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IV



Die Winterfeiertage standen kurz bevor. Das Haus roch nach Zimtgebäck und den Girlanden aus immergrünem Laub, die die Dienstboten in der Eingangshalle aufgehängt hatten. Yanus saß im Zimmer seiner Frau auf dem gepolsterten Fußboden und blies in die heiße Teetasse. „Ich verstehe nichts von dem, was du mir da gerade sagen willst, Orelie.“
„Ich möchte dir sagen, dass ich für die Feiertage einige Einladungen ausgesprochen habe.“ Sie hustete, wickelte sich enger in den grobgewebten Schal. „Unser Sohn ist siebzehn Jahre alt und es gibt da einige Mädchen in der Umgebung, die ich als geeignete Schwiegertöchter empfinde.“
Yanus runzelte die Stirn. „Du meinst, du willst Evold verheiraten?“
„Seien wir ehrlich, Yanus – ich glaube kaum, dass ich noch lange durchhalte. Ich habe stets alle Kraft in meine Worte gesteckt – mein Körper ist alt und ausgelaugt. Und selbst du leidest unter den Jahren, auch wenn dein Gesicht so jung ist wie eh und je. Wenn wir unsere Enkelkinder noch in die Arme schließen wollen, muss sich Evold rasch für eine Frau entscheiden.“
Yanus schob die Füße dichter an die im Boden eingelassene Feuerstelle, über der der Teekessel hing. „Das heißt, du hast sie hierher eingeladen?“
„Es ist nur ein Essen, Yanus, kein Grund zur Panik. Ich habe drei benachbarte Familien eingeladen. Gute Familien. Sie werden ein, zwei Tage bleiben und ihre Töchter vorführen.“
„Kann Evold sich nicht bei Hofe verlieben?“, grummelte Yanus.
„Bei Hofe ist er zu sehr mit den Königlichen Gärten beschäftigt“, setzte Orelie dagegen. „Du wirst es aushalten.“
„Sie werden mich begaffen.“
„Oder deine Pferde kaufen.“ Orelie nahm einen großen Schluck Tee. „Sie haben bereits alle zugesagt. Du warst bislang immer so sehr beschäftigt. Es ist mein Haus, Yanus, ich kann einladen, wen ich will.“
„Gut, aber wenn es zu furchtbar wird, werde ich im Stall schlafen, essen und alle Abende verbringen.“
Sie rieb sich mit den Fingerspitzen über die müden Augen. Ihr Haar war so grau geworden in letzter Zeit. Yanus seufzte. „Also gut. Ich werde versuchen, mich so unteuflisch wie möglich zu benehmen.“

Yanus begann, seinen Ziehsohn zu beobachten. Evold verbrachte entschieden zuviel Zeit damit, melancholisch aus Fenstern zu starren. Orelie hatte recht – je mehr Frauen, um ihn zu beschäftigen, desto besser. Und vielleicht profitierte er selbst ja auch davon. Warum sollte er sich nicht am Anblick junger Mädchen erfreuen? Natürlich würden sie alle in ihm nur den einäugigen Reiter sehen … Yanus räusperte sich.
Evold zuckte zusammen. „Musste das sein?“
„Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, was die nächsten Tage auf dich zukommt“, warnte Yanus seinen Ziehsohn, der in formvollendeter Dichterpose am Ebenholzsekretär saß.
„Mutter hat mir bereits alles erzählt“, sagte Evold kalt. „Du hast keinen Grund, dich ausführlicher als nötig mit mir zu beschäftigen.“
„Ich dachte nur, dass du vielleicht … Einwände hättest“, murmelte Yanus.
„Einwände gegen was? Als Erbe meiner Mutter ist es meine Pflicht, ein hübsches fruchtbares Mädchen zu ehelichen. Ich kann sehr wohl zwischen der Welt meiner Mutter und der Welt, wie sie wirklich ist, unterscheiden, Vater.“
Yanus hasste es, wenn Evold ihn ‚Vater’ nannte. „Hör zu: Wenn du noch Zeit brauchst …“
„Wozu Zeit verschwenden?“
„Nun … das ist wohl auch ein Standpunkt … Schön, dass wir drüber geredet haben.“ Yanus wandte sich ab. „Dann lasse ich dich wohl besser weiterarbeiten.“
„Ja, wohl besser“, echote Evold.

