Im Tempel der Athene.
Man sieht links und rechts des Bühnenbildes dorische Säulen; in der Mitte eine drei Meter hohe Marmorstatue, welche die Göttin Athene darstellt, auf beiden Seiten und von vorn von je einer brennenden Feuerschale beleuchtet.
Maris tritt von links auf. Sie ist eine schlanke Frau in den mittleren Jahren, mit dunklen Augen und ebensolchem Haar, und trägt das typische lange und schlichte weiße Gewand einer Priesterin.
Maris (seufzend)
Oh, Welt!
Tagaus, tagein steigen die Bürger aus Athen
jene Stufen herauf, zum Heiligtum der Athene.
Und jede, jeder hat seine Fragen, sein Sehnen,
seine Ängste… und an mir ist es,
Trost zu spenden, Erklärungen zu liefern
und die Weisheit der Göttin zu preisen.
Nur: mit jedem weit’ren Jahr im Tempel,
in dem mir so viel Schmerz zugetragen ward,
wuchsen auch in mir selbst die Fragen
und gar die leisen Zweifel, ob die Göttin…
Nein, das darf ich nicht fragen, nicht denken,
denn ich bin ihre Hohepriesterin,
das Symbol der Gewissheit,
der Garant der Zuversicht,
die barmherzige Schwester,
die verständnisvolle Freundin,
die Stimme der Vernunft.
Ach, und doch beschleichen mich des Nachts
Gedanken, die mich schließlich und endlich
selbst am Tage bewegen und mir die Arbeit
kummervoll und schwer machen.
Sie geht gedankenvoll und schwermütig auf und ab, verharrt dann an der Feuerschale, die zu Füßen der großen Athene-Statue steht.
Maris
Ich kann nicht anders; die Götter mögen mir verzeihen.
Selten nur habe ich dich direkt gerufen,
meine Herrin,
mein Lebensinhalt!
Doch nun wende ich mich an dich
und bitte untertänigst um dein göttliches Gehör,
deine Gunst, meinen Worten mit Geduld zu lauschen.
Sie hebt die Arme und verneigt sich einmal.
Maris
Göttliche Athene! Vernimm meine Worte!
Die du immer unter uns weilst,
die du unsere Gedanken kennst,
unsere Zukunft und Vergangenheit
und alles dazwischen: hier steht Maris,
Hohepriesterin deines Tempels,
auf der Suche nach Antworten,
geformt von deiner unendlichen Weisheit.
Einige Momente geschieht nichts, dann ändert sich das Licht für einen Augenblick, und hinter der übermenschlich hohen Statue tritt die Göttin Athene hervor. Sie wirkt majestätisch, obwohl sie ebenfalls nur ein weißes Gewand - mit einem goldenen Gürtel und Haarreif dazu - trägt, doch ihre Augen sind weiß.
Athene
Selten nur erscheine ich so in der Welt der Sterblichen,
doch du hast mir immer besonders gut gedient, Maris,
und drum besuche ich dich wie eine alte Freundin.
Maris (verlegen)
Ihr tut mir zu viel der Ehre an, Quell der Weisheit.
Ihr gehört zu den Ewigen und ich bin nur…
Athene (unterbricht)
Du bist meine Vertreterin in diesem Tempel,
dieser Stadt und bisweilen auch darüber hinaus.
Doch spüre ich, dass tiefe Fragen dich bewegen.
Heraus damit, denn sind es Fragen nicht,
die uns zur Erkenntnis führen?
Maris
Oh ja, und nach einer Erkenntnis…
oder zumindest einer Antwort…
suche ich schon seit längerem,
doch wußt’ ich nicht, ob es gestattet,
die letzten Dinge zu hinterfragen.
Athene
Nun bin ich da und sage abermals:
heraus damit! Hab’ ich dich nicht gelehrt,
eigenständig zu denken?
Und sei beruhigt, du brauchst mich nicht fürchten.
