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Nach dem Fall des verschwundenen Buches und der abgeschlossenen Untersuchung von Parotemdar hatte sich die Aufregung der vergangenen Wochen etwas gelegt. Endlich konnte ich mich wieder meinen Studien widmen, sei es Castians „Hochmagie aus nekromantischer Sicht“ oder Belsagurs „Von den bedauerlichen Abirrungen der Lalrimia Kason“, die mir schon immer ein Vorbild gewesen war. Ich erwog sogar, eine Streitschrift wider das moralisierende Pamphlet „Nekromantie im Alltag? Eine bestürzende Entwicklung unserer Zeit“ abzufassen, das ein Kollege aus dem Südturm zusammengeschludert hatte, wie die meisten Texte dieser Art schlecht recherchiert und mit den üblichen Vorurteilen garniert.

Ich suchte ein passendes Papier, auf dem ich meine geschliffene dunkle Rhetorik ausbreiten konnte, fand aber nur ein paar durchweichte Bögen, die ich mal für Todesdiagramme verwendet hatte. Das hat man davon, wenn man in einem feuchten Keller wohnt. Auf den zweiten Blick ist der malerische ehemalige Kerker der Akademie gar nicht so praktisch als Unterkunft und Labor. Wenigstens hatte ich hier meine Ruhe. Nur selten wagte sich jemand herunter, um mich mit Aufgaben zu behelligen. Zum Teil mochte es auch daran liegen, dass ich vor einigen Jahren Fledermäuse hier angesiedelt hatte. Deren Flattern würde mich zudem unweigerlich warnen, wenn …

Da waren Schritte. Und die Fledermäuse waren in Aufruhr.

Ich klappte das Buch mit den expliziten Zeichnungen missmutig zu und zog die Kapuze über den Kopf, um wenigstens selbst noch abweisend und düster zu wirken, wenn das der Ort und die Haustiere nicht zu leisten vermochten. Im Durchgang erschien eine verschreckt wirkende junge Adeptin, die sich die Haare glattstrich, bevor sie über die Schwelle trat. Ihr Emblem auf der hellen Robe wies sie als Schülerin der Erkenntnis aus.

„Seid Ihr Thara Morradus, die Nekromantin?“ fragte sie.

„Seid Ihr blind?“ fragte ich zurück. Es gab nicht umsonst die Embleme, und ich war die einzige Magierin in der nachtschwarzen Robe der Nekromanten in der ganzen Akademie.

Sie blickte betreten zu Boden. „Man hat mich vor Euch gewarnt, aber ich hätte nicht gedacht, dass Ihr so schroff seid.“

„Es ging mir nur darum, dass Ihr das Offensichtliche zur Kenntnis nehmen und besser nach dem nicht Offensichtlichen fragen solltet. Das wird Euch weiterbringen“, meinte ich in versöhnlicherem Ton.

„Na gut.“ Sie nickte und sah sich unbehaglich um. Das Knochensortiment wirkt auf manche Besucher etwas deprimierend. „Ich soll Euch ausrichten, dass der Dekan Euch sprechen will. Möglichst gleich.“

Ich griff nach meiner Einsatztasche. „Warum sagt Ihr das nicht sofort? Ist es ein Notfall?“

„Davon hat er nichts gesagt. Er meinte nur, ich solle rasch die schwarze Spürnase aus dem Keller holen.“

„Oha! Geht voran… das ist ein Fortschritt. Am Anfang war ich für ihn nur die verrückte Abweichlerin aus der Gruft.“

Die Adeptin lächelte, während sie die Treppe hinaufstieg. „Ja? Ihr kommt doch nicht wirklich aus einer Gruft?“

„Nein, aber ich arbeite viel auf Friedhöfen“, gab ich knapp zurück. Außenstehende haben meist keine Vorstellung von meinem Arbeitsgebiet, und falls doch, dann ein völlig verzerrtes.

Im ersten Stock nutzte sie einen fadenscheinigen Vorwand, um sich davonzumachen, und ich setzte meinen Weg zum dritten Stock allein fort. Ich musste dem alten Solrinek zugutehalten, dass er mich nur selten mit neuen Aufgaben behelligte und mich ansonsten an meinen Vorbereitungen für die Meisterprüfung arbeiten ließ.

Schließlich klopfte ich an seine Tür. Sie wurde direkt von einem jungen Mann aufgerissen, der Emblem und Robe nach zur Schule der Veränderungsmagie gehören musste. Er schien in den mittleren Semestern zu sein.

Brael Solrinek saß hinter seinem schweren Tisch aus Mogataniholz und winkte mich näher.

„Das ist Nalesdak Gelex, der Assistent von Derem Moncutas, um den es hier geht“, stellte er vor. „Und, Gelex, dies ist Thara Morradus, unsere hiesige Expertin für Todesfälle… und Ähnliches.“

Der Assistent winkte erschrocken ab. „Ich will doch nicht hoffen, dass er …“

„Es scheint einen neuen Fall zu geben“, warf ich ein.

Der Dekan stand auf und begann umherzugehen. „In der Tat. Eine unserer Koryphäen für Veränderungsmagie, Moncutas, ist aus seinem Arbeitszimmer verschwunden. Wir befürchten das Schlimmste.“

„Weshalb? Ich brauche da schon die Details.“

Solrinek seufzte. „Am besten berichtet Euch Gelex direkt, denn er hat die Umstände zuerst festgestellt. Ich hoffe, Ihr werdet auch diesmal eine Spur aufnehmen können.“

Ich zuckte mit den Schultern und sah Gelex auffordernd an. „Also?“

„Mein Meister arbeitet seit längerem an einem wichtigen Projekt, dem Vermächtnis des Sehers Aldell Serthus. Um nicht dabei gestört zu werden, pflegt er sich in seinem Arbeitsraum einzuschließen. Gestern Abend wollte ich ihm das Abendessen und ein paar Unterlagen bringen, aber er hat nicht auf mein Klopfen und Rufen reagiert. Die Tür war von innen verschlossen. Da ich befürchtete, dass er vielleicht gestürzt sei, habe ich einen Schlosszauber angewandt und die Tür geöffnet. Aber er war nicht da. Nirgendwo. Ich bin dann in der Akademie herumgelaufen und habe ihn gesucht, in benachbarten Zimmern angefragt, war natürlich im Speisesaal und an der Pforte, aber niemand hatte ihn gesehen. Daher habe ich heute Morgen Dekan Solrinek aufgesucht, und er hat nach Euch schicken lassen, weil Ihr in schwierigen Fällen kundig sein sollt. Das ist alles.“

Ich blickte mürrisch zum Dekan hinüber. „Wieso ruft Ihr mich, wenn es keine Leiche gibt? Steckt ein paar Erkenntnismagier in das Zimmer, und sie werden sogar herausfinden, wie akkurat der Schlosszauber gewesen ist!“

Solrinek hüstelte. „Nun … zum einen stand Moncutas mit den Kollegen aus der Schule der Erkenntnis auf keinem sonderlich guten Fuße, vor allem nicht, seitdem er sich mit dem neuen Projekt beschäftigte …“

„Ja, er hat ihnen sogar erst kürzlich in einem Disput vorgeworfen, ihre Methoden seien veraltet“, ergänzte der Assistent. „Das kam mir zwar etwas hoch gegriffen vor, aber Moncutas hätte sowas nicht ohne Grund gesagt.“

„Und zum anderen wollen wir natürlich momentan nicht unnötig viele Personen beunruhigen“, fuhr der Dekan fort, „doch Ihr habt ja schon verschiedentlich Euren Scharfsinn bei der Aufklärung mysteriöser Vorkommnisse bewiesen.“

Ich seufzte. „Ich kann mir den Raum ja mal ansehen.“

Solrinek nickte. „Gelex wird Euch alles zeigen.“

Damit war alles gesagt, und der Assistent führte mich zum Arbeitszimmer seines Meisters im zweiten Stock. Man muss dazusagen, dass sich das Hauptgebäude der Akademie inmitten des Oktagons befindet, welches aus den acht Türmen der einzelnen Schulen besteht, deren Verbindungsmauern das Gelände begrenzen. Der neunte Turm, der als Turm der Synthese gilt, grenzt unmittelbar an das dreistöckige Akademiegebäude an und hat den größten Durchmesser.

