als es die meisten verdient hätten, und lege sie draußen ab. Aus diesem Grund haben der Wirt und ich unsere Vereinbarung getroffen: ich sorge für Ruhe in der Kneipe und kann dafür essen und trinken, so viel ich will. Man kann es schlechter haben als Veteranin.

Nach dem Donnerhagel war ein weiterer Dienst für Denio nicht mehr möglich. Keine Armee braucht Soldaten, die auf zugerufene Befehle nicht reagieren und Feinde, die auf einen zulaufen, nicht hören können. Mein Hauptmann hatte sich sogar noch für mich eingesetzt, damit ich als Bogenschützin oder als Schleicherin eingesetzt werden konnte, aber es wurde abgelehnt. Oberst Jonlaco wandte zu Recht ein, dass Schleicher hauptsächlich Geräusche vermeiden müssen, bevor sie zuschlugen, doch wie soll man das kontrollieren können, wenn man keinen Vergleich hat? Und dann sandten sie mich mit einer lausigen Abfindung weg. Ich bin einige Zeit durch die Welt gezogen – eine lautlose Welt, in der ich mich mit fast niemandem verständigen konnte. Schließlich strandete ich hier an der Küste und kaufte mir von meinem restlichen Geld die Bruchbude. Nach einiger Zeit hatte ich das Dach abgedichtet, und danach war jeder Tag praktisch wie jeder andere.

Bis jetzt. Ein Mann ist eingetreten, ein Mann in der Uniform der Streitkräfte von Tarrava. Seit Jahren habe ich diese Uniform nicht mehr gesehen. Er lässt seinen Blick schweifen, und als er mich erblickt, nickt er und kommt herüber zu mir. Das verheißt nichts Gutes.

Er zeigt auf seine Augen und dann auf mich. Ich habe dich gesucht.

Ich lege den Kopf schief und kneife die Augen zusammen. Warum?

Er tippt an seine Uniform. Ich hatte den Befehl dazu.

Ich drehe die Handfläche nach oben. Und um was geht es?

Er lächelt und nestelt eine Schriftrolle aus seiner Jacke. Das Siegel ist unversehrt, und am Rand des Pergamentes kann ich meinen Namen entziffern: Jacinda Tahyrst.

Er übergibt sie mir fast feierlich. Ich wage nicht zu vermuten, wie lange er für seine Suche gebraucht haben mag. Aber dass man einen Boten zu einer Kriegsversehrten wie mir geschickt hat, ist ein schlechtes Zeichen. Eine Entschädigung wird jedenfalls nicht da drin sein.

Ich breche das Siegel ganz profan an der Tischkante auf und lese den Text.

Spezialistin Jacinda Tahyrst, gemäß Klausel 26 berufe ich Euch mit sofortiger Wirkung zurück in den aktiven Dienst. Kehrt umgehend zurück zu Burg Tarrava, wo Euch eine Erklärung und weitere Anweisungen erwarten. Aus Gründen der Geheimhaltung kann ich hier nicht deutlicher werden, aber seid gewiss, dass es sich um eine bedeutende Angelegenheit handelt. Euch winken eine Beförderung und ein ausgezeichneter Sonderlohn.

Unterzeichnet ist der Brief mit Hauptmann Cansante. Er war früher mein Vorgesetzter gewesen, und soweit ich ihn kannte, handelte er niemals leichtfertig. Die Lage sieht also ernst aus. Aber ich habe schon vor Jahren mit all dem abgeschlossen. Die Idee, abermals in die Armee einzutreten, kommt mir lächerlich vor.

Ich mache eine umfassende Geste, deute auf den Boden und schüttle den Kopf. Das ist nicht das Königreich Tarrava, sondern das Fürstentum Grenold. Der König hat hier keine Macht über mich, und der Hauptmann auch nicht.

Der Bote nickt und hebt die Hand. Sie wissen das. Es gibt noch ein Argument.

Er löst einen Lederbeutel von seinem Gürtel und legt ihn auf den Tisch. Ich ziehe ihn zu mir herüber und blicke hinein: Gold, in schweren Münzen. Rund ein Dutzend. Sie müssen verzweifelt sein.

Ich lasse meinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Alles Fremde. Ich lebe seit Jahren hier, bin aber nicht heimisch geworden. Mein Haus könnte vom nächsten Sturm weggefegt werden. Eigentlich hält mich hier nichts.

Ich zucke mit den Schultern, nicke, stecke den Beutel ein und stehe auf. Dann verabschiede ich mich vom Wirt, der mich verblüfft mustert, aber ohne weitere Diskussion ziehen lässt. Der Bote folgt mir.

Während ich packe, markiert er auf einer Karte einen raschen Weg: erst mit der Fähre nach Chale Sarce zur Flussmündung, dann mit einem Schiff stromaufwärts nach Süden bis Vacaste. Dort über die Grenze, dann mit einer Kutsche zur Königsburg. Ich merke, er hat es eilig. Wahrscheinlich hat er auf der Suche nach mir schon zu viel Zeit verloren.