Es werden and’re Götter kommen,
welche ihren Anhängern die pflichtgemäße Gottesfurcht
und noch einiges mehr abverlangen.
Ich gehöre nicht dazu.
Maris (verwirrt)
Wovon sprichst du?
Athene (lächelnd)
Ist das deine erste Frage?
Maris
Nein… mein Anliegen ist dies:
trotz allem Bemüh’n des Staates, des Rates,
im Lichte unserer Demokratie
und selbst dem Wohlwollen der Götter
sehe ich täglich Elend und Krankheit
und Armut und Wut und Gewalt…
Athene (nachdenklich)
Und du meinst, das Pantheon sei dafür
allein verantwortlich?
Ich weiß, dir ist das Prinzip des
freien Willens wohlbekannt...
Maris (erschrocken)
Ja! Nein! Also ich meinte:
mir ist schon klar, dass jene Dinge
das Werk der Menschen sind,
vor allem jener, die von euren Pfaden
in finst’rer Weise abweichen,
voll Selbstsucht, Gier und Schändlichkeit.
Athene (lächelnd)
Doch ich vermeine ein „aber“ darin zu hören?
Maris (zögernd)
Nun ja: aber warum lasst ihr dies zu?
Was ist der Sinn davon,
dass meine gute Freundin Antigone
am Schluss von eigener Hand sterben musste,
nur weil sie vor König Kreon mutig
und ohne Zögern die göttlichen Gebote
nachdrücklich vertrat?
Es war ihr Untergang.
Und Iphigenie, die einst auf Tauris
ebenfalls in üble Verwicklungen geriet,
wobei auch dort am Ende nur Zerstörung,
Leid und Verzweiflung herrschten?
Was ist mit den Armen, die in ihrem Los
keine Weisheit zu erkennen vermögen?
Den Soldaten, die in sinnlosen Kriegen sterben?
So frage ich dich, meine erwählte Gottheit,
und ganz ohne aufbegehren zu wollen:
was ist der Sinn von all dem?
Gibt es einen göttlichen Plan,
der hinter all dem steht?
Hat jeder ein Schicksal,
das ihm zugedacht ist?
Athene verschränkt die Arme und geht nachdenklich einige Schritte nach rechts, dann kehrt sie um und geht wieder zu Maris.
Athene
Du rührst da an gewaltige Dinge.
Ich frage mich, ob…
Maris (zaghaft)
… ich sie als Sterbliche erfahren darf?
Athene
Nein, ob du ihnen als Sterbliche gewachsen bist.
Maris (tapfer)
Ich bin auf alles vorbereitet.
Athene (mitleidig)
Nein, das bist du nicht.
Maris
So sprich denn. Ich höre.
Athene
Lass mich ein wenig ausholen.
Es mag Menschen geben, die halten sich
und die Welt nur für einen Spielball
für die Laune der Götter auf dem Olymp.
Sie missachten ihre Verantwortung,
und weil sie uns für chaotisch halten,
leiten sie davon ab, es selbst zu sein.
Doch Chaos gebiert Chaos,
und wer sich selbst keine Ordnung gibt,
der wird auch keine finden.
Deine Freundin Antigone tut mir leid, gewiss,
doch mein Chronist Sophokles
hat ihre Geschichte verewigt,
und noch in über tausend Jahren
wird man an ihrem Beispiel
über die Gegensätze von Idealen und Strukturen,
über Nuancen von Recht und Gerechtigkeit sprechen.
Antigone war eine Heldin,
und ich bin sehr stolz auf sie.
Was hingegen Iphigenie angeht,
ist die Lage diffiziler. Mein Chronist Euripides
schilderte die Ereignisse, wie sie waren.
Doch Jahrhunderte später wird dann
ein Dichterfürst aus fernem Lande
eine neue Interpretation verfassen,
und getragen von Reinheit und Edelmut
kommt es dabei zur Erlösung der Beteiligten.
Da triumphiert Menschlichkeit über das Böse,
und diese Dichtung wird zur Klassik schlechthin.