In den Türmen befinden sich naturgemäß die kleineren Räume, die spezialisierten Gebieten zugeordnet sind, während der Speisesaal, die Grundlagenbibliothek und die kombinierten Wohn- und Arbeitsräume der Meister sowie die Verwaltung im Hauptgebäude angesiedelt sind.

Nachdem der Turm der Nekromantie, der früher der Schwarzen Magie zugerechnet wurde, schon vor über hundert Jahren in den Turmkriegen weitgehend zerstört worden war, war er sogar für meine bescheidenen Ansprüche als Domizil ungeeignet, und so hatte man mir den ehemaligen Kerker angeboten – wohl eher in der Hoffnung, dass ich ihn ablehnen würde. Aber wer die Krypten der Hauptstadt gewöhnt ist, kommt auch mit Kerkern zurecht.

Die Tür zum Arbeitszimmer von Moncutas war verschlossen, aber Gelex zog den Schlüssel aus seiner Tasche und sperrte auf.

Es war ein Zimmer von fünf mal sechs Schritt in den Ausmaßen, mit zwei Fenstern auf der gegenüber liegenden Seite. Ich konnte auf den Innenhof blicken. Links war eine Tür, die halb offenstand und anscheinend den privaten Wohnbereich abgrenzte. Aber hier war das Labor. Auf der linken Seite standen zahlreiche, gut gefüllte Regale mit Büchern, Schriftrollen und Gläsern für Komponenten. Die rechte Seite wurde hingegen von einem Bilderständer eingenommen, in dem ein anderthalb Schritt großes Gemälde platziert war, umgeben von etlichen Kerzenständern. Nur die Mitte des Raumes war unbelegt; hier wurde üblicherweise der Raum für Ritualanordnungen frei gelassen. Auf dem Boden waren jedoch keine Reste von Kreidestaub erkennbar; erst recht keine Zirkel oder Pentagramme. Aber das musste nichts bedeuten. Zauber können auf verschiedene Weisen gewirkt werden.

„Habt Ihr hier irgendetwas angefasst oder verändert?“ fragte ich routinemäßig.

Gelex schüttelte den Kopf. „Ich bin nur nach hinten durchgegangen und habe mich dort umgesehen. Da war er auch nicht. Dann bin ich wieder gegangen. Dabei habe ich den Schlüssel abgezogen und die Tür von außen verschlossen.“

„Während Euer Schlosszauber noch wirkte?“ hakte ich nach.

„Nein, die kleineren Zauber dieser Art sind ja sofort beendet, wenn der Erfolg eingetreten ist. Die Tür war hinterher zu, das habe ich geprüft.“

Veränderungsmagie war mir so unheimlich wie es Nekromantie den meisten Leuten ist. Der Gedanke, dass Bestehendes nur durch pure Magie für einige Zeit - und mit enormem Aufwand sogar dauerhaft - verändert werden konnte, behagte mir nicht. Die meisten Zauber der anderen Schulen waren nur von vorübergehender Dauer. Aber eine Welt mit einem hohen Maß an Veränderungsmagie kam mir… instabil vor. Selbst wenn es strenge Auflagen der Akademie gab.

„Und sein Projekt? Hat es mit diesem Bild zu tun?“ fragte ich. Seiner zentralen Position in der rechten Raumhälfte nach musste es für den Magus von erheblicher Bedeutung sein – oder er war einfach ein verschrobener Kunstliebhaber.

Aber das Gemälde war seltsam. Es zeigte ein Stillleben von zahlreichen Dingen auf einem Tisch: ein aufgeschlagenes Buch, eine Kerze vor einem Spiegel, ein Mörser mit Stößel, eine Sanduhr, ein Gürteltier, eine Echse und eine Gottesanbeterin, jeweils aus Metall; kleine Figuren, eine Sonnenuhr, eine Flasche aus blauem Glas, die Schädel eines Vogels und einer Ratte, ein Teil von einem Geweih, mehrere kleine Krüge und Flaschen, eine humanoide Kreatur in einer Glaskugel, Nachbildungen einer Spinne und eines Fliegenpilzes, Kristalle und Quarze, im Hintergrund weitere Bücher und eine Garnrolle. Manche der Gegenstände waren nur im gemalten Spiegelbild der Szene sichtbar, wie etwa der winzige Flügeldämon, den ich erst nach genauem Hinsehen ausmachte. Das ganze Bild wirkte sehr naturalistisch. Selbst die Buchseiten waren erkennbar; sie zeigten links einen Alchimisten, rechts einen Astronomen bei der Arbeit. Ein Kunstwerk, durchaus, aber wozu beschäftigte sich ein Meistermagier mit dem Bild von einem Tisch, der von klassischen und kitschigen Komponenten übersät war?

Der Assistent streckte sich. „Es handelt sich um ein bedeutendes Werk aus dem Nachlass von Aldell Serthus, dem Meisterseher aus Brinneca Tarsa“, dozierte er, als würde er mich durch ein Museum geleiten, „bekannt ist, dass jener seine Fähigkeiten durch ungewöhnliche Komponenten zu steigern vermochte. Zeitlebens hielt er sie jedoch geheim. Meister Moncutas ist die Aufgabe zugefallen, nunmehr die näheren Umstände und Mittel zu untersuchen, um jene Fortschritte der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Seiner Meinung nach lag ein besonderer Zauber auf dem Objekt, und wir konnten ihn durchaus der Veränderung wie auch der Erkenntnis zuordnen.“

Das war ungewöhnlich, denn typischerweise lassen sich Zauber nur einer Art der Magie zuordnen. Aber derartige Modelle galten nur für die klassische Magie, die auf akademischen Grundlagen basierte. Druiden, Hexen, Schamanen und erst recht Elfen hatten da andere Ansätze, die für uns mitunter recht chaotisch anmuteten.

„Und was war sein Forschungsansatz? Er musste doch zumindest eine Vermutung haben, was der Zauber bewirkt.“

Gelex zögerte. „Also … er war nicht sicher, aber letzte Woche meinte er, er habe den Eindruck, als würde das Bild Eindrücke sammeln. Das würde die Menge an Dingen darauf erklären.“

„Müsste es dann nicht auch Landschaften, Personen, Möbel und dergleichen zeigen?“

„Das stimmt wohl. Falls es zutrifft, fehlt uns zumindest das Selektionskriterium.“

„Ich kann mir kaum vorstellen, welchen Nutzen man von diesem Sammelsurium an Kleinkram haben soll. Das sind alles Gebrauchs- oder Dekorationsgegenstände von geringem Wert; für einen Künstler vielleicht kurios, für einen Seher wie Serthus wohl alltäglich. Daher sollte der Raum auf Reste von gewirkten Zaubern untersucht werden. Wir können das zwar beide, sind aber keine Erkenntnismagier, also könnte uns ein Detail entgehen. Bitte schafft einen der Experten herbei, egal wie sie zu Eurem Meister standen, und lässt sie eine Analyse vornehmen, bevor noch mehr Zeit vergeht.“

„Ah, eine klassische Remanenzuntersuchung. Sicher. Ich werde sehen, wen ich finden kann.“

Er eilte hinaus, und ich sah mich in den Räumlichkeiten noch weiter um. Der Wohnbereich war überraschend ordentlich, bot aber keine weiteren Hinweise. Die Buchregale enthielten einige seltene Werke und auch ein paar, die der Besitzer schon vor längerer Zeit in die Fachbibliothek zurückgebracht haben sollte. Von den obskuren Komponenten hielt ich mich vorsichtshalber fern.