Es war albern, immer sofort in den Stall zu laufen, wenn er sich mies fühlte, aber Yanus hatte festgestellt, dass ihm die ruhige, erdige Atmosphäre im Stall half, alles zu überdenken, Entscheidungen zu treffen und dabei gelassen zu bleiben. Diesmal war er allein, die Pferde waren auf die Weide gebracht worden, alle bis auf eine hochtragende Stute, die mit geschlossenen Augen vor sich hindöste. Yanus setzte sich auf die Stallkiste, legte den Stock über die Kante des Deckels. Hübsche Mädchen waren eine Sache – Orelies Fatalismus eine andere. Spürte sie den Tod an den Knochen nagen? Spürte sie ihn, wie er ihn spürte – wie einen Schleier, der darauf wartete sich heben zu dürfen? Yanus schloss die Augen, lehnte sich an die Wand. Wollte er eine Hochzeit in diesem Haus? Wollte er kleine Kinder? Er biss sich auf die Lippen, als der Schmerz durch seine Hüfte schoss. Alles, was er wollte, war, zu Annies Hütte zu reiten. Er wollte die Tür aufstoßen und seinen Sohn auf einem Schemel sitzen sehen, ohne die eklige Fitzmütze. Er wollte den durchdringenden Ziegengeruch riechen, ein paar Scherze mit Annie machen – sich warm fühlen, endlich einmal wieder. Es war, als würde ihm das Haus entgleiten, selbst, wenn Orelie und Evold bei Hofe waren, getraute er sich kaum eine Vase zu verrücken. Der Stall war sein eigenes Territorium. Hier fühlte er sich sicher. Er versuchte die Knie anzuziehen, aber sein Bein protestierte. Er stieß ein leises Wimmern aus. Die Stute schob ihren riesigen Schädel über die Tür um nach ihm zu sehen. Die Nase des Pferdes berührte seinen Nacken. Und das alles sollte er mit Besuch teilen müssen? Er sollte die Ruhe der Feiertage opfern für den Heiratsrummel um seinen unzugänglichen Ziehsohn? Das Pferd leckte ihm übers Haar. Yanus lachte. Die Stute war mit dem Hengst verwandt, den Qarl vor so langer Zeit gekauft hatte, war schwerer als die Pferde, die er früher im Stall gehabt hatte, aber die Nachfrage nach kräftigen ruhigen Tieren war in den letzten Jahren gestiegen. Yanus verkaufte sie hauptsächlich an Kaufleute, die gute Kutschpferde brauchten. Orelie hatte schon Recht, vielleicht verhalf ihm der Feiertagsbesuch zu weiteren Käufern. Es erstaunte ihn, dass die Familien zugestimmt hatten, den Besuch anzutreten, aber vermutlich war es die Neugierde, die sie antrieb … es rumpelte hinter ihm. Per stand, mit zwei Sätteln beladen, in der Stallgasse. „Ihr seid schon wieder hier, Herr?“, fragte er mit sanftem Tadel. „Eure Frau wird sich sicher fragen, ob Ihr Euch überhaupt noch für das Haus interessiert.“
Yanus seufzte. „Ich weiß, ich weiß. Wie macht sich Evold auf dem Pferderücken, Per?“
Der Stallmeister lächelte schief. „Er ist der geborene Fußgänger, Herr. Aber er bemüht sich.“
„Will ich ihm auch geraten haben“, sagte Yanus leise. „Immerhin bekommt er hier Einiges geboten. Orelie hat Heiratspläne für ihn.“
Per nickte langsam.
Yanus stemmte sich von der Kiste hoch. Per reichte ihm seinen Stock. „Es geht alles viel zu schnell“, beschwerte sich der Hausherr. „Die Fohlen werden zu schnell erwachsen.“
Per sah ihm nach, wie er humpelnd den Stall verließ.

An diesem Abend starrte Yanus lange Zeit in den Kamin. So lange, bis seine Gattin das Zimmer betrat, in einen seidenen Hausmantel gewickelt, blass und verlebt aussehend. „Was ist los?“, fragte sie gereizt.
Er sah sich im dunklen Zimmer nach ihr um. Von ihr schien ein schwaches Leuchten auszugehen, wie das eines Glühwürmchens, das mit aller Macht sein Licht unterdrückt. Yanus streckte die Hand aus. Sie kam zu ihm, sank neben seinem Sessel in die Knie. „Was ist?“, fragte sie noch einmal.
„Hast du Evold je als deinen leiblichen Sohn betrachtet?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Nein, natürlich nicht.“
„Obwohl er dir in seinen Begabungen so sehr gleicht?“
„Ich habe ihn nun einmal nicht geboren, Yanus. Und ich war nie der mütterliche Typ. Wir haben den Erben für das Haus, darum ging es doch.“
„Orelie … es gibt da etwas, das du wissen musst.“
Sie setzte sich sofort aufrecht hin. „Schlägt jetzt die Stunde der Wahrheit?“
„Damals … damals als du bei Hofe warst und ich den Reitunfall hatte …“ Er strich über das schmerzende Bein. „Damals nahm mich die Heilerin auf, weißt du noch?“
Orelie lächelte säuerlich. „Yanus … wenn es um deinen kleinen Bastard geht – das weiß bereits das ganze Hinterland.“
Yanus sah sie entsetzt an. „Das heißt …“
„Ein solches Kind ist selbstverständlich Gegenstand vieler Mutmaßungen. Annie nimmt es in Kauf und so bleibt dem Jungen wohl auch nichts anderes übrig.“
„Du hast es die ganze Zeit über gewusst?“
„Für wie dumm hältst du mich? Wittländer lieben Tratsch, ich dachte, das hättest du inzwischen gelernt.“
„Weshalb hast du nie etwas gesagt?“
„Weshalb hast du nie etwas gesagt?“ Sie stand auf, setzte sich in den zweiten Sessel, der am Kamin stand. „Glaubst du, ich hätte in den letzten Jahren nicht auch das ein oder andere Abenteuer gehabt? Am Hof gibt es nun einmal viele Männer, die fern von Heim und Herd in romantische Stimmung geraten. Als Frau bei Hofe bleibt einem nicht viel übrig als diese Stimmung aufzufangen. Ich dachte, der Bastard sei ein gutes Druckmittel, falls du mich eines Tages mit meinen Affären konfrontierst.“
Yanus sah in das blasse, traurige Gesicht seiner Frau. „Warst du überhaupt irgendwann einmal glücklich mit mir?“
Sie lächelte – um ihre Augen fächerten Falten auf. „Oh doch. Und ich bin es noch. Der Bastard hätte mir mehr als nur einen guten Grund gegeben, um unsere Ehe annullieren zu lassen, doch ich habe es nicht getan. Wir tun einander gut, Yanus. Und wenn wir jetzt ehrlich sein müssen: Du hast mein Leben immer lebenswert gemacht.“ Sie lehnte sich zurück, das mit Grau durchzogene Haar floss die Lehne des Sessels hinunter. „Aber jetzt bin ich alt. Jetzt sehne ich mich danach, Evold in den Händen eines Mädchens zu wissen, das ich für geeignet befinde. Jetzt soll alles einfach sein.“
„Erlaubst du mir, meinen Sohn kennen zu lernen?“
Sie lachte, griff nach einer Teetasse und leerte sie. „Du kannst tun, was du willst, Yanus. Ich habe dir nie Vorschriften machen wollen.“
„Aber in diesem Land bin ich der Teufel und du die berühmte Dichterin.“
„Tu was du willst. Sprich deinen Sohn an. Er wird dir nicht viel Dankbarkeit entgegenbringen, damit musst du rechnen.“