Ich lege meine alte Uniform an, die seit fünf Jahren im untersten Fach des Schrankes gelegen hat, und packe die Waffen, Proviant und gewohnheitsmäßig eine Decke in den Rucksack – dann werfe ich die Decke wieder hinaus. Wir werden nicht draußen übernachten, und Gewicht hält nur auf. Allmählich beginne ich wieder zu denken wie eine Soldatin. Ich werde schnell sein müssen, so schnell wie früher. Noch etwas Kleinkram und meine restlichen Ersparnisse in den Rucksack, dann können wir aufbrechen. Der Bote nickt anerkennend. Wir verlassen das Haus, und ich erwarte nicht, diese Stadt noch einmal zu sehen.

Die Reiseroute folgt der Karte und dauert dreieinhalb Tage. In der Zwischenzeit erfahre ich durch Kritzeleien und kurze Texte auf dem Block, den ich stets mit mir führe, von dem Boten nicht nur seinen Rang und Namen - Sergeant Bano - , sondern auch, dass sich die Lage im Süden immer weiter zuspitzt. Oben an der Küste wird nicht viel über den Krieg in Tarrava geredet, hatte ich bislang den Eindruck; das Leben schien hauptsächlich aus Fischfang, Handel, Prügeleien und Bier zu bestehen. Aber mir mag vieles entgangen sein.

Die Reise gibt mir Zeit, um über einiges nachzudenken. Der Trubel um mich herum, die Passagiere auf dem Schiff, das Be- und Entladen, die Menge an Menschen und die fremden Häfen lassen mich kalt. Es ist schon bemerkenswert, wie der Verlust des Gehörs einen von der Welt entfremden kann. Menschen bewegen den Mund, scheinen fröhlich oder wütend, spöttisch oder freundlich zu sein: nichts von ihren Worten oder Schreien kommt bei mir an. Ich weiß nicht, was sie bewegt, über was sie sich unterhalten, was ihnen gerade wichtig ist und bei welchen Göttern sie fluchen. Alles strömt an mir vorbei. Ich bin ein stummer Fisch in einem Meer der Stille.

Ich weiß nicht, ob ich noch als Soldatin tauge. Meine Haare sind lang geworden, mehr als schulterlang, und das Schwert lehnte nur am Regal. In einer Taverne für Ruhe zu sorgen, bedeutet nicht, alle Störenfriede einen Kopf kürzer zu machen. Schlecht fürs Geschäft. Aber mit dem Dolch bin ich in Übung geblieben. In Notfällen kann er hilfreich sein.

Bano weiß nicht, welche Aufgabe mich erwartet. Er sollte mich nur finden und zurückbringen. Und schließlich verrät er mir auch, wie ihm das gelungen ist. Der Hofmagier von Denio hatte ihm die Gegend genannt, in der ich mich aufhielt, und zwar über meine Uniform. Es gibt wohl nicht viele tarravanische Uniformen außerhalb des Landes. Dieser Zauber muss ziemlich schwierig gewesen sein. Ich wundere mich nur, warum ich diesen Aufwand wert war.

Die Flussfahrt ist eine ziemlich erholsame Ablenkung, die Kutschfahrt danach ein furchtbares Gerüttel, denn Bano hat nicht etwa einen Platz in einer der gemächlichen Kutschen, die Händler mit ihren Waren zwischen Städten transportieren, herausgesucht, sondern eine schnelle Kutsche, die ansonsten nur eilige Boten und reiche Adlige verwenden.

Ich verfluche Bano, indem ich ihm meine finstersten Blicke zuwerfe. Mehrmals erwäge ich, auf den Kutschbock zu klettern und den Lenker hinunterzuwerfen, aber er ist auch nur jemand, der seinen Anweisungen folgt. Ich blicke an meiner Uniform herab und verachte mich selbst.

Endlich sind wir an der Burg angelangt. Äußerlich hat sich auf den ersten Blick nicht viel verändert; das Banner, die sandfarbenen Mauern, die Zierbüsche und Springbrunnen, die gepflasterten Wege – alles ist noch so wie damals. Aber betrachte ich die Menschen, so sehe ich Sorge in ihren Augen, vielleicht sogar Angst. Und es sind weniger, als ich es gewohnt bin.

Eine Ordonnanz führt mich in das Militärquartier, das die Hälfte des Burghofes einnimmt. Früher waren hier Stände von Händlern, Gaukler und spielende Kinder. Ich sehe schließlich, dass ein erheblicher Teil der Burg von Militärpersonal belegt ist. Nicht gut.

Unversehens tritt mir Hauptmann Cansante entgegen. Er sieht müde aus, steht aber so aufrecht da wie eh und je.

Seine Lippen formen meinen Namen. Einige wenige Worte habe ich inzwischen zu lesen gelernt. Im Halbdunkel einer Taverne, wo meist bärtige und gleichzeitig betrunkene Gäste sitzen, ist das nicht leicht. Jetzt aber ist helllichter Tag.

Ich folge ihm in ein Nebengebäude. Er wechselt ein paar Worte mit Bano und schickt ihn dann weg. Außer Cansante sind noch zwei Männer hier: ein Junker, wohl als Vertreter des Hofes, und ein erschöpft wirkender Magier.