Als ich den Raum verließ, stieß ich fast mit Gelex und einem mürrischen Magus in heller Robe zusammen. Offenbar hatte er doch jemanden auftreiben können.

„Führt eure Untersuchung durch, in einer Stunde bin ich wieder zurück, dann könnte Ihr mir vom Ergebnis berichten“, meinte ich und machte mich auf zur Pforte.

Im Türhaus arbeitete gerade Gosrioth Wamedes, einer der vielen Scheiterer, deren Begabung nicht einmal für den untersten Adeptenrang ausgereicht hatte.

„Derem Moncutas“, sagte ich anstelle einer Begrüßung, denn inzwischen war ich ein wenig angespannt; die ganze Untersuchung dauerte mir zu lange, eine Leiche war nicht greifbar, und überhaupt waren hier Experten für andere Fachrichtungen gefragt, „was wisst Ihr von ihm?“

Wamedes blickte mich gelassen an. „Das habe ich alles schon gestern Abend seinem Assistenten erzählt, als er aufgescheucht wie ein Huhn hier ankam und wissen wollte, ob der Meister vielleicht die Akademie verlassen hätte. Nein, hatte er nicht. Und zu Eurer zweiten Frage, die Ihr sicher gleich stellen wollt: ja, die Akademie ist immer noch vor Transportzaubern geschützt, sei es hinein oder hinaus. Seit dem Einbruch von ’41 haben wir eine Inhibitionskuppel, welche durch die Türme abgesteckt ist. Auf arkanem Wege kommt also niemand in diese Mauern und ebenso wenig jemand hinaus. Wenn Ihr es ausführlicher beschrieben haben wollt: im Erdgeschoss des Westturmes ist das Museum, da ist alles in Wort und Bild beschrieben.“

Ich mag Scheiterer. Sie können vielleicht kaum zaubern, aber dafür können sie alles andere. Und wissen meist gut Bescheid.

„Ich danke Euch für Eure Auskunft und Euren Sarkasmus. Möge er Euch im Halse steckenbleiben.“

Ein Hauch von einem Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Mögen Euch die Skelette heimsuchen.“

Ich nickte ihm zu und wandte mich zum Gehen. „Momentan brauche ich keine weiteren.“

Ein kurzer Besuch bei den Heilern bestätigte mir, dass auch hier kein älterer Veränderungsmagier namens Moncutas eingetroffen oder behandelt worden war. Sogar im Speisesaal und der Küche fragte ich nach, obwohl Gelex ja schon hier gewesen war. Ohne Erfolg.

Also ging es zurück zum Arbeitszimmer des Magus. Inzwischen war die Analyse wohl abgeschlossen. Zu meiner Überraschung war der Dekan nun ebenfalls anwesend. Als ich eintrat, drehte er sich um und nickte mir zu.

„Das trifft sich gut, Ich dachte mir, dass ich Euch hier finden würde, und wollte die ersten Ergebnisse hören. Kollege Voghardt hat soeben seine Analyse beendet; sie dürfte für uns alle interessant sein.“

Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Erkenntnismagier, der verlegen hüstelte.

„Nun, also … gewiss ließen sich verschiedene Reste von Zaubern feststellen, aber schließlich ist dies das Labor eines Magiers, daher war das zu erwarten. Als ordnungsbewusster Kollege hat er anscheinend die Zauber nach der Ausführung akkurat aufgelöst, um keine Störungen für nachfolgende Zauber zu erzeugen. Also ganz wie im Lehrbuch. Daher konnte ich keine qualitative Analyse vornehmen. Ganz allgemein lässt sich natürlich sagen, dass die letzten Zauber aus der Veränderungsmagie stammen, auch das dürften wir alle erwartet haben. Bemerkenswert ist allenfalls, dass auch Erkenntnismagie zu einem gewissen Grad dabei war. Allerdings hat mir Kollege Gelex mitgeteilt, dass sich Moncutas unter anderem mit jenem Bild beschäftigt und bereits Untersuchungen begonnen hat. Das passt also alles zusammen.“

„Bringt uns aber nicht sonderlich weiter“, warf ich ein. „Bisher habt Ihr nur das Naheliegende bestätigt.“

„Wissenschaftlich gesehen, ist auch dies ein wertvoller Grundlagenbestandteil einer Untersuchung.“

„Der Dekan hat mich nicht mit Wissenschaft beauftragt, sondern mit der Wiederbeschaffung des verschwundenen Kollegen“, konterte ich. Allmählich verlor ich die Geduld und wäre am liebsten wieder in den Keller gegangen. Die Leute dort sind alle angenehm still.

„Na ja, ich danke Euch trotzdem für Eure Analyse, Voghardt“, meinte Solrinek versöhnlich.

„Nur eines noch“, warf ich ein, „können wir damit nun ausschließen, dass ein Zauber für das Verschwinden von Moncutas verantwortlich ist?“

Voghardt dachte einen Moment nach. „Keinesfalls. Er könnte sich in eine Maus verwandelt haben und weggelaufen sein. Oder in eine Rauchwolke, die sich verzogen hat. Wahrscheinlicher ist es aber, dass er irgendwo in der Akademie unterwegs ist und man ihn einfach noch nicht entdeckt hat. Dekan Solrinek, eine gebäudeweite Suche wurde ja noch nicht durchgeführt, oder?“

„Ich hatte gehofft, dass wir die Sache diskreter lösen können. Nicht auszudenken, wenn er bloß in irgendeiner Kammer trunken in der Ecke liegt!“

„Das ist nun wirklich nicht seine Art!“ widersprach Gelex nachdrücklich.

„Wie auch immer“, meinte Voghardt, „es ist jetzt ein halber Tag vergangen, seid Ihr seine Abwesenheit entdeckt habt, und arkane Signaturen von Zaubern sind eine flüchtige Sache. Hätte ich sie direkt betrachten können, wäre vielleicht noch mehr zu erkennen gewesen, aber nach all den Stunden ist fast nichts mehr da. Mehr kann ich euch also nicht bieten. Und nun muss ich mich wieder meinen anderen Pflichten widmen. Guten Tag.“

Damit verließ er das Labor. Ich wandte mich an Solrinek.

„Eine Durchsuchung der Akademie scheint mir der nächste passende Schritt zu sein. Wenn er nicht gefunden wird, haben wir wenigstens einen Grund, uns noch einmal genauer mit möglichen Zaubern zu befassen.“

Der Dekan nickte widerwillig. „Ich sehe leider auch keine Alternative. Nun, ich werde es veranlassen.“

„Gut. Ich muss noch ein paar Dinge klären und werde am Abend wieder hier weitermachen, wenn die Suche beendet ist.“

Er entließ mich mit einer müden Handbewegung. Wenigstens ließ er mir genug Freiraum. Ich schlich leichtfüßig in den Keller, um die Fledermäuse nicht aufzuschrecken, setzte mich auf die Kiste, die mir als Stuhl diente, und starrte die Wand an.