Aber die Feiertage kamen viel zu rasch. Plötzlich hielten ganze vier Kutschen auf dem Sattelplatz, überall standen Reisetruhen herum – Dienstboten halfen jungen Damen in festgeschnürten Korsetts zu Boden, das Gegiggel und Seidengeraschel war zu viel für Yanus’ Nerven. Er kümmerte sich mit Per um die Unterbringung der Pferde, traute sich erst am Nachmittag ins Haus zurück, als die Damen bei Tee und feinem Gebäck saßen. Er versuchte, den Stock so leise wie möglich aufzusetzen, aber das Hausmädchen erwischte ihn trotzdem. „Die Herrin wünscht Euch im Salon zu sehen, Herr.“
Yanus lächelte gequält. „Natürlich tut sie das“, sagte er und kam Orelies Wunsch nach. Sobald er die Tür passiert hatte, wandten sich ihm die Augen von acht Frauen zu, die alle ihre Teetassen auf die Untertassen sinken ließen. Die Mütter kniffelten den Hausherrn missbilligend an, die Töchter blickten schließlich zur Seite. Yanus sah noch ganz nach Stallarbeit aus, nicht so, wie sie sich einen wohlhabenden Teufel vorstellten. Das Wams war abgeschabt, die Hosen speckig, er hatte die Stiefel ausgezogen und lief auf Socken. Orelie lächelte in die Runde. „Du hättest dich ruhig umziehen dürfen“, sagte sie.
„Ich hatte das Gefühl, es sei dringend.“
Orelie grinste, hatte sich aber gleich wieder im Griff. „Meine Damen – mein Gatte, Yanus von Tredorn.“ Dann rasselte sie Ketten von Namen herunter, die Yanus gleich wieder vergaß. Er verbeugte sich, verließ den Raum, um sich umzuziehen. Sobald er die Tür geschlossen hatte, brandete Getuschel auf. Er fragte sich, wo Evold sich verkrochen hatte.

Beim Abendessen setzte Orelie ihn neben eines der Mädchen. Sie war etwas pummelig, blond und konnte die Augen nicht von ihm lassen. Ihr Kleid hatte die Farbe von Kornblumen und war mit kleinen weißen Blüten bestickt. Sie wagte kaum zu essen – zwischen jedem Bissen stierte sie Yanus an, als sei er eine Giftschlange. Die Mütter, die sich alle untereinander kannten, tauschten den neusten Tratsch des Hinterlandes aus, die wenigen Herren, die der Einladung Folge geleistet hatten, hielten sich an die Weinkaraffen. Evold, der Grund der Veranstaltung, saß sehr gerade auf seinem Stuhl, schnitt sein Essen in exakte Würfel und tat so, als würde er die Aufmerksamkeit der Mädchen nicht bemerken. Tatsächlich: Außer Yanus’ Tischdame sahen alle anderen Mädchen ihn an. Ihnen allen schien vollkommen klar zu sein, weshalb sie hier waren. Yanus musste zugeben, dass Evold sich Mühe gab. Er hatte den Leibdiener mit der Brennschere an sich herangelassen, sein sonst so wild durchwühlter Schopf machte heute Abend einen beinahe zahmen Eindruck. Evold war eine gute Partie – trotz seiner merkwürdigen Zieheltern. Er hatte bereits mit siebzehn Jahren einen gewissen Ruf im Land, verdiente eigenes Geld und hatte sich bei Hofe von seiner besten Seite gezeigt. Jedes der hier anwesenden Mädchen brannte darauf, vor dem König knicksen zu dürfen. Außer vielleicht Yanus’ Tischdame. Er wandte sich ihr zu. Sie schlug die Hand vor den Mund und ließ die Gabel fallen. Ihre Mutter zischte wütend. Yanus überkam mildes Mitgefühl. Immerhin war er der einäugige Reiter. „Schon gut“, sagte er leise, blinzelte dem Mädchen verschwörerisch zu. Es lief blutrot an und versteckte das Gesicht hinter der hastig emporgezogenen Serviette.

Nach dem Essen präsentierten sich die Mädchen bei der Abendunterhaltung. Es waren vier gekommen und alle sahen sich bemerkenswert ähnlich – sie waren dunkelhaarig, mit züchtig aufgesteckten Zöpfen unter kleinen Hauben, die Kleider in den Farben eines Frühlingsgartens, zartes Creme und Rosa. Nur das Mädchen im blauen Kleid, das bemerkenswert große Füße hatte, stach hervor. Die Mädchen sangen die Lieder des Hinterlandes. Yanus bemerkte, dass das Mädchen im blauen Kleid nur den Mund auf und zu machte, aber nicht wirklich sang. Er lehnte sich interessiert vor. Die Mutter lief indessen rot an, vermutlich würde auch sie das ein oder andere zu ihrer Tochter zu sagen haben. Orelie, unter all den Anwesenden am schlichtesten gekleidet, bemerkte das Verhalten ihres Ehemannes. Als sie sich zu Bett begaben, klopfte sie an die Tür seines Zimmers. „Wie ich sah, hast du deine Wahl bereits getroffen.“
Yanus grinste. „Es kommt nicht auf meine Wahl an, sondern auf Evolds. Er ist der Grund für den Zirkus. Du wirst sie morgen tanzen lassen, richtig?“
„Evold hat noch keine Neigung gezeigt“, bedauerte seine Ziehmutter.
„Wie soll er auch, wenn sie alle gleich aussehen? Die kleine Blonde fällt wenigstens aus der Reihe.“
„Sie steht eigentlich nicht zur Wahl. Sie ist die jüngere Schwester von einem der Mädchen.“
„Sie hat Angst“, sagte Yanus. „Und sie ist schüchtern. Sie ist noch kein dressiertes Tier. Das gefällt mir an ihr.“
„Sie heißt Fina. Fina na Fahan. Und ich glaube kaum, dass sie das ist, was Evold haben möchte.“
„Aber die anderen sind stumpf“, widersprach Yanus. „Sie sind Puppen an Fäden, die ihre Mütter halten.“
Orelie lächelte breit. „Hast du dich verliebt?“
„Sei nicht albern. Sie ist viel zu jung. Aber sie als Schwiegertochter zu haben, wäre sicher interessant.“


