VII
Es war keine übermäßig prachtvolle Zeremonie. Liç sah Finas Schwester in der Kapelle sitzen und ihren Neid herunterschlucken. Zum ersten Mal begriff Liç, was unter dem von Firusz und Qarl benutzten Begriff ‚Stutenbissigkeit’ zu verstehen war. Alle Hausangestellten mit Ausnahme des Küchenpersonals waren anwesend, alle frisch gewaschen und in ihrer besten Kleidung. Auch Orelie und Yanus trugen das Kostbarste, das ihre Kleidertruhen hergaben und Qarl hatte sich zur Feier des Tages in eine bodenlange blutrote Tunika geworfen, die mit so vielen Seidenborten benäht war, dass sie keine Falten mehr warf. Sommerblumen schmückten die kleine Kapelle des Anwesens, Musikanten begleiteten die Zeremonie auf Saiteninstrumenten. Firusz schlief insgesamt nur zwei Mal ein, was er für seine persönliche Bestleistung hielt. Evold führte seine Frau nach Beendigung der Schwüre ins Freie, die Sonne schien, die Angestellten verneigten sich, dann warfen die Stallburschen ihre Mützen in die Höhe. Firusz sah Pers rotes Haar in der Sonne leuchten und dachte an den Jungen, der jetzt nicht hier stand und nicht seinem Ziehbruder zujubeln durfte. Aber er war in der Lage, das Lächeln beizubehalten. Er folgte der Festgesellschaft in den Garten, in dem die Tafel vorbereitet worden war. Er bemerkte, dass Fina ihren Mann die ganze Zeit von der Seite ansah, dass ihre Wangen glühten. Auch Liç fiel auf, dass Fina plötzlich zufrieden und aufgeregt aussah und sie war neidisch, entsetzlich neidisch in diesem Augenblick. Sie drehte sich zu Qarl um, der bereits damit beschäftigt war, Kräuterbutter auf Brot zu verteilen und es in kleinen Brocken in den Mund zu stopfen. Wie hätte es sich angefühlt, neben ihm in der Kapelle zu stehen? Qarl kratzte an einem Butterfleck auf seinem teuren Gewand herum, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Liç selbst verspürte keinen großen Hunger, aber sie nutzte das Essen, um Qarl und ihren Vater zu beobachten, die Yanus in weiser Voraussicht nebeneinander gesetzt hatte. Mit zunehmendem Alkoholgenuss begannen die beiden immer näher zusammenzurücken und immer schriller zu kichern. Orelie warf ihnen hin und wieder irritierte Blicke zu und als die Nachspeise schließlich auf dem Tisch stand, atmeten alle erleichtert auf.
Nach dem Essen winkte Orelie Liç an sich heran. „Ich hoffe, Qarl und dein Vater benehmen sich nicht immer so.“
„Nur, wenn der Wein umsonst ist“, entgegnete Liç trocken.
Orelie nahm sie am Ellenbogen und führte sie in ihre Gemächer. „Hier ist es endlich ruhig“, seufzte sie.
„Ich glaube nicht, dass es klug ist, Euren Mann mit Qarl und meinem Vater allein zu lassen – er wird heute Nacht arg schnarchen, fürchte ich.“
Orelie lachte. „Yanus wird in seinem eigenen Bett nächtigen. Du glaubst doch nicht etwa, ich lasse mir so etwas bieten? Hör mir zu, Liç: Solltest du eines Tages in die Verlegenheit kommen, heiraten zu müssen – lege vorher ein paar Regeln fest. Ich habe Yanus nur unter bestimmten Bedingungen zum Mann genommen und halte diese Ehe für sehr geglückt.“
Liç nahm die Teetasse hingegen. Orelie fiel auf, dass ihr Gast müde aussah. Liç hatte für den heutigen Tag ein grünes Kleid gewählt, das mit cremefarbener Spitze benäht war und sie aussehen ließ wie einen Stallburschen in einer Schürze. Orelie beugte sich zu ihr hinüber. „Ich habe meine Schneider angewiesen, mehrere traditionelle Kleider für dich anzufertigen – es ist eine Mode, die sowohl von Männern als auch von Frauen getragen werden kann. Du bist sehr groß, Liç – und du solltest trotzdem deinen Stil finden.“
Liç sah sie unglücklich an. Orelie lächelte. „Ich hoffe, dir macht es nichts aus, wenn ich ehrlich zu dir bin. Du kannst bei Hofe großes Aufsehen erregen, aber dafür musst du ein paar Angewohnheiten aus der Stadt ablegen, auch wenn deine Mutter nicht sehr glücklich darüber sein dürfte.“
„Meine Mutter ist schon lange nicht mehr glücklich mit mir.“
Orelie neigte den Kopf. „Ich habe mich immer darüber gewundert, dass sie alles, was sie jemals mit der Steppe verbunden hat, so vollkommen hinter sich lassen konnte. Sie hat große Opfer gebracht. Zu schade, dass ich sie nie kennen lernen durfte. Ich bin mir sicher, wir hätten uns viel zu erzählen gehabt.“
Liç hatte die Teeschale geleert und stellte sie vor sich nieder. Orelie sah, dass ihr Tränen in den Augen standen. Sie beugte sich vor und berührte die Wange des Mädchens. „Ich bin mir sicher, dass deine Mutter stolz ist, eine Tochter zu haben, die für ein Kontor arbeitet. Und eines Tages wird sie dir das sagen.“
Qarl erwachte als die ersten Strahlen der Sonne durch die Zweige der Gartenlaube drangen. Er lag mit dem Gesicht im Gras, alle Viere von sich gestreckt. Firusz, eine leere Weinflasche an die Brust gedrückt, lehnte an den Beinen der Bank und schlief im Sitzen, den Mund halb offen. Qarl stemmte sich mit den Handflächen vom feuchten Boden ab, ließ sich dann resigniert zurücksinken. Ihm wurde erst einige Minuten später die Kälte bewusst, die vom Gras in seine Knochen stieg. Eine Kälte, die sich bis in die Brust ausbreitete. Er rollte sich auf die Seite, starrte die rosa Streifen am Himmel an. Seine teuren Kleider waren mit einer Mischung aus Rotwein und Gartenerde verklebt und auch Firusz sah nicht besser aus. Er konnte sich nur an Teile des letzten Abends erinnern. Die Braut hatte so glücklich ausgesehen … ob er selbst in der Lage war, diesen Gesichtsausdruck hervorzurufen? Hier, lang ausgestreckt, fühlte er sich plötzlich alt und ausgelaugt.
Firusz erwachte mit einem kurzen Schnorcheln, ließ die Flasche in den Schoß sinken.
„Morgen“, sagte Qarl.
Firusz rieb sich die Nase, rubbelte sich über die Stirn. „Wie spät ist es?“
„Keine Ahnung. Findest du wirklich, ich sollte heiraten?“, fragte er. „Ich finde, ich sollte heiraten.“ Qarl schaffte es, sich auf die Knie zu erheben. „Eine vernünftige Frau, die mir Dinge wie das hier verbietet.“
Firusz gähnte mit knackendem Unterkiefer. „Aber erst einmal solltest du auf Morries Rückkehr warten. Sonst könnte sich womöglich herausstellen, dass du dir eine Hochzeit gar nicht leisten kannst.“
Liç ließ sich bereits in den frühen Morgenstunden eines der Pferde aushändigen und fegte im gestreckten Galopp über die Hügel. Der Grüne See erinnerte im Licht des neuen Tages an flüssiges Perlmutt. Liç machte die Stute in sicherer Entfernung fest und lief zum Ufer hinüber. Sobald sie mit den Fingerspitzen die Wasseroberfläche berührte, schoss To aus dem See. „Hast du mir was mitgebracht?“
„Nein, tut mir Leid. Es war noch niemand in der Küche.“
Für einen kurzen Moment sah To beleidigt aus, dann hob er mit einer merkwürdigen Bewegung die Schulterblätter und ließ sie wieder fallen: die seepferdische Entsprechung eines Achselzuckens. „Dann eben das nächste Mal. Gehen wir spazieren?“
Liç vergrub ihre Hand in der nassen Mähne des Wassergeistes. „Gute Idee.“
Obwohl To vermutlich nicht viel Zeit an Land verbrachte, schien auch er seine Lieblingsplätze zu haben. Liç fiel auf, dass er sich meist im Schatten aufhielt, dennoch trocknete sein Fell schneller als erwartet. Plötzlich sah er aus wie eine gegen den Strich gebürstete Katze. Sie rasteten unter den tief hängenden Zweigen eines Buchenwäldchens. Liç setzte sich ins Gras, eine Hand gegen das Vorderfußgelenk des Seepferds gestützt. To gähnte. Die Mittagssonne brannte durch das Laub in den Schatten herab. Liç zupfte an seinen Fesseln. „Mein Vater hat mir von seinem Großvater erzählt“, sagte sie, gegen das Licht blinzelnd. „Er hatte die gleiche Gabe wie ich. Und er hat auf Seepferden geritten.“
To gähnte wieder. „Man hat mir Märchen erzählt. Es soll immer wieder Männer gegeben haben, die die Erlaubnis bekamen.“
„Waren sie alle Teufel?“, fragte Liç.