Genaugenommen starrte ich den Grundriss der Akademie an, der an der Wand hing. Meine Arbeitshypothese war also, dass sich Moncutas noch innerhalb des Geländes befand. Vielleicht hatte er bei einem Kollegen in einem der Türme Rat gesucht? Wenn er hingegen verletzt irgendwo lag, wäre er längst gefunden worden. Bei dem regen Treiben in diesen Mauern gibt es kaum Stellen, wo man sich längere Zeit unbemerkt aufhalten kann… außer im Keller oder dem Dachboden. Der Keller schied schon mal aus, schon wegen der Fledermäuse. Möglicherweise aber die Lagerräume unter den Türmen? Doch all diese Räumlichkeiten würden in diesem Moment durchforstet werden. Dann würde man sehen.

Außerhalb der Akademie wäre eventuell auch eine magische Suche denkbar gewesen. Aber hier, wo hunderte von Magiern lebten und arbeiteten, zum Teil mit magischen Gegenständen oder gar Kreaturen, war das ein Unding. Man hätte Wochen, wenn nicht gar Monate benötigt, um allen Spuren nachzugehen.

Ich trank den Tee von gestern aus, von dem noch eine halbe Tasse auf meinem Labortisch stand, und wog weitere Theorien ab, aber eine harmlose Erklärung war nicht dabei. Natürlich konnte jemand den Magus ermordet und seine Leiche versteckt oder aufgelöst haben. Dafür gab es zahlreiche Möglichkeiten, aber es konnte kaum in seinem Labor geschehen sein. Wir hatten keine Spuren eines Kampfes oder verdächtige Restspuren gesehen. Folglich hatte in diesem Fall jemand einen ausgewachsenen Mann erst irgendwohin schleppen müssen, um ihn dort loszuwerden. Riskant.

Ich malte mir einige entsprechende Szenarien aus und stellte schließlich fest, dass der Abend hereingebrochen war. So machte ich mich wieder auf den Weg zum Arbeitszimmer. Dort hielt sich allerdings niemand auf, also ging ich weiter zum Dekan. Es war ja auch viel naheliegender, dass dieser die Suche von seinem Büro aus koordinierte.

Solrinek und Gelex waren ins Gespräch vertieft, als nahezu gleichzeitig mit mir Meister Linrikol Vinar eintraf. Ich kann ihn flüchtig aus früheren Vorlesungen; er war mit der allgemeinen Sicherheit der Akademie sowie der Kontrolle und Ahnung kleinerer Vergehen betreut, die nicht so gravierend waren, dass man die Stadtwache benötigt hätte. Dass der Dekan ihn und seine Leute mit der Suche beauftragt hatte, war zu erwarten gewesen.

„Ich mache es kurz, Dekan Solrinek“, schnarrte Vinar, „keine Spur von Meister Moncutas. Und wir haben gründlich gesucht. Sehr gründlich.“

Solrinek seufzte. „Das bedeutet, wir haben weiterhin ein Rätsel und jetzt auch ein paar kommende Beschwerden vor uns.“

Vinar hob die Schultern. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Ich denke, wenn ein Kollege vermisst wird, sind ein paar Unbequemlichkeiten für Einzelne zumutbar.“

Der Dekan nickte. „Schon gut. Zumindest haben wir jetzt eine Gewissheit. Ich danke Euch.“

Sein folgender Blick zu mir sprach Bände. „Wie geht es nun weiter?“

„Ich muss mit jemandem sprechen. Morgen kann ich dann die Untersuchung vertiefen.“

„Einverstanden. Dann wären wir für heute hier fertig.“

Mit einem Wink entließ er uns. Ich hatte ihm nicht sagen wollen, dass ich mit meiner Kunst vorläufig am Ende war, denn die ganze Angelegenheit hatte immer weniger mit meinem Fachgebiet zu tun, und meine Erfahrungen bezogen sich hauptsächlich auf Umstände, die mit Toten oder Untoten zu tun hatten. Also brauchte ich den Rat eines Experten, der sich mit möglichen Verbrechen an Lebenden befasste. Aber der war nicht hier zu finden. Ich eilte daher in den Keller, griff nach meinem Stab und Kapuzenumhang, dann verließ ich die Akademie.

Früher hat man die Gildenhäuser der Magier, aus denen später die Akademien entstanden sind, als Renommierbauten mitten in die Städte gesetzt. Später hat man aus leidvollen Erfahrungen mit den Nachbarn davon Abstand genommen und kritische Gebäude lieber an den Stadtrand gesetzt, also nah an die Außenmauern. Magie hält sich eben nicht immer an die Grenzen, die durch Zäune, Wände oder Mauern gesetzt werden, und wenn die Bewohner der Umgebung seltsame Lichter, Geräusche oder gar Untote bemerken, ist der Unmut groß, man hat dauernd die Stadtwache vor der Tür und ist überhaupt an allem schuld, was in der Stadt passiert oder auch nicht passiert.

Als ich die Pforte passiert hatte, stand ich also am Stadtrand von Dercomar. Entsprechend lang dauerte es, bis ich an der Hauptwache angelangt war.

Da ich schon mehrfach hier gewesen war, wurde ich immerhin ohne größeren Aufenthalt bei Ryson Galkiant, dem Hauptmann der Stadtwache, vorgelassen. Als ich sein Amtszimmer betrat, lächelte er kurz, wurde aber sofort ernst.

„Adeptin Morradus… ich hätte nicht erwartet, Euch bei Tage zu sehen. Ich hoffe, wir haben keinen Aufstand von Untoten zu befürchten?“

„Ja, in eiligen Fällen verlasse ich die Katakomben auch am Tag, wenn Ihr das meint. Und nein, die Friedhöfe sind meines Wissens nach sicher. Ich bin wegen eines verschwundenen Kollegen hier.“

Er runzelte die Stirn. „Wurde das schon offiziell gemeldet?“

„Nein. Unser Dekan ist natürlich in Sorge, möchte die Sache aber zunächst diskret behandelt wissen. Es macht keinen guten Eindruck, wenn in der Akademie Personen verschwinden. Daher ist dies kein offizieller Besuch – ich suche nur den Rat von jemandem, der sich mit diesen Dingen besser auskennt als ich.“

Galkiant überlegte kurz. „Wie in jeder Stadt verschwinden immer wieder mal Personen. Manche ziehen einfach um, ohne jemandem etwas davon zu sagen, einige ziehen generell nach einiger Zeit weiter, andere wiederum fallen einem Verbrechen zum Opfer. Erzählt mir Näheres über Euren Kollegen.“

Ich breitete die momentanen Erkenntnisse vor dem Hauptmann aus, und er nickte schließlich.