Der Hauptmann nimmt ein Blatt aus einer Mappe, die auf dem Tisch liegt, und reicht es mir.

Danke für Euer Erscheinen, Spezialistin Tahyrst. Ihr wollt sicher erfahren, aus welchem Grund man Euch hierhergebeten hat. Dieser Grund ist natürlich die Ausdehnung des Einflusses der Hexenkönigin. Zu lang wurde die Bedrohung der Südgrenze nicht ernst genug genommen, weil sie nicht auf klassischen militärischen Mitteln beruhte, sondern auf magischen Methoden, die zum Teil bisher hier unbekannt waren.

Aber Sesa Tegre hat dieses Lied geschaffen, dieses Zauberlied, dem jeder, der es hört, schließlich verfällt und seine Loyalität ihr - der Hexenkönigin - schenkt. Sie überwindet damit unsere Verteidigung, besiegt unsere Armee, ohne dass ein Tropfen Blut fließt, und die Magier haben noch kein Mittel, unsere Leute wirksam zu schützen. Wir haben Bogenschützen an der Grenze postiert, die auf jeden schießen sollen, der dieses Lied verbreitet – aber manche ihrer Stimmen tragen weiter, als ein Pfeilschuss reicht, und schon an mehreren Stellen sind sie weiter vorgedrungen als wir es uns je ausgemalt hätten. Längst sind etliche Dörfer im Süden und auch schon zwei Städte in der Hand der Hexenkönigin.

Der König hat schließlich Parlamentäre vorgeschickt, die verhandeln sollen, denn der Hofmagier hat keinen Ausweg anbieten können. Wir können aus offensichtlichen Gründen keine Truppen einsetzen. Die vorläufigen Verhandlungen haben uns etwas Zeit verschafft, aber wir brauchen etwas Besseres. Und da kommt Ihr ins Spiel.

Ihr sollt Euch in der Rolle als führende Diplomatin zum Verhandlungsort in der Stadt Mondrana begeben. Und wenn Ihr dort seid, sollt Ihr die Anführer der Delegation ausschalten, im Idealfall die Hexenkönigin selbst, wenn sie vor Ort ist. Unsere Magier werden dann Analysen von deren Zauberbüchern, Spruchrollen und Komponenten vornehmen. Auf diese Weise erfahren wir mehr über die Methodik des Feindes. Sollte Tegre gefallen sein, umso besser.

Die Sache mag nicht einfach sein, aber durch Euer Leiden seid Ihr allein immun gegen die hexerische Magie des Liedes, und Ihr wart schon immer geschickt im Kampf unter ungünstigen Bedingungen. Nach Eurer Rückkehr werdet Ihr um zwei Ränge befördert und erhaltet einen königlichen Lohn. Mehr noch, es liegt an Euch, eine einzigartige Gefahr vom Land abzuwenden. Wir alle zählen auf Euch.

Ich lasse das Blatt sinken. Schon früher habe ich kritische Missionen erlebt, aber dies ist ein Todesauftrag. Ich allein soll die ganze Delegation besiegen? Einen Haufen Hexen und Magier, die mich mit einem Wort versteinern oder mit Flammenbällen bewerfen können?

Ich bin keine Heldin. Aber mir passt diese heimtückische Art nicht, sich alles in Hörweite durch Zauberei zu unterwerfen. Und mein Angriff würde auf jeden Fall überraschend kommen. Die ersten ein, zwei wären einfach. Dann würden sie zu ihren Zauberstäben greifen – oder ihren Besen, aber das mit den Besen habe ich bisher immer für Unsinn gehalten – und ihre Sprüche beginnen. In der Zeit hätte ich zwei oder drei andere erwischt. Das Problem würden diejenigen werden, die danach kämen.

Wie groß ist die Delegation? schreibe ich auf meinen Block.

Cansante bespricht sich kurz mit dem Junker und hebt dann sieben Finger.

Sieben Personen. Das ist eine Herausforderung. Eine Frage der Waffen. Und der Geschwindigkeit.

Ich nicke, und sie lächeln erleichtert. Verdammt, anscheinend bin ich doch eine Patriotin.

Der Junker führt mich in ein Zimmer, das ein Stockwerk höher liegt. Es sieht nach der Unterkunft eines Offiziers aus, hat sogar eine eigene Badenische. Er entfernt sich, als mir eine Magd entgegentritt. Sie deutet auf den Zuber und schließt die Tür hinter mir. Nach den drei Tagen ist das Bad eine Wohltat. Ich greife nach einem Apfel, aber sie macht mir mit Gesten klar, dass nachher ein großes Abendessen geplant ist. Ich esse trotzdem die Hälfte des Apfels auf.

In der Zwischenzeit hat sie meine Uniform ausgebürstet und zusammengelegt. Ich runzle die Stirn, und sie hält mir ein Kleid hin. Ich lache, vielleicht krächzend, vielleicht tonlos. Ein Kleid habe ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr angehabt. Aber sie besteht darauf, und als ich es aufs Bett werfe, holt sie den Hauptmann.