To zuckte auf seine eindrucksvolle Art mit den Schultern. „Was weiß ich?“
„Gibst du mir die Erlaubnis?“
Er krauste die Nase. „Ich weiß nicht. Würdest du dich reiten lassen?“
Liç grinste. „Kommt ganz drauf an, von wem.“
To, der den Doppelsinn ihrer Worte offenbar nicht verstand, schniefte. „Also gut. Aber wehe, dir wird schlecht.“
Liç sprang auf, sah sich um. In einigen Schritten Entfernung lag eine umgestürzte Buche. Sie kletterte auf die bröckelnde Rinde, winkte To an sich heran. Es gelang ihr, weich auf seinem Rücken einzusitzen. To hustete erschrocken. „Gott, bist du schwer!“
Liç fasste in die lockige Mähne. „Versuch einen Schritt zu laufen.“
To traute sich erst nach ein paar Minuten, dann aber ging er gleich in Trab über. Liç fiel auf, wie gleitend die Gänge des Seepferds waren, kaum mit jenen eines gewöhnlichen Pferdes zu vergleichen. Nach wenigen Metern fiel der Wassergeist in Galopp und plötzlich raste er über den nächsten Hügel. Der Wind riss Liç fast die Haut von den Wangen, die Gräser der ungemähten Wiesen peitschten ihre Unterschenkel. Liç schloss die Augen, unterdrückte das Gefühl schreien zu müssen – als sie die Lider wieder öffnete, glitt der Himmel tief über sie hinweg, verwischte zu blaugrauen Streifen – Tos weit vorgereckter Hals schien ins Gras zu wachsen, die ziehende Bewegung schliff Liçs Gedanken glatt wie vom Wind zermahlene Wolken.
Qarl und Firusz hatten sich ins Kaminzimmer der Gästesuite zurückgezogen – mit einem Tablett eingelegter Heringe und schwarzem Brot. Qarl kaute desillusioniert. „Muss draußen so schönes Wetter sein? Warum kann es nicht in Strömen regnen – ääääh, ich hasse Fisch.“
Firusz knetete sich die Stirn. „Halt die Klappe. Gott, diese Kopfschmerzen … hast du mit Per gesprochen?“
Qarl richtete sich auf. „Ich habe nichts mehr mit ihm zu besprechen.“
„Hast du mit ihm gesprochen oder nicht?“
„Kurz.“ Qarl sah konzentriert an ihm vorbei.
Firusz beugte sich vor, packte Qarl an der Schulter. „Du kannst nicht ewig davonlaufen.“
Qarl wand sich aus seinem Griff. „Ich werde heiraten, keine Panik.“
„Das meine ich nicht.“ Firusz biss sich auf die Lippen. „Du musst nicht heiraten – du solltest nur jemanden finden, den du wirklich liebst.“
„Weil du so erfolgreich warst?“, spottete Qarl. „Lup hat dich vor die Tür gesetzt, oder etwa nicht?“
Firusz zupfte einen sauer riechenden Hering auseinander. „Sie hat ihre Gründe.“
„Wie soll es weiter gehen, nachdem ihr nach Seestadt zurückgekehrt seid? Sei ehrlich – auf lange Sicht werdet ihr wieder im Hungrigen Einhorn landen. Ist das eine Aussicht, die dein Herz hüpfen lässt? Ich habe eine bessere Idee, Firusz: Liç und du, ihr beide könnt zu mir ziehen. Mein Haus ist schließlich groß genug.“
Firusz schluckte das letzte Stück Fisch. „Wenn du uns in dein Haus aufnimmst, wirst du nie ein eigenes Leben haben.“
„Ich denke, eure Gesellschaft ist es mir wert, dieses Opfer zu bringen.“
„Ich weiß nicht, ob dieses Arrangement für Liç so günstig wäre. Du bist ein Junggeselle und sie ist zumindest theoretisch eine heiratsfähige junge Frau. Man wird sich merkwürdige Dinge über dich und sie erzählen.“
Qarl hatte plötzlich glasige Augen. „Bitte denke über das Angebot nach. Mit euch wäre ich viel weniger allein.“
Liç kehrte völlig zerzaust ins Haus zurück, stolperte in ihr Zimmer und verbrachte dann anderthalb Stunden mit Buch im Badezuber. Als Firusz ihr gegen Abend Qarls Plan unterbreitete, strich sie sich das feuchte Haar hinter die Ohren zurück. „Ich finde das sehr nett von ihm – auch wenn es wohl keine gute Idee ist.“
„Genau das habe ich ihm auch gesagt.“
Für einen Augenblick sah Liç alarmiert aus. „Ich würde gern in Qarls Haus wohnen. Bestimmt ist das besser als das Hungrige Einhorn.“
Firusz rümpfte die Nase. „Liç, tut mir Leid – aber die Leute könnten denken, Qarl hielte dich als Geliebte aus.“
Liç schien für einen Augenblick zu erstarren. „Wir leben doch nicht mehr im Dunklen Zeitalter, Vater.“
„Wittländer sind Klatschmäuler und Traditionalisten – versteh doch, Liç – du hängst schon den ganzen Tag mit Qarl im Kontor zusammen. Es gäbe Gerede.“
„Aber wir täten ihm gut, Vater. Qarl ist einsam in seinem Haus. Manchmal schläft er sogar im Kontor.“
Firusz beugte sich vor. „Liç – ist dir noch nie etwas an Qarl aufgefallen? Deine Mutter würde nicht wollen, dass ich es dir erzähle, aber … hm … Qarl … es würde mich wirklich erstaunen, wenn er heiraten sollte.“
„Du meinst, dass er widernatürliche Vorlieben hat.“ Liçs Mund fühlte sich taub an.
Firusz atmete auf. „Ja.“
„Ich dachte immer, das sei nur ein hässliches Gerücht.“
„Aber manche Gerüchte sind leider wahr.“
„Dann sollten wir erst recht bei ihm einziehen, Vater. Wenn man mich für seine Liebschaft hielte, hätte er doch nur Vorteile davon.“
„Du solltest dich nicht für ihn opfern, Liç. Ich weiß, dass wir ihm beide viel schulden – aber nicht so viel.“
Liçs Augenlider zitterten, als sie den Blick senkte und plötzlich hatte Firusz den entsetzlichsten Verdacht. „Nein, Liç. Nein – du darfst nicht …“
„Konntest du es dir aussuchen, Vater?“
Am nächsten Morgen, als Liç versuchte, sich ein Pferd zu organisieren, trat Yanus in den Stall. „Du kannst ihr das Pferd ruhig geben, Per. Hast du was dagegen, wenn ich dich ein Stück begleite, Liç?“
Liç, in Reithosen und Lederwams, lächelte dankbar. „Nein, natürlich nicht.“
Sie warteten vor dem Gebäude, bis die Pferde gebracht wurden, blinzelten gegen die Morgensonne. „Ich hoffe, dir gefällt der Aufenthalt hier.“
„Bis jetzt ja. Wirst du deinen Sohn suchen?“
Yanus stocherte mit seinem Stock im Kies herum. „Ja, natürlich.“
„Vater sagte schon, dass er ihm am Grünen See begegnet ist. Du wirst ihn sicher auch finden.“
Yanus nahm sie am Ärmel. „Du wirst doch vorsichtig sein, Liç? Ich meine, mit deinem Kelpie.“
„Mit meinem was?“
„‚Kelpie’ nennt man Seepferde in den Kolonien.“
„Glaubst du, die Bauern würden … mich angreifen?“
„Unser Großvater hat es geschafft, seinen Kelpie dazu zu überreden, eine Art Zaum zu tragen – das überzeugte die meisten. Aber das war in den Kolonien.“
„Ich werde mit To darüber reden.“
Per brachte die beiden Stuten in den Hof. Liç nahm die Zügel entgegen, saß mit flüssiger Bewegung auf. Yanus lehnte den Stock an die Stallwand, quälte sich in den Sattel. Gemeinsam trabten sie über die Kiesauffahrt zum Fuß des nächsten Hügels. Zu Pferde konnte Yanus sich endlich wieder frei bewegen; nachdem sich die Stuten aufgewärmt hatten, trieb er sein Reittier in einen schnellen Galopp. Liç sah ihn über dem nächsten Hügel verschwinden und fühlte sich hundeelend. Vermutlich würde ihr Vater seine Entdeckung sofort an seinen Vetter weiterquatschen … Obwohl ihr Pferd protestierte, hielt sie es zurück. Für einen Atemzug hatte Liç das Gefühl, einzufrieren, obwohl die morgendliche Sonne auf dem Gras blinkte. Es hatte Tage gegeben, an denen sie gewünscht hatte, nichts für Qarl zu empfinden … sie straffte den Rücken, sah über die Täler. Warum konnte sie nicht einfach hier sein und den Augenblick genießen? Endlich gab sie dem drängelnden Pferd nach.