V



Hatte Liç sich jemals träumen lassen, dass ihr ein solches Leben beschieden sein konnte? Sie liebte die morgendliche Reise durch die Stadt – bald wusste das Pferd genau, welchen Weg es zu nehmen hatte und inmitten von Schneeflocken, glitzernden Pflastersteinen und müden Arbeitern fand Liç Zeit, die Gedanken gleiten zu lassen, sich auf den Tag vorzubereiten, den sie an seiner Seite verbringen durfte. Qarl legte Wert darauf, ein gewisses Maß an Gemütlichkeit im Kontor zu verbreiten, um die neuen Kunden, die sich zu ihm hineinwagten, mit der ruhigen Atmosphäre zu beeindrucken. Diese Strategie ging auf. Man plauderte, lehnte sich entspannt in die weichen Sessel zurück, es gab kein lästiges Anstehen, keine gereizten Worte. Liçs effektive Arbeitsweise garantierte einen reibungslosen Ablauf und Qarls charmante Art wickelte die Männer ein, die sich zu ihm setzten, eine dampfende Tasse bekamen und sich behaglich eine halbe Stunde herumlümmelten, bis alles besprochen worden war. Es roch nach Gewürzen und geschmolzenem Schnee, den parfümierten Pelzen der Kaufleute, gemischt mit einer besonderen warmen Note, die Qarls ganz persönlicher Geruch zu sein schien – Liç führte sie auf die Kräutermischung zurück, die die Motten aus seinen Kleidertruhen fernhielt. Bereits die Straßen der Stadt schienen ihr mit diesem Duft erfüllt zu sein, Erwartung und Erinnerung zugleich, die ihr in die Fingerspitzen krochen, an ihrem Rückgrat leckten – nichts vermochte, sie von diesem Gefühl abzubringen, nicht einmal ihre finster dreinblickende Mutter, die sicher ihre eigenen Vermutungen hatte, was die Begeisterung ihrer Tochter für das Kontor betraf. Seestadt schien in diesem Winter ein Gefäß für Liçs Freude zu sein. Endlich – endlich schienen all die Jahre, die sie in diesem erstickenden Haus zugebracht hatte, inmitten der Schüler, einen Sinn zu machen. Jede Minute ihres bisherigen Lebens deutete auf das Kontor des Seepferds. Auf Qarl und die vom Kaminfeuer geheizten Tage, an denen das Licht so rasch aus den Straßen glitt. Der Heimritt war unerträglich leer – sie spürte jede einzelne Stunde bis zum Morgen wie eine Last, die sie zusammenpresste, ihren Brustkorb quetschte, bis sie sich kaum noch zu Pferde halten vermochte. Sie ging durch jeden Tag wie durch ein Leben, mit dem silbrig schmeckenden Gefühl des Triumphes, jeden Morgen aufstehen zu dürfen. Als die Tage langsam wärmer wurden und sich die ersten blassen Blumen in den Gärten ihrer Straße zeigten, war ihr nicht, als dürfe sie nun ebenfalls blühen, sondern als fände etwas sein Ende. Mehr und mehr Schnee taute ab – und dann trug Qarl eines Morgens nicht mehr den riesigen Silberfuchspelz, sondern den Übergangsmantel. Er sah anders aus und sofort hatte sich für Liç die gesamte Atmosphäre des Kontors verändert. Er ging weniger gelassen an seine Geschäfte, kochte anderen Tee, erschien plötzlich rastlos und unzufrieden. Die Hektik des beginnenden Frühlings beraubte Liç ihrer liebgewonnenen Gewohnheiten. Aber die Kontakte, die Qarl während des Winters aufgebaut hatte, trugen nun erste Früchte. Liç schrieb immer größere Zahlen, Qarl machte Gewinn an der Zwiebelbörse und raste von Kontor zu Kontor. Nur Liç saß an ihrem Tisch, zwischen den Blumen, die Qarl ihr mitbrachte und spürte, dass etwas Entscheidendes fehlte. Die Fenster waren nicht länger vom Frost verschleiert, sie sah die Menschen mit leuchtenden Gesichtern durch die engen Straßen laufen, während sie selbst graue Wolken auf sich zurollen spürte – etwas, das leicht metallisch auf der Zuge schmeckte und doch von gewisser Süße war. Jetzt konnte es vorkommen, dass sie die Bilder anstarrte, die Qarl aufgehängt hatte und für einige Sekunden nur noch die Schatten der Wasserpflanzen sah. Sie wusste, dass sie einen Urgroßvater hatte, der ihre Gabe teilte – aber teilte er auch die Träume, die geruchlichen Spuren, die sie noch tagelang verfolgten? Die brackigen Dämpfe, die aus den Möbeln zu steigen schienen, der feuchte Schlamm, der ihre Mundhöhle überzog … sie saß mit überschlagenen Beinen am Tisch und rang mit sich und den dringlichen Eindrücken. Als Qarl das erste Mal mit dem scharlachroten Sommermantel im Kontor auftauchte, fragte Liç: „Gibt es Neuigkeiten von Calmorran na Carran?“
Qarl, der gerade begonnen hatte, sich den Mantel von den Schultern zu streifen, hielt in der Bewegung inne. „Nein. Nein, noch immer nicht.“
„Du solltest beginnen, Nachforschungen anzustellen“, sagte sie leise.
Qarl schoss die Röte ins Gesicht – er war es noch immer nicht gewöhnt, direkt von ihr angesprochen zu werden. „Meinst du wirklich? Morrie ist dafür bekannt, dass er sich Zeit lässt.“
„Du kennst ihn wohl besser als ich.“ Liç wandte sich ihren Büchern zu, senkte den Blick.
Qarl ließ den Mantel langsam zu Boden fallen. „Du findest, ich sollte mir Sorgen machen?“
„Das überlasse ich dir.“ Liç tunkte den Gänsekiel ins Tintenhorn.
Qarl runzelte die Stirn, schüttelte sich eine Locke aus dem Blick. „Wie sehen die Bücher aus? Könnten wir einen Misserfolg verkraften?“
„Für den Moment, ja. Aber wir müssten damit rechnen, dass viele unserer Kunden sich andere Kontore suchen.“
Qarl stützte die Hände auf die Tischplatte, zwang sich, ruhig zu atmen. „Ich werde jemanden beauftragen.“ Er richtete sich ruckartig auf, klaubte den kostbaren Mantel vom Fußboden. Liç entging nicht, dass er ihr einen irritierten Blick zuwarf, als er sein Büro betrat.