Du, liebe Maris, siehst die Zustände, wie sie sind.
Ich aber sehe die Inspiration, die daraus erwächst,
und den Fortschritt, der ihnen nachfolgt.
Es ist das Los der Sterblichen,
dass sie nur die Gegenwart sehen können.
Als Göttin der Weisheit vermag ich weit zu sehen,
weiter als gar viele andere Götter -
und ich kenne viele Zukünfte,
die von dieser Gegenwart ausgehen,
die auch durch dich mit geprägt wurde und wird.
Jeder Mensch ist eine Treppenstufe auf einem
schier endlosen Weg aufwärts,
in eine Zukunft der Erfüllung.
Nur kann eine Stufe nicht die ganze Treppe erfassen,
und ein Mensch kann nicht die ganze Geschichte sehen.
Maris
Das ist beachtlich, doch mag es für manche
kaum ein Trost sein zu erfahren,
dass ihr Schicksal nur dazu dient,
um hundert Jahre später irgendwem
ein gutes Beispiel abzugeben.
Wir Menschen denken in direkt’ren Bahnen.
Athene
Ich erklärte lediglich, warum wir Götter
manche Zustände zulassen, obwohl
sie auch für uns betrüblich sind.
Die Zustände selbst jedoch, gute Priesterin,
die habt ihr selbst erschaffen.
Wir halten nicht den Dolch des Mörders auf,
nicht den Stein, den ihr werft
und nicht das hässliche Wort,
das mancher im Munde führt.
Wir flüstern nicht: „Tu es!“,
wenn eine Untat möglich ist.
Wir geben nur Prinzipien, Gebote,
nach denen ihr leben könnt
(und, wenn ihr klug seid, solltet).
Du weißt sehr wohl, wie selten
göttliche Interventionen neuerdings sind.
Und ich darf dir verraten:
sie werden noch seltener.
Maris
Wie viele aber gehen in eurem Plan
unerkannt unter, werden nimmermehr
zu einem Symbol, einer Inspiration?
Wie viele müssen leiden, darben, sterben,
bevor sich dereinst der Plan erfüllt?
Athene
Du fragst nach Zahlen, Kind?
Die Götter rechnen nicht.
Und wie ein großer Mann einst sagen wird:
„Gott würfelt nicht.“
Maris (neugierig)
Welcher Gott ist damit gemeint?
Athene (unwillig)
Nun… keiner der unseren hier.
Er wird erst später populär.
Doch darum geht es nicht.
Es ist das Gesamtbild, das im Olymp
und an vielen and’ren Orten
von Wesen wie uns gewoben wird.
Maris
Und das Schicksal?
Ist’s säuberlich für jeden zugedacht,
auf dass ein jeder seinen Platz einnehme,
seine Pflicht erfülle
und hernach so stürbe,
wie es von jeher festgelegt?
Athene
Ah, du meinst ein vollends
und durch und durch determiniertes
Universum, das einem Uhrwerk gleicht…
Maris
Einem was?
Athene
Einem Fluss, der nur einen Weg nehmen kann:
den durch sein Flussbett, und stetig abwärts.
Maris (sinnierend)
Ja, dass es mit den Menschen bergab geht,
den Eindruck hatte ich auch schon mal.
Athene
Sei nicht töricht, das war eine Metapher.
In Wirklichkeit geht’s aufwärts,
vielleicht nicht moralisch,
so doch ein wenig rechtlich
und auf jeden Fall in der Wissenschaft,
die mir eigentlich am Herzen liegt.
Maris (spitzfindig)
Doch nur eigentlich?
Athene
So manche erheben die Wissenschaft
zum neuen Götzen, fallen vom Glauben ab
und erklären uns hernach zu Mythengestalten.
Maris (lacht)
Was für eine absonderliche Idee!
Athene (leise)
Ja, du wirst’s nicht mehr erleben.
Aber es kommt, und ich kann den Niedergang
nicht nur des Olymps in meinen Knochen spüren.