To erwartete sie bereits am Ufer – schon fast trocken und sehr vorwurfsvoll. Liç saß ab, machte ihr Pferd fest. To sah ihr mit schief gelegtem Schädel entgegen. „Du siehst nicht glücklich aus“, bemerkte er.
„Ich hatte einen kleinen Streit mit meinem Vater.“
„Oh – das kenne ich“, sagte To düster. „Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich dem Grünen See den Rücken kehren darf …“
„Bald werden wir aufbrechen“, tröstete ihn Liç. „Ich muss dringend zurück ins Kontor. Und Qarl auch.“
To kniff die Augen zusammen. „Wer ist Qarl?“
„Der Mann, den ich mag, To.“
Das Seepferd japste. „Warum weiß ich davon nichts? Was hat er, was ich nicht habe?“
„Arme.“
„Du verlässt mich für einen Kerl mit Armen?“
„Ich verlasse dich nicht, To. Ich möchte doch, dass du mit mir kommst.“
„Aber drei ist einer zuviel!“, schrillte der Kelpie.
Liç schloss die Augen. „Ich mag euch beide. Auf unterschiedliche Art und Weise.“
To schniefte. „Aber erwarte nicht, dass ich nett zu ihm bin.“
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde ihn niemals heiraten dürfen. Mein Vater war sehr entsetzt, als er … davon erfuhr.“
„Guter Mann“, brummte To.
Annie war gerade dabei, die Käselaibe zu inspizieren, als Yanus die Hütte betrat. Sie drehte sich nicht um. „Er ist nicht da“, sagte sie leise.
Yanus setzte sich auf einen der Melkschemel. „Es tut mir Leid, dass ich ihn so vernachlässigt habe.“
Annie lachte. „Ich habe dich nie darum gebeten, dich um uns zu kümmern. Ich wollte das Kind und mehr nicht.“
„Aber er nimmt es mir übel.“
„Was soll er sonst tun? Für ihn bist du an all dem schuld, das ihn von den anderen Menschen trennt.“
„Hat er dir erzählt, dass er meinen Vetter im Wald traf?“
„Ja.“ Annie legte den letzten Käse ins Regal zurück. „Er war sehr beeindruckt.“
„Firusz ist eben beeindruckender als ich. Er hat zwei Augen, zum Beispiel.“
Sie lächelte und plötzlich wusste Yanus wieder, weshalb er damals auf ihren Handel eingegangen war. Annie kniete neben ihm nieder, um ihn legte sich der weiche Geruch von Ziegenmilch. Yanus zog sie an sich, küsste sie mit dem Hunger, der ihm sagte, dass er noch am Leben war. Dass er noch in der Lage war, etwas zu verlangen.
Annie machte sich von ihm los.
Yanus knirschte mit den Zähnen. „Du möchtest nicht zufällig ein Geschwisterchen für ihn?“
Für ein paar Sekunden sah sie ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. „Darüber wäre Amil nicht sehr glücklich. Geht es dir nicht gut?“
„Ich werde bald sterben, Annie.“
„Du bist ein Teufel.“
„Mit gemischtem Blut.“
„Das ist keine Ausrede.“ Sie packte ihn am Arm. „Du musst am Leben bleiben, hörst du? Du musst unserem Sohn helfen, zurecht zu kommen, wenn um ihn herum alle Menschen gestorben sind, die er kennt. Du musst dich dann um ihn kümmern, wenn er es wirklich braucht!“
Yanus lächelte traurig. Er stand auf, wollte ins Freie treten. Annie erwischte ihn am Gürtel. Yanus stöhnte vor Schmerz, als ihre beiden Körper ineinander krachten.
„Was ist ein Zaum?“
„Das, was ein Pferd um seinen Kopf trägt, To.“
Das Wasserpferd sah sie skeptisch an. „So etwas will ich nicht.“
„Es könnte auch nur ein Halfter sein – ohne die Eisenstange im Maul.“
„Warum kann ich nicht einfach so mitkommen?“
„Weil Menschen misstrauisch sind. Sie fänden es merkwürdig. Du wirst sehen, es ist notwendig.“
To hob den Kopf, krauste die Nase. Zwischen den Büschen am Wegrand waren ein paar Ziegen aufgetaucht, die neugierig zu ihnen hinübersahen.
„Ah“, machte Liç. „Der Junge.“
To stieß ein leises ‚Plopp’ aus. „Der Junge mit den Ziegen? Er sitzt oft am See.“
„Hat er dich schon einmal gesehen?“
„Nein, ich glaube nicht. Ist das schlimm?“
„Nein. Der Junge ist ein Teufel wie ich. Er ist an Geheimhaltung gewöhnt.“
„Und er redet mit sich selbst“, schnaufte To. „Ganz schön nervig.“
Liç seufzte. „Ich an seiner Stelle würde wohl auch mit mir selbst reden – er sollte lesen und schreiben dürfen, wie es einem Teufel zusteht. Komm, wir gehen ihn suchen.“
„Er steht gleich hinter dem Holunderbusch“, sagte To. „Und er stinkt.“
Liç musste gegen ihren Willen grinsen. „Benimm dich, To. Wir wollen ihn doch nicht sofort verschrecken.“
Amil stand auf seinen Hirtenstab gestützt da, den Filzhut bis über die Augen gezogen. Liç hätte ihn unter Hunderten erkannt. Die Körperhaltung des Jungen war die eines Teufels. Er sah aus wie ihr Vater, wenn er sich wohl fühlte.
„Du magst das Leben hier“, sagte Liç statt einer Begrüßung.
„Ich kenne nichts anderes.“ Firusz hatte bereits von der Stimme des Jungen gesprochen, doch Liç zuckte zusammen. Sie deutete mit dem Daumen auf den Kelpie. „Das ist To. Er ist ein Seepferd und ziemlich gefräßig.“
Amil nickte knapp. „Dein Vater hat mir von dir erzählt. Er sagte, du hättest eine Karriere in der Stadt.“
„Ich bin Schreibkraft in einem Kontor – das ist keine Karriere.“ Liç bemerkte, dass Amil größer war als sie. Unter dem Hut mochte er rothaarig sein, um seinen Mund hatte sich schon jetzt eine harte Klammer eingegraben, hemmte die teuflische Schönheit, die ihm sonst zuteil geworden wäre. Liç löste den Leinenbeutel, den sie um den Oberkörper geschlungen trug. „Hast du Hunger? Ich habe ein wenig Brot und Käse.“
„Ziegenkäse?“
Liç zog die halbe Käsekugel aus dem Beutel. „Nein, ich glaube nicht.“
„Dann hätte ich gern etwas Käse.“
Sie setzten sich ins Gras, während sich To und Amils Hund beschnüffelten. Liç lachte, als der Kelpie plötzlich auf die Vorderbeine sank, die zum Spielen auffordernde Geste des Hundes nachahmte. „Manchmal vergesse ich, dass er noch nicht sehr alt ist“, sagte sie.
Amil kaute auf, schlang dann die Arme um die Knie. „Woher hast du ihn?“
„Das ist eine lange Geschichte. Erzähl mir lieber was von dir, das finde ich spannender.“
„Ich hatte noch nie etwas zu erzählen.“
„Kannst du lesen und schreiben?“
„Nein.“
„Wie alt bist du?“
„Fast vierzehn, glaube ich.“ Er wandte den Blick ab.
„Weshalb trägst du diesen hässlichen Hut?“
„Weil meine Mutter ihn mir gemacht hat.“
„Nicht, weil du dich versteckst?“
„Was hätte das für einen Zweck? Jeder weiß doch, was ich bin.“
„Und du hast keine Gabe?“
Amil nahm sich noch ein Stück Käse. „Das hat mich dein Vater auch schon gefragt und ich habe ‚nein’ gesagt.“
„Aber er hat geglaubt, dass du lügst.“
Der Junge sah zu Boden.
