„Manche Autoren würden morden für das, was du kannst.“
An diese Worte meiner Freundin Ilona erinnerte ich mich nur zu gut; ich hatte mich beschämt abgewandt und schließlich das Thema gewechselt, außerstande, näher darauf einzugehen. Aber ich hatte ihr meine Methodik schon verraten und die Verachtung in ihre Augen gesehen. Und die dennoch vorhandene Sehnsucht, es mir gleichzutun. Das ist vermutlich nur menschlich.
Es begann vor über zehn Jahren. Damals war ich eine verlorene Seele und rebellisch zugleich, lief nur in schwarzen Kleidern und schwarzen Stiefeln umher und schminkte mich übermäßig, wie um mir selbst eine neue, höhere Schicht zu verleihen, die mich der Öffentlichkeit präsentierte. Ich las quer durch alle Wissenschaften, Parawissenschaften und machte auch vor der Esoterik nicht Halt. Erstaunlicherweise fand ich ausgerechnet dort die Orientierung, die mir im Leben gefehlt hatte. Das meiste jener Lehren halte ich zwar auch heute noch für Quatsch, aber die Sache mit dem Channeling hatte mich hinreichend gepackt, dass ich mich daran ernsthaft versucht hatte. Es ging darum, Kontakt zu einem „höheren Wesen“ oder zu sonst einem Vertreter des Lichts zu finden, um sozusagen als Medium dessen Worte wiederzugeben und damit Erkenntnisse in die Welt zu bringen, die ihr sonst nicht vergönnt waren. Und mir selbst auch nicht.
Ich verzichte hier auf eine Wiedergabe meiner Mühen, meiner Versuche und meiner Fehlschläge, sondern will nur so viel sagen: schließlich gelang es mir, als ich schon gar nicht mehr damit rechnete. Aber ich war sicher, für einen kurzen Zeitraum mit einem fremden Geist in Verbindung zu stehen, und ich vermochte zu notieren, was er mir sagte.
Es war keine welterschütternde Erkenntnis, sondern ein Fragment einer Geschichte über eine Familie, in welcher der Großvater stirbt und den Seinen das Versteck seines Vermögens nicht mehr mitteilen kann, weswegen sie schließlich ein Medium aufsuchen. Ich verstand dies zunächst nicht, aber im Laufe der Zeit zeigte sich, dass dies eine Analogie war: ich war nunmehr das Medium, durch welches verschollene und vor allem niemals veröffentlichte Geschichten ans Tageslicht gebracht werden sollten. Die Texte stammten oft aus jüngerer Zeit, bisweilen aber auch aus dem letzten oder gar vorletzten Jahrhundert. Ich schrieb sie auf, wie sie mir in den Sitzungen in den Sinn kamen, und nach einiger Zeit wurden Freunde, die mich besuchten, auf die zahlreichen Manuskripte aufmerksam. Ob ich sie nicht einmal veröffentlichen wolle, wurde ich oft gefragt. Erklärte ich dann, das seien ja nicht meine Geschichten, sah ich in verwunderte Gesichter. Alles war in meiner Handschrift verfasst und stammte, wie ich einräumen musste, aus meinem Kopf. Niemand verstand meine Vorbehalte.
Und ich muss zugeben, es waren etliche richtig gute Geschichten dabei. Ob es Kindergeschichten um Erli, das Eichhörnchen, waren, von Griseldis von Baaken aus den Goldenen Zwanzigern, Thriller von Nathaniel Haggard Mitchinson aus den 70er Jahren oder Science Fiction von Kenora Hutchins aus den 80ern… es waren gut lesbare und dennoch völlig unbekannte Werke. Ich habe nach diesen Autoren und Autorinnen gesucht – und niemanden gefunden. Als Personen müssen sie freilich existiert haben, aber ihre Stories haben ihre Wohnung, vielleicht sogar ihren Kopf nie verlassen. Und daher hatten sie auch keine Spuren hinterlassen, die man heute mit Suchmaschinen finden kann. Ich hatte nicht vor, durch die halbe Welt zu reisen und in Taufbücher zu schauen. Außerdem hatte ich ja noch meine eigenen Geschichten, die ich irgendwann einmal unter eigenem Namen herausbringen wollte.
