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Vorwort

Dies war also die Nacht, in der Cordelia King getötet werden sollte. (Fast überflüssig dazuzusagen, dass dieser Name - wie alle Namen auf dieser Seite - nicht der wahre Name der Person ist, um die es geht. Die Regeln der Abschirmung sind da sehr strikt.)

Es gab keinen, der es nicht bedauerte, doch der Rat der Sieben hatte entschieden, und die Beschlüsse des Rates waren von jeher so eisern wie gerecht. Nur hatte es seit langem keinen Fall wie diesen gegeben, und die Vorstellung, einem kranken Mädchen einen angenehmen Tod zu verschaffen, klang für manche milde und grausam zugleich. Es war eine Dualität, welche schon der Philosoph Erlactis von Suba im Jahre SR 404 als „charakteristisch für unsere Gesellschaft, die von Heimlichkeit und Wissen gleichermaßen geprägt ist“ bezeichnete. Doch es war der große Isobael Hevorial II. gewesen, der die universelle Verflochtenheit des Kosmos entdeckt und die Unabdingbaren Folgerungen daraus abgeleitet hatte, die Grundlage der heutigen Ethik des Staates, ja der Welt. Und im Lichte dieser Folgerungen war die Beseitigung von Cordelia King im vordringlichen Interesse des Staates.

1.

 

„Es ist eine Hinrichtung“, knurrte Valantin und blickte sich streitlustig um. Auf der Schulter seiner neuen Studentenrobe glitzerte ein Wassertropfen. Die Rohre hier im Keller der Universität waren schon alt; manche tropften, aus manchen trat Dampf aus, und manche führten sonstwohin.

Irisa, die ein Jahr älter war als er, hob die Schultern. „Natürlich. Ich finde es auch furchtbar. Aber es ist entschieden. Der Rat hat lange deswegen getagt.“

Und Berenika, die jüngste der drei, die erst vor wenigen Monaten ihr erstes Semester begonnen hatte, wischte sich verstohlen eine Träne weg. „Es ist trotzdem ungerecht. Cordelia ist eine Freundin… und nun… sie kann doch gar nichts dafür!“

Valantin schlug mit der flachen Hand gegen die Wand und wirbelte eine kleine Staubwolke auf. „Das ist dem Rat egal. Für ihn gelten nur die Unabdingbaren Folgerungen. Ha!“

„Die hab‘ ich nie ganz verstanden“, schniefte Berenika, „wie können sie bestimmen, dass eine Studentin wie wir einfach sterben soll?“

Irisa ging ziellos auf und ab. „Ich glaube, genau deswegen haben sie nachher die große Zusammenkunft in der Aula angesetzt. Deswegen fällt ja auch die Exkursion zum Starrenden Abgrund aus.“

„Da war ich schon in der Einführungswoche. Er hat mir ohnehin nicht gefallen“, meinte Berenika und zuckte zusammen, als ihr ein Wassertropfen ins hellbraune Haar fiel.

Valantin pfiff durch die Zähne. „Aber du hast nicht hineingesehen, oder?“

Berenika schüttelte den Kopf. „So blöd bin ich nicht. Ich weiß, dass man erst im dritten Semester…“

„Und was machen wir jetzt?“ unterbrach Irisa. „Wenn wir uns schon so konspirativ treffen, dann sollte es auch was bringen.“

„Wir holen sie raus!“ gab Valantin entschlossen zurück. Berenika starrte ihn erschrocken an, und sogar Irisa hob eine Augenbraue. So viel Wagemut hätten sie ihm nicht zugetraut. Oder so viel Subversion. Denn eine Entscheidung des Rates zu behindern oder gar zu vereiteln, war ein gravierendes Verbrechen.

„Ich wüsste nicht, wie“, wandte Berenika ein, „aber ich stehe mit meinen Möglichkeiten noch ganz am Anfang. Habt ihr die Kräfte, um den Bann zu brechen?“

Irisa verzog den Mund. „Der Bann wäre nur eines unserer Probleme. Sie haben bestimmt noch ganz andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ich würde sagen, wir gehen erst einmal in die Aula und hören uns die offizielle Verlautbarung an. Damit haben wir zumindest eine bessere Grundlage als jetzt. Und was deine Frage angeht, Berenika… Valantin ist im zweiten Semester und ich im dritten. Damit sind wir den Tutoren und Professoren nicht gewachsen.“

„Nein, nicht in einer direkten Konfrontation“, stimmte Valantin zu.

Damit war alles gesagt, und die drei trotteten die steinernen Stufen bis in den ersten Stock hoch, wo sich die große Aula der Universität zu Carcagny befand. Man sagte, vom zentralen Turm aus könne man die Berge der Unentschlossenheit und die wirbelnden Schatten der Kuppel von Courluires Experiment sehen, aber das waren wohl nur Gerüchte und außerdem wagte sich natürlich niemand auf diesen Turm. Denn was ihn bewachte, war bekannt.

2.

 

In dem Saal waren inzwischen an die dreihundert Personen versammelt; niemand wollte sich eine Ansprache des Ministers für Außergewöhnliche Angelegenheiten entgehen lassen, bekam man ihn doch ansonsten fast nie zu Gesicht, was eigentlich eine beruhigende Tatsache darstellte. Aber dies war eine der traurigen Ausnahmen.

Dekan Didruriel klopfte sachte mit einem Glasstab an das Rednerpult, und ein heller, durchdringender Klang zog sich durch das gesamte Stockwerk. Man merkte sofort, dass hier ein Meister der Arkanen Harmonik stand.

„Ich bitte um Ruhe“, flüsterte er nur; seine Stimme kroch den Zuhörern über den Nacken ins Ohr. Eine weitere Aufforderung war nicht nötig. Gesittet nahmen die Nachzügler Platz.

„Ich darf Minister Zodural vorstellen. Er bearbeitet die Außergewöhnlichen Angelegenheiten und wird eine Erklärung abgeben“, kündigte Didruriel an, warf einen stechenden Blick in die Menge der Studenten und verließ dann abrupt die Bühne.

Qaszi Zodural war eine beeindruckende Erscheinung. Er kam ohne irgendwelche Begleiteffekte auf die Bühne, und man konnte an seinen eckigen Bewegungen sehen, dass er immer noch vom Kampf gegen die Verschmelzer und ihren Verminderer gezeichnet war. Seine linke Gesichtshälfte war von einer Narbe überzogen, deren Rand sich andauernd veränderte. Die meisten Studenten hatten noch keine Auswirkung eines Verminderers mit eigenen Augen gesehen und waren entsprechend geschockt. Vermutlich war genau das der Grund gewesen, warum Zodural keine Halbmaske oder Schleier trug.

„Der heutige Abend wird in die Geschichte eingehen, in die Geschichte unseres Landes und unseren Kampf für die Abschirmung“, sprach er mit sonorer, vom Pult deutlich verstärkter Stimme. „Aber um Ihnen allen die Tragweite der notwendigen Maßnahme darzulegen, muss ich ein wenig ausholen. Die höheren Semester sind mit den kosmogonischen Grundlagen gewiss schon vertraut; ich versuche mich allgemeinverständlich auszudrücken. Denn es geht um etwas, das Sie alle angeht, nicht nur die Experten und Eingeweihten. Es geht um die Sicherheit unseres Landes, und ich danke dem versammelten Kollegium, dass sie bereits in früheren Jahren ihren Beitrag geleistet haben.

Aber was sind die Hintergründe? Der große Isobael Hevorial II. hat vor vielen hundert Jahren in seiner Nacht der Erkenntnis die Einsicht gewonnen, dass unsere Welt nicht alleine ist… nein, sie ist verflochten mit zahlreichen anderen; einige näher, andere weiter entfernt, aber keine isoliert für sich. Die arkanen Grundlagen waren damals noch nicht so ausgefeilt wie heute, und weil ihm das genaue Formelwerk fehlte, ersann er das Modell des kosmischen Uhrwerks: ein System, in dem alles zusammenarbeitet und gleichsam wie mit Zahnrädern verknüpft ist. Dieses Modell, so überholt es heute erscheinen mag, hat sich jedoch seine Anschaulichkeit bewahrt, und es zeigt deutlich, dass sich nicht alles im Kontinuum mit derselben Geschwindigkeit bewegt. Wir kennen Welten, die nahezu synchron mit unserer eigenen sind, und andere, in denen Zivilisationen entstehen und vergehen, während ich diese Rede halte.“

„Für seine langen Reden ist er zumindest bekannt“, flüsterte Valantin spöttisch in Berenikas Ohr, aber Irisa stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Es war nicht klug, während einer Ansprache des Ministers durch Narreteien aufzufallen.

„Wie es das Muster so will, ist eine der uns am nächsten stehenden Welten eine, deren zeitliche Übersetzung ungefähr bei tausend zu eins liegt. Lange Zeit war sie völlig uninteressant, aber vor rund fünfzehn Jahren begann sich eine gewisse Intelligenz zu regen, und die letzten fünf Jahre waren für unsere Forscher im Beobachtungsturm hochinteressant. Nicht nur, dass es sich um eine der wenigen Welten handelt, in der Magie nicht existiert, sie ist auch kulturell äußerst reichhaltig, obgleich leider mindestens genauso aggressiv. Schon deshalb wurde jegliche Möglichkeit einer Kontamination durch uns ausgeschlossen und verstärkt Kraft in die manifesten Axiome der Abschirmung geleitet.

Dennoch kam es zu einem Durchbruch, und zwar von unserer Seite. Das ist erst vor dreieinhalb Jahren aufgefallen. Die üblichen Untersuchungsgremien fanden zunächst nichts, vor allem keinen Hinweis auf Renegaten, welche die Hochgeschwindigkeitswelt, die vor unseren Augen zusehends alterte, beeinflussten. Man hatte diese Welt übrigens liebevoll den „Kreisel“ genannt, weil sie sich ja aus unserer Perspektive so schnell drehte. Nun, irgendwie drangen Namen, Ideen und Konzepte von uns zum Kreisel durch und wirkten dort auf die Bewohner ein, hauptsächlich in künstlerischen und religiösen Bezügen. Da natürlich unsere Grundlagen fehlten, wurden diese dort schließlich eigenständig hinzugefügt und verbunden, so dass deren Kultur immer mehr von einzelnen Fetzen der unseren beeinflusst wurde. Das ist natürlich genau das, was unter anderem von der Abschirmung verhindert werden soll.

Natürlich nahm man zunächst an, es sei das Werk der Verschmelzer, welche ja ohnehin auf eine Vereinheitlichung der Welten hinstreben und die Abschirmung zu vermindern suchen. Ich brauche Ihnen wohl über furchtbaren Folgen nichts sagen.“

Er fuhr sich unwillkürlich mit den Fingerspitzen über seine Narbe, fasste sich dann aber wieder und fuhr fort. „Nachdem der Transfer immer dramatischer wurde, hatten unsere Ermittler vor einem halben Jahr endlich Erfolg. Sie fanden heraus, dass eine Studentin aus dieser Universität, und zwar Cordelia King, zwölftes Semester Literaturgeschichte und zehntes Semester Mystik und Metawissen, dafür verantwortlich war. Nicht durch Tat oder böse Absicht, sondern aufgrund einer zerebralen Erkrankung, welche das Interluxians dauernd stimuliert. Vereinfacht gesagt, sendet sie damit seit etlichen Jahren Gedanken aus, welche in der Kreiselwelt von empfindsamen Personen rezipiert werden können. Dies geschieht unbewusst; man kann ihr also nicht den geringsten Vorwurf machen. Ich möchte damit dem Vorwurf, die Regierung hätte hier seit Jahren eine Hexenjagd gegen den Lehrkörper und die Studentenschaft betrieben, aufs Schärfste entgegentreten. Es geht ausschließlich um eine Wahrung der Abschirmung zu anderen Welten im Lichte der Unabdingbaren Folgerungen.

Aber was, werden Sie nun fragen, sind denn die konkreten Folgen von Cordelias Krankheit? Können ein paar Gedanken so verheerend sein, vor allem in einer Kultur, die nach der Skala von Scemiophris ihren Zenit bereits überschritten hat und dem Untergang geweiht ist? Das haben nicht wir zu entscheiden. Die Unabdingbaren Folgerungen legen uns eine immense Verantwortung auf. Durch uns darf kein Schaden im Uhrwerk entstehen, auch wenn er marginal erscheint und unbeabsichtigt ist. Das hat Isobael uns gelehrt.

Auf der Welt des Kreisels ist ihr Name, also der Name Cordelia, vor einem halben Jahr - in transliterierter Form natürlich, wie alles - einem der damals größten Autoren ins Ohr geflogen, und er nannte die jüngste Tochter seines „König Lear“ im gleichnamigen Stück so. Erst vor kurzem trat der Name bei einer Hauptfigur in einer Serie auf, in der es um übernatürliche Wesen und Magie geht. Wir haben im Zimmer der Studentin zahlreiche Entwürfe von Kurzgeschichten und Novellen gefunden. All diese Motive finden sich verstreut in der Literatur der ganzen Kreiselwelt wieder. Immer wieder geht es um Drachen, Vampire, Magier, Konflikte zwischen Königreichen, Eroberungen, Betrug, Verrat, Rache und Gewalt. Freilich, hier und da finden sich auch Plotlinien, in denen es auch um die Suche nach der großen Liebe, um ein harmonisches Zusammenleben, um gedeihlichen Fortschritt geht… aber das geht unter in der Menge von Konflikten und, ich wage es kaum zu sagen, von Morden.

Unsere Ärzte halten Cordelia King für eine psychisch schwer gestörte Person, deren Phantasien lediglich ungesund wären, wenn sie auf diese Welt beschränkt wären… aber sie hat in den letzten fünf Jahren insgesamt fünftausend Jahre der Kultur der Kreiselwelt mit ihrem Gedankengut verseucht. Die Leute dort sprechen von „Musen“, wenn sie entsprechende Eingebungen meinen, und letztlich gewinnen sie den Eindruck, all diese Ideen würden von ihnen selbst stammen. Und das prägt ihre Kultur. Vielleicht wird Ihnen jetzt klar, was unsere Welt jener Welt angetan hat. Cordelia hat, indem sie über unsere eigene, frühere Kultur reflektiert hat, diese überholten Motive aufgearbeitet und hinübertransportiert. Als dies endlich klar wurde, wurde sie sediert. Wir wissen aber nicht mit Sicherheit, ob diese Maßnahme ausreichend war, da ihr Gehirn den letzten Analysezaubern nach weiterhin sehr aktiv ist, und es ließ sich zumindest nachweisen, dass sie träumt. Das ist beunruhigend.

Wenn wir ihr den Interluxians entfernen, wird sie wahnsinnig und stirbt eines grausigen Todes. Das können wir also nicht tun. Die einzige Alternative ist, ihren Schlaf zu vertiefen, bis das Gehirn und damit der Interluxians die Tätigkeit einstellt. All unsere Abschirmungen vermögen keinen puren Gedanken aufzuhalten, also hat sich der Rat nach langer ethischer Diskussion und schweren Herzens dafür entschieden, ein Ende zu machen. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.“

Für einige Momente herrschte Schweigen in der Aula. Die Schwere der Erkenntnis, dass eine Bürgerin nichtsahnend für die kulturelle Vergiftung einer ahnungslosen Wirbelwelt verantwortlich war, lastete auf allen. Einige der Studentinnen hatten begonnen zu weinen. Es war so, als wenn man die Götter persönlich enttäuscht hätte.

3.

 

Berenika starrte auf den Boden. „Das hatte ich nicht geahnt.“

„Sie ist trotzdem eine Freundin – und wie er schon sagte, sie wusste nichts davon“, murrte Valantin. „Ich werde zumindest mal herausfinden, wo sie liegt.“

„Und dann?“ Irisa verschränkte die Arme. „Cordelia ist ein geladener Zauberstab, der dauernd auf diesen armen Kreisel feuert und die Leute verrückt macht. Ich habe diese Welt im Beobachterkurs letztes Jahr gesehen. Jetzt weiß ich endlich, warum sich die Mehrheit der Leute so idiotisch verhält. Der zentrale Gedanke der Literatur ist Konflikt, der zentrale Gedanke der Politik ist Macht, der zentrale Gedanke im Umgang mit anderen ist Dominanz. Auf so einer Grundlage zu leben ist schrecklich!“

„Aber das haben wir doch alles hinter uns!“ meinte Berenika und runzelte die Stirn. „Wie kann es sein, dass Cordelia gerade solche Artefakte sammelte und in sich trug?“

„Weil sie diese Zeit studiert hat“, brummte Valantin, „es würde mich nicht wundern, wenn man künftig den Geschichtsunterricht mit besonders scharfem Auge betrachtet.“

„Ich glaube eher, man wird in den Heilerhäusern mehr auf Anomalien im Interluxians achten. Damit ist mehr gewonnen“, gab Irisa zurück. Sie reichte der Studentin neben ihr ein Taschentuch.

Auf der Bühne war inzwischen Donna Adaranth, die oberste Heilerin, ans Pult getreten. „Der Dekan hat mich gebeten anzukündigen, dass ab morgen eine Routineuntersuchung auf der Krankenstation stattfinden wird. Wir beginnen mit den Bewohnern von Trakt I, nachmittags ist Trakt II und der Südflügel dran.“

„Siehst du, da beginnt es“, murmelte Valantin.

Der Dekan sprach die abschließenden Worte. „Ich danke dem Herrn Minister für die erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts. Die Beisetzung wird morgen auf dem Universitätsfriedhof stattfinden, da Cordelia keine Verwandten mehr hat. Wer seine letzten Grüße sprechen möchte, ist morgen zwischen zehn und elf Uhr vom Unterricht befreit. Das ist alles.“

Die Studenten begannen sich zu zerstreuen. Valantin erspähte auf einem der hinteren Sitze Leticia, die er aus dem Kurs für Divination flüchtig kannte. Sie kritzelte etwas auf einen Zettel.

„Einigkeit, Leticia! Was schreibst du da?“ Er trat neben sie, aber sie steckte das Papier rasch weg.

„Ach, nichts…“ murmelte sie.

Er sah sie durchdringend an. „Nichts? Nach so einer Rede?“

Leticia stand auf. „Na gut, wenn du unbedingt wissen willst… ich habe den Entwurf eines Nachrufs geschrieben. Fünfhebiger Jambus, umarmender Reim, vierzehn Zeilen pro Strophe. Klassische Form also.“

„Auch diese Form hat Cordelia übertragen, wie so vieles“, meinte Irisa, die hinzugetreten war. „Es tut mir leid, aber ich muss dem Rat zustimmen.“

Auch Berenika kam näher und wäre fast über einen Stuhl gestolpert. „Kann man denn gar nichts tun?“

Leticia, die schon auf dem Weg zum Ausgang war, hielt inne. „Du hast es doch gehört. Die Abschirmung genügt nicht. Schlaf reicht nicht. Ihr Interluxians muss auf Hochtouren laufen. Das hält niemand lange aus.“

„Sie hält es anscheinend seit mindestens fünf Jahren aus“, gab Berenika zu bedenken.

„Ohne Hirnschäden, meinte ich“, setzte Leticia grimmig hinzu. „Das könnte auch ein Grund sein, dass sie auf dieses morbide Zeug fokussiert ist.“

„Welche Optionen gäbe es denn?“ fragte Valantin.

„Man bräuchte eine völlig neue arkane Technologie“, gab Irisa zurück. „Etwa einen physischen Transfer in eine der Anderwelten. Wenn sie zum Beispiel in der Kreiselwelt wäre, dann wäre ihr Einfluss in… gut zwei Wochen dahin, und sie könnte ein erfülltes Leben führen.“

„Ah, du meinst, weil sie dort alt werden kann und hier nur einige Tage vergingen?“ hakte Berenika nach.

„Ja. Aber sowas konstruiert man nicht mal über Nacht…“

„Und außerdem wäre es ein schwerer Bruch der Abschirmung und würde uns zu den übelsten Verschmelzern machen, die der Kosmos je gesehen hat“, unterbrach Valantin. „Ich bin ja offen für Auswege, aber nicht für einen Irrsinn wie die Beschädigung der Grenze.“

Die vier erinnerten sich an die Bilder im Einführungskurs, mit denen die große Kristallkugel die ersten Grenzüberschreitungen in der Epoche der Dämonen illustriert hatte. Etwas Schrecklicheres hatten sie alle noch nie gesehen.

„Es war ja nur ein Beispiel“, meinte Irisa, „ich hätte auch die Entwicklung einer Psychologie erwähnen können, welche den gedanklichen Fokus lenkbar macht, oder eine neuartige Abschirmtechnik.“

„Was alles Stoff für die zwölften Semester und darüber ist!“ Berenika lachte bitter auf.

Leticia hingegen sah in die Runde. „Wollt ihr Cordelia wirklich helfen?“

„Klar“, gab Valantin zurück. „Ich denke, das hat sich nicht geändert. Nur nicht um jeden Preis.“

„Gut, gut…“ Leticia nickte nachdenklich. „Zumindest wissen wir, wo sie ist.“

„Wirklich?“ fragte Berenika überrascht.

Die Lyrikerin lächelte. „Wo ist hier die beste Neurochirurgie? In der Uniklinik. Man wird sie gewiss nicht weit weggebracht haben, als man sie gefunden hatte, sondern wollte eine schnelle und gründliche Untersuchung. Wahrscheinlich auch unter großer Geheimhaltung. Und da gibt es gleich das Gebäude 14…“

„Stimmt“, setzte Irisa hinzu, „außerdem soll sie ja nicht weit von hier beigesetzt werden. Das passt.“

„Man könnte in diesem Moment schon dabei sein, ihr eine tödliche Dosis zu geben“, warf Berenika ein. „wir sollten uns beeilen.“

„Ja, nur womit, du Schlaukopf!“ zischte Valantin. Es war frustrierend, aber als Zweitsemester fiel einem einfach nicht viel ein. Vor allem nicht viel, das die Meister zuvor nicht auch schon bedacht hatten.

„Also haben wir irgendeine Formel, einen Ansatz, der ihr helfen könnte?“ fragte Leticia.

„Nein, aber wer könnte so etwas haben?“ gab Irisa zurück. „Wir können nicht noch mehr Leute hineinziehen, das alles grenzt gefährlich an Verschmelzertum.“

„Wirklich?“ fragte Berenika wieder.

„Ja, wirklich“, erwiderte Leticia grob, „schon, weil der Rat einen klaren Beschluss gefasst hat und ich ihn gut nachvollziehen kann. Aber Cordelia war auch meine Freundin, wenn sie auch etwas seltsam war. Allein ihre vielen Bücher…“

„Das ist es!“ rief Irisa. „Wir gehen nur vom heutigen Stand der Magie aus. Cordelia hat Literaturgeschichte studiert, dazu gehört auch arkane Geschichte. Vielleicht finden wir in ihren Büchern Hinweise auf eine Lösung.“

„Oder enden so wie sie…“ murmelte Valantin düster.

„Kannst ja vorher deinen Kopf untersuchen lassen“, meinte Irisa schnippisch.

Damit verließen sie die Aula und machten sich auf in den vierten Stock des Nordflügels, wo die höheren Semester lebten. Auf dem Weg gab es die üblichen Fallen, falschen Erker und Illusionstüren zu überwinden, aber dank der seherischen Fähigkeiten von Leticia kamen sie ganz gut durch. Valantin machte in seiner angesengten Robe den mitgenommensten Eindruck und wünschte sich, sie wäre vorhin im Keller nasser geworden, um besser gegen die Flammen bestehen zu können.

Aber dann standen sie endlich vor Cordelias Zimmer. Es war natürlich versiegelt.

4.

 

„Hat jemand einen Öffnungszauber?“ fragte Leticia in die Runde. Sie war im vierten Semester, aber solch heikle Dinge waren den Experten vorbehalten.

„Natürlich nicht“, antwortete Berenika empört.

„Das war’s dann wohl“, murrte Valantin.

Irisa schüttelte den Kopf. „Nein, und mit Gewalt lässt sich ein Siegel natürlich auch nicht öffnen. Aber wartet mal…“

Sie ging zum Nebenzimmer und klopfte an. Eine Magierin Ende zwanzig öffnete die Tür, ein Stofftier im Arm und an einer Karotte kauend. „Einigkeit. Was gibt’s?“

„Wir sind von der Abteilung für präventive Hausbesuche“, sagte Irisa in geschäftsmäßigem Tonfall, ohne eine Miene zu verziehen, „und wir haben ermittelt, dass hier bald Karotten und Stofftiere knapp werden. Daher gibt es jetzt welche gratis im Erdgeschoß, solange der Vorrat reicht. Noch ist was da…“

„Das ist ja toll!“ rief die Studentin aus. „Kann ich…?“

„Nur zu. Wir halten die Stellung“, gab Irisa zurück. Die Bewohnerin des Zimmers schlüpfte in ihre Stiefel, lief den Gang entlang und verschwand an der Treppenbiegung.

„Das war der dämlichste Trick, den ich je erlebt habe“, meinte Valantin, „ich hätte nicht gedacht, dass ein höheres Semester darauf hereinfällt.“

Irisa grinste. „Genau deswegen fallen sie darauf herein. Jetzt aber schnell. Kommt rein – Berenika, mach bitte die Tür zu.“

„Und jetzt?“ fragte Leticia.

„Jetzt gehen wir nach nebenan“, gab Irisa zurück. Sie konzentrierte sich und entfesselte einen magischen Wuchtschlag gegen die Seitenwand. Diese barst mit einem lauten Poltern auf. Einige Steine, gefolgt von großen Staubflocken, fielen hinab. Aber das Loch war groß genug, dass man sich hindurchquetschen konnte.

„Naja, so kann man ein Siegel auch umgehen“, räumte Valantin ein, „wusste gar nicht, dass du Schlachtfeldmagierin bist.“

„Manches behält man besser für sich“,“ erwiderte Irisa, während sie hindurchstieg. „Los, kommt, wir werden bald Besuch erhalten. Die Aufsicht mag es gar nicht, wenn man Wände einreißt.“

Schließlich standen alle in Cordelias Zimmer. Ein großes Bücherregal nahm die gesamte linke Wand ein, an der rechten Wand standen der Kleiderschrank und das Bett, auf dem nun die Bruchstücke der Wand lagen. Die hintere Wand war von der versiegelten Tür belegt, und an der Kopfseite befand sich das Fenster sowie eine Truhe.

Die vier durchsuchten das Bücherregal gründlich. Zahlreiche magische Werke waren dort, darunter Ilvidurs „Handbuch der Projektionen“ aus dem neunten Jahrhundert und „Dynamische Transfigurationen“ aus dem zehnten. Es gab die „Details der entfernten Phänomene“ genau wie die klassischen „Gefahren der Magischen Zeremonien“ und, zwischen zwei Bänden über Heilmagie, die Liste gefährlicher Naturgeister. Sogar das umstrittene „Handbuch zur Zauberei ohne Zauberstab“ war dabei. Aber nichts war selten genug, um einen Hinweis auf die benötigte Thematik zu geben.

Berenika durchwühlte die Truhe, aber es waren nur Stiefel darin, die mit alten Ausgaben der Universitätspostille ausgestopft waren.

„Nichts!“ fasste Leticia zusammen.

„Und dafür haben wir uns Siegelbruch, Hausfriedensbruch, Ausübung unnötiger Magie und Sachbeschädigung eingehandelt“ gab Valantin missmutig bekannt.

„Ich wusste gar nicht, dass du Jurist bist“ äffte Irisa ihn nach. Er schwieg einfach in dem Wissen, dass alles, was er jetzt geantwortet hätte, gegen ihn verwendet worden wäre.

Berenika konnte es aber nicht lassen. „Wieso Siegelbruch?“

„Weil Siegelumgehung dem Siegelbruch gleichgestellt ist. Ergibt ja sonst keinen Sinn“, erklärte Leticia abwesend. Sie musterte die Einrichtung in der Hoffnung, noch irgendetwas zu entdecken. „Habt ihr schon mal unter dem Bett nachgeschaut?“

„Nachdem die halbe Wand daraufgefallen ist? Nein“, erwiderte Berenika.

„Letzter Versuch“, meinte Irisa und räumte einige Trümmer weg, bevor sie die Matratze anhob. Darunter lagen tatsächlich drei Bücher.

„Aha!“ rief Valantin aus und griff danach. „Was haben wir da? Die „Mysterien der Kristallomantie“ von Lorrdash, fünftes Jahrhundert, Izulis „Abstieg in Finstere Ruinen“, achtes Jahrhundert, und Abramals „Essentieller Führer zu Gefährlichen Permutationen“, elftes Jahrhundert. Hm…“

„Kommt mir alles nicht sonderlich hilfreich vor. Und der Abramal steht auf dem Index. Den werde ich nicht mal aufschlagen, Leute“, meinte Leticia.

„Was ist mit den Ruinen? Könnte es da Erkenntnisse geben?“ erkundigte sich Berenika zaghaft.

Valantin klappte das Buch auf und überflog einige Seiten. „Ist irgendwie unheimlich, aber sieht mir nicht nach brauchbaren Formeln aus.“

„Die Kristallomantie sagt mir was, aber ich komme nicht drauf“, überlegte Irisa.

„Es handelt sich um Magie mittels der Bündelung von Kräften in und durch Kristalle“, erklärte Leticia.

„Danke, das wusste ich auch…. Nein, die Anwendung…“ Irisa streckte die Hand aus, und Valantin reichte ihr das alte Werk.

„Benutzt das überhaupt noch jemand?“ fragte Berenika, „es hieß doch schon in der Einführung, daß Kristalle wegen der Eigenschwingung und Resonanzen zu fragil sind, um Zauber längere Zeit zu tragen. Was früher mal eine große Sache, bis man stabilere Träger gefunden hat.“

„Ja, stabilere… aber keine stärkeren“, sinnierte Irisa, während sie blätterte.

Leticias blinzelte ein paarmal. „So, wir sollten gehen. Gleich wird die Aufsicht hier sein.“ Sie stieg durch den Riss zurück in den Nebenraum.

„Gut, wenn man eine Seherin dabei hat“, grinste Valantin.

„Es klappt nicht immer, das weißt du?“ fragte die Seherin. Der Rest quetschte sich ebenfalls hindurch, und zügig verließen sie das Zimmer.

„Da rein!“ zischte Leticia und riss die Tür der Besenkammer auf dem Gang auf. Kaum hatten sie sich hineingedrängt und die Tür wieder geschlossen, schoss draußen eine aufgebrachte Magierin vorbei. „Von wegen Karotten! Unverschämtheit! Das werden sie mir büßen…“ Eine Tür knarrte. „Und was ist denn mit der Wand los?!“

So leise wie möglich verließen sie die Besenkammer und stahlen sich in den Quergang, als auch schon die Aufsicht - zwei Seniorstudenten aus dem achtzehnten Semester - die Treppe heraufkam. Irisa spähte um die Ecke. Die beiden höheren Studenten waren an den Runen erkennbar, die den Ärmelansatz zierten: ein Divinator und ein Schlachtfeldmagier. Das war eine effektive Kombination. Erfahrene Schlachtfeldmagier standen in dem Ruf, selbst gegen Monster bestehen zu können. Und der Divinator würde sicher rasch herausfinden, was hier genau vorgefallen war.

Sie winkte die Gruppe zur Treppe, kaum dass die Aufsicht im Zimmer der Magierin verschwunden war. Dann ging es abwärts bis zu ihrem geheimen Treffpunkt im Keller.

5.

 

„Das war ja ganz schön knapp“, sagte Valantin, aber er wirkte erleichtert.

Berenika sah sich unbehaglich um. „Meint ihr, sie haben uns entdeckt?“

„Das glaube ich nicht“, antwortete Leticia, „aber es wird sicher nicht lange dauern.“

Berenika sah sie entsetzt an.

„Sie haben einen Divinator,“ erklärte Irisa.

„Ein verdammter Seher ist jetzt das letzte, was wir brauchen“, knurrte Valantin, „kann nicht eine von euch irgendwas dagegen tun?“

„Wir haben schon genug ausgefressen“, wandte Irisa ein.

Valantin machte eine ungeduldige Geste. „“Ich weiß, Täuschungszauber sind ein weiteres Vergehen, aber das hier ist nur die Universitätsaufsicht, kein Gesandter des Ministeriums! Wenn wir jetzt schon geschnappt werden, war alles umsonst.“

„Wir reiten uns immer tiefer rein“, jammerte Berenika.

„Ich mache es“, sagte Leticia einfach. Sie breitete die Hände aus und schrieb einige Runen in die Luft. Dann aktivierte sie den Zauber mit einer unterstreichenden Geste.

„Was war das jetzt?“, erkundigte sich Irisa.

„Die Kleine Vernebelung. Hält nicht lange, gibt uns aber etwas Zeit.“

Valantin nickte anerkennend. „Dann halten wir uns ran. Kann ich nochmal die Permutationen sehen?“

Irisa reichte ihm das Buch zögernd. „Sei bloß vorsichtig damit.“

„Und ich schaue noch mal in die Ruinen“, schlug Leticia vor, „vielleicht haben wir etwas übersehen.“

„Wahrscheinlich sind das bloß drei alte Bücher, die Cordelia aus gutem Grund versteckt hat und die uns jetzt in noch mehr Schwierigkeiten bringen“, murmelte Berenika. Sie begann, auf und ab zu gehen.

Leticia hielt sie am Ärmel der Robe fest. „Bleib nah bei uns, die Vernebelung hat keine große Reichweite. Oder willst du als einzige geortet werden?“

Das wirkte. Die junge Studentin blieb sofort stehen und lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Säule. Irisa hatte derweil die Kristallomantie durchgesehen. Die beschriebenen Zauber muteten umständlich und altmodisch an, außerdem behandelten sie überwiegend die Konservierung und Rückgabe magischer Krafteinheiten – eine Verfahrensweise, die sich letztlich nicht bewährt hatte, weil es den Magiern insgesamt mehr geschadet als genutzt hatte, ihre Kräfte teilweise in Kristalle zu bannen. Erst auf den letzten Seiten wurde es noch einmal interessant. Eine Idee nahm in Irisa Form an.

„Cordelia hatte doch auch das Buch Dynamische Transfigurationen im Schrank, nicht wahr?“

„Ja, und?“ gab Leticia zurück. „Das ist ein verbreitetes Werk. Sogar ich habe eine Ausgabe davon.“

„Sehr gut. Dann hole sie bitte und wir treffen uns bei Gebäude 14. Ich erkläre alles, wenn wir da sind.“

Valentin blickte von einer zur anderen. „Das heißt, du hast was?“

„Ja, und jetzt los“, antwortete Irisa knapp. Es konnte gut sein, dass man Cordelia bereits eingeschläfert hatte, aber sie wollte nichts unversucht lassen.

Die vier liefen los. Leticia kam mit ein wenig Verspätung an, aber sie hatte das Buch dabei.

„Die Neurologie hat schon geschlossen“, sagte der wachhabende Magier am Tor.

Irisa trat einen Schritt vor. „Es ist dringend – es geht um Leben und Tod!“

„Keiner von Ihnen sieht krank aus“, stellte die Wache trocken fest.

„Es liegen neue Erkenntnisse über Cordelia King vor. Wir wollen einen Justizirrtum verhindern“, warf Valantin ein. Der Magier am Tor musterte ihn argwöhnisch, strich dann aber über sein metallenes Stirnband.

„Ich brauche eine Begleitung für vier Studenten. Es eilt“, flüsterte er. Valantin war beeindruckt. Rufbänder waren teuer und kompliziert einzustimmen. Kurz darauf erschien ein kräftiger Schlachtfeldheiler in der Tür.

„Einigkeit!“ grüßte er. „Mein Name ist Pahadron. Wohin wollt ihr?“

„Zu Cordelia King“, sagte Irisa schnell. Irgendwelche Tricks wollte sie jetzt nicht riskieren.

„Das ist keine öffentliche Zeremonie. Und die Demonstranten sind schon vor einer halben Stunde abgezogen“, gab Pahadron zurück. „Ich bedaure.“

„Wir können sie retten“, warf Leticia ein, „und diese Studentin weiß, wie.“ Sie deutete auf Irisa.

Der Heiler sah sie durchdringend an und musterte auch ihre Ärmelrunen. „Eine Studentin im dritten Semester hat einen besseren Plan als der Rat?“

Irisa hielt seinem Blick stand. „Möglich. Einen Versuch ist es wert.“

Auf Pahadrons Lippen stahl sich ein Lächeln. „Das will ich sehen. Kommt mit. Aber wenn ihr das nur macht, um sie nachher mit Gewalt herauszuholen, dann lasst euch gesagt sein, dass ich mit euch fertigwerde. Verstehen wir uns?“

Alle nickten, selbst Valantin stimmte verdrießlich zu. Der Heiler führte sie zwei Stockwerke nach oben, dann durch mehrere Türen bis zur Intensivstation. Zwei offizielle Gesandte des Rates standen bereits dort und unterhielten sich leise mit Professorin Ephemera, der Spezialistin für Mentalmagie. Die drei drehten sich unwillig zu den Neuankömmlingen um.

„Wir haben vielleicht einen Weg gefunden, wie man Cordelia retten kann“, platzte Irisa heraus. Der Gesandte Corentyn hob eine Augenbraue. „Wirklich?“

Die Studentin schlug die Mysterien der Kristallomantie auf. „Wenn ich erklären darf, Gesandter… Cordelia muss in einen Zustand überführt werden, in dem ihre Lebensfunktionen und damit auch das Denken… oder Träumen… nicht stattfinden können. Das verstehe ich. Daher wäre eine klassische Versteinerung der naheliegende Ansatz.“

„Selbst du musst wissen, dass eine Versteinerung nicht voll reversibel ist“, wandte Ephemera ein, „die Umkehr führt stets zu schweren Gewebeschäden, vor allem im Gehirn. Außerdem wurde dies als einer der ersten Ansätze erwogen und verworfen.“

„Und deswegen…“ führte Irisa aus, brauchen wir eine Erweiterung der dynamischen Transfiguration, nämlich eine statische Transfiguration… in der Form einer Kristallisierung.“

Sie hielt der Professorin beide Bücher hin, welche sie geschockt entgegennahm. „Wir sollen sie in einen menschengroßen Kristall verwandeln? Unmöglich!“

„So ein Kristall würde bald zerbrechen“, meinte Corentyn bedauernd, „gerade bei dieser Größe. Die arkanen Kräfte der Welt interagieren dauernd mit Kristallen und versetzen sie in Schwingungen, die zu einer Resonanzkatastrophe führen - Mikrosplitterungen.“

„Aber nicht in einem magiefreien Feld!“ rief Irisa verzweifelt, „Und sowas haben wir doch in der Universität, im Sicherheitstrakt!“

Für einen Moment war Stille.

„Das Mädchen hat recht“, sagte der andere Gesandte dann.

Ephemera nickte langsam. „Wahrhaftig, der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Kristallisationen sind reversibel, solange der Kristall intakt ist.“

„Und wir brauchen sie nur ein paar Jahre so aufbewahren…“ fügte Corentyn hinzu, „wenn die Kreiselwelt kein intelligentes Leben mehr hat, dann holen wir sie zurück. Du hast das großartig gemacht.“

So kam es, dass diese Nacht in die Geschichte einging, wie es der Minister vorhergesagt hatte, aber nicht durch den Tod von Cordelia King, sondern durch ihre Rettung.

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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2021

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Widmung:
Ein Beitrag zum anonymen Wettbewerb in der Anthologie-Gruppe im August 2021 (Platz 1). Thema: „Wähle in einem beliebigen Buch einen für dich besonderen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“ Der hier gewählte Satz „Wahrhaftig, der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen.“ stammt aus dem Buch „Der Besuch von Drüben" von Algernon Blackwood.

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