„Ich hatte vorher auch keine Ahnung“, versuchte Liç ihn zu beruhigen. „Und dann war To eines Tages da.“
„Hat mein Vater eine Gabe?“
„Nein, ich glaube nicht – aber du kannst ihn gleich selbst fragen – ich glaube, er kommt mich vom See abholen.“
Ein leuchtend roter Fuchs war inmitten der grünen Wiesen aufgetaucht. Yanus, von einer dunklen Haarwolke umweht, sah blass aus und sein Wams war schief zugeknöpft.
Amil sprang auf die Füße. „Der einäugige Reiter“, murmelte er.
To galoppierte Yanus entgegen, umrundete ihn mit wackelndem Hinterteil, als mache er immer noch den Hund nach, der jetzt ein heiseres Bellen ausstieß. Yanus, das Gesicht vor Erschöpfung verzogen, rang sich ein Lächeln ab, begrüßte To mit wissendem Nicken. Liç winkte. Yanus sah zu ihr herüber und rutschte aus dem Sattel. Liç bedeutete Amil ihr zu folgen – ein paar Ziegen kamen ebenfalls nach. Vater und Sohn begegneten sich auf dem abgefressenen Gras. Yanus hielt sich am Sattel seines Pferdes fest. Liç sah, dass Tränen über die unversehrte Seite seines Gesichts liefen. Beide standen für einige Sekunden voreinander, dann sagte Yanus: „Deine Mutter sagte, du seiest gewiss hier.“
Amil ließ seinen Blick über die Knopfleiste des Wamses gleiten. „Und Ihr habt sie für ihre Auskunft belohnt?“
Yanus schien für einen Augenblick zu erstarren. „Ich weiß, dass du verletzt bist. Aber ich hatte all das nicht geplant. Deine Mutter hat mir damals das Leben gerettet …“ Verärgert wischte er sich mit dem Handrücken über die Wange. „Und sie hat nie weitere Forderungen gestellt. Ich hätte sie erfüllt, Amil.“
„Oh ja – ganz bestimmt. Verzeiht, meine Ziegen warten.“ Der Junge machte kehrt, pfiff den Hund zu sich und verschwand zwischen den Büschen.
Liç atmete tief durch, dann trat sie an ihren Vetter heran. „Bitte versteh ihn. Versteh, was er all die Jahre durchgemacht hat.“
Yanus nickte langsam, versuchte sein Haar zu ordnen. „In seinem Alter habe ich genauso mit meinen Eltern gesprochen.“
Liç räusperte sich. „Ich habe ihn noch einmal gefragt, ob er eine Gabe besitzt – er hat auch mich angelogen. Könnte er eine Gabe haben?“
Yanus zuckte die Achseln. „Mein Vater hatte eine. Und mein Halbbruder auch. Es wäre möglich. Oh ja – meine Tante ist auch begabt.“ Yanus lachte plötzlich. „Er wird seine Arroganz noch brauchen … in Wittland mit einer Gabe aufzuwachsen – das war für dich sicher auch nicht angenehm, Liç.“
Liç antwortete nicht. Sie beobachtete To, der ein paar blauen Schmetterlingen hinterher sprang.
VIII
Zwei Wochen vor ihrer geplanten Abreise führte Orelie Liç in ihren Bücher- und Manuskriptbestand ein: fünf Truhen voller Papiere. Die meisten waren wohlgeordnet, nur aus einer Truhe quoll ein Wust aus losen Blättern hervor.
„Ideenkiste“, sagte Orelie und schloss liebevoll den beschnitzten Deckel.
Liç hatte den halben Tag mit To an der frischen Luft verbracht und Halftertragen geübt, jetzt bei Tee und Gebäck zwischen Büchern und Blumengestecken zu sitzen, verschaffte ihr ein warmes Gefühl.
„Hast du jemals versucht, selbst zu schreiben, Liç?“
„Im Kontor schreibe ich praktisch den ganzen Tag … abends habe ich kaum noch Drang, eine Feder anzufassen.“
Orelie zog die blassen Brauen hoch. „Dein Vater hat erzählt, dass ihr beide nicht mehr Zuhause wohnt.“
Liç sah zur Seite. Das zufriedene Gefühl war mit einem Schlag verdampft. „Das ist richtig.“
Orelie seufzte. „Ich bewundere deine Mutter für diesen Schritt, Liç. Manchmal wünsche ich mir, ebenso selbstsüchtig sein zu können.“ Orelie senkte den Blick. Heute trug sie einen blassblauen Seidenüberwurf, bestickt mit Hornveilchen, aus ihrer komplizierten Frisur ragten zwei Beinnadeln, an denen Schnüre von rosa Glasperlen hingen, die leise aneinanderklimperten. Ihre Augenringe waren mit einer dünnen Schicht Puder bestäubt, was sie umso mehr betonte. „Hier in Wittland muss eine Frau zusehen, dass sie sich behauptet. Die Steppenkultur, aus der deine Mutter stammt, ist wohl recht archaisch. Dass sie das Selbstvertrauen aufbringt, ihren Mann an die Luft zu setzen, ist bemerkenswert.“ Sie goss Tee nach. „Es wird mir fehlen, eine Frau um mich zu haben“, sagte Orelie leise. „Mit Yanus kann ich nicht über alle Dinge sprechen.“
„Er denkt, dass er bald sterben muss“, sagte Liç leise.
„Ich dachte, ich hätte einen hübschen Teufel geheiratet, der mir bis ans Ende meiner Tage attraktiv zur Seite steht – so kann man sich irren. Ich bin froh, dass er die Gelegenheit ergriffen hat, ein Kind zu zeugen. Er wird sich nie den Vorwurf machen müssen, dass er dieser Welt nichts hinterlassen hat.“
„Er war untreu“, sagte Liç kalt.
Orelie grinste plötzlich – gegen ihr gepudertes Gesicht sahen ihre Zähne gelblich aus. „Ich auch.“
Liç sah von dem Manuskript auf, das auf dem Teetisch lag – es war eine Reinschrift, gesiegelt und mit einem gefalteten Papier versehen: der Auftrag für den Drucker.
„Vielleicht ist diese Sammlung von kleinen Gedichten die letzte, die ich veröffentlichen werde. Ich habe sie dir gewidmet, Liç – ich hoffe, du hast nichts dagegen.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Es sind auch Gedichte dabei, die ich in meiner Jugend schrieb … oder während meiner ersten Ehe. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eines Tages aus eigener Kraft würde stehen müssen. Ich war ein normales wittländisches Mädchen, genau wie unsere liebe Fina. Ich hatte mir eine Ehe vorgestellt, die zwar in Unwissenheit und Nervosität beginnt, sich jedoch zu Zärtlichkeit und Verständnis auswächst.“ Durch Orelies Körper ging ein kurzes Schaudern. „Ich war noch jünger als Fina heute – aber mein Mann zeigte keinerlei Bestrebungen, mir meine Angst zu nehmen. Ich bin erstaunt, dass Evold so viel Geduld mit Fina aufbringt … ich wurde vom ersten Tag meiner Ehe an allein gelassen. Suche dir deinen Mann gut aus, Liç.“
Liç lächelte. „Ich habe ihn mir bereits ausgesucht.“
„Doch nicht etwa diesen furchtbaren Freund deines Vaters!“ Orelie setzte sich gerade hin. „Nach wittländischen Maßstäben mag er vielleicht das richtige Alter für dich haben – aber du solltest dich niemals auf eine Liebelei mit deinem Arbeitgeber einlassen!“
„Sein älterer Bruder ist mein Arbeitgeber. Qarl ist nur mein Vorgesetzter.“
„Und er ist verfressen, geheimniskrämerisch und asozial“, urteilte die ältere Frau.
„Das mag sein“, sagte Liç leise. „Das war er schon immer, daran konnte ich mich bereits gewöhnen. Ich habe mir das nicht ausgesucht … es ist passiert. Ich weiß nicht einmal, wann genau.“
„Weiß dein Vater darüber Bescheid?“
„Jetzt ja.“
„Du solltest noch einmal mit ihm sprechen. Er kann dir sicher noch andere Gründe nennen, weshalb diese Liebe unter dem schlechtesten aller Sterne steht.“
Liç spürte, wie eine kalte Hand nach ihrer Speiseröhre griff. „Ist es wegen der Gerüchte? Ich wusste nicht, dass sie bis ins Hinterland gelangt sind.“
„Welche Gerüchte?“, fragte Orelie verwirrt.