„Deine Tochter wird komisch“, sagte Qarl noch am selben Abend. Er hatte sich mit Firusz im Theater Der Faule Kater verabredet und ihn zu Bier, Hähnchen und vulgärer Unterhaltung getroffen. Um sie herum tobte das Leben, Qarl sprach trotzdem leise. Firusz musste sich weit vorbeugen, um ihn zu verstehen. „Wie meinst du das?“
„Sie spricht plötzlich.“
„Und das stört dich?“
„Ich hatte das so nicht vorgesehen. Sie hat mich praktisch dazu genötigt, Morrie nachzuspionieren.“
„Aber was, wenn wirklich etwas geschehen ist? Die westländische Küste ist tückisch.“
„Morrie ist derzeit nicht in Westland. Er hat sich auf den Weg zu den Gewürzinseln gemacht.“
„Aber dann hat er doch sicher noch ein wenig Zeit“, beruhigte ihn Firusz.
„Das habe ich Liç auch gesagt. Sie hat sich verändert, findest du nicht?“
„Zuhause gibt sie sich wie gewohnt. Aber vielleicht hat sie sich jetzt im Kontor eingelebt und traut sich endlich das Maul aufzumachen. Sei froh, dass sie sich wohlfühlt.“
Qarl rutschte auf seiner Bank herum. „Ich hätte es lieber, wenn sie weiterhin ruhig und effektiv bliebe. Sie hat mich erschreckt. Was nützt es, wenn sie sich so wohlfühlt, dass sie mich beunruhigt?“
Firusz grinste schief. „Ich freue mich für sie“, sagte er.
„Sie hat die Hosen an“, sagte Qarl düster. „Sie hat den Überblick über unsere Finanzen – und jetzt muss ich mir auch noch um Morrie Gedanken machen.“
„Apropros Gedanken: Ich wollte dich was fragen. Nächsten Monat wird Yanus’ Ziehsohn heiraten. Willst du uns auf eine zweite Reise ins Hinterland begleiten?“
Qarl stellte den Bierkrug so laut ab, dass einer der Schauspieler auf der Bühne zusammenzuckte. „Das ist vermutlich die schlechteste Idee, die du jemals hattest.“
„Warum? Du könntest versuchen, ein wenig auszuspannen – und vielleicht ein paar lose Fäden wieder aufnehmen.“
„Per ist verheiratet“, schnauzte Qarl.
„Und das soll dich abhalten?“, spottete Firusz.
„Wer soll dann hier die Geschäfte im Auge behalten?“
„Leite die dringenden Fragen einfach an Qasimir weiter.“
„Das würde ihn ärgern“, mutmaßte Qarl.
„Maßlos ärgern“, bestärkte ihn Firusz. „Ach, komm schon – ich hätte viel mehr Spaß, wenn du dich überwinden könntest. Und Liç freut sich sicher auch. Was glaubst du, wie sie sich fühlt – ihr Cousin heiratet und sie muss daneben stehen und ahnen, dass sie als alte Jungfer enden wird.“
Qarl sah ihn böse an. „Du solltest nicht so über deine Tochter reden“, sagte er. „Was bin ich, wenn Liç mit siebzehn schon eine alte Jungfer ist?“
Firusz hüstelte. „Ein eingefleischter Junggeselle?“
Qarl wandte den Blick ab. „Ist es nicht seltsam, dass man da mit zweierlei Maß misst?“
Firusz kratzte sich an der Nasenspitze. „Nun … eigentlich hatte ich gehofft, Liç würde sich in ihren Ziehcousin verlieben und eines Tages Yanus’ Haus erben. Aber natürlich war das albern. Lup hätte eine solche Heirat niemals zugelassen.“
„Dann sei froh, dass er eine andere gefunden hat.“
„Bitte, komm mit. Ich weiß, Liç hätte dich sicher gern dabei.“
Qarl seufzte. „Nur unter einer Bedingung: Du machst Qasimir das Ganze schmackhaft. Ich kann für eine Weile gut auf sein Was-ist-denn-jetzt-schon-wieder-Gesicht verzichten.“

Lup hatte sich bereits Gedanken um ein Hochzeitsgeschenk gemacht. Sie hatte aus ihren eigenen Arbeiten ein breites besticktes Leinenband zu Tage gefördert und setzte ihre Tochter darauf an, unter den Lagerbeständen ihres Kontors einen Stoff ausfindig zu machen, der zu dem zarten Kornblumenmuster passte. „Eines Tages wird man das Gleiche für dich tun“, sagte Lup an diesem Abend, als sie wieder über eine neue Stickerei gebeugt am Kamin saß. „Eines Tages wirst auch du von Geschenken überhäuft werden, wenn sich der richtiger Mann für dich findet.“
Liç legte ihre Schreibfeder beiseite. Erwartete ihre Mutter, dass sie sich an der Unterhaltung beteiligte? Sie räusperte sich fragend.
Lup lächelte ihrer Stickerei zu. „Für Jeden findet sich eines Tages etwas Passendes. Selbst ich heiratete deinen Vater, obwohl jeder mir prophezeite, ich würde niemals zur Ehefrau werden, nachdem ich den Obersten meiner Sippe abgewiesen hatte.“
Liç biss sich auf die Unterlippe. Dann beschloss sie, gegen ihre Natur zu handeln. „Du hast ihn also nur deshalb geheiratet, um dir etwas zu beweisen“, stellte sie sachlich fest.
Lup stieß einen Schmerzenslaut aus. Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Tochter begriff, dass Lup sich an der Nadel gestochen hatte. „Nein“, sagte Lup schließlich. „Ganz so war es nicht.“
„Vater war deine Chance aus der Steppe herauszukommen“, sagte Liç leise. Ihre dunkle Stimme hatte plötzlich etwas sehr Bestimmtes – sie erinnerte an jene des Qasimir na Qes, des Mannes, dem sie so lange beim Unterrichten gelauscht hatte. „Verzeih mir, Mutter – aber ich werde nicht aus diesen Gründen eine Ehe auf mich nehmen.“
Lup hatte hektische Flecken im Gesicht, ihre schwarzen Augen funkelten. „Du wagst es, mich zu verurteilen? Ich bin der Grund, weshalb du dein Leben überhaupt hast! Hast du all die Jahre so wenig gesagt, um jetzt deine Undankbarkeit zu beweisen?“
„Nein“, sagte Liç ruhig. „Ich habe lediglich versucht, dir Arbeit zu ersparen, Mutter. Du brauchst keine Zeit darauf verschwenden, jemanden für mich zu suchen, wie Yanus es für Evold getan hat. Falls ich heiraten sollte, was ich für weniger wahrscheinlich halte als du annehmen magst, werde ich die Wahl treffen und ich die Modalitäten festlegen.“
„So habe ich es auch gehalten“, zischte Lup.
Liç nickte langsam. „Aber mir geht es um die Gründe, die du hattest, Mutter. Ich werde niemanden heiraten, nur weil er ein Ausweg für mich sein könnte.“
Lup hatte die Stickerei beiseite gelegt. „Natürlich hast du Mitleid mit deinem Vater. Aber bedenke: Ich stehe ihm nicht im Weg. Er darf sich jemanden suchen, wenn er will.“
„Als Teufel in dieser Stadt ist es ihm unmöglich eine Frau zu finden, die sich von ihm anfassen lässt. So wie du keinen Mann finden wirst, der bereit wäre, mich zu heiraten. Du hattest Mut, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber auch du bist davor zurückgeschreckt, weitere Teufelskinder in die Welt zu setzen. Ich mache dir das nicht zum Vorwurf – eingedenk meiner Situation war es sicher weise, diese Vorkehrungen zu treffen – aber verlange bitte nicht, dass ich diese Entscheidung respektiere.“