Ich fuhr mit dem Channeling fort, denn eigentlich wollte ich keine unbekannten Autoren ans Tageslicht zerren, sondern Einblicke in die Welt oder wenigstens einen vernünftigen Ratschlag für mein Leben erhalten. Aber stattdessen sprudelten nur weitere Geschichten hervor, alle in einem unterschiedlichen Stil, Thema und Genre. Meine Freunde lobten meine Vielseitigkeit, während ich versuchte, eine Systematik in die stets wachsende Autorenrunde zu hineinbekommen. Ich hatte mittlerweile mehrere Autorinnen oder Autoren für jedes Genre. Die medialen Eindrücke kamen immer häufiger, und ich konnte sie nur loswerden, indem ich sie niederschrieb. Meine Arbeitszeit verlagerte sich bis tief in die Nacht, und schon bald galt ich als schreibwütig, dann als exzentrisch und schließlich als krankhaft, insbesondere da ich nichts davon veröffentlichen wollte. Kartons von abgehefteten Romanen lagen achtlos in und auf den Regalen, Gedichtbände aus drei Jahrhunderten lagerten neben historischen Theaterstücken auf einer Ablage im Schlafzimmer, und die Abenteuer der Mondpatrouille nahmen als Reihe einen besonderen Platz unter dem Küchentisch ein.
In meinen Träumen hätte ich gerne einmal mit Reverend Don Kinarthy, Susan Arton-Miller, Leopold Keulenroda, Dieter Fennwaldt, Bonnie Twindledale, Akiko Vakori und all den anderen, die durch meinen Geist strömten, gesprochen. Doch seit ich mit dem Channeln begonnen hatte, träumte ich kaum noch etwas. Es war so, als sei mein gesamtes Unterbewusstsein auf einen anderen Kanal umgeschaltet worden.
Als einer der wenigen Verlage, die auf meine eigenen Geschichten reagiert hatten – verhalten, aber immerhin – mir die Möglichkeit eröffnete, zum Thema „Das Verschwinden der Liebe“ einen Beitrag einsenden zu können, fasste ich einen Entschluss. Ich würde die Riege der vergessenen Nicht-Autoren um Hilfe bitten. Sollten sie selbst entscheiden, was sie mir zusandten, und das in dem Wissen, dass ich es verwenden würde – natürlich mit korrekter Namensangabe. Zu Plagiaten, auch welchen, die man mir nicht glaubte, würde ich mich nicht herabwürdigen lassen.
Ich stellte das Licht meiner Schreibtischlampe auf die richtige Weise ein, legte den Notizblock zurecht und begann mich zu konzentrieren, wie so oft zuvor. Dann erklang das vertraute Wispern, das Anschwellen der Stimmen und das Emporbrechen der Worte, die ich hastig und so exakt wie möglich niederschrieb.
Irgendwann war die Welle, die über mich gerauscht war, vorbei, und ich betrachtete, was ich in meiner Trance eingefangen hatte wie ein einsames Radio bei einer Fernfunkverbindung.
Zu meinem Erstaunen waren einige neue Autorinnen dabei. Von Marja Sokanov hatte ich noch nie gehört, aber ich hatte irgendwie den Eindruck, ihr Gedicht sei aus dem Jahr 1937 und sie sei eine tschechische Widerstandskämpferin gewesen, die 1954 an Krebs verstorben war. Ihr Werk berührte mich besonders.
Die Liebe, sie schwindet,
als ob ein Spiegel erblindet,
als ob sich Lichter verdunkeln
und nimmermehr funkeln,
denn ihre Menge ist endlich
und dies ist auch verständlich:
endlich ist der Mensch und sein Leben
und endlich sind seine Mittel daneben
wie sein Wissen, die Geduld und Gedanken.
All dies umreißt stets seine Schranken.
Niemand vermag in unendlicher Menge
zu arbeiten oder in unendlicher Länge
zu leben, zu lieben, glücklich zu sein.
Die Grenzen holen uns doch stetig ein.
Und so ist eben auch die Lieb‘ limitiert.
Ihr Gesamtvolumen ist schon registriert.