Am Schluss machen sie Gestalten aus uns,
die sich wie Menschen gebärden
und allabendlich in ihren Flimmerkisten streiten.
Nun, lassen wir das.
Maris
Soll die Wissenschaft die Menschen nicht
durch Erkenntnisse der Schöpfung
zu einem tieferen Verständnis der Welt führen?
Und letztlich dann zur höh’ren Weisheit?
Athene
So ist’s gedacht, doch das ist leider nur
die eine Seite der Medaille.
Die andere, fürwahr, vermag
die Basis legen für Kontrolle und Vernichtung.
Was das Schicksal selbst jedoch angeht,
so magst du vielleicht die Moiren fragen,
deren ureigenstes Gebiet das ist.
Maris (erschauernd)
Die Moiren? Das mag wohl sein;
doch fremd und kalt sind sie,
und niemandem erging es wohl,
der’s wagte, seinen Blick auf sie zu richten.
Athene
So werde ich dir sagen, was ich kann.
Das Universum ist nicht festgefügt,
kein Ablauf ist vorherbestimmt,
sofern es Möglichkeiten gibt.
Gewiss, es gibt Gesetze in der Welt,
die sagen, was wie zusammenhält,
und viele jener Formeln sind zurzeit
noch nicht entdeckt. Sie harren
der Bestimmung, Messung, Erkundung
und werden ihre Entdecker adeln.
Diese Grundlagen formen die Struktur
von allem, was da existiert.
Doch abgesehen davon ist jedes Lebewesen
grundsätzlich frei. Alle weiteren Regeln,
die geben sie sich selbst. Und ob jene
weise sind oder nicht, das vermag
oft erst die Nachwelt zu entscheiden,
obwohl’s bei einigen schon…
recht offensichtlich ist.
Maris (lächelnd)
Für dich zumindest!
Athene
Ach, machte der Mensch des Öfteren
von seinem Verstand Gebrauch,
als auf Geschwätz und überkomm’ne Bräuche,
seinen Bauch und seine Gier zu hören,
dann würde die Weisheit schon fast überall
einkehren und nicht nur hinterm Haus erblühen,
im Kämmerlein des Gelehrten
oder unter meinen Priesterinnen.
Ich will dir eines sagen:
ich erwarte von meinen Anhängern,
dass sie selbst Verantwortung übernehmen,
dass sie versuchen, Vorbilder zu sein,
und sich von den Ketten der Bequemlichkeit
und Dummheit aus eig’ner Kraft befrei’n.
Das bedeutet mir mehr als alle Opfer,
die mir in Schalen dargeboten werden.
Maris (irritiert)
Aber ist es nicht der Brauch…?
Athene (leicht aufgebracht)
Was sagte ich über überkomm’ne Bräuche?
Glaubst du wirklich, ich äße
euer Korn, Wildbret und tränke Wein dazu?
Projiziert nicht die eig’nen Wünsche
auf eure Götter! Ihr sollt nicht darben,
sondern das Richtige tun, in meinem Sinne!
Ich dachte, wenigstens du
verstehst allmählich meine Wege,
lehnst dich gegen Vorurteile, Furcht
und scheinbare Schicksale auf.
Der Weg der Weisheit soll dich stählen
gegen die Unbill dunkler Zeiten,
verlorener Jahrhunderte und auch
den Niedergang der alten Götter.
Maris
Es ist erschreckend, was du sagst.
Athene
Für mich sind jene Zeiten schon immer dagewesen.
Die Menschen werden eines Tages erkennen,
dass sie in einer Welt leben, in welcher
es keine Göttin der Weisheit mehr gibt.
Und dann, dann erst werden sie den Verlust bemerken.
Für dich jedoch ist dies noch weit hin.
Diene mir weiter gut, so wie bisher,
und bewahre deinen Glauben:
es gibt einen Plan,
und du bist Herrin deines Schicksals.
Ist dies genug für heute Abend?