„Nun … in Seestadt betreffen sie jeden Mann, der bis zu einem gewissen Alter ehelos lebt. Man beginnt, Dinge über sie zu erzählen …“
Orelie schüttelte langsam den Kopf. „Mir geht es nicht um Gerüchte aus Seestadt. Mir geht es um Gewissheiten vor Ort. Als ihr damals das erste Mal hier wart und ich bei Hofe … Yanus hat mir erzählt, dass Qarl sich sehr merkwürdig benommen hat – den Stallburschen gegenüber.“ Sie sah, wie das Mädchen erblasste. Orelie beugte sich weiter vor, wisperte: „Der große Rothaarige, der heute unser Stallmeister ist … na, wenigstens hatte der den Verstand, sich danach eine nette, saubere Frau zu suchen. Frag deinen Vater.“
Liç gelang es, ihren Vater abzufangen, als dieser sich gerade zum Abendessen umziehen wollte. „Ist es wahr – das mit Qarl und dem Stallmeister?“
Firusz ließ die Hände sinken, die gerade noch sein bestes Wams zugeknöpft hatten. „Oh Gott – ich wollte nicht, dass du es so erfährst. Wer hat dir das erzählt, Liç?“
„Orelie.“
„Ja, natürlich. Orelie sollte mehr Verstand haben.“
„Offenbar dachte sie, die Wahrheit würde mir helfen.“ Liç ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn all das wahr ist, braucht er erst recht eine Frau!“
„Liç … willst du dich an jemanden wie ihn wegwerfen? Jemanden, der dich gar nicht so sehr schätzen kann, wie er sollte?“
„Ist es denn besser, wenn er ein junges, ahnungsloses Mädchen heiratet, das er unglücklich macht, ohne dass sie weiß, weshalb?“
Firusz streckte die Hände aus, nahm seine Tochter bei den Ellenbogen. „Willst du für ihn den Märtyrer spielen? Qarl kommt schon seit Jahren sehr gut zurecht.“ Er strich ihr über die Wange. „Ohne dich.“
„Aber er …“ Liç hielt inne. Es war zuviel. Sie sank auf einen der Sessel beim Kamin nieder. In Seestadt tuschelte man schnell was von Widernatürlichkeit, aber hier … sie sah den Stallmeister vor sich: groß, rothaarig, ein bisschen abgearbeitet, aber damals hatte er gut ausgesehen, das wusste sie noch … wie sollte sie da mithalten?
Firusz kam zu ihr, streichelte ihren Scheitel. „Hast du gedacht, wenn ich es schon weiß, kannst du es gleich Orelie sagen?“
„Ja, und To habe ich es auch gesagt, zur Sicherheit.“ Sie lehnte sich im Sessel zurück, entzog sich der tröstenden Hand ihres Vaters.
„Es tut mir Leid“, flüsterte Firusz. „Ich wusste nicht, dass Orelie im Bilde war.“
„Yanus hat es ihr erzählt.“
Firusz atmete tief durch. „Bitte nimm es Qarl nicht übel, Liç. Er kann nicht anders – und er ist sehr, sehr unglücklich darüber.“
„Ich hätte das mit Per trotzdem gern gewusst.“
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Firusz runzelte verärgert die Stirn. „Ja, bitte?“
Qarl stand auf der Schwelle – auch er bereits umgezogen fürs Abendessen. Der dunkelblaue Überwurf und das Wams aus dunkelgrün gefärbtem Leder ließen ihn blass und verstört aussehen – Liç spürte, wie ihr trotz allem das Herz in die Kehle sprang.
„Firusz … ich fürchte, wir müssen schon morgen nach Seestadt zurück – nun, jedenfalls ich und Liç – Qasimir hat geschrieben. Morrie ist noch nicht wieder zurückgekehrt – und es gibt Anzeichen dafür, dass er auf den Gewürzinseln verschleppt wurde …“ Qarl stieß ein merkwürdig röchelndes Geräusch aus – Liç brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es ein Schluchzen gewesen war. Firusz löste sich aus seiner Erstarrung, in seiner Wange begannen die Muskeln zu zucken. „Oh Gott. Natürlich müssen wir sofort abreisen. Ich werde mit Yanus sprechen und er wird es selbstverständlich verstehen. Hast du den Brief hier?“
Qarl öffnete seine linke Hand. Der Brief war völlig zerknüllt. Firusz zog ihn vorsichtig aus seinen Fingern. Liç nahm Qarl am Arm, brachte ihn vorsichtig zum Sessel. „Setz dich“, sagte sie leise. Selbst durch das Lederwams spürte sie, dass er am ganzen Leib bebte. Qarl ließ sich sinken, für einen Augenblick streifte sein Haar die Innenseite ihres linken Unterarms. „Erzähl“, sagte sie.
Qarl rang nach Luft. „Qasimir schreibt …“
„Es gibt eine Lösegeldforderung“, vollendete Firusz den Satz. „Eine sehr hohe Forderung …“
Qarl putzte sich die Nase am Ärmel ab. „Und das nur, weil ich nie mit ihm gekommen bin. Er ist immer allein unterwegs gewesen …“
„Blödsinn!“, fuhr Firusz ihn an. „Morrie macht das schon seit Jahren – und er hätte vorsichtiger sein sollen! Ihr habt ein gutes System und wart immer erfolgreich. Wer kann denn ahnen, dass die Bewohner der Inseln so bösartige Absichten hegen? Oder glaubst du, dass eine andere Handelsgesellschaft dahinter steckt?“
„Keine Ahnung … und deshalb müssen wir sofort mit Qasimir sprechen!“
„Schon gut. Bleib hier bei Liç, sie passt auf dich auf. Ich rede mit Yanus.“
Ließ sich Firusz absichtlich Zeit? Nachdem Liç Qarl ein Glas Branntwein verabreicht hatte, ging es ihm schon sichtlich besser. Es gelang ihm, sich zurückzulehnen und durchzuatmen. „Eine Katastrophe“, murmelte er. „Es tut mir so Leid, Liç – vielleicht muss ich dich bald feuern. Wenn das Geld ausbleibt, das wir erwartet haben und ich stattdessen Morrie von den Wilden loskaufen muss …“
„Das hier ist eine außergewöhnliche Situation, Qarl – ich bin mir sicher, dass Qasimir uns das nötige Geld vorschießt. Morrie ist immer noch ein Einhorn!“ Liç goss ein zweites Glas Branntwein ein. „Ist es das erste Mal, dass so etwas passiert?“
„In unserer Gesellschaft, ja. Die Löwen mussten schon häufig Leute freikaufen.“
„Dann sollte Qasimir sofort Kontakt zu den Löwen aufnehmen. Der Erste Löwe hat offenbar die Erfahrung, die ihm fehlt.“
Qarl atmete so tief aus, dass der Branntwein in einer kleinen Welle vom Glasrand wegrollte. „Ich wette, das hat er bereits getan. Mein Bruder hat für alles einen Notfallplan.“
„Das sollte dich beruhigen.“
„Aber was wird jetzt mit Morrie, Liç? Wo wird er gefangen gehalten? Geben sie ihm genug zu trinken und zu essen? Ich wette, ich könnte das besser wegstecken als er …“ Qarl umklammerte sein Glas und stierte in den Kamin. „Das ist die Strafe für meine Unbefangenheit. Du hattest recht, dir so schnell Sorgen zu machen … Morrie ist mein ältester Freund, abgesehen natürlich von deinem Vater … ich hätte gleich handeln sollen.“
„Ohne die Einzelheiten zu kennen? Was hättest du tun können?“
„Irgendetwas!“
„Das wäre töricht gewesen, Qarl. Warte ab, welche Informationen Qasimir für uns bereithält.“
„Für ‚uns’?“
„Ich bin auch ein Einhorn, oder nicht? Und mein Lebensunterhalt steht ebenso auf dem Spiel wie deiner. Als Einhorn habe ich das Recht, für die Gesellschaft zu reisen.“
Qarl starrte sie mit offenem Mund an. „Reisen?“
„Jemand muss das Lösegeld überbringen, oder nicht?“
„Liç! Qasimir wird keine Frau zu den Gewürzinseln schicken!“
„Abwarten.“ Liç ergriff ein zweites Glas, füllte es aus der Karaffe. Der Branntwein verätzte ihr fast die Unterlippe, aber es gelang ihr, einen großen Schluck herunterzubringen. „Dein Bruder wird wissen, was er tut und wenn er die Erlaubnis gibt, wird er froh sein, wenigstens einen Freiwilligen an der Hand zu haben!“
Qarl sprang auf, nahm sie am Oberarm. „Die Einhörner haben noch nie eine Frau auf See geduldet, Liç – Qasimir wird den Teufel tun und mit diesen Richtlinien brechen! Und solltest du auf die Idee kommen, dich als Mann verkleidet an Bord zu begeben – das wird dir nicht gelingen!“
„Weshalb nicht?“
Qarl wurde rot.
„Weshalb nicht?“, wiederholte Liç wütend.