Er unterdrückt vergeblich ein Lächeln, als er mich, erbost und gehüllt in zwei Handtücher, sieht. Gelassen greift er nach meinem Block, nimmt den Stift und schreibt.

Das gehört zum Plan. Ihr müsst harmlos wirken. Beim Essen nachher werdet Ihr als Gesandte des Königs vorgestellt, um eventuelle Spione zu täuschen. Ihr braucht nichts sagen. Morgen früh geht es dann los.

Ich zucke mit den Schultern, und die Magd geleitet ihn zur Tür. Dann trocknet sie mir die Haare ab und hilft mir in das Kleid. Ich ziehe meine Stiefel an und blicke missmutig in den Spiegel, den sie mir hinhält. Sie schaut mich beleidigt an und arbeitet nahezu eine Stunde an meinen Haaren, meinem Gesicht, meinen Fingernägeln. Ein Barbier könnte nicht schlimmer sein.

Schließlich ist sie fertig mit der Tortur und kommt noch einmal mit dem Spiegel an. Und Donnerschlag noch einmal, ich erkenne mich kaum wieder. Meine Narbe am linken Wangenknochen ist kaum noch sichtbar, und sogar der kupferfarbene Farbton der Haare, die jetzt glatt über meine Schultern fallen, ist wieder da. Ich will nicht behaupten, hübsch zu sein – das war ich noch nie – aber immerhin passabel und vor allem fremd. So wie eine von den affektierten adligen Damen, über die ich mich immer lustig gemacht habe. Ja, dieser Frau würde ich eine Diplomatin abnehmen. Ich grinse schief, was die Magd mit einem Stirnrunzeln quittiert. Und dann ist auch schon Essenszeit.

Der Junker kündigt mich den Anwesenden als irgendwas an; ich weiß nur, dass er auf mich deutet und laut etwas sagt. Er macht jedenfalls den Mund sehr weit auf. Ich gehe ungerührt weiter zu dem Platz, den mir ein Page zuweist. Dort verzehre ich ein Mahl, wie es üblicherweise nur höhere Offiziere und der Adel serviert bekommen. Die Hälfte des Aufgetischten ist mir fremd. Und bei der anderen Hälfte bin ich nicht sicher. Manche Leute sprechen mich an, aber ich sehe scheinbar desinteressiert darüber hinweg. Arroganz habe ich oft genug im Adel beobachtet und erleben müssen, jetzt wirkt sie als Schutzschild gegen Fragen, die ich nicht beantworten kann, und Gespräche, die ich nicht führen will. Hauptmann Cansante zwinkert mir im Vorbeigehen zu. Anscheinend mache ich es richtig.

Nach dem Essen ziehe ich mich rasch auf mein Zimmer zurück – es ist nicht das Zimmer, in dem ich mich umgezogen habe, sondern ein kleineres, aber immer noch besser als die windschiefe Ruine, in der ich die letzten Jahre verbracht habe. Hier gehe ich meine Waffen durch. Zuerst hatte ich daran gedacht, mir das Kurzschwert mit einem Riemen an den Oberschenkel zu binden. Aber das war Unsinn; eine falsche Bewegung und es würde sich unter dem Stoff abzeichnen, selbst bei einem langen und schweren Kleid wie diesem. Nein, ein normaler Dolch und die beiden Wurfdolche in den Stiefeln mussten reichen. Nachdem die ersten Ziele gefallen waren, konnte ich deren Waffen weiterverwenden. Ich bin sicher, selbst Hexen würden nicht völlig unbewaffnet erscheinen. Ich werde ohnehin improvisieren müssen.

Der nächste Morgen kommt früher als erwartet. Die lästige Magd reißt mich aus dem Schlaf und ist mir beim Herrichten behilflich. Außerdem hat sie einen neuen Gürtel mitgebracht, der besser zu dem Kleid passt als mein Waffengurt von der Uniform. Ich befestige meine Dolchhalterung daran und vergewissere mich, dass die Stiefeldolche richtig sitzen. Dann geht es schon hinunter zu einem schnellen Frühstück. Der Junker setzt sich neben mich und legt mir einen Zettel hin.

Ich werde Euch als Euer Adjutant begleiten. Schließlich habe ich die Verhandlungen auch in die Wege geleitet, auf Geheiß des Königs. Es wäre zu verdächtig, wenn ich nicht dabei wäre. Ich werde dafür sorgen, dass wir der Delegation der Hexenkönigin so nah kommen wie möglich. Im Kampf unterstützen kann ich Euch allerdings nicht.

Ich sehe ihn an. Er führt, wie alle Adligen, ein Schwert, und ich weiß, dass der Umgang damit zur gängigen Ausbildung von heranwachsenden Adligen gehört. Auch wenn er seine Waffe vor Ort als Zeichen guten Willens ablegen würde, könnte er sie dennoch wieder an sich nehmen, sobald ich losgelegt habe. Das kann nur eines bedeuten: er wird fliehen, sobald es ernst wird. Das kann ich sogar verstehen - ich habe schon Flammenstrahlen und glühende magische Geschosse gesehen. Aber es stößt mich dennoch ab.