Doch wird sie nicht erneuert, erhalten,
wird sie weniger, welken und erkalten.
Stets lauert der Hass, als Saat aufzugehen
und der Liebe einfach den Hahn abzudrehen.
Stets wartet die Dummheit, den Hass noch zu stärken.
Man sieht es an den verschiedensten Werken,
Personen, Gruppen, Firmen, Parteien:
sie mühen sich unredlich, uns zu entzweien.
Seht euch nur um, ihr Freunde des Lichts!
Vor euren Augen stürzt die Liebe ins Nichts
und hinterlässt nur Furcht, Zweifel, Unsicherheit.
Ein vages Raunen wispert: „Eine schreckliche Zeit!“
Dahinter dröhnen die Trommeln ihr altes Lied
vom Schwarz-Weiß-Denken, doch was man nicht sieht,
ist die Komplexität des Lebens in seiner Pracht.
Doch der Mensch ist nicht für die Unendlichkeit gemacht,
sondern Teil einer Gesellschaft, und deren Form
bestimmt zuletzt für die Allgemeinheit die Norm.
Hier nagen die Ratten des Hasses an den Grundfesten
und suchen sie mit ihren Lügen zu verpesten.
Ja, Freunde des Lichts, die Liebe verschwindet.
Seht zu, dass ihr einen Rest an euch bindet!
Eine milde Geste, ein Lächeln, selbst ein Gebet
sorgt dafür, dass sich die Welt weiterdreht
in der Art, die wir schon immer so schätzten,
bevor die dunklen Kräfte sie übel verletzten.
Was ist aus Toleranz und Nachsicht geworden?
Verschwörungswahn und Lüge ermorden
zusehends unser aller Vertrauen
in den Nachbarn, die Zeitung, die schlauen
Experten gar aus der Wissenschaft.
All deren Expertise scheint abgeschafft
und durch Ideologien ersetzt, wie es scheint.
Gewiss doch: im Irrtum ist man vereint
und vermag zu glauben, was man auch mag.
Das ist der neue unsichtbare Vertrag:
„Wer nicht meiner Meinung ist, der ist ein Feind.“
Derweil die Wahrheit in dunkelster Ecke weint.
Die Liebe zur Wahrheit ist schon weit geschwunden,
man hat sie noch nicht wiedergefunden.
Wehret den Anfängen? Dafür ist es zu spät.
Das falsche Wort ist das neue Kriegsgerät.
Es wird aufgefahren, in Stellung gebracht
und der Kontrahent damit niedergemacht.
Immer unverhohlener wird es eingesetzt –
und es trifft zielsicher, manipuliert, verletzt;
es reißt Gräben zwischen Verbündeten auf
und wieder nimmt schließlich der Hass seinen Lauf.
Habt, Freunde, ihr dies nicht kommen sehen?
Glaubtet ihr noch, in einer Front mit der Liebe zu stehen?
Die Front schmilzt, sie wird schwach und weich,
und vor uns’ren Augen erhebt sich ein düsteres Reich,
das sich nur von Hass, von dem Dunkel ernährt
und dem Licht jegliche Entfaltung verwehrt.
Sagt nicht, ihr hättet’s nicht kommen sehen,
denn es ist wahrlich nicht schwer zu verstehen:
solange die Liebe noch lebt, gibt es Hoffnung und Licht,
und dies gönnen uns die Finsteren nicht.
Doch sie ist im Schwinden begriffen, das ist nun klar –
genaugenommen ist sie jetzt schon recht rar –
und es liegt in euren Händen, euren Herzen nun,
endlich das Richtige zu fühlen und auch zu tun.
Wie so oft fragte ich mich auch nach diesem Text, warum eine Dichterin dieser Wortkunst nicht irgendwie, irgendwo bekanntgeworden war. Bei ihr mochte es an der Biografie liegen: wenn sie dies wirklich vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst hatte und später in den Widerstand eingetreten war, hatte sie gewiss anderes zu tun gehabt als ihre Notizen zu veröffentlichen.