„Nun … du bist ziemlich fraulich … an den richtigen Stellen.“
Liç stürzte den Rest Branntwein hinunter. „An den richtigen Stellen?!“
„Und du bist zu hübsch“, setzte Qarl hastig hinzu.
Liç stieß ein freudloses Lachen aus. Ihr Kopf schwamm, kalter Schweiß brach ihr aus. „Ich werde Qasimir überreden – verlass dich drauf.“
„Sie ist betrunken!“ Firusz legte seiner Tochter die Hand auf die Stirn. „Was hast du gemacht, Qarl!?“
„Gar nichts!“, quietschte Qarl empört. „Ich habe ihr nur gesagt, dass Qasimir sie wohl nicht auf ein Schiff lassen wird! Und dann hat sie begonnen, sich zuzuschütten!“
Firusz funkelte ihn an. „Sie ist eine de Liarette, Qarl. Sie kann das tun, was sie will. Yanus hat alles organisiert. Wir reisen morgen früh ab.“
Qarl rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht. „Du bist damit einverstanden, dass deine Tochter in der Weltgeschichte herumsegelt?“
„Warum nicht? Wenn Qasimir ihr die Erlaubnis gibt … sie hat ein Recht darauf.“
„Das hat sie auch gesagt.“
„Dann hat sie sich in meinen Augen der Gesellschaft als würdig erwiesen. Steh nicht so rum, Qarl – hilf mir, sie ins Bett zu bringen.“
IX
Das Arbeitszimmer des Qasimir na Qes war nur unzureichend beleuchtet. Tiefe Schatten gruben sich in die Gesichter der Männer, die um den Schreibtisch standen. Das Erste Einhorn hatte beide Hände auf die Tischplatte gestützt; vor ihm lag, die Enden mit einer Blumenvase und einer Tintenflasche beschwert, eine Karte, auf der ein halbes Dutzend Inseln verzeichnet waren, unregelmäßig in ihrer Form, mit grünen Schraffuren für die Gewürzplantagen und rot markierten Häfen und Handelsplätzen. Qarl stand rechts neben seinem Bruder, seine Augen rutschten immer wieder über die Karte, als suche er einen bestimmten Punkt. Der Krisenstab bestand aus Qarl, Qasimir, Firusz und Kapitän Molfur na Carran, einem bärtigen Mann mit vielen goldenen Ohrringen.
„Die Unterhandlungen werden wunschgemäß auf der Amselinsel stattfinden“, sagte Qasimir leise. „Aber ich wette, dass Morrie sich auf einer der größeren Inseln befindet.“
Der wittländische Entdecker der Inseln, ein großer Vogelliebhaber, hatte allen Inseln Vogelnamen gegeben – die kleinste war die Amselinsel, die größte die Schwaneninsel. Zwar wurden hauptsächlich Nelken angebaut, aber die Inseln dienten als Umschlagplatz für Pfeffer, Muskatnüsse und Zimtrinde – die rot markierten Hafenstädte waren nach dem jeweiligen Gut benannt, das man dort erwerben konnte: Pfefferhafen, Muskathafen, Zimthafen, Seidenhafen – Firusz sah sogar einen Papageienhafen. Die ersten Siedler der Inseln hatten es sich offenbar leicht machen wollen, das Straßennetz war vorzüglich ausgebaut und sogar die wichtigsten Raststationen der Lieferkarawanen waren auf den Karten verzeichnet.
„Wo soll man da einen Gefangenen versteckt halten?“, fragte Firusz.
„Es gibt Teile der Inseln, die noch kaum erforscht wurden. Die Pfaueninsel ist noch unberührt – ich schätze, Morrie wird dort festgehalten.“
„Von wem?“, fragte Qarl.
Qasimir nahm das fleckige Bekennerschreiben zur Hand. „Vereinigte Waldbewohner“, sagte er kopfschüttelnd. „Nicht sehr präzise.“
„Gibt es keinerlei Informationen über diese Gruppe?“, fragte der Kapitän.
Qasimir zog die Nase hoch. „Keine der anderen Gesellschaften hatte jemals mit diesen Leuten zu tun. Aber die Gruppen heißen alle ähnlich. ‚Für Freie Gewürzinseln’, ‚Befreiungstrupp Ost’ … wahrscheinlich bekriegen sie sich auch untereinander.“
„Und du willst tatsächlich auf diese Forderung eingehen? Die Summe ist … gewaltig.“ Firusz blies die Wangen auf.
Qarl sah ihn entsetzt an. „Natürlich wird er darauf eingehen!“, empörte er sich. „Wir reden hier von Morrie!“
Qasimir nickte. „Morrie beschert uns Jahr für Jahr gute Umsätze. Wir müssen uns für ihn einsetzen – zum Wohl der ganzen Gesellschaft. Molfur wird in zwei Tagen in See stechen.“
Firusz räusperte sich. „Meine Tochter hat ein besonderes Anliegen, Qasimir. Sie bittet dich darum, mitkommen zu dürfen.“
Qarl schoss seinem Bruder einen Blick zu, der Firusz klar machte, dass die beiden bereits über Liç gesprochen hatten. Er bereitete sich auf eine ausgefeilte Ausrede vor. Qasimir seufzte. „Ich habe prinzipiell nichts dagegen“, sagte er und Firusz registrierte Qarls irritierten Gesichtsausdruck. „Aber ich kann keine zwei Teufel auf die Gewürzinseln schicken. Wenn du deinen Platz für Liç aufgibst, kann sie gern mitkommen.“
Qarl sah aus, als wolle er seinen Bruder an der Gurgel packen. „Ich brauche sie im Kontor!“
Qasimir sah ihn für einen Moment wortlos an, dann lächelte er. Ein Lächeln, dass sowohl Qarl als auch Firusz an nicht angekündigte Klassenarbeiten denken ließ. „Das Kontor des Seepferds wird seine Geschäfte für diesen Zeitraum über mich persönlich abwickeln – wie in den letzten Wochen auch.“
Qarl war blass geworden. „Heißt das – ich soll mit?“
„Deine Seekrankheit in allen Ehren, aber ich fürchte, es macht keinen guten Eindruck, wenn du in der Stadt bleibst. Ich gebe das Geld für Morrie – du boxt ihn raus. Das warme Klima der Inseln bekommt dir sicher gut, aber du solltest trotzdem einen Mantel mitnehmen. In zwei Tagen treffen wir uns am Kai, um die letzten Dinge zu besprechen.“ Er verabschiedete sich von Kapitän na Carran und seinem bleichen Bruder, bat nur Firusz noch zu bleiben.
„Hast du dich schon entschieden?“, fragte das Erste Einhorn, sobald sie miteinander allein waren.
Firusz starrte auf die Karte. „Ich habe die Gewürzinseln schon mein ganzes Leben lang sehen wollen“, sagte er leise. „Aber Liç würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie nicht gehen ließe.“
„Sie wäre nicht allein“, sagte Qasimir und schenkte Kräutertee aus. „In unserem Haus in Zimthafen gibt es eine Frau, die schon lange für uns arbeitet. Miris wird sich um deine Tochter kümmern und ihr zur Seite stehen.“
„Liç müsste allein mit Qarl reisen“, gab Firusz zu bedenken.
Qasimir grinste in seine Teetasse. „Das sollte ihr doch gefallen“, sagte er. „Deine Tochter ist eine gut aussehende junge Frau geworden, Firusz. Ich hege die Hoffnung, dass sie unseren Qarl die Schönheit der Konventionen lehrt. Ich hätte gern ein paar Nichten und Neffen.“
„Qarl könnte sie nicht glücklich machen“, sagte Firusz kalt.