Ich habe ihm nichts zu sagen und esse weiter. Während der Page den Tisch abräumt, fährt schon eine Kutsche vor, eine von diesen repräsentativ bemalten, die ich noch nie von innen gesehen habe. Hauptmann Cansante erscheint aus einem Gang und zeigt auf die Kutsche. Der Junker und ich setzen uns in Bewegung. Cansante läßt sich dazu hinreißen, mir auf die Schulter zu klopfen, als ich vorbeigehe. Das ist unser Abschied. Dann steigen wir schon ein.

Zu meiner Überraschung sind die Sitze gepolstert. Was für ein Luxus! Ich lehne mich zurück und lasse den Kutscher seine Arbeit erledigen. Der Mann gegenüber versucht mich durch einige Gesten anzusprechen, aber ich schließe die Augen. Wenn es losgeht, will ich ausgeruht sein, und heute Morgen bin ich definitiv zu früh aufgestanden. Wenn man daran gewöhnt ist, vom Nachmittag bis zur Sperrstunde zu arbeiten, dann reichen drei Tage Reise nicht, um sich völlig umzustellen.

Es geht einige Stunden nach Süden. Ab und zu schaue ich schläfrig hinaus auf die herbstliche Landschaft. In den Dörfern, die wir durchqueren, hätte ich mehr Leben erwartet. Die Straßen sind wie leergefegt. Verbergen sich die Menschen vor der Hexenkönigin oder wurden diese Ortschaften vorbeugend geräumt?

Gegen Mittag erreichen wir Mondrana. Die Stadt wirkt überraschend normal. Doch wenn die Grenze zwischen Tarrava und dem Reich der Hexenkönigin – Vhoorlatha – bereits hier verläuft, dann hat sie schon ein Fünftel des Landes besetzt. Ich sehe Bürger, die sich irgendetwas ins Ohr gestopft haben, und tarravanische Soldaten, die alle ihre Helme tragen. Ja, hier verläuft der Konflikt. Und doch gibt es im Gegensatz zu umkämpften Städten, die ich früher gesehen habe, keine Spur einer gewaltsamen Auseinandersetzung, keine Beschädigungen, keine Brandspuren. Der Kampf läuft hier subtiler ab – oder er ist erst kurz davor, auszubrechen.

Wir halten vor einem alten Prunkbau. Ein Schild bezeichnet ihn als Rathaus der Stadt, den ehemaligen Palast des Grafen Ganonto. Hier also soll die Besprechung stattfinden. Ein Würdenträger in geckenhafter Aufmachung bittet uns herein. Ich versuche ihn in maßloser Arroganz zu übertrumpfen und die Aura der Überlegenheit in den Saal mitzunehmen, zu dem er uns führt. Gleichzeitig merke ich mir die Gänge, die Positionen der Türen und Fenster. Vielleicht werde ich sehr eilig gehen müssen.

Der Besprechungsraum könnte den Ausmaßen nach ein ehemaliger Thronsaal gewesen sein. Die Zeiten der eigenständigen Grafschaften sind lange vorbei. Jetzt stehen hier zwei Wachen der mondranischen Stadtgarde vor der Tür und lassen uns ein, nachdem der Junker ihnen ein Dokument gezeigt hat. Innen sehe ich ein halbes Dutzend Personen, die ins Gespräch versunken sind. Sie blicken auf, als sie uns bemerken, und neigen grüßend die Köpfe. Ich tue es ihnen nach.

Ihrer Kleidung nach sind es ganz offensichtlich Anwender der magischen Künste; sie tragen asymmetrisch geschnittene Roben in schwarz und grün, mit weiten Ärmeln und krakeligen Zeichen darauf, die eine Gelehrte sicherlich zu deuten wüsste. Ich bin keine. Die drei Männer verfügen über Stäbe, die drei Frauen haben Zweige im Gürtel. Interessant.

Der Junker beginnt zu sprechen. Er zeigt ein neues Dokument, weist auf mich und redet weiter auf die Delegation ein. Doch während die Fremden ihm lauschen, scheinen zwei der Frauen auch noch auf irgendetwas hinter mir zu achten.

Eine leichte Erschütterung ist auf dem Boden zu spüren, bevor ich mich umdrehen kann. Und als ich dies endlich getan habe, stelle ich fest, dass die schwere Tür zugeworfen wurde – und zwar von einer Frau, die ebenso wie die Gesandten gekleidet ist und ihren Leuten etwas zuruft. Das siebte Delegationsmitglied!

Ich bin enttarnt. Anders kann ich mir den Aufruhr nicht erklären. Den erschrockenen und verwirrten Gesichtern entnehme ich, dass jene Frau mich wohl von hinten angesprochen, vielleicht sogar angeschrien hat, ohne dass ich etwas davon bemerkt habe. Sie wissen von meiner Immunität gegen ihr Lied! Also muss ich direkt handeln.

Ich reiße die Wurfdolche aus den Stiefeln und werfe sie in die feindliche Gruppe. Das war eine der Lehren meines Ausbilders: Fernwaffen bevorzugt auf Gruppen richten, dann trifft man immer irgendwen. Für Einzelziele hat man die Klinge.