„Man darf davon ausgehen, dass dem Mann etwas zugestoßen ist. Er hat Bindungen an die Akademie, ein laufendes Projekt, und hätte er sie verlassen, wäre dies an der Pforte bemerkt worden, wenn ich das recht verstanden habe. Er muss also noch da sein. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass er sich bei einem anderen Kollegen aufhält – freiwillig oder unfreiwillig –, der ihn versteckt. Ich denke, mittels Magie kann eine Person durchaus verborgen werden. Ich denke da etwa an Illusionsmagie, falsche Wände und dergleichen. Aber das ist nicht mein Gebiet. Ihr braucht vielmehr eine Person, die so scharfsinnig wie magiekundig ist, aber nicht der Wache angehört. Da kann ich Euch jemanden empfehlen.“

„Tatsächlich? Das wäre hilfreich.“

„Ich muss dazusagen, dass Ihr selbst durchaus unter jene Kriterien fallt, nur fehlt es Euch noch an Erfahrung, wenn ich das so sagen darf. Nehmt mir also bitte nicht übel, wenn ich Euch an eine Expertin verweise, die schon aufgrund ihres Alters über hinreichend Lebenserfahrung verfügt. Allerdings muss ich Euch warnen: der Umgang mit ihr kann etwas … schwierig sein.“

„Keine Sorge, das sagen einige auch über mich.“

„Dann ist es ja gut. Sie ist auf jeden Fall brillant. Und sie hat in ihren Analysen eigentlich immer recht. Wir konsultieren sie selbst von Zeit zu Zeit, wenn es mysteriöse Fälle gibt und die Akademie gerade zu beschäftigt ist.“

Mir war der Unterton nicht entgangen. Obwohl die Wache bei mutmaßlich magischen Verbrechen öfters die Akademie hinzuzieht, war diese im letzten Jahr nicht immer in der Lage gewesen, Unterstützung zu leisten. Das lag an einigen internen Projekten, aber auch Streitigkeiten und Problemen, die sich nicht auf die Außenwelt auswirken sollten. Nicht zuletzt deshalb war ich mitunter mit Untersuchungen betraut worden. Aber diese Aspekte hatten sich inzwischen erledigt.

„Die Akademie ist für Euch da, soweit der Dekan das zulässt. Mehr kann ich Euch nicht versprechen.“

„Ist schon gut.“ Er schrieb mir eine Adresse auf einen Zettel. „Viel Erfolg.“

Ich nahm das Papier an mich, verabschiedete mich und bewegte mich auf das Viertel westlich des Stadtzentrums zu. Hier lagen die besseren Einkaufsstraßen und die nobleren Wohnsitze, während die Mitte von dem Gewirr dar alten Gassen und den einstigen Prunkgebäuden dominiert wurde.

Nach einiger Zeit stand ich vor einem größeren Laden für ausgefallene und teure Kleidung. Hier sollte eine kompetente Ermittlerin wohnen? Ich warf einen Blick auf den Zettel und die Hausnummer. Doch, das war die Esre-Verrekab-Straße 22, und der Name der Inhaberin stand zudem in verschnörkelten Lettern auf dem Schild: C. E. Heleth.

Ich zuckte mit den Schultern und betrat das Geschäft. Nach einer Schneiderei sah es nicht direkt aus. Die fremdartigen Schnitte und Muster wie auch die zumeist hellen Farben der Kleidung waren für mich ungewohnt. Normalerweise hätte ich so einen Laden nie betreten, schon weil ich mir nichts davon leisten konnte.

Eine ältere Frau trat auf mich zu. „Habt Ihr einen Wunsch? Darf ich Euch etwas zeigen? Wir haben zahlreiche schöne Stücke aus eigener Fertigung.“

Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. „Nein … ich möchte nur zu der Dame Heleth. Seid Ihr das?“

Sie lächelte. „Nein. Seid Ihr bei der Herrin angemeldet?“

Ich schüttelte den Kopf. „Das nicht, aber ich wurde vom Hauptmann der Stadtwache hergeschickt. Es geht um eine Untersuchung.“

„Aha. Dafür wird sie sich wahrscheinlich Zeit nehmen. Dann geht bitte die Treppe dort drüben hinauf.“

Sie wies nach links, und ich folgte der Aufforderung, während ich versuchte, meine Skepsis zu verbergen. Eine Modeschöpferin sollte einen Magier wiederfinden können? Wohl kaum.

Ich betrat einen geschmackvollen eingerichteten großen Raum, der komplett getäfelt war. Die Schränke und Regale sahen nach einer Variante von Mogataniholz aus, die ich noch nie gesehen hatte. Gegenüber des Fensters hing eine große Karte der Stadt an der Wand, und am Fenster selbst saß eine schlanke Frau in einem gepolsterten Sessel. Bevor ich noch einen weiteren Schritt machen konnte, stand sie geschmeidig auf und wandte sich mir zu. Jetzt wurde erst richtig deutlich, wie hochgewachsen sie war. Sie trug ein hellbraunes, fast beiges langes Kleid, das ihre Figur betonte. Blondes Haar fiel wellenartig über ihre Schultern, und ihre grünen Augen fixierten mich einen Augenblick lang.

„Willkommen“, sagte sie schließlich mit wohltönender Stimme, „ich bin Ceriana Elayadrién Heleth. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Sie war eine Elfe! Wieso hatte ich nicht gleich daran gedacht? Galkiant hatte sich wohl einen kleinen Scherz erlaubt, indem er mir dieses Detail verschwiegen hatte, aber jetzt passte natürlich alles zusammen: die umfangreiche Erfahrung, die Kenntnis der Magie … und dabei sah diese Frau nur wenige Jahre älter aus als ich selbst. Als sie ihren Kopf etwas zur Seite legte, konnte ich die Ohrenspitzen unter dem Haar ausmachen. Aber auch ihr Gesicht und ihre Haltung waren unverkennbar elfisch. Wäre ich nicht so in Gedanken gewesen, wäre es mir sofort aufgefallen.

„Ich bin Thara Morradus von der Akademie …“ begann ich, aber sie schmunzelte und unterbrach mich.

„Ihr seid ein Zimmermädchen, das die Kleidung von zwei Magierinnen an sich genommen hat und nun in Schwierigkeiten steckt.“

„Wie bitte? Das ist völlig falsch!“, gab ich irritiert zurück. „Galkiant hat Euch als fähige Beraterin beschrieben, aber ich bin doch kein Zimmermädchen! Das Emblem allein …“

Sie packte mich am Handgelenk und zog mich zum Fenster, ins Licht.

„Aha! Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder seid Ihr eine hart arbeitende, praktisch veranlagte Nekromantin, die nicht nähen kann und deren einzige Freunde Fledermäuse sind, oder Ihr seid doch das Zimmermädchen, das aus Gründen der Geheimnistuerei fremde Kleidung trägt. Was ist Euch lieber?“

„Es geht bei Ermittlungen nicht um Vorlieben, sondern um die Wahrheit“, versetzte ich missmutig.

Die Elfe seufzte. „Dann trifft also wohl Ersteres zu und ich kann Euch nicht helfen.“

„Was soll das nun wieder bedeuten?“

Sie setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. „Ich habe einen Ruf zu verlieren. Wohlhabende Kaufmannsfrauen und adlige Damen tragen meine Mode. Ich kann draußen nicht mit jemandem herumlaufen, der ein zu enges Kleid und eine zu große Robe trägt. Solche Geschmacklosigkeiten fallen letztlich auf mich zurück.“

Betreten blickte ich an mir hinab. Es war ein dunkles älteres Kleid, aber noch gut. Dachte ich. Seit dem Kauf war ich allerdings etwas gewachsen, das stimmte wohl. Und die Robe hatte ich tatsächlich einer durchreisenden Kollegin abgekauft, einer Besucherin einer Akademie aus dem Süden. Die umgeschlagenen Ärmel hatte ich immer recht schick gefunden. Und ich konnte sogar eine kleine Umhängetasche unter der Robe tragen, sehr praktisch bei Regenwetter. Aber die Frau war etwas breiter gebaut gewesen als ich.

„Ich bin nicht wegen Eurer Meinung zu meiner Kleidung hier, sondern wegen eines Ratschlags zu einem möglichen Verbrechen“, gab ich zurück.

„Eure Kleidung ist ein Verbrechen!“ konterte sie.