„Je schneller ihr ins Hinterland abreist, desto besser“, sagte Lup, als sie an diesem Abend die Schuhe von den Füßen streifte und mit angezogenen Knien unter die Bettdecke schlüpfte. Ihr Mann roch nach Bier und Brathuhn. Firusz ächzte, bohrte den Kopf in die Kissen. „Was ist denn nun schon wieder?“
„Du hast unsere Tochter von den falschen Leuten erziehen lassen.“ Sie klopfte die Decke um ihren Bauch herum fest. „Sie gibt ihre Meinung inzwischen sehr unverblümt zum Besten.“
Firusz kicherte. „Das klingt nach Qasimir na Qes.“ Er schlug die Hand vor den Mund. Ihm war immer noch schwummerig. „Qarl kommt auch wieder mit.“
Lup stieß ein verächtliches Schnaufen aus. „Ohne Zweifel macht er sich Hoffnung auf ein perverses Abenteuer.“
Firusz drehte sich erstaunt zu ihr um. „Qarl hat ein kleines Abenteuer verdient. Er arbeitet so hart und er ist so unglücklich. Wenn Per ihm das geben kann, was er braucht, warum nicht?“
„Weil Per jetzt verheiratet ist“, knirschte Lup. „Und sicher ein oder zwei Kinder sein eigen nennt. Qarl sollte ihn nicht zu schändlichem Verhalten anstiften.“
„Offenbar kennst du Qarl noch immer nicht sehr gut, Lup.“ Firusz winkelte das rechte Bein an, zog den Bettsocken gerade. „Aber vielleicht findet er einen anderen Stallburschen …“
Lup drehte sich um, die Arme vor der Brust verschränkt. „Du gönnst ihm mehr als mir“, sagte sie boshaft.
„Nun, er ist mein bester Freund. Ich möchte, dass er etwas vom Leben hat.“
„Ganz meine Rede: Was habe ich vom Leben? Dieses Haus. Einen Mann, der durch die Liebschaften anderer Leute lebt und eine Tochter, die kaum die Verachtung verbergen kann, die sie für mich empfindet.“
Firusz richtete sich auf. „Was genau hat Liç dir gesagt?“
Lups Stimme brach. „Sie hält unsere Ehe für einen Misserfolg.“
Firusz schloss für einen Moment die Augen. „Und – ist sie es nicht? Bist du etwa glücklich mit mir? Bist du glücklich mit dir selbst?“
„Ich kann es kaum ertragen, dass ich dieses Haus mit dir teilen muss. Ich halte es sauber, ich räume es hinter dir auf. Damals, als du mit Liç im Hinterland warst, hatte ich die schönste Zeit meines Lebens. Ich habe im Garten gearbeitet, ich habe für mich allein gekocht. Mit mir allein bin ich glücklich.“
Firusz spürte sein Inneres starr werden. „Willst du, dass ich dich verlasse?“
„Nein. Aber du könntest Qasimir um ein Zimmer im Haus der Einhörner bitten.“
Firusz’ Mund schmeckte plötzlich bitter. „Unter einer Bedingung.“
Lup atmete schneller. „Die lautet?“
Er streckte die Hand aus, legte sie auf die rechte Brust seiner Frau. „Ich weiß, dass es die richtige Zeit im Monat ist. Du könntest mich zu dir lassen, ohne eine Kind zu empfangen.“
„Das ist offenbar alles, woran du denkst!“
„Wenn man so ausgehungert ist wie ich, hat man kaum eine andere Wahl.“ Er presste die Hüfte gegen ihre, den Mund in ihre Halsbeuge. Das, was zuvor bitter auf seiner Zunge gelegen hatte, schmeckte jetzt süß, duldete keinen Aufschub, nun, da es versprach, sich weiter zu entfalten. Seine Frau roch nach Rosenwasser und sauberem Leinen, ein Duft, der ihr Tieferes überstimmte, ihre zweite Natur … er schlug den Saum ihres Nachthemdes nach oben.
Lup sah sich zu ihm um, beim Sprechen streifte ihre Oberlippe seine Unterlippe. „Du fragst Qasimir nach einem Zimmer?“
„Ja.“ Firusz’ Stimme war heiser, gehorchte ihm kaum. „Es dauert nur wenige Tage, bis wir sowieso aufbrechen.“
„Aber wenn ihr wiederkehrt …“
„Wir werden ins Hungrige Einhorn ziehen“, versprach ihr Mann und rollte sich zwischen ihre Schenkel.