Maris (verbeugt sich)
Oh ja. Ich danke sehr für deine Gunst.
Gepriesen seien die Götter!
Athene nickt ihr huldvoll zu und verschwindet hinter der Statue.
Maris
Welch Glück ist mir beschieden!
Nun kann ich froh nach Hause geh’n.
Maris geht beschwingt nach links ab.
Im Tempel der Athene. Szenenbild wie zuvor.
Einige Momente, nachdem Maris gegangen ist, tritt Loki von rechts auf und sieht sich um.
Loki (spöttisch)
Das war ja ein herziger Dialog.
Aber herzlos war’s von dir, Athene,
das arme Kind so schmählich anzulügen.
Gerade wo dies doch meine Gewohnheit ist.
Athene tritt hinter der Statue hervor und stellt sich ihm entgegen.
Athene (ärgerlich)
Der Lüge zeihst du mich, Loki?
Du, der Fremdling, der Verirrte?
Der sich unerwünscht in diesen Gefilden aufhält?
Loki (leichthin)
Sei’s drum, nun bin ich da.
Aber mein Vorwurf trifft, nicht wahr?
Athene (seufzt)
Auf was beziehst du dich genau?
Ich bin deiner Spielchen jetzt schon müde.
Loki (mit einer angedeuteten ironischen Verbeugung)
So will ich’s dir sagen, lokale Göttin:
der Plan, den du der eig’nen Priesterin
wie einen schnöden Fahrplan vorgehalten hast
und den’s freilich nicht geben kann.
Athene
Nichts, mein sarkastischer Widersacher,
verstehst du von Hoffnung,
weil sie nicht in deinen Wirkungsbereich fällt.
Von allen Dingen, sogar in der Büchse der Pandora,
muss zuletzt die Hoffnung bleiben,
sonst bereiten die Menschen sich nicht nur den Untergang,
sondern verharren gleich tatenlos und vegetieren.
Loki (listig)
So machst du doch einen Unterschied
zwischen Wahrheit und Weisheit?
Athene (abfällig)
Auf einen, der mir die Worte im Munde verdreht,
habe ich wahrhaftig nicht gewartet.
Wieso gehst du nicht deiner Wege?
Es gibt eine Menge Wege, die aus Griechenland hinaus
und noch viel weiter führen!
Loki (schmeichelnd)
Auf vielen verschlung’nen Pfaden
schleiche ich durchaus einher
und wollt‘ nur applaudieren einer,
die so geschickt den Menschen Beruhigung einträufelt,
wo es doch zum Schrecken Anlass gibt.
Willst du nicht bei mir noch lernen,
wie man heimlicher und listiger noch
die Sterblichen umgarnen kann?
Athene
Von welchen Schrecken sprichst du?
Du meinst dich selbst, nicht wahr?
Loki
Ich bin nur ein bleicher Gast
im Haus des Schreckens,
der da Zukunft heißt.
Du ahnst doch, dass die alten Götter enden?
Athene
Ich weiß es, und wenn ich dich betrachte,
so denk‘ ich, es hat wohl auch sein Gutes.
Loki (ärgerlich)
Gutes! Pfui! Ein Jammer ist’s!
Athene
Und hängen dann nicht nur Verwirrte
dem alten Odin an? War er nicht blind?
Loki (aufgebracht)
Einäugig, du Hexe!
Athene (schulterzuckend)
Nun, wenn ein Gott nicht einmal
für seine eig’ne Unversehrtheit aufkommt,
ist er wohl wirklich auf dem Abstieg.
Loki
Ah, ich durchschaue deine List:
verärgern und vergraulen willst du mich,
indem du die Meinen schmähst.
Nun, ich bin der Einzige, der sich über Odin
und allenfalls noch Thor, den Burschen,
so richtig lustig machen darf.
Mein Privileg ist dies, merke es dir wohl!
Athene
So ist also die Änderung der Religion
dasjen’ge, das du fürchtest?
Loki
Von Furcht war nicht die Rede…
Athene
…nur von Schrecken.