Ich atmete bewusst ein und aus. In meiner Ausbildung hatte ich es mit mordgierigen Ghulen und zielstrebigen bewaffneten Skeletten zu tun gehabt. Eine verrückte Elfe würde mich jetzt nicht aus der Fassung bringen.

„Und was soll ich jetzt machen?“ fragte ich nur.

Sie hob gelassen die Hand. „Ihr könnt unverrichteter Dinge heimkehren - oder Euch unten im Laden angemessene Kleidung kaufen oder zugeben, dass Ihr doch nur ein Zimmermädchen seid.“

Ich starrte sie an. Ich wollte mich nicht wegschicken lassen wie eine Adeptin des ersten Semesters. Doch ich hatte auch die Preistafeln gesehen. Von meinem Geld würde ich mir hier nicht einmal einen halben Schal leisten können. Dies musste einer der teuersten Läden der ganzen Stadt sein. Für einen Moment erwog ich es, einfach zu gehen, aber eine echte Nekromantin zieht sich nicht zurück. Sie konzentriert sich auf die Mission. Ich konnte Moncutas nicht wegen meines Egos hängenlassen.

Also blickte ich ihr fest ins Auge. „Ich bin ein Zimmermädchen!“

Sie nickte. „Nun gut, dann setzt Euch hin und erzählt mir von dem Fall, den Ihr hättet, wenn Ihr eine Magierin wärt.“

Irgendwo in dieser verqueren Logik musste es ein System geben, aber ich sah es noch nicht. Dass es ihr bloß darum ging, mich zu erniedrigen, glaubte ich nicht. Aber wer wusste schon, wie Elfen dachten? Ich erzählte ihr also sämtliche Details der bisherigen Untersuchung. Sie hörte sich alles aufmerksam an, die Fingerspitzen aneinandergelegt, und stand dann grazil auf.

„Das meiste ist ziemlich offensichtlich, aber ich würde gern noch einen Blick ins Labor werfen.“

Ich erhob mich ebenfalls. „Was erscheint Euch offensichtlich?“

„Zunächst einmal braucht Ihr eine andere Haarbürste. Verwendet Ihr überhaupt eine? Für einen Kamm seid Ihr nicht geduldig genug…“

Ich wusste wohl, dass meine Haare nicht mit den ihren mithalten konnten. Sie sind braun – wie meine Augen übrigens auch - und glatt und immerhin nicht kurz, aber selbst durch stundenlanges Kämmen hätte ich keine Wellen hineinzaubern können.

„Ich meinte den Fall“, sagte ich ärgerlich, „habt Ihr überhaupt eine Idee dazu?“

„Gewiss“, meinte sie leichthin, während sie die Treppe geradezu hinabschwebte, „Ihr könnt den langen Weg gehen, so wie auch die Wache vorgehen würde, indem Ihr nach Feinden des Verschwundenen und einem Motiv sucht. Dann stellt Ihr fest, wer davon die Gelegenheit zur Tat hatte, und prüft deren Alibis. Das ist natürlich langweilig und fehleranfällig.“

„Meint Ihr?“

„Ja, schon weil nicht jeder Feind erkennbar ist. Aber einen Mann mitten in der Akademie verschwinden zu lassen, dafür braucht es schon… Magie.“

Aus meiner Praxis wusste ich recht gut, wie man Leichen loswurde, und das ging meist nicht mit magischen Mitteln zu. Aber der Keller schied wie gesagt aus. Ich kenne ihn gut und hätte etwas bemerkt.

„Magie gab es genug, es ließ sich bloß kein spezifischer Zauber nachweisen“, warf ich ein.

Die Elfe stürmte über den Ianasiaplatz und bog in die Allee der Gezeiten ein.

„Man denkt natürlich zuallererst an Veränderungsmagie“, fuhr sie fort, „schon ist da keine Leiche mehr, sondern ein Frosch oder Ähnliches. Vielleicht hat ihn jemand hinausgeschmuggelt, bevor die Rückverwandlung einsetzt. Aber das wäre trivial und unsicher zugleich. So einen Zauber in einem fremden Labor durchzuführen, ist obendrein ein Risiko, das ein Meistermagier kaum eingehen würde. Und von einem Meister können wir ausgehen; die Zauber der Adepten sind noch unbeständiger.“

Tatsächlich hielten Veränderungszauber selbst bei Meistern nicht mehr als eine Stunde an. Falls sich Moncutas selbst in irgendetwas verzaubert hatte, wäre der Effekt spätestens Gelex schließlich aufgefallen.

„Nein, der Schlüssel ist vielmehr sein Projekt“, erklärte Heleth nachdrücklich. „Zunächst hatte ich vermutet, dass sich Moncutas in das Bild hineingezaubert hatte…“

„Die Kreatur in der Glaskugel!“ rief ich aus und versuchte mit ihr Schritt zu halten.

„Exakt. Aber das würde eine Formel für planare Erweiterungen benötigen; sehr anspruchsvoll und fremdartig genug, dass der Einfluss Eurem Experten gewiss aufgefallen wäre…“

Sie blieb an einer Kreuzung abrupt stehen, als eine Kutsche von links heranraste und nur eine Handbreit vor uns vorbeidonnerte.

„Seid gegrüßt. Dame Heleth!“ rief eine gutgekleidete Frau herüber, die gerade aus einem stattlichen Wohnhaus trat.

Die Elfe nickte ihr grüßend zu und deutete beiläufig auf mich. „Das ist nur ein Zimmermädchen.“

Ich widerstand dem Impuls, in eine Pfütze zu tappen und damit ihr schönes Kleid zu ruinieren.

„Euch macht das Spaß, nicht wahr?“ fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie ging weiter. „Ein wenig schon. Aber eine Elfe und ein Zimmermädchen unterwegs, daran stört sich niemand. Eine Elfe und eine Nekromantin – das ist ganz was anderes. Ich beschäftige mich mit dem Leben und der Schönheit, Ihr hingegen mit dem Tod. Ihr seid ein schlechter Einfluss, für mich und meinen Ruf. Außerdem wollte ich wissen, ob Ihr zu den klischeehaften hochmütigen Nekromanten oder den wenigen ehrbaren demütigen Vertretern Eurer Kunst gehört.“

„Das war also ein Test.“

„Den Ihr bestanden habt. Und nun kommt – da ist schon die Akademie.“

Ich sorgte dafür, dass sie ohne Verzögerung eingelassen wurde, und dann ging es in den zweiten Stock. Das Zimmer war so, wie wir es verlassen hatten, nur die Kerzen brannten nicht mehr. Ich entzündete sie rasch wieder und sorgte mit ein paar Laternen für Licht in den anderen Zimmern der Räumlichkeiten.

Ceriana Heleth warf einen flüchtigen Blick auf das Bild, dann schlenderte sie in die beiden hinteren Zimmer. Im Schlafzimmer öffnete sie den Kleiderschrank und musterte den Inhalt. Dann kehrte sie ins Labor zurück und nahm am Tisch Platz.

„Ja, das ist eine traurige Sache“, meinte sie.

„Bitte erklärt das näher. War irgendetwas Aufschlussreiches im Kleiderschrank? Und sollten wir jetzt nicht nach Indizien suchen? Nach Spuren des Täters?“

Sie strich sich über die geschwungenen Augenbrauen. „Diese ganze moderne Indizienforschung ist keine exakte Wissenschaft…“

„Das sieht die Stadtwache aber anders!“ wandte ich ein.