Qasimir hob die Achseln. „Jedenfalls macht er sich große Sorgen um ihre Gesundheit. Du glaubst nicht, wie leidenschaftlich er mich anflehte, ihr diese Reise zu verbieten.“
Firusz betrachtete niedergeschlagen den hohen Stapel ungeöffneter Korrespondenz, die auf seinem Schreibtisch lag. „Ich schätze, für mich gibt es hier mehr als genug zu tun. Ich sollte Liç dieser Chance nicht berauben, nicht wahr?“
Qasimir gähnte. „Ich könnte mir vorstellen, das ihr die schwüle Hitze der Inseln gut zu Gesicht steht …“
„Mach dir nichts vor, Qasimir – auf den Inseln gibt es jede Menge gebräunter Jünglinge. Qarl wird Liç gar nicht weiter beachten.“
„Ich habe bereits beim Sippenrat vorgesprochen“, gestand Qasimir. „Unsere Ältesten wissen sehr wohl, dass Qarl für die finanzielle Situation der Sippe zu danken ist. Sie würden ihm erlauben, Liç zu ehelichen, obwohl sie ein Teufel ist.“
Firusz’ Herz rutschte nach unten. „Das hast du nicht! Ich dachte, du magst deinen Bruder!“
Qasimir fing ein wenig flüssiges Wachs von der Kerze auf, die auf seinem Schreibtisch stand und begann es zu einer Kugel zu kneten. „Qarl kann sich nicht ewig vor einer Heirat drücken.“
„Und was ist mit dir selbst?“
Qasimir lachte. „In meinem Fall hat die Sippe bereits jegliche Hoffnung fahren lassen – außerdem bin ich nun wirklich zu alt für Liç.“
Firusz sah ihn verwirrt an. „Du würdest sie zur Frau nehmen?“
Da geschah etwas Außerordentliches: Qasimir schoss das Blut ins Gesicht – ein Anblick, auf den Firusz nicht vorbereitet gewesen war – nie hatte er geglaubt, das Erste Einhorn eines Tages so verlegen erleben zu müssen. „Qasimir!“ Firusz ging um den Schreibtisch herum, fasste Qarls großen Bruder bei der Schulter. „Seit wann …“
„Sie ist uns wohl allen ans Herz gewachsen …“, murmelte das Erste Einhorn. „Sie ist eine außergewöhnliche junge Frau. Aber sie liebt meinen Bruder, Firusz. Und ich bin doppelt so alt wie sie.“ Eine lockige, mit Grau durchzogene Strähne fiel Qasimir ins Gesicht. Firusz hatte das Erste Einhorn stets für einen anziehenden Mann gehalten, eindrucksvoll in seinen kostbaren Kleidern und mit den verschiedenfarbigen Augen, mit seinem rhetorischen Talent und der aufrechten Körperhaltung. All diese Jahre hatte er nun schon für ihn gearbeitet, ihm Tag für Tag gegenüber gesessen. Und doch kannte er ihn kaum … er lächelte. „Meinen Segen hast du“, sagte er.
Am nächsten Morgen sattelte Liç ihr Pferd, trabte durch die Stadtalleen den Hügel hinauf – der Wind war zu kalt für den Sommer und Liç schauderte in ihrem Mantel. Das Haus, das sie solange bewohnt hatte, sah auch von außen sauber und gepflegt aus – erst jetzt, da sie vor dem Zaun absaß und das Pferd in den Hinterhof brachte, an Gemüsebeeten vorbei, war sie sich bewusst, wie sehr sie ausgerechnet diesen Ort liebte. Sie betrat das Haus wie gewohnt durch die Hintertür. Der Boden war frisch geschrubbt. Sie ging in die Küche. Ihre Mutter stand am Fenster, eine Tasse in der Hand, aus der Dampf aufstieg.
„Mutter?“
Lup drehte sich zu ihr um. Sie sah gut aus – makellos in einem hellen Kleid mit der großen Haushaltsschürze, das Haus roch nach frischem Brot. „Schön, dass du mich besuchen kommst, Liç. Ich dachte, bei allem was gerade in deinem Kontor passiert, hättest du vielleicht nicht die Zeit dazu.“
„Deshalb bin ich hier.“ Liç setzte sich an den Küchentisch, löste ihren Zopf und den Mantel. Lup gab ihr Tee und Brötchen mit Butter.
Liç bewegte sich anders als noch vor ein paar Wochen. Sie hatte etwas Selbstsicheres an sich – fast wie ein junger Mann aus gutem Hause, der es sich in Reitkleidung in der Küche bequem machte. „Ich werde zu den Gewürzinseln reisen, um Calmorran na Carran zu befreien.“ Sie trank gierig ihren Tee aus. „Ich komme, um mich zu verabschieden – wir werden morgen in See stechen.“
„Wer ‚wir’? Ist dein Vater auch mit dabei?“ Lup gab sich Mühe, unbeteiligt zu tun.
„Ich und Qarl.“
„Du und Qarl? Oh, Liç …“
„Wir werden das Gold zu den Inseln bringen, mit dem wir ihn freikaufen.“
Lup nickte langsam. „Ich verstehe … sei vorsichtig, Liç.“ Ihre Mutter stellte ihre Tasse ab, nahm das Gesicht der Tochter in beide Hände. „Auch ich wollte meinem engen Nest entfliehen und du weißt, zu was es mich gebracht hat.“
„Zu einem eigenen Haus in der Stadt“, sagte Liç sarkastisch.
Lup zog die schwarzen Brauen hoch. „Zu einer Ehe, die ich bereue.“
„Ist es das, wovor du mich warnen willst? Vor einer Ehe mit Qarl? Keine Sorge, Vater hat bereits Stimmung gegen ihn gemacht. Und ich werde mich auch nicht dem erstbesten Handelsvertreter auf den Inseln hingeben, nur weil er exotische Getränke und Speisen bereithält. Ich bin alt genug, Mutter. Ich bin erwachsen.“
Lup nickte kummervoll. „Ja, das habe ich damals auch geglaubt.“
Liç schloss für einen Moment die Augen. „Ich bin nicht hier, um mir predigen zu lassen, Mutter.“
„Warte, ich habe etwas für dich.“ Lup ging ins Wohnzimmer, kehrte wenige Minuten später mit einem gefalteten Tuch zurück. Das Leinen war mit einem zarten Wegwarten-Muster bestickt. „Nimm das als Andenken mit“, sagte Lup. „Ich werde auf deine Rückkehr warten.“
Liç biss sich auf die Lippen, doch sie nahm das Tuch an sich. „Wünscht du mir Glück, Mutter?“
„Du bist mir in den Rücken gefallen“, beschwerte sich Qarl.
Qasimir, der das allererste Mal im Haus seines Bruders zu Besuch war, trug einen hellblauen Wollmantel und eine runde, mit Seide gefütterte Kappe. Sein Gesicht wirkte angespannt und hohlwangig, als habe er in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Er sah zu, wie Qarl die Reisetruhe packte, reichte ihm hin und wieder ein in Seidenpapier geschlagenes Kleidungsstück. „Was hätte ich tun sollen? Firusz hatte die Wahl – und er hat sich entschieden, zu verzichten.“
„Wie soll ich ihm je wieder unter die Augen treten, wenn Liç etwas passiert?“
„Du wirst eben gut auf sie acht geben müssen.“
Qarl schnaufte. „Wird sie mich aufpassen lassen? Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf.“
Qasimir packte seinen Bruder am Handgelenk. „Auch ich werde dich zur Verantwortung ziehen, falls ihr etwas zustößt, hast du mich verstanden? Sie mag stark und furchtlos sein, aber sie weiß noch nicht viel von der Welt. Sie ist ein Einhorn, Qarl – auch ich habe für sie Sorge zu tragen.“
Qarl versuchte, sich dem Griff seines Bruders zu entziehen, aber Qasimir hielt ihn unbarmherzig fest, quetschte ihm fast den Puls ab. „Sie ist ebenso sehr das Kontor des Seepferds, wie du es bist.“
„Schon gut!“, jammerte Qarl.
Qasimir ließ ihn endlich los, aber er sah immer noch aus wie ein erzürnter Geschichtslehrer.
Qarl warf die letzten Hemden in die Truhe, klappte dann den Deckel zu.
Qasimir setzte sich auf das Gepäckstück, schob die Hände unter die Oberschenkel. „Ich hätte versuchen können, dich aus den Reiseangelegenheiten der Gesellschaft herauszuhalten – aber die Situation erfordert deine Anwesenheit.“
„Liç könnte es auch mit jedem anderen schaffen.“
„Aber niemandem sonst hätte ich so intensiv ins Gewissen reden können.“
Qarl nahm die vom Hausdiener polierten Stiefel in Augenschein. „Ich werde mein Bestes geben“, versprach er.
Qasimir lächelte. „Ich weiß.“
Es regnete. Sie hatten sich am Kai versammelt. Qarl saß auf seiner Reisetruhe, bis zwei Matrosen sie an Bord brachten. Sie hatten einen prall gefüllten Proviantbeutel, ihre Stiefel waren schon jetzt voller Schlammspritzer und der Kapitän der Kleinen Rose von Wittland warf hin und wieder Blicke über die Reling, als hätte er Angst, sie könnten im letzten Augenblick kneifen.
Firusz stand hinter seiner Tochter, konnte nur schwer den Impuls unterdrücken, sich an ihren Arm zu hängen. „Als Yanus und ich damals hier ankamen …“, sagte er leise.
Qarl warf ihm einen verärgerten Blick zu. Firusz biss sich auf die Unterlippe.