Loki
Und ist’s nicht schlimm genug,
dass schon in naher Bälde
der Nazarener, dann der Mekkaner
mein und dein Pantheon
zur Bedeutungslosigkeit verdammen?
Und sogar das römische gleich mit!
Athene
So ist unser Schicksal, so wird’s sein!
Loki (spöttisch)
Hier also unterwirfst du willig dich
den sogenannten Moiren,
während du den Menschen das Gegenteil
vom Berg Olymp herunterpredigst!
Wie kann das sein? Hexe, übrigens!
Athene
Ist dir solch‘ Beleidigung nicht selbst zu billig?
Wie dem auch sei: ich entschied mich
unter Myriaden Wegen dafür,
den Platz zu räumen, denn begrenzt
von allseits präsenten Göttern
kann sich der Mensch nicht recht entfalten.
Daher naht nun die neue Zeit,
die Zeit der verborgenen Gottheiten.
Sie erscheinen nicht zum Tee, zum Dialog,
zur Strafe oder im Moment des Todes.
Unbemerkt und unbewiesen werden sie wirken,
bezweifelt von manchen, unerklärlich für alle;
eine Zeit der Deutungen, der Interpretationen.
Da mag sich der Mensch beweisen,
sich zurechtfinden im Widerstreit
zwischen dem Unnahbaren und dem Greifbaren,
den Göttern und der Wissenschaft.
Loki (entsetzt)
Das ist deine Lösung?
Das Schicksal, dessen Herr und Lenker
wir doch sein sollten – wir, die Götter -,
das erkennst du als Leitstern an?
Zugunsten dieser Kreaturen?
Die undankbar, fleischlich und unbekümmert
schon jetzt an uns’re Stelle treten wollen?
Das Schicksal war nie dafür gedacht,
die Götter selbst zu ereilen!
Athene (geduldig)
Hättest du nur ein Fünkchen mehr Weisheit…
Loki (unterbricht)
Hättest du nur einen Funken mehr Selbsterhaltungstrieb!
Athene
In manchen Dingen müssen selbst wir,
die Götter, Opfer bringen.
Loki (störrisch)
Ich nicht. Die Opfer bringt man mir!
Athene (gelassen)
Nicht in meinem Tempel.
Loki (mißmutig)
Hm. Dann geh‘ ich eben dahin, wo ich noch
angemessen und mit einem Maß an Furcht
und einem Hauch an Zwietracht geschätzt werde!
Athene (blickt nach oben)
Gedankt sei dir, Zeus!
Loki
Ha! Hast mich schon wieder überlistet!
Ich muss schon sagen, du bist recht gewitzt.
Für eine Frau, zumindest.
Athene (ruhig)
Du willst jetzt nicht diesen Weg beschreiten?
Gibt’s kein Argument, das selbst dir zu flach ist?
Loki (würdevoll)
Schon, aber ich hab‘ ja einen Ruf zu wahren.
Athene (trocken)
Ja, das scheint dir fürwahr gelungen,
deinen schlechten Ruf recht hochzuhalten.
Loki (verbeugt sich)
Diese Schmeichelei versüßt mir den Abschied.
Athene
Wenn du nur endlich gehen würdest!
Loki
Gleich wirst du mich vermissen.
Schau her, ich gehe!
Er macht einige Schritte nach rechts.
Athene (murmelt)
Ja, das ist dein Schicksal.
Loki (wendet sich um)
Das habe ich vernommen!
Und ich werde mich dagegen werfen,
bis zum bitt’ren Ende!
Das nördliche Pantheon weicht nicht!
Athene (seufzt)
Soll’n denn die Leute dort bei euch
auch noch in tausend Jahren Runen werfen?
Tieropfer bringen?
Zaubersprüche singen?
Beim blinden Gotte schwör’n?
Loki (wütend)
Einäugig ist er, Hexe!
Athene (zum Publikum)
Habt ihr nicht auch den Eindruck,
dieser Kerl drehe sich im Kreis?