Zuverlässig schlagen die Messer ein. Nicht tödlich, aber man hat mir damals gesagt, dass Schmerz die Konzentration von Magiern zerstreut, so dass sie es schwer haben zu zaubern. Ich hoffe, das stimmt. Dann ziehe ich den Dolch aus dem Gürtel und renne auf den Hexer zu, der mir am nächsten steht. Doch obwohl das Kleid nicht gerade eng geschnitten ist, behindert es mich beim Laufen, und ich komme ins Straucheln, rutsche aus. Vielleicht rettet mir dies das Leben, denn eine gezackte Klinge wirbelt über mich hinweg und bleibt weiter hinten in der Täfelung stecken.

Ich rolle mich ab, packe den Hexer an seiner Robe, während er seine Gesten vollführt, ziehe ihn zu mir heran und lasse den Dolch sprechen. Ein Schnitt, ein Stich, auf zum nächsten. Geschwindigkeit ist alles für eine Spezialistin.

Der zweite Hexer hat seinen Stab fallengelassen und zieht gerade meinen Wurfdolch aus seiner Schulter. Dumm von ihm. Vielleicht hält er ihn auch für vergiftet. Jedenfalls ist er abgelenkt. Leichtes Spiel für mich, ihn von der Seite anzuspringen, niederzustechen und sogar den Wurfdolch wieder an mich zu bringen.

Die Hexe, die meinen zweiten Wurfdolch abbekommen hat, liegt reglos hinter dem dritten Mann an der Wand. Er hat seinen Kampfstab erhoben und greift mich an. Ich schleudere ihm den wiedergewonnenen Wurfdolch aus kurzer Entfernung in die Brust und weiche seinem Schlag aus. Dolch gegen Stab ist ein furchtbares Missverhältnis, man hat buchstäblich den Kürzeren gezogen.

Aber sein zweiter Schlag ist nur noch schwach; ich fange ihn mit dem Dolchgriff ab, schlinge meinen Unterarm um den Stab und reiße ihn an mich, während der Mann nach vorne umkippt.

Das waren vier; was macht der Rest? Ich springe vorsichtshalber erst einmal zur Seite, und tatsächlich gleißt ein Blitz an mir vorbei. Im Augenwinkel sehe ich, wie eine Laterne davon getroffen wird und zerspringt. Die beiden noch stehenden Hexen, die in der Gruppe waren, haben inzwischen längst ihre Zweige gezogen und richten sie auf mich, die dritte – die im Schatten der Tür stand – sehe ich gerade nicht.

Ihre Münder bewegen sich, also dürften sie gerade Zauber sprechen. Man hat mir beigebracht, dass Kampfzauber meist recht kurz sind, damit es nur wenig Gelegenheit zur Unterbrechung gibt. Ich springe zur anderen Seite, rolle mich abermals ab und werfe beim Hochkommen den Dolch gegen die links stehende Hexe. Durch die Rolle habe ich die Entfernung nicht gut abschätzen können; zwar treffe ich sie am Kopf, aber nicht mit der Klinge, sondern mit dem Knauf. Das stößt sie dennoch etwas nach hinten und unterbindet zumindest das, was sie mir entgegenschleudern wollte. Die andere lässt sich davon jedoch nicht beirren und beendet ihren Zauber; ein gelblicher Schimmer umgibt sie jetzt. Egal; ich stürme vor und schlage mit dem erbeuteten Kampfstab zu. Das beeindruckt sie wenig, sie beginnt sogar mit einem neuen Zauber.

Sie hat einen Schutzschild gewirkt! Das Mindeste, was ich nun tun kann, ist sie aus dem Konzept zu bringen. Also prügle ich mit dem Stab weiter auf ihren Schild ein. Kein Schild hält ewig. Im Hinterkopf läutet bei mir allerdings dauernd die Alarmglocke: was macht eigentlich die ominöse siebte Hexe die ganze Zeit?

Obwohl meine Schläge den Schild ziemlich durchschütteln, hält er aus, bis sie mit ihrer nächsten Formel fertig ist und mir mit einem zynischen Lächeln einen Flammenstrahl entgegenwirft. Die Hitze ist unerträglich. Ich lasse den Stab fallen und laufe zum Tisch, greife nach einem Krug und gieße mir den gesamten Inhalt über Kopf und Oberkörper. Meine Haare riechen versengt – und nach Bier.

Jetzt sehe ich auch die siebte Hexe und den Junker – oder das, was von ihm übrig ist. Für dieses Ausmaß an Verletzungen waren anscheinend zwei, wenn nicht drei Zauber verantwortlich. Er hat Brandblasen, etliche Knochen scheinen gebrochen zu sein und sein Schwert hat sich offenbar in eine Schlange verwandelt, die seinen rechten Arm verschluckt hat. Das hat man wohl davon, wenn man zur Tür läuft und jener Hexe begegnet.

Ich drehe mich um und werfe mit dem Krug nach der Schildhexe. Sie hebt abwehrend die Arme; der Krug streift ihr Ohr, und sie schreit auf, das kann ich sehen.