„Darum landet sie auch oft in Sackgassen. Irgendwelche Krümel, die irgendwer irgendwann verloren hat, werden zum Beweis hochstilisiert. Es ist abstoßend, aus dem Dreck auf dem Boden weitreichende Schlüsse ziehen zu wollen. Erst recht, wenn schon etliche Leute hier ein- und ausgegangen sind.“

„Bei der Untersuchung einer Leiche kommt es auch auf alle Details an“, verteidigte ich den Forschungsansatz.

Sie verzog den Mund. „Ihr wisst schon, dass die Mehrzahl der Menschen – von Elfen ganz zu schweigen – Eure spezielle Berufsausübung mehr als missbilligt? Es gibt sogar religiöse Argumente dagegen. Aber hier sind wir nun, und ich versuche neutral mit Euch umzugehen, aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn Ihr wirklich ein Zimmermädchen wärt.“

Ich konnte ihre Einstellung verstehen, und daher regte ich mich über das erneute Zimmermädchen nicht mehr auf.

„Wie dem auch sei“, sagte ich resignierend, „wir müssen nur für diesen Fall miteinander auskommen. Bitte – was ist Euer Ergebnis?“

„Ihr habt doch das Bild gesehen. Ihr habt es mir recht gut beschrieben, aber ein wichtiges Detail ausgelassen. Und am besten verschafft Ihr Euch selbst ein Gespür für seine Magie.“

Sie machte eine ermunternde Handbewegung. Ich ging hinüber und starrte das Bild an. Nichts hatte sich verändert. Es war immer noch voller obskurer Gegenstände. Das Wesen in der Glaskugel bestand praktisch nur aus großen Augen in einem faltigen Gesicht, einer Mütze und Händen. Es war vielleicht so groß wie mein Zeigefinger.

Da mir nichts Weiteres auffiel, führte ich einen grundlegenden Erkenntniszauber durch; im Prinzip die kleinere Ausführung der Analyse, die Voghardt durchgeführt hatte. Ich spürte das Vorliegen von Erkenntnismagie, Veränderungsmagie und die Ahnung einer weiteren Kraft, die jedoch nicht aktiv war.

Als ich die Augen wieder öffnete, merkte ich, dass Heleth hinter mir stand.

„Nur für den Fall“, meinte sie.

„Welchen Fall?“

„Dass Ihr die Mauer überwindet und auch verschwindet, wie Moncutas.“

„Ihr meint also, das Bild sei dafür verantwortlich?“

„Seht doch hin! Seht Euch das Licht an!“

Auf dem Bild befanden sich zwei Kerzen – nun, eigentlich nur eine. Die andere war lediglich das Spiegelbild der ersten. Der Spiegel und die Szenerie darin nahm fast die Hälfte des Bildes ein. Und dann sah ich es: die eigentliche Kerze war gerade verloschen, was man an ihrer dünnen Rauchfahne sehen konnte, während die Kerze im Spiegelbild noch brannte. Die Objekte des Bildes wurden vom Licht der Kerze im Spiegel beleuchtet.

„Die Kerze im Spiegel leuchtet, die tatsächliche Kerze nicht“, teilte ich der Elfe lakonisch mit.

„Ihr beobachtet, aber Ihr seht nicht. Ihr habt mir bisher die ganze Zeit die falschen Fragen gestellt. Zum Beispiel, ob etwas Interessantes im Kleiderschrank war. Natürlich war es das. Die Kleidung der Menschen sagt eine Menge über sie aus, dafür seid Ihr das beste Beispiel. Moncutas ist ein pedantischer Mensch, die Ordnung in seinem Wohnbereich und die Anordnung der – übrigens strikt konservativen - Kleidung in seinem Schrank beweist das. Daraus dürfen wir ableiten, dass er systematisch, aber phantasielos an die große Fragestellung herangegangen ist, die seinem Projekt zugrunde liegt. Und das war sein Verderben.“

„Und welche Fragestellung mag das sein?“ Nach dem Verderben fragte ich lieber gleich nicht.

Wofür braucht ein Seher von der Bedeutung eines Aldell Serthus ein derartiges Bild? Auf den ersten Blick enthält es Tand. Auf den zweiten Blick aber zeigt es uns … na, kommt schon, Zimmermädchen!“

„Einen magischen Spiegel!“

„Endlich. Aber das Aufsehenerregende ist dabei, dass es sich nur um das Bild eines Spiegels handelt und er dennoch funktioniert. Das ist eine ausgezeichnete Arbeit, ein Artefakt von Bedeutung.“

Ich bewegte die Hand vor dem Bild. Nichts veränderte sich, auch nicht im gemalten Spiegel.

Sie tippte gegen die Leinwand. „So einfach ist das nicht. Der Zauber ist nicht aktiviert. Ich denke, nur wenn man sich auf den Spiegel konzentriert, ins Licht blickt, dann tut sich etwas. Aber das sollten wir tunlichst lassen. Es gibt eine Schwelle arkaner Kraft, die überschritten sein muss. Wahrscheinlich ein gewisses Maß an Veränderungsmagie und Erkenntnismagie gleichermaßen.“

„Daher ist auch bei den Untersuchungen von Voghardt und mir nichts passiert.“

„Ja. Ich war da nicht ganz sicher; daher stand ich bereit, Euch herauszureißen.“

„Aber aus was?“

„Einem aktiven Zauber, der Euch in die Vergangenheit blicken lässt, natürlich. Die Symbolik der beiden Kerzen ist doch eindeutig. Im Spiegel zeigt sich die Vergangenheit, soviel ist klar. Das Thema Zeit wird durch die Sanduhr und die Sonnenuhr im Bild noch deutlicher. Nur war Serthus ein Erkenntnismagier, Moncathus hingegen ein Veränderungsmagier. Das wird den Unterschied bewirkt haben.“

Ich verstand allmählich. „Also hat Serthus nur Dinge von früher gesehen, aber Moncathus …“

Heleth nickte. „Er ist selbst dorthin verschlagen worden.“

Ich atmete scharf ein. „Das ist doch nur eine Spekulation, oder?“

„Es ist eine Folgerung, die zu unseren Beobachtungen passt. Ihr solltet in den Archiven der Akademie nach mysteriösen Todesfällen suchen.“

„Das werde ich tun. Doch was ist mit diesem Wesen in der Glaskugel?“

„Adeptin Morradus, schaut einmal genau hin. Ich würde sagen, dies ist kein groteskes kleines Wesen in einer Kugel, sondern eine Verzerrung eines Gesichts auf der Oberfläche einer verspiegelten Kugel. Eine Projektion gewissermaßen. Es dürfte das von Moncatus sein, der sich zum Bild beugt und mit seinen Händen den Zauber wirkt. Hat Gelex nicht gesagt, Moncatus hätte von gesammelten Eindrücken gesprochen? Offenbar hat das Bild jedes Mal, wenn es verwendet wurde, einen Eindruck aus der Umgebung aufgenommen. Es könnte sich lohnen, Gelex gezielt auf dieses Zerrbild anzusprechen.“

In meinem Staunen über ihre Lösung hätte ich fast überhört, dass sie mich Adeptin genannt hatte.

„Eure Folgerungen sind beeindruckend … wenn sie zutreffen.“

„Selbstverständlich.“ Sie ging zur Tür und lächelte. „Ihr könnt mich morgen besuchen und berichten, was sich ergeben hat.“

Damit war sie verschwunden. Ich suchte unverzüglich Nalesdak Gelex auf und bat ihn nochmals in das Labor. Dort ließ ich ihn prüfen, ob es eine Ähnlichkeit seines Meisters mit dem Wesen auf dem Bild gab. Aufgrund der Verzerrung konnte er es nicht mit Sicherheit sagen, aber er konnte zumindest bestätigen, dass Moncutas eine Mütze jener Form und Farbe besessen hatte.

