Letzten Samstag hatte ich eine Erleuchtung. Es war kein überwältigendes Gefühl, kein Lichtblitz, der die Konturen des Umfeldes verschwimmen lässt. Es war ein Gedanke, der auf recht leisen Sohlen kam, scheinbar um eine der zinnenförmig geschnittenen Hecken von ‚The Courts Garden’ bog, in dem ich mich gerade befand. Es war kein neuer Gedanke, ich habe ihn bereits in vielen Formen gefunden, in alten und neuen Texten, aber der Eindruck folgte erst am Samstag, während der Himmel abwechselnd blau und grau war. Der Gedanke ging so: Jeder Garten ist ein Roman. Im Garten wird Realität nach dem Willen des Gestalters umgeordnet, neue Beziehungen werden in Szene gesetzt oder heruntergespielt, Charaktere ausgebaut, auf vielen verschiedenen Ebenen. Und weshalb verbringe ich meine (im Augenblick sauer verdienten) Wochenenden damit, ausgerechnet Gärten aufzusuchen? Wenn Gärten so etwas wie Romane sind, dann wohl, weil ich ein Leser bin.
Ich lese Bücher, ich lese Gärten, Häuser, Landschaften, Musik, Bilder, Menschen. Ich bin Mitglied im National Trust geworden, um dieser Leidenschaft nachgehen zu können – jedes der historisch bedeutsamen Häuser, die man mit der Mitgliedschaft umsonst besuchen kann, ist eine andere Erzählung.
‚The Courts Garden’ liegt in Holt, Wiltshire, etwas über eine Stunde Fahrt von meinem Wohnort entfernt, man parkt hinter der ‚Village Hall’ und überquert eine erstaunlich geschäftige Straße. Hinter einer Mauer wird es ruhig. Ich bin früh da, sie haben gerade erst aufgemacht. Das Haus ist nicht zu besichtigen. Es ist, verglichen mit den Häusern, die ich während der letzten Wochen besuchte, klein und grau, um es herum sind die Gartenräume gruppiert.
Zur linken Seite des ‚Main Lawn’ wächst eine Reihe von Eiben, die aussehen wie aufgestellte Schlafmützen. Beschnittene Buchselemente und eher wuselige Staudenbeete fügen sich zur Romanwelt: Seerosenteiche und ein kleiner griechischer Tempel, in dem sich jetzt Besucher ausruhen, im äußeren Ring des Gartens ein Arboretum, wie Schachfiguren aufgestellte Bäume, jeder in seiner eigenen dunklen Form, der Obstgarten, noch morgenfeuchtes Gras. Die akkurat geschnittene Hecke, die in einer scharfen Zacke endet, die Richtung Haus deutet. Die geformten Sträucher gleichen fremdartign Lebensformen, Aliens. Die Räume des Gartens wie einzelne Kapitel, Abschnitte der Reise. Die Wege auf den einen oder anderen Effekt hin ausgelegt: Überraschung, Überwältigung, Geborgenheit, die langsame Öffnung, Schritt für Schritt.
Wenn ich zurückdenke, kommt mir ‚The Courts Garden’ grün und leuchtend blau vor. Katzenminze-Blau. Salbei-Blau. Aber ich kann mich auch an rosa Herbstanemonen erinnern und dunkelrote Seerosen, das helle Laub längst verblühter Iris im ‚Dye Pool’. Ich habe in den letzten Wochen viele Gärten besucht und andere haben eine tiefere
Resonanz erreicht – der unglaublich schöne Obst- und Gemüsegarten von ‚Grey’s Court’, in dem man unter einer 120 Jahre alten Glyzinie herumlaufen kann und in dem Artischocken und Wicken, Kapuzinerkresse, Spalierobst, Fenchel, Rosen und Kräuter nur scheinbar ungeordnet nebeneinander wachsen. ‚Hidcote Gardens’, wo man in Gefahr gerät, sich selbst zu verlieren, während man den ganzen Tag sacht traumatisiert die immer neuen Episoden der Gartenräume zu erfassen versucht, eine ganze Reihe von Romanen. Vielleicht waren all jene Gärten Stufen auf dem Weg zu meiner kleinen Einsicht, aber ich hatte sie erst in ‚The Courts’, zwischen Schlafmützeneiben und Katzenminze, den zinnenförmigen Hecken und scharfen Kanten.
Sie kam langsam, tastend, um sich raumgreifend über diesen Tag zu legen, über mein ganzes bisheriges Leben, um es genau zu nehmen. Das Wissen darum, zu allererst ein Leser zu sein, hat etwas Tröstliches. Es ist endlich etwas, woran ich mich halten kann.
Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011
Alle Rechte an Bild und Text vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2011
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Widmung:
Für Ma