Von Alicia de Merriken, einer Dichterin, die ursprünglich aus den Niederlanden stammte, hatte ich folgendes niedergeschrieben:
Unermesslich, unerschöpflich sei die Liebe,
vermeinen wir,
doch wie sich die Welle am Ufer bricht,
wo selbst der gigantische Ozean endet,
so bricht auch die Liebe
zusammen im Angesicht
der Angst und des Zweifels,
der Ungewissheit und des Zorns.
Sie werfen einen Schatten darauf,
der sich zunehmend schwer
entfernen lässt,
bis seine Last sie erdrückt.
Vor allem die Metaphern mit dem Schatten und dem Ozean stachen für mich hier hervor, und ein wenig fühlte ich mich an das Eitelkeitsgedicht von Andreas Gryphius erinnert, der mit Sicherheit ein historischer Dichter war und durchaus Bekanntheit in der Welt gefunden hatte. Ich kannte keinen Dichter, der die Vergänglichkeit allen Seins plastischer in Szene gesetzt hätte.
Einen Rest Hoffnung fand ich hingegen bei meinem Blatt von Deborah Bruckstedt. Ich war ihr dankbar, dass wenigstens sie das Thema nicht nur in schwärzesten Farben gemalt hatte.
Jeden Monat sehe ich den Mond wachsen und vergehen.
Ist es ebenso mit der Liebe? Wird ihre Macht noch wehen,
wenn Monate, Jahre vergangen sind? Wird sie bestehen?
Ich befürchte, sie wird, wie alles, erodieren.
Erst allmählich zerfallen, danach explodieren.
Aber man sollte sie dennoch probieren.
Als viertes hatte ich eine wunderbare Ballade von Annalora Schillfer, die ich gerade abtippte, als Ilona anrief und mich zu einem Bummel in die Stadt einlud. Da ich noch etwas Zeit für den Versand hatte, sagte ich gern zu und traf mich mit ihr in einer bestimmten Straße in der Innenstadt, die ich bisher nur selten durchquert hatte.
„Es gibt hier eine sehr gute Psychologin“, kam Ilona auf den Punkt, nachdem wir die üblichen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten.
„Ich brauche keine“, wehrte ich ab.
„Du schreibst wie wild, alles völlig unterschiedlich, und willst nichts davon veröffentlichen.“
„Das ist mein gutes Recht.“
„Schon, Doris, aber dafür schickst du merkwürdige und beunruhigende Stories ein, die bei weitem schlechter ankommen. Das ist unlogisch, und mal ehrlich, das Geld für die guten Sachen könntest du schon brauchen.“
„Es sind nicht meine Stories!“
„Ja, und genau das bildest du dir ein. Daher – die Psychologin. Tu mir den Gefallen. Versuch’s einfach mal. Bitte. Denn du könntest dich ja auch irren… du hast selbst gesagt, bei diesem Channeling ist man anfangs nicht ganz sicher, was eigene Gedanken sind und was nicht.“
„Ilona…“
„Bitte. Ich halte es nicht länger aus.“ Damit drehte sie sich um und ging davon. Ich starrte auf ihren Rücken, bis sie um eine Ecke verschwunden war, dann auf das Schild der Praxis der Psychologin. Was blieb mir groß übrig?
In den folgenden Monaten sprach ich mit meiner neuen Ansprechpartnerin viel über Dissoziation, Schizophrenie, akustisch-verbale Halluzinationen, Depressionen und Ähnliches. Die Frau meinte, wir würden Fortschritte machen. Allmählich fiel mir das Channeling schwerer, und irgendwann funktionierte es gar nicht mehr.
Rückblickend kann ich nicht sagen, ob es all diese Autorinnen und Autoren wirklich gab. Ich kann auch nicht sagen, eine besondere Autorin zu sein. Meine Texte sind gleichförmiger geworden, und ich brauche länger dafür als früher. Die Psychologin spricht von Bewältigung.
Ilona habe ich nicht wiedergesehen. Annalora Schillfer hatte ganz recht: Liebe entschwindet, gleich einem Hauch von Rauch. Nichts ist für die Ewigkeit.
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Tag der Veröffentlichung: 01.12.2021
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Widmung:
Beitrag zum anonymen Wettbewerb der Anthologiegruppe vom November 2021 nach der Vorgabe "Die (...) Liebe", umgesetzt als "Die verschwindende Liebe".