Liç fühlte sich merkwürdig ruhig, aus dem Augenwinkel beobachtete sie die Luftblasen, die im Hafenbecken umherglitten – To inspizierte ohne Zweifel den Schiffsrumpf. Endlich hörten sie hastiges Klipp-Klopp-Klipp-Klopp: Qasimir na Qes, die rechte Hand auf den breiten Hut gepresst, rannte in vollem Tempo über die Blaue Brücke. Sein mit Pelz verbrämter Mantel wehte hinter ihm her. Als er unter dem vorspringenden Dach der Hafenmeisterei ankam, war er völlig außer Atem. „Wurde aufgehalten“, keuchte er, dann überreichte er Qarl die nötigen Papiere.
„Ich dachte schon, du sabotierst unsere Abreise“, grinste sein Bruder, steckte die gesiegelten Briefe in sein Wams und beugte sich vor, um den Proviantbeutel zu schultern. Firusz küsste Liç auf die Stirn. „Erlebe Abenteuer für mich“, flüsterte er. „Und danke To, dass er diese Reise für dich auf sich nimmt.“
„Das werde ich tun, Vater. Gehab dich wohl.“
Qasimir winkte, Firusz winkte – sie stiegen über die Planke an Bord. Qarl drehte sich zu Liç um. Er sah angespannt aus. „Glaubst du, wir werden Seestadt wiedersehen?“
Sie lachte. „Natürlich werden wir das. So hat Vater das mit den Abenteuern dann auch nicht gemeint.“
Qarl zwang sich, tief einzuatmen. „Ich habe Angst“, sagte er.
Liç sah zu ihrem Vater und dem Ersten Einhorn hinunter, die jetzt in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein schienen – sie hörte Qasimir lachen, dann sprach Kapitän na Carran sie an. „Ich hoffe, Ihr habt nichts vergessen“, sagte er. „Wir legen jetzt ab.“
Qarl krallte sich an ein vertäutes Fass, obwohl sich das Schiff noch nicht einmal bewegt hatte.
Liç lächelte den Kapitän an. „In Ordnung“, sagte sie.
X
Das Licht im Zimmer ließ ihn noch kränklicher aussehen als sonst. Orelie schob die tönerne Schüssel mit Buttergebäck auf ihren Gatten zu. „Bitte iss. Was hast du erwartet, Yanus? Dass er dir schluchzend um den Hals fällt?“
„Nein. Nein, natürlich nicht.“
„Er tut Recht daran, wütend zu sein.“ Orelies Räume sahen aus wie eine gesprengte Druckerei.
Yanus sah sich um. „Du bringst deine Sachen in Ordnung“, sagte er traurig. „Du bereitest alles vor.“
„Ich habe nicht vor, Liç mehr Arbeit als nötig zu machen – es ist sehr anständig von ihr, dass sie zugesagt hat, diese Aufgabe zu übernehmen.“
„Hätte ich das nicht tun können?“
Sie sah in sein graues Gesicht. „Nein, ganz sicher nicht. Außerdem wird Liç ein zusätzliches Einkommen brauchen. Mit meinem Tod erhält sie alle Rechte.“
„Evold hat sicher damit gerechnet, dich in dieser Hinsicht zu beerben.“
„Glaubst du, ich hätte nicht vorher mit ihm darüber gesprochen? Wenn er so weiter macht, wird er bald selbst sehr bekannt sein. Und er hat reich geheiratet. Ihm fehlt nichts. Liç hingegen … ich möchte, dass sie es sich leisten kann, ein eigenständiges Leben zu führen, verstehst du das nicht? Die Familie hat kein Geld – gerade jetzt, da ihr Vater für das Haus aufkommen muss, in dem ihre Mutter lebt und selbst im Wirtshaus unterkommt. Es ist nur richtig, das ich den de Liarettes unter die Arme greife.“
„Glaubst du nicht, dass Liç eines Tages heiraten wird? Sie ist ein hübsches Mädchen, oder nicht? Vielleicht ein wenig zu groß geraten …“
„Natürlich wird sie heiraten wollen. Aber sie soll nicht heiraten müssen, das ist ein großer Unterschied.“
„Sie soll Qarl nicht heiraten müssen, das meinst du damit.“
„Er ist ein Widernatürlicher.“
Yanus nickte langsam. „Ich dachte mir schon, das du es so siehst …“ Er seufzte, griff tief in die Keksschale. „Sie hätte eine gute Schwiegertochter für uns abgegeben.“
„Sie hätte Evold bald den Rang abgelaufen – er ist mit Fina wesentlich besser beraten. Hast du Amil schon eingeladen?“
„Eingeladen? Was, hierher?“
„Weshalb nicht? Für Evold stellt er keine Bedrohung mehr dar … und du brauchst jemanden, der im Stall deine Nachfolge antritt. Der Junge kann offenbar ganz gut mit Viehzeug.“
„Du stellst dir das so einfach vor, Orelie. Der Junge will nicht einmal mit mir reden.“
„Dann gib ihm einen Grund, mit dir reden zu wollen“, sagte sie. „In dieser Sache solltest du dir nicht noch einmal 13 Jahre Zeit lassen.“
An diesem Abend quälte sich Yanus noch einmal zum Stall hinaus. Per hörte das typische Geräusch, das sein Herr auf dem Kies verursachte und kam ihm entgegen, um ihn zu stützen. „Ich muss mit dir reden“, sagte Yanus leise. „Ich muss dich um Rat fragen.“
Per half ihm wieder, auf der Stalltruhe Platz zu nehmen. „Um was geht es, Herr?“
„Was soll ich unternehmen – meinen Sohn betreffend?“
„Welchen Sohn meint Ihr, Herr?“
„Meinen … richtigen Sohn. Orelie meint, ich solle ihn kommen lassen und ihn zu meinem Nachfolger machen.“
Per stellte die Laterne auf einen der Deckenbalken. „Herr – wenn Euch der Junge am Herzen liegt, solltet Ihr das spätestens jetzt beweisen.“
„Er sieht aus wie mein Vater …“, sagte Yanus unglücklich. „Und wer weiß, welche Gaben in ihm schlummern … aber ich glaube kaum, dass seine Mutter ihn zu mir kommen ließe.“
„Geht sie fragen“, riet Per. „Seiner Meinung nach habt Ihr seiner Mutter großes Unrecht angetan, Herr. Wenn Ihr ihm klar machen könnt, dass dem nicht so ist … lasst mich offen sprechen, Herr. Er ist ein Teufel und hat nichts bei einfachen Leuten verloren. In Euren Gesellschaftskreisen kann er sich vielleicht noch als Kuriosum hervortun. Als Ziegenhirte wird es eines Tages ein böses Ende mit ihm nehmen. Seine Mutter wird respektiert und man glaubt, der einäugige Reiter habe ihr seinen Willen aufgezwungen. Der Junge ist vaterlos, Herr. Schon unter den günstigsten Umständen kein leichtes Schicksal. Ein vaterloser Teufel … er wird nie irgendwo hingehören, wenn Ihr Euch nicht um ihn kümmert.“
Yanus vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich danke dir für deine Offenheit, Per. Noch morgen werde ich alles in die Wege leiten, um ihn hierher zu holen.“
Während er zu seinem Schlafzimmer hinaufstieg, spürte er, wie das Herz ihm gegen die Rippen sprang. Reiß dich zusammen. Du bist noch nicht alt. Er musste sich am Treppengeländer festhalten. Es brannten nur noch wenige Lichter im Haus. Eines stand oberhalb der Treppe auf einem Spiegelschrank. Yanus heftete seinen verschwimmenden Blick auf dieses Licht, setzte sich seitwärts auf eine der Stufen. Hatte er das Recht, sich zu wehren? Er hatte gelebt, soviel war sicher. Er hatte verzweifelt geliebt. Er hatte gekämpft. Er hatte geblutet, er hatte sich neu verliebt und die Frau bekommen, die er so dringend hatte haben wollen. Er war schon einmal zu neuen Ufern aufgebrochen. Weshalb sperrte er sich jetzt? Er konnte das Licht kaum noch sehen. Seine Finger gaben nach und die Hand, die sich eben noch am Geländer festgekrallt hatte, sank ihm in den Schoß. Für einen Augenblick glaubte er, ein geflügeltes Wesen neben sich sitzen zu sehen. Ein Wesen mit einem gütigen, sonnenerfüllten Gesicht. Yanus spürte die Hände des Mannes, die Spitzen der rosenroten Schwingen, die seinen Brustkorb streiften. Er hörte nicht mehr, wie sein Gehstock über die Treppe nach unten rutschte.
ENDE DES ZWEITEN BUCHES
BALD GEHT ES WEITER MIT DEM DRITTEN BUCH, "INSELN UND WÄLDER"!
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Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011
Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2011
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