Ist jemand unter euch, der ihn vielleicht
gar anbeten möchte? Brr.
(zu Loki)
Hör zu. Ich sag‘ dir was.
Loki (mißmutig)
Das kann ja nichts Gescheites sein.
Athene
Auch wenn du gegangen bist,
werden die Menschen euch nicht vergessen.
Sie preisen euch in Büchern und Filmen…
und Serien für Groß und Klein.
Loki (interessiert)
Ach, wirklich?
Athene (für sich)
Na ja, hauptsächlich Thor.
(laut)
Durchaus. Als kecker Widersacher
wirst du neben Thor erscheinen
und ihn wie stets des öft’ren necken.
Und zum guten Schlusse bekommst du
eine eig’ne Serie, er aber nicht.
Loki (geschmeichelt)
Das gefällt mir. Doch was wird aus Thor?
Athene
Er wird letztlich dick, reist mit Chaoten
auf einem Schiff - und tritt den Hammer ab.
Loki (zufrieden)
Ein Ende, wie es ihm gebührt!
Athene (doppeldeutig)
Ja, es gleicht schon einem Wunder,
einem Marvel gar, wie man so sagt.
Loki (verständnislos)
So, sagt man das… nun gut.
So kann ich beruhigt jetzt meinen Abgang machen.
Athene (winkt)
Keinen Moment zu früh! Und geh‘ nur weit!
Loki überlegt einen Moment, ob das eine Beleidigung war, und geht dann kopfschüttelnd nach rechts ab.
Athene
Ich hoffe, mit seinem Abgang kehren
nun wieder Ruhe und Vernunft ein.
Unfug und Unheil haben bei mir
und an diesem Orte keinen Platz.
Nun kann ich mich endlich
auf den Olymp zurückziehen.
Es gibt noch viel zu tun
bis zur Götterdämmerung.
Sie zieht sich hinter ihre Statue zurück.
Im Tempel der Athene. Szene wie zuvor.
Klotho, Lachesis und Atropos erscheinen von rechts. Sie tragen dunkle Gewänder. Klotho ist etwa 20, Lachesis etwa 40 und Atropos etwa 60 Jahre alt – so scheint es jedenfalls.
Atropos (mißmutig)
Ja, typisch. So sind sie halt.
Lachesis (nickt)
Reden eine halbe Stunde über das Schicksal,
aber wir werden nicht eingeladen.
Klotho
Hm, erwähnt hat man uns Moiren schon!
Atropos (lacht hämisch)
Erwähnt! Das sind Worte im Wind.
Sie gleichen einem Richter,
der Gerechtigkeit erwähnt,
aber nicht ausübt.
Lachesis
Was wollte eigentlich Loki hier?
Solche Wanderungen sind der Grund,
dass man uns mittlerweile öfters
mit den Nornen verwechselt!
Atropos (sarkastisch)
Ja, drei Frauen, die sich um das Schicksal kümmern:
da hört die Ähnlichkeit auch schon auf!
Klotho
Hört auf, die Sterblichen haben es schwer genug.
Und ihr habt vernommen, selbst die Götter
sind sich in unseren Belangen nicht einig.
Lachesis (spitzfindig)
Zumindest die Götter sollten wissen,
was gut für sie ist, Klotho!
Die Menschen wissen’s ohnehin nicht.
Klotho
Das Konzept des Schicksals wiegt auch schwer.
Was willst du erwarten von jenen,
die uns nicht gleichen?
Seien wir froh, dass die Götter
den Sterblichen Wege und Leitlinien anbieten,
durch die sie besser durchs Leben finden können.
Atropos (ungerührt)
Mich schert das nicht. Am Ende
behandle ich jede und jeden gleich,
ungeachtet der Überzeugung.
Dann ist der Faden ab.
Klotho
Das ist bekannt. Doch wicht’ger ist’s,
was der Mensch zuvor mit seinem Leben anfängt.