Keine Zeit, den Stab wieder aufzuheben: ich renne auf die linke Hexe zu, die ich mit dem Dolch getroffen hatte, und die Wucht meines Aufpralls schleudert sie gegen die Wand, an der sie hinabgleitet. Jetzt hebe ich den Dolch auf und bringe es zu Ende. Die andere will weglaufen, aber es gelingt mir noch, ihr Fußgelenk zu fassen und …

In diesem Moment trifft mich ein furchtbarer Schlag von hinten, und ich verliere das Bewusstsein.

Als ich erwache, sitze ich gefesselt auf einem Stuhl. Drei Hexen sitzen mir gegenüber: die Schildhexe, dann diejenige, die ich zuerst mit dem Wurfdolch getroffen und für tot gehalten hatte, und natürlich die siebte Hexe. Ich mache mir keine Hoffnungen auf Flucht, Verhandlungen, Überleben.

Zu meiner Überraschung mustern sie mich ruhig, besprechen sich kurz und stehen auf. Dann beziehen sie Position in einem Kreis – oder besser Dreieck – um mich herum und vollführen schließlich einen Zauber, anders kann man die Gesten und konzentrierten Blicke nicht deuten. Mein Kopf beginnt zu dröhnen. Die Ohren schmerzen für einen Moment, als würden hunderte winziger Nadeln hineingestochen, und plötzlich ist es vorbei.

Dann fühlt es sich so an, als sei ich aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche gelangt, als wenn sich eine Kuppel der Schwere von mir hebt, und ich vernehme ein Geräusch.

Ich versuche mich zu erinnern: das ist ein Vogel, irgendwo vor dem Fenster. Ich höre den Atem der drei Frauen, das Knarren meines Stuhls, den leisen Gesang der Schildhexe.

Ich kann wieder hören.

Ich sehe die Hexen ungläubig an.

„Was …“ Meine Stimme klingt kratzig und rau, aber ich erkenne sie wieder.

Die siebte Hexe setzt sich mir gegenüber hin. „Willkommen. Du hast uns ganz schön Schwierigkeiten gemacht.“

Ich zerre an meinen Fesseln und muss husten. „Bei Leuten, die nicht unser Land erobern wollen, bin ich umgänglicher.“

Sie nickt. „So muss es für dich aussehen, Jacinda.“

Als ich sie verwirrt anschaue, deutet sie mit dem Kopf nach links, zur Leiche des Junkers. „Bevor er gestorben ist, hat mir der Kerl noch ein paar Fragen beantwortet. Aber der Reihe nach. Das hier sind Britha und Wynna.“

Ah, die Schildhexe und die vermeintliche Leiche.

„Wynna wäre fast erstickt“, fährt sie fort, „aber ich konnte sie gerade noch heilen. Bei den anderen kam meine Hilfe zu spät. Ich gebe zu, anfangs habe ich deinen Begleiter für den gefährlicheren von euch gehalten. Und insgesamt haben wir eher mit magischen Angriffen gerechnet. Daher gehen die vier Toten zur Hälfte auf mich. Du wirst es schon erraten haben – ich bin die Hexenkönigin.“

„Siehst nicht so aus“, murmle ich. Sie würde mich ohnehin gleich töten, egal was ich sage.

Sesa Tegre lacht auf. Es erscheint mir irgendwie bizarr angesichts der Leichen, die um uns herumliegen. Aber ich habe seit Jahren kein Lachen mehr vernommen. Es ist dennoch schön.

„Es war vielleicht nicht die beste Idee, sich unter die Delegation zu mischen, aber ich wollte aus erster Hand wissen, was ihr vorhabt.“

„Ich weiß, was ihr vorhabt – ihr wollt uns unterwerfen.“

Sie runzelt ob meines Vorwurfs überrascht die Stirn. „Aber nein. Wir wollen euch befreien.“

„Das sagen sie alle.“

Sie lehnt sich im Stuhl vor. „Du bist etliche Jahre nicht in Tarrava gewesen. Der König hat sich zum Tyrannen entwickelt, hast du das nicht mitbekommen? Hast du die leeren Städte nicht gesehen? Das passiert mit Bürgern, wenn sie aufbegehren, wenn sie die immensen Steuern nicht zahlen können, wenn sie nicht nach Westen in den Krieg gegen Kharbhurukth ziehen wollen.“

„Niemand legt sich mit Kharbhurukth an!“, krächze ich.

„Euer König mittlerweile schon. Und er missachtet auch Parlamentäre. Normalerweise wird einem ein sicheres Geleit zugesichert. Aber er schickt seine beste Assassinin – eine, die zudem keine Ahnung von seinen Machenschaften hat. Ist das der ehrenhafte Weg, der einem König zustünde?“

„Ist es ehrenhaft, den Geist der Leute mit einem Lied zu bezaubern?“, frage ich zurück.

Sie lächelt. „Machen das Barden nicht seit Jahrhunderten?“

So leicht kommt sie mir nicht davon. Ich weiß ohnehin nicht, warum sie sich überhaupt mit mir unterhält. Oder, vor allem …

„Jemanden zu begeistern ist eines, jemanden zu verhexen ist etwas ganz anderes“, beharre ich.