Die ganze Nacht verbrachte ich im Archiv. Die Akademie ist zwar ziemlich akkurat in ihren Aufzeichnungen, aber die schiere Menge an Unterlagen war eine Herausforderung. Ohne mehrfach auf den Dekan hinzuweisen, hätte ich kaum Hilfe vom Leiter des Archivs erhalten, und „ungeklärter Todesfall“ ohne Jahresangabe ist nun mal lediglich ein sehr vager Ausgangspunkt.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Lichtschächte fielen, stieß ich endlich auf den kurzen Bericht über einen Toten, den man vor über neunzig Jahren beim Ausheben des Kellers gefunden hatte. Das war kurz nach der Grundsteinlegung gewesen. Es handelte sich um einen unbekannten Mann in den mittleren Jahren und in einer „bunten“ Robe, der mit gebrochenen Knochen eines Morgens tot aufgefunden worden war. Niemand kannte ihn, niemand konnte sich seine Todesursache erklären. Er wurde schließlich in einem Armengrab beigesetzt. Eine Zeichnung seines Emblems war beigefügt; es war, wie ich schon vermutet hatte, das Veränderungszeichen. Und mit „bunt“ war höchstwahrscheinlich die Farbgebung der Veränderungsmagie in blau, gelb und grün gemeint gewesen, die erst später eingeführt worden war. Zum Zeitpunkt der Gründung hatten Magier meist noch schlichte braune Roben getragen; zur besseren Abgrenzung zum Klerus hatten man schließlich andere Farben gewählt.

Ich schlug die Akten zu und schlief ein paar Stunden in meinen Räumlichkeiten. Für Moncutas konnte ich ohnehin nichts mehr tun, und die Genehmigung für spezielle nekromantische Zauber hätte ich in so einem Fall auch nicht bekommen.

Gegen Mittag suchte ich ein anderes Kleid, das mir besser passte, heraus und ging zu Heleth. Ihre Angestellte drückte mir an der Treppe eine Tasse Tee in die Hand. „Ihr werdet schon erwartet.“

Ich bedankte mich und stieg hinauf. Heleth saß am Tisch vor dem Fenster, etliche aufgeschlagene Bücher vor sich.

„Schön, dass Ihr kommt“, sagte sie, „ich habe gerade historische Referenzen zu dem Gemälde gesucht. Aber erzählt doch erst einmal, was Ihr herausgefunden habt.“

„Man hat tatsächlich einen Toten, auf den seine Beschreibung passt, gefunden. Der Zauber hat Moncatus demnach um 93 Jahre zurückgeworfen – in die Zeit also, als die Akademie gerade gebaut wurde. Im Prinzip gab es erst eine Grube für den Keller. Auf meinem Grundriss habe ich feststellen können, dass der Ort, wo die Leiche aufgefunden wurde, genau vier Stockwerke unter seinem späteren Studierzimmer lag. Er ist schlicht beim Sturz gestorben, mehrere Knochen waren gebrochen. Das Ganze war also letztlich ein arkaner Unfall.“

Die Elfe nickte zustimmend. „Das hat ja auch die Abwesenheit jeglicher Unordnung in seinem Raum nahegelegt. Aber da wir dies schon einmal geklärt haben: Aldell Serthus scheint das Bild über zwanzig Jahre lang erfolgreich zur Unterstützung seiner Betrachtungen eingesetzt zu haben. Verständlich, dass sich Moncatus mit so einem Hilfsmittel im Vorteil gegenüber den Kollegen vom Erkenntnisbereich glaubte. Aber der Seher hatte offenbar nie Veränderungsmagie darauf gewirkt. Ursprünglich scheint es aus dem westlichen Königreich zu stammen … es könnte sogar von Sidek Zeritor selbst erschaffen worden sein.“

„Dem legendären Meister der reflexiven Magie? Das würde einiges erklären.“

„Durchaus. Allerdings hat Zeritor angeblich mehrere Artefakte erschaffen. Über deren Verbleib ist nur wenig bekannt.“

Ich hob die Schultern. „Solange sie nicht in unserer Akademie auftauchen, bin ich noch nicht in Sorge.“

Heleth stand auf. „Dann ist der Fall also zu Eurer Zufriedenheit abgeschlossen?“

„Theoretisch schon. Praktisch wäre es mir lieber gewesen, wenn wir Moncatus zum Beispiel trunken in irgendeinem Nebengang entdeckt hätten. Ich werde den Sachverhalt nachher dem Dekan darlegen.“

„Gut. Dann bleibt mir nur noch eines zu tun… das da ist für Euch.“

Sie deutete auf eine große Schachtel, die auf einer Anrichte lag.

„Was ist das?“ fragte ich zaghaft.

„Ihr seid doch sonst so mutig – seht einfach nach.“

Ich ging verwirrt hin und nahm den Deckel ab. Vor mir lagen zusammengefaltet ein dunkles Kleid und eine nachtschwarze Magierrobe. Ich ließ die Finger über den Stoff gleiten. So etwas Edles hätte ich mir nie leisten können.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Euch beides passen dürfte. Für die Maße habe ich ein gutes Auge“, meinte die Elfe.

Ich drehte mich zu ihr um. „Danke vielmals. Aber… warum?“

Sie deutete auf mein Gewand. „Ich finde es ermüdend, Euch jedes Mal als Zimmermädchen ausgeben zu müssen, wenn wir über die Straße gehen. Mit den neuen Sachen werdet Ihr zudem die Akademie angemessener repräsentieren.“

„Oh. Aber eines hat mich noch beschäftigt: wieso meintet Ihr, dass meine einzigen Freunde Fledermäuse seien? Ich meine, woher wusstet Ihr von den Fledermäusen?“

Sie sah mich spitzbübisch an. „Ihr hattet Fledermausdung am Stiefel. Ganz einfach.“

Ich verschloss die Schachtel wieder und nahm sie auf. „Kein Wunder, dass Galkiant Euch so hoch einschätzt.“

„Mag sein, aber die meisten Fälle, in denen er mich hinzuziehen will, sind nicht interessant. Der Eure hingegen war eine Abwechslung. Daher könnt Ihr das nächste Mal gern wieder an mich denken, Adeptin Morradus.“

„Das werde ich auf jeden Fall“, sagte ich fest, „und ich bin Thara.“ Ich streckte ihr die Hand hin.

Heleth zögerte einen Moment, aber dann lächelte sie, ergriff meine Hand mit ihren glatten, langen Fingern und schüttelte sie.

„Ceriana“, sagte sie nur.

Dann wandte ich mich hastig ab, weil niemand eine gerührte Nekromantin sehen soll, und machte mich davon. Auf dem Heimweg schalt mich als töricht, weil ich einfach davongelaufen war, aber ich war es nicht gewohnt, einfach akzeptiert werden. Mein Beruf schafft eine spürbare Distanz zu anderen, und doch war es mir so vorgekommen, als hätte ich seit langem wieder dem Leben selbst die Hand gereicht. Ceriana also. Ich war mir gewiss, ich würde sie eines Tages wiedersehen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.03.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein Beitrag zum März-Wettbewerb 2022 der Anthologie-Gruppe (Platz 1). Die Vorgabe bestand aus vier Bildern, von denen man eines als Basis der Geschichte wählen sollte. Verwendet wurde: "Der volle Tisch" (The Wizard’s Mirror by Walter Wick): https://64.media.tumblr.com/785f5d61630750355f682aaf9cedc5dd/tumblr_pt6dxmBrhe1vby6qno1_1280.jpg

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