Und dauernd fragt er sich:
„Ist es vorherbestimmt?
Inwieweit bin ich frei?
Wo liegt der Sinn des Ganzen?“
Lachesis (lacht auf)
Der Sinn? Er wird gebor’n in eine Welt
der tausendfachen Möglichkeiten,
kann sich entwickeln, Großes leisten -
oder es eben lassen. Er kann Protagonist sein
in seinem eig’nen Leben
oder als Randfigur die and’ren machen lassen.
Er hat die Wahl.
Und das ist etwas, was nicht einmal uns
oder den Göttern vergönnt ist.
Wir haben seit Anfang an die Rollen,
die uns zugeteilt. Und das ist alles.
Atropos
Ein gutes Schlusswort, Lachesis.
Lachesis (schnippisch)
Wenn du das sagst, Atropos…
mit dem Schluss kennst du dich ja aus.
Klotho (versöhnlich)
Warum in Streite enden?
Zum Schicksal ward so manches Wort gesagt…
Atropos (höhnisch)
Vielleicht ein Wort zu viel…
Klotho (unbeirrt)
...und doch bedarf der Einzelne bisweilen
ein wenig Ansporn, Mut und die Gewissheit…
Lachesis (kichert)
...dass es keine Gewissheit geben kann…
Klotho (unbeirrt, aber lauter)
...dass ein Schicksal, das man selbst nicht kennt,
nicht anders ist, als gäb’ es keins,
wodurch Möglichkeit und Verantwortung
bei einem selbst verbleiben.
Atropos (hebt den Zeigefinger)
So wirkt es wohl; doch eigentlich…
Klotho
Still! Das Kosmische zu seh’n,
ist den Sterblichen noch nicht gegeben…
Lachesis (vorlaut)
...das Komische hingegen schon!
Klotho
Ich merke, ihr wollt mein Schlusswort
vollends ruinieren und statt Hoffnung
nur Verwirrung und Verzweiflung säen.
Atropos (spöttisch)
Du haderst doch wohl nicht mit dem Schicksal?
Klotho (resigniert)
Nein, nur mit euch.
Lachesis (lakonisch)
Was dasselbe ist.
Athene tritt hinter ihrer Säule hervor.
Athene
Was ist das für ein Gezänk in meinem Tempel?
Ach, ihr seid’s. Ihr kommt zu spät.
Atropos (pikiert)
Ich komme nie zu spät.
Alle sagen, ich käme stets zu früh.
Auf fast jeder Totenrede wird’s gesagt.
Klotho
Wir wollten ohnehin grad’ gehen.
Athene (weist nach rechts)
Gut. Dort ist der Ausgang.
Lachesis
Unverschämtheit!
Klotho (beruhigend)
Lass es, du weißt doch, was aus dem Olymp wird.
Lachesis (hämisch)
Ja, er wird von Menschen bestiegen,
und sie bauen etliche Hütten darauf!
Atropos (schulterzuckend)
Gehen wir.
Die Moiren gehen nach rechts ab.
Athene (sieht ihnen kurz nach, wendet sich dann ans Publikum)
So also ist das Schicksal, wenn man ihm begegnet:
unklar, spöttisch und meist unbequem.
Ich rate daher, sich in der Sache
überwiegend selbst darum zu kümmern.
Und denkt daran, dass euer Leben gewiss nicht falsch war,
wenn man einst über euch sagt,
ihr wärt ein weiser Mensch gewesen.
Gehabt euch wohl, Freunde oder Feinde des Schicksals.
Mein Werk hier ist für jetzt getan.
Falls ihr noch ein wenig im Gebet verharren wollt, nur zu.
Ansonsten geht hinaus in die Welt
und knüpft eure eig’nen Schicksalsfäden -
bevor es and’re für euch tun.
Sie nickt den Zuschauern zu und geht nach rechts ab.
Vorhang.
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein Beitrag zum anonymen Wettbewerb der Anthologiegruppe im Oktober 2021 zum Thema "Schicksal".