Sie legt einen Finger ans Kinn. „Ah, du redest vom freien Willen. Wieviel freien Willen haben denn die Bürger dieses Landes? Leibeigenschaft, zum Kriegsdienst gepresste Söhne, Angst vor dem König, eine Armee mit Assassinen darin …“

„Es heißt Spezialisten“, wende ich müde ein.

„Ja, das macht es gleich viel besser, nicht wahr?“ Diesen Sarkasmus könnte man nahezu schneiden, so dicht ist er.

„Wie auch immer. Ich wüsste nur gern, warum ihr mich geheilt habt. Ich weiß, das kann nicht einfach gewesen sein. Zwei Magier haben sich schon daran versucht und es als zu heikel abgelehnt.“

„Ja, es war nicht einfach. Aber wir sind keine Feinde und kennen uns mit einigen Dingen wahrscheinlich auch besser aus als eure Leute. Jemand, der üblicherweise nur Kampfwunden wie Brüche und Schnitte versorgt, ist mit den Feinheiten des Kopfes vielleicht überfordert.“

„Wir sind keine Feinde, obwohl ihr unser Volk unter einen Bann werft und ich vier eurer Leute getötet habe?“

Tegre seufzt. „Nein. Der wahre Feind sitzt in Burg Tarrava. Aber es ist nicht meine Art, einzumarschieren und Schlachten zu schlagen. Ich hoffe, du erkennst das.“

Sie schlägt ihre Kapuze zurück, und schwarzes Haar quillt hervor. Sie hat graue Augen, ein schmales Gesicht und ich könnte ihr Alter nicht einmal schätzen, wenn mein Leben davon abhinge. Im einen Moment scheint sie Mitte zwanzig zu sein, dann wieder eher das Doppelte davon, je nach Bewegung, Blick und Geste. Ihre Augen, da bin ich sicher, haben mehr als ein paar Jahrzehnte gesehen.

„Ist dieser Zauber… dieses Lied wirklich notwendig?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nur solange der Tyrann herrscht. Ich habe nur keine andere Möglichkeit gesehen, ihn mit so wenig Gewalt wie möglich zu entfernen.“

Ich lehne mich zurück und erst jetzt fällt mir auf, dass Britha immer noch singt. Und nun fügt sich alles zusammen. Sesa Tegre, geschmäht als Hexe, ist die Königin von Vhoorlatha. Wie viele aus ihrer Familie hat sie magische Fähigkeiten, aber das war nicht wichtig, bis König Denio danach strebte, sein Reich zu erweitern. Bei einem Land mit einer Herrscherin wähnte er ein leichtes Spiel zu haben, doch sie rief die besten Magiebegabten des Landes zusammen und warf ihn zurück. Daraufhin versuchte er es bei Kharbhurukth. Doch Sesa war ihr Erfolg der Verteidigung ihres Landes nicht genug; sie wollte, dass die Raubzüge des Tyrannen aufhörten. Und so entwarf sie dieses Lied – das Lied, das an die Klagen der Überfallenen und das Leid des Volkes und die Ungerechtigkeit des Königs erinnern sollte; das Lied, das den Krieg beenden würde, wenn man ihm nur folgt. Wenn man Sesa Tegre nur folgt.

Ich sehe sie an und verstehe.

Sie lächelt, nickt und löst meine Fesseln.

Ich sinke auf die Knie vor meiner Königin, doch sie heißt mich aufzustehen.

„Gehen wir“, sagt sie schlicht, „nachdem sich die Verhandlungen als Arglist des Königs erwiesen haben, gibt es keinen Grund mehr zu verweilen. Gehen wir heim.“

Die beiden Hexen folgen ihr einmütig, als sie sich zur Tür wendet.

„Aber…“, bringe ich heraus.

Sesa dreht sich zu mir um. „Ja?“

„Was ist mit dem König?“

Sie bleibt stehen. „Hast du einen Vorschlag?“

In mir steigt eine Idee empor, wächst, nimmt Gestalt an. „Ich bin immer noch eine Spezialistin, und ich werde zurückerwartet. Ein königlicher Lohn wurde erwähnt…“

Tegre zögert. „Ich will dir nichts zumuten. Das ist gefährlich.“

„Kaum gefährlicher als in einem Raum mit sieben Magiebegabten zu gehen.“

Die Hexenkönigin senkt ihre Stimme. „Es ist deine Entscheidung.“

Dann dreht sie sich um und verlässt mit den anderen den Raum. Ich stehe inmitten dessen, was ich angerichtet habe. Mit Bedacht hebe ich meine Wurfdolche und den Dolch auf, reinige sie sorgfältig am Tischtuch. Dann ordne ich meine Kleidung und meine Frisur und gehe zur Kutsche.

Der Mann auf dem Kutschbock sieht mich fragend an, aber ich schüttle den Kopf und deute nach Norden. Dann steige ich ein. Rumpelnd trägt mich das Gefährt Richtung Burg Tarrava.

Das Lied klingt in mir.

Impressum

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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2022

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Widmung:
Ein Beitrag zum April-Wettbewerb 2022 der Anthologie-Gruppe (Platz 2). Die Vorgabe lautete "Ein Lied erinnert an...".

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