VI



Liç wusste, dass Qarl es nicht schätzte, von seinem Büro getrennt zu sein, dennoch musste selbst sie zugeben, dass er die letzten vier Tage ausgesprochen grummelig gewesen war. Die letzte Reise mit ihm hatte sie in so guter Erinnerung behalten, dass der Qarl mit dem finsteren Gesicht, der jeden Morgen zu ihr, ihrem Vater und den kostbaren Hochzeitsgeschenken in die Kutsche gestiegen war, ihr plötzlich auf die Nerven ging. Weshalb konnte er die Landschaft, die sich bis zum Meer erstreckte, diesmal nicht sehen? Er unter allen Menschen musste doch verstehen, dass sie selbst voller Vorfreude war, von der festen Absicht beseelt, den Grünen See zu besuchen … in ihr baute sich langsam ein Glücksgefühl auf. Vielleicht würde es ihr sogar möglich sein, bei der Hochzeitszeremonie zu weinen, wenn sie das, was sie im See verloren hatte, bis dahin wiederfand … es war möglich, oder nicht? Sich nach 14 langen Jahren wiederzufinden, nur deshalb, weil Evold heiratete, weil es von ihr erwartet wurde, der Einladung Folge zu leisten und man ihr ganz nebenbei diese Chance bot. Sie sah all die blühenden Büsche um sich herum, die Entenküken, die durchs kurze Ufergras aufs Wasser zuhuschten, sie sah die Schafherden, die Hirten, die stehen blieben und ihre breitkrempigen Hüte zogen. Die Kutsche trug die Farben und das Wappentier der Einhörner bis tief ins Land hinein. Jeder hatte vom Erfolg der Gesellschaft gehört, jeder wusste, dass diese Kutsche wichtig war. In den Gasthöfen wurden sie zuvorkommend behandelt, die Zimmer waren so sauber, dass selbst Lup keine Einwände erhoben hätte, und dennoch: Qarl saß mit gerunzelter Stirn in dem gut gefederten Gefährt. Am letzten Tag ihrer Reise hörte Liç ihm ihrem Vater zuflüstern: „Du hast mich betrunken gemacht und dir so meine Zustimmung zu diesem Unternehmen gesichert. Du bist ein fieser Teufel, Firusz.“
Aber Firusz grinste ihn nur an.
Liç kam sich außen vorgelassen vor. Sie zog ein Buch aus ihrem persönlichen Reisebündel, schlug die Beine übereinander und begann, den Versroman zu lesen, mit dem Orelie von Tredorn soviel Aufsehen erregt hatte: die Geschichte eines Teufelsjungen, der abgeschieden von der Welt aufgezogen wurde und schmerzhaft lernen musste, dass seiner Mutter einst großes Unrecht widerfahren war. Der Bastard hatte sich so gut verkauft, dass Liç nur über die Kontakte des Kontors an ein gebrauchtes Exemplar gekommen war. Sie fand, sie sollte in der Lage sein, sich auch mit der Herrin des Hauses unterhalten zu können, die sie jetzt zum ersten Mal treffen sollte. Hatte Yanus sich eine Frau gesucht, die Lup ähnlich war oder nicht? In wie weit entsprach sich der Frauengeschmack zweier Teufel? Vielleicht ließen ihre zukünftigen Beobachtungen Rückschlüsse auf ihr eigenes Verhalten zu – weshalb ausgerechnet Qarl? Zum ersten Mal hatte sie begonnen, ihre Wahl zu hinterfragen. Gut, Qarl war groß, breitschultrig und hatte jenes dunkle lockige Haar, für das manche Frau sicher gemordet hätte – aber er hatte auch eine eher mädchenhafte Stupsnase, war definitiv um Einiges zu dick und hatte einen Charakter, der zwar grundsätzlich von freundlicher Natur, doch in einigen Dingen nur schwer einzuschätzen war. Weshalb war er überhaupt mitgekommen, wenn ihm diese Reise so offensichtlich keinen Spaß machte?
„Wolltest du nicht lesen?“, fragte Qarl, der Liçs Blick auf sich ruhen spürte.
Liç lächelte – und für einen Augenblick hatte Qarl das verwirrende Gefühl, seinen großen Bruder in ihr zu sehen.
„Lass deine schlechte Laune nicht an meiner Tochter aus“, tadelte Firusz seinen besten Freund. „Sie ist nur hier, weil sie sich auf die Hochzeit freut, richtig?“
Liç sah ihren Vater an. Er sah unausgeschlafen aus, seine Kleider waren zerknittert und ganz sicher würde er sich das Haar waschen müssen, sobald sie Yanus’ Haus erreichten. „Natürlich freue ich mich auf die Hochzeit. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Alle unsere sonstigen Bekannten scheinen sich ja davor zu drücken.“
Qarl wurde knallrot, nahm die zusammengefaltete Zeitung, die Firusz an diesem Morgen gekauft hatte und öffnete sie so heftig, dass der obere Teil einriss.
Firusz zog die Nase hoch. „Ja, ich finde auch, es könnte viel mehr geheiratet werden. Kinder und so.“
Qarl machte „Hmhm“ hinter seiner Zeitung.
„Wenigstens ist Evold tapfer genug“, meinte Liç.
„Oder dumm genug“, sagte Firusz leise. Er hatte am vorhergehenden Abend wieder zuviel getrunken, in seinem Kopf schien jeder Gedanke zu dröhnen, einen Vibrierschatten zu hinterlassen. Nach einer Woche hatte er keine einzige Minute der letzten Nacht mit Lup vergessen. Er schien richtig gerechnet zu haben, denn das erste Mal seit 14 Jahren war es zwischen ihnen wieder so wie in der Steppe gewesen. Lup hatte ihn berührt, ihn so geküsst, dass er wusste, wie sie es meinte. In dieser letzten Nacht hatte er plötzlich die kalte Weite der Steppen auf seinem Rücken gespürt, auf dem jetzt die Spuren ihrer Nägel verheilten. Er hatte endlich, endlich wieder bei ihr sein, sich Zeit lassen dürfen. Sie hatte ihm ihr Versprechen für seines gegeben und er hatte diese Nacht ausgekostet, war am nächsten Morgen graugesichtig und triefäugig ins Büro geschlichen, mit einem Muskelkater, der direkt aus den dämonischen Sphären zu stammen schien. Er hatte jene unwichtigen Briefe geschrieben, die Qasimir von ihm verlangte, bis sein Vorgesetzter ihn mit einem so langen, neidischen Blick bedachte, dass Firusz sich beeilte, nach einer Unterkunft für sich und seine Tochter zu fragen. Und jetzt saß er in dieser Kutsche, und in seinem Körper verteilt spürte er das Zurücksehnen ins Dunkel, in den Geruch nach Leinen und Rosenwasser, in die weichen Innenseiten der Arme, die ihn umschlungen hielten, bis er nur noch ein Zittern war und vielleicht ein kleines Keuchen. Er schreckte auf, als die Kutsche durch ein Schlagloch ratterte. Liç war endlich in ihr Buch vertieft und Qarl tarnte sich noch immer mit der Zeitung, obwohl Firusz genau sah, dass er überhaupt nicht las. „Ich glaube, wir sind bald da“, sagte er. „Hinter diesem Hügel liegt Yanus’ Haus, ich bin mir ganz sicher.“
Liç ließ das Buch sinken, ihre türkisgrünen Augen waren zu Schlitzen verengt. „Du irrst dich, Vater. Wir haben noch ganze zwei Stunden vor uns.“
„Woher willst du das wissen?“
„In Gedanken habe ich die Reise zurück schon sehr oft gemacht“, gab sie zu.
„Du kannst dich unmöglich an alles erinnern“, mischte sich Qarl ein und schlug die Zeitung um. „Du warst erst ein kleines Mädchen.“
Vater und Tochter sahen ihn mit hochgezogenen Brauen an.
„Was?“, fragte Qarl verärgert.
Firusz zuckte die Achseln. „Sie ist ein Teufelskind mit einer Gabe. Natürlich kann sie sich an alles erinnern.“
Liç grinste schief – etwas, das Qarl noch nie an ihr gesehen hatte. Für einen Moment schien sein Herz auszusetzen. Vielleicht war sie ja noch immer das Teufelskind mit der Gabe – aber sie war auch eine Frau, die sich so sehr verhielt wie ein Mann, dass er plötzlich wusste, dass sie schön war. Er hatte das nie zuvor an ihr bemerkt, aber hier, in der schnell voranrollenden Kutsche, hatte sie all das, was einen jungen Mann ausmachte, was Griça na Sian ausgemacht hatte, der damals unter so tragischen Umständen auf der Blauen Brücke ums Leben gekommen war. So hatte Griça gelächelt und sie besaß sogar diesen typischen Humor – sie war ein Einhorn, wie sie es alle waren. Sie hatte die gleiche Ausbildung gehabt wie er – und wohl fast die gleiche Herzensbildung.
„Was ist los?“, fragte Firusz besorgt. „Soll ich den Kutscher anweisen langsamer zu fahren? Du bist grün um die Nase.“
Qarl schüttelte mühsam den Kopf.

Sie erreichten das Haus nach den von Liç prophezeiten zwei Stunden. Es sah anders aus. Wilder Wein rankte sich um die Mauern, bildete eine Schutzhülle, die nur an den Fenstern durchbrochen wurde, gab dem Haupthaus die Anmutung eines kühlen Mooskissens, das von blitzendweiß gestrichenen Zäunen umgeben war. Viele Stuten mit Fohlen standen im Schatten der Eichen. Auf dem Hof wurden sie bereits erwartet. Yanus stand auf seinen Stock gestützt da, ganz in Schwarz gekleidet, neben ihm ein junger blonder Mann in geblümter Weste, der offenbar sehen wollte, was aus seiner Cousine geworden war. Liç gab ihm die Hand, als er ihr aus der Kutsche helfen wollte, stieg auf den Kies herab und stellte fest, dass sie fast einen Kopf größer war als er. In ihrem schlichten Reisekleid wirkte das Mädchen, das Evold damals ohne großes Bedauern hatte abreisen sehen, selbstbewusst, trotz der Tatsache, dass sie das dicke schwarze Haar nur mit einem Band im Nacken zurückgebunden trug, sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, irgendein Schmuckstück anzulegen. Sie stand vor dem Haus ihres Vetters, schüttelte sich eine Strähne von der Wange und betrachtete alles aus jenen fremdartig geschnittenen Augen, die Evold auch an seinem Ziehvater so irritierten. Yanus stakste auf Liç zu, strahlte sie an. „Gott, Liç – du machst unser Familie wirklich alle Ehre. Firusz, findest du nicht, dass sie aussieht wie meine Mutter gemischt mit … ich weiß nicht … mit Onkel Bran vielleicht – sie ist eine de Liarette, ohne Zweifel.“
Liç lächelte gutmütig, als er sie mit Leuten verglich, die sie nicht kannte und niemals kennen lernen würde und ließ sich von ihm ins Haus führen. „Orelie arbeitet gerade, aber sie wird euch später begrüßen“, schwallte Yanus begeistert. „Aber erst einmal werde ich dich der Braut vorstellen – ich denke, ihr werdet euch ausgezeichnet verstehen und ich glaube, sie könnte eine Freundin gebrauchen – jetzt, da es fast soweit ist. Die Familie ist gerade unterwegs – sich ein Haus ansehen – aber sie hat es vorgezogen, den Morgen im Salon zu verbringen.“
Liç nahm ihren Vetter am Ellenbogen. „Ich muss noch heute zum Grünen See“, sagte sie. „Hast du ein Pferd, das du mir geben kannst? Ich habe Reitkleidung dabei.“
Yanus blieb stehen, sah sie besorgt an. „Ja, natürlich – wenn es so dringend ist. Ich werde mich darum kümmern, sobald ich dich vorgestellt habe, ja?“

Die Braut sah ganz anders aus als Liç erwartet hatte. Sie hatte geglaubt Höflichkