Blickt man aus der Gegenwart auf den schicksalhaften Tag zurück, so finden sich nur mit Mühe verbliebene Spuren der Ereignisse. Einige wenige Quellen sind erhalten geblieben, doch auch sie scheinen sich allmählich, wie es Alphonse Ruel in „Die Auflösung eines Schocks: die Zerstreuung des Postfaktischen“ beschrieb. Und von offizieller Seite heißt es überwiegend: „Wir können den Vorfall weder dementieren noch bestätigen“. Linda Martens – ausgerechnet die Redakteurin eines Musikmagazins – notierte dazu: „Wie Wellen am Ufer mit der Zeit zu bloßer Gischt zerfließen, so zerfiel auch die kollektive Erinnerung an einen der denkwürdigsten Tage der Geschichte des Raumklangs.“
Das klingt unnötig mystisch und ist es vermutlich auch. Daher soll hier noch einmal in aller Kürze aufgerollt werden, was wirklich am Tag des unbekannten Signals, am 11. August 2016, geschah. Es dürfte einleuchten, dass der vorläufige Bericht des Ministeriums über jene Geschehnisse nahezu nichts aussagt; im Übrigen wurde er inzwischen zurückgezogen und ist somit nicht mehr verfügbar. Die Aufzeichnungen, die im Wesentlichen aus Papierkörben, wiederhergestellten Datenträgern bis hin zu Disketten und halb verbrannten Zetteln gerettet werden konnten, zeichnen ein eigentümliches Bild.
Der merkwürdige Einfluss begann offenbar um 6:18 Uhr CET, als angeblich sämtliche Geräte mit Lautsprechern – Radios, Fernseher, Telefone aller Art, Computer, Hörgeräte, später auch Verstärker, Gegenstände mit dünnen Metallwänden, plombierte Zähne, Lampen und nahezu alle mit Strom betriebenen Dinge – begannen, dasselbe Geräusch von sich zu geben. Erst war es nur ein tiefes Brummen, das dann aber anwuchs und einen treibenden Rhythmus annahm. Rhett Dorvich von der Heavy-Metal-Band Murdered Maiden bezeichnete es später als „die Kreuzung zwischen den Trompeten von Jericho und Hells Bells von AC/DC“. Pastor Gustave Floverte aus Buenos Aires beschrieb seinen Eindruck folgendermaßen: „Ich dachte mir damals, wenn das Jüngste Gericht einträte, dann würde es sich so anhören… der Klang war überall, um uns herum, und in ihm wisperten zahllose Stimmen, unverständlich, ununterscheidbar, unermüdlich.“ Manche wollten in den Obertönen eine einzelne sirenenartige Stimme ausgemacht haben, andere beschrieben es eher als den hohen Ton einer Geige oder das Feedback einer scheinbar gigantischen E-Gitarre. Die Schilderungen stimmten im Wesentlichen überein, dass „der Sound“ eine unverkennbar anziehende, unabweisbare Wirkung hatte, die das verstandesmäßige Handeln weitgehend lähmte und die Bahn für anderweitige, maßgeblich unterbewusste Aktionen frei machte, wie ein hämmernder, pulsierender, harmonischer Mahlstrom.
Das Dröhnen war nicht so laut, dass es ohrenbetäubend gewesen wäre. Dies konnte nachträglich aus den Messkurven der Signalprozessoren von Hörgeräten, die betroffen gewesen waren, ausgewertet werden. Größere Geräte, insbesondere akustische Verstärkeranlagen, Sirenen und Lautsprechersysteme, die für Großveranstaltungen gedacht waren, erzeugten jedoch eine weitreichende Wiedergabe der Töne, die auch weit außerhalb der Städte noch zu hören waren. Und das Phänomen war nicht nur auf ein Land beschränkt, sondern ungefähr auf die Hälfte des Erdballs. Die andere Hälfte bekam davon zunächst nichts mit, bis das mysteriöse Signal offenbar durch Fernmeldeleitungen und Computernetze auch auf den Rest des Globus übergriff.
Die Wirkung jedoch war umso bemerkenswerter.
Richard O‘Malley aus Cork spannte ein Seil zwischen zwei Häusern und versuchte darüberzulaufen, fiel aber herunter und stürzte auf einen geparkten Lastwagen, wobei er sich ein Bein brach.
Julia Witcomb aus New York ergriff den Wachsmalkasten ihres Sohnes, rannte über die Straße und malte merkwürdige Muster auf den Zaun ihrer Nachbarn.
Phil Sedgemore aus Tucson (Arizona) hielt seinen Wagen mitten im fließenden Verkehr an, stieg aus, holte eine Werkzeugbox aus dem Kofferraum, stellte sich darauf und begann zu predigen.
José Ferdiga beschaffte sich 200 kg Ton und begann, vor der Basilica de Estrela in Lissabon einen Turm daraus zu errichten.
Yves Gaude stahl einen Feuerwehrwagen und fuhr damit ziellos durch Avignon.
Jerome di Santi stürmte die Redaktion der Corriere della Sera und verlangte den sofortigen Abdruck eines Artikels, der nur aus Konsonanten bestand.
Daniela Havermann aus Lübeck stellte sich mit ihrer E-Gitarre auf den Holstentorplatz und versuchte ein Konzert zu geben, allerdings kam aus ihrem Verstärker bereits der erwähnte Klang.
Auf der Insel Madeira bemalten Fred Lykke, Sinala Unström und Jakub Stelm die Seitenwände von Strandhotels mit verwirrenden Mustern, bis ihnen die Farbe ausging.
Diese ausgewählten Beispiele mögen bizarr und harmlos klingen, aber neben diesen konkreten Taten gab es unzählige Personen, die wild umherliefen, einige singend, andere schreiend, manche tanzend, während die gesamte Kommunikation natürlich zusammengebrochen war und sich quasi niemand mehr vernünftig verhielt. In den Straßen waren Kleindiebstähle und Raufereien die Norm. Dennoch blieben nur wenige zuhause, sondern fühlten sich, wie von einem merkwürdigen Impuls erfüllt, dazu berufen, draußen herumzulaufen. Manche suchten nach Personen, die tatsächlich in ganz anderen Städten, ja bisweilen auch fernen Ländern lebten oder sogar längst verstorben waren. Andere irrten durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin.
Manche fand man erst Tage später wieder auf, ohne dass sie gewusst hätten, wie sie die Strecken zurückgelegt hatten oder wo sie eigentlich waren.
Der ganze Vorfall dauerte insgesamt zum Glück nur einen Tag. So wie das Signal aus dem Nichts gekommen war, so verschwand es auch wieder und ließ tausende verwirrt zurück. Manche hatte es mehr als andere erwischt, und doch begann bei allen sofort eine gewisse Verdrängung einzusetzen. An diesem Punkt wird die Geschichte verwickelter und tiefgründiger. Anstelle einer gründlichen Aufarbeitung, die man in vielen anderen – und weniger drastischen – Fällen erwartet hätte, wurde hier nur aufgeräumt und dann zur Tagesordnung übergegangen. Das Interesse an einer Aufklärung des Vorfalls erschien verblüffend gering. Es war erstaunlich genug, dass es keine Toten dabei gegeben hatte, obwohl durchaus einige Verletzte zu beklagen waren.
Eine landesübergreifende Untersuchungskommission wurde zwar eingerichtet, aber schon relativ schnell mangels sicherer Quellen und handfester Ergebnisse wieder aufgelöst. Theorien, dass es sich um ein Alien-Signal gehandelt haben könnte, wurden direkt ins Reich des Phantastischen verwiesen. Das Griffith-Observatorium in Kalifornien gab die Meldung heraus, dass eine ungewöhnliche Aktivität von Sonnenflecken möglicherweise einen Resonanzeffekt in elektrischen Anlagen ausgelöst haben könnte. Wissenschaftler aus Peru bestritten dies und wollten es mit einem Gutachten belegen, es erschien aber nie. Martin Gaminette von der ESA vertrat hingegen die These, ein schmalgebündelter Strahl eines rotierenden Zwergsterns oder ein Quasar hätten sehr große Energiemengen in bestimmten Wellenlängenbereichen ausgestrahlt, und die Erde sei vorübergehend von diesem Strahl überstrichen worden.
Dies ist bisher die plausibelste Theorie, will man den eher esoterischen Ansätzen keinen Glauben schenken. Mit Sicherheit wurde in der Folge von Engeln, Zungen, Dämonen, Echsenmenschen und dem unmittelbaren Einfluss Gottes im Rahmen des Jüngsten Tages gesprochen, doch wie so oft gaben hier die etablierten wie die fragwürdigen Religionen keine klare Antwort. Im Gegenteil, durch die Widersprüchlichkeit der Aussagen verfiel deren Glaubwürdigkeit als zentrale Hüter der letzten Antworten zusehends, so dass sich die Menge, die anfangs noch vage auf Erleuchtung gehofft hatte, immer mehr zerstreute. Diese Art von Zerstreuung war es, die Alphonse Ruel in seinem vergriffenen Buch meinte, und andere Publikationen, vor allem in Blogs, kritisierten nicht nur halbherzig den Mangel an Aufklärung, sondern verschwanden mit der Zeit immer weiter, bis einige Monate nach dem Ereignis das kollektive Gedächtnis davon nahezu befreit war.
Man mag vielleicht noch verstehen, dass das Chaos während des Ereignisses selbst dazu geführt hatte, dass letztlich keine direkten Aufzeichnungen erstellt wurden. Die Leute hatten einfach anderes im Sinn. Doch frappierenderweise sind zahlreiche Belege offenbar nachträglich getilgt wurden, so, als sei den Betroffenen die ganze Angelegenheit irgendwie peinlich gewesen oder man hätte sich stillschweigend darauf geeinigt, alles einfach ruhen zu lassen. Diese Nachwirkung ging mit dem Abklingen des Einflusses einher. Studien dazu sind allerdings nicht bekannt.
Es mutet seltsam an, aber wenn man heute jemanden nach den Ereignissen des am 11. August 2016 fragt, weiß kaum einer etwas darüber zu berichten – so, als sei es einfach ein normaler Tag gewesen, den man nicht im Gedächtnis behalten muss, weil er kaum unterscheidbar von den anderen Tagen derselben Woche oder gar desselben Monats war.
Da wie gesagt auch die Quellen rar werden, weil immer mehr mögliche Zeitzeugen ihre Aufzeichnungen gedankenlos zerstören und selbst ihre Berichte wieder entfernen, kann man schon jetzt kaum noch etwas dazu finden. Aus den Indizes der großen Suchmaschinen scheinen die Vorfälle bereits vor einiger Zeit mir großer Akribie entfernt worden zu sein; hier sind ja nur einige wenige Experten an der richtigen Stelle nötig, um dies zu bewerkstelligen. Ein übernatürlicher Einfluss ist dabei gar nicht als Erklärung erforderlich.
Und Ruth Johnson, die anfangs auf eine angeblich markante Beobachtung aufmerksam gemacht hat – nämlich, dass die Menschen scheinbar an diesem Tag den Impuls hatten, das zu tun, was sie schon immer tun wollten: malen, Musiker, Artist oder Feuerwehrmann sein, etwas bauen, veröffentlichen oder einfach etwas bewegen, verändern, während die Personen ohne Ziel im Leben zu herumirrenden Gestalten wurden – ist wieder im selben Pflegeheim, aus dem sie weggelaufen war. Ihre Diagnose ist bekannt, so bedauerlich das auch ist. Über die unheimliche, schier hypnotische Wirkung der Eingebung, welche die Menschen gewissermaßen aus ihren normalen Leben treten ließ, wird ebenfalls nicht mehr gesprochen. Daher gibt es kaum einen Anlass, diesen Blickwinkel noch einmal aufzugreifen.
Auch die Politik hat sich längst neuen Themen zugewandt, und von anderen staatlichen Stellen gab es keine nennenswerten Äußerungen außer einem Verweis auf die Gefahren einer Massenhysterie.
Kann man heutzutage mit Sicherheit sagen, dass man nicht gar einem Internet-Hype aufgesessen ist, einem Meme etwa, das vergeblich versucht hat, Einfluss zu nehmen? Die Psychologie muss immer wieder einräumen, dass nicht alles bekannt ist, was im Inneren des Menschen vorgeht, und dass unterbewusste Kräfte zu wirken vermögen, wo man es nicht vermutet. Jährlich wird die ICD-10 umfangreicher, doch gleichsam treten merkwürdige Effekte und Differenzierungen auf, die man einst nicht einmal ahnte.
Uns bleibt nur übrig, uns an die Tatsachen zu halten, an die belegbaren Fakten, und nimmt man alles zusammen, so lässt sich nur feststellen, dass am 11. August 2016 nichts Besonderes passiert ist.
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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2021
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Widmung:
2. Beitrag zum anonymen Wettbewerb in der Anthologie-Gruppe im August 2021 (Platz 5).
Thema: „Wähle in einem beliebigen Buch einen für dich besonderen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
Der hier gewählte Satz „An diesem Punkt wird die Geschichte verwickelter und tiefgründiger.“ stammt aus dem Buch „Das Aleph" von Jorge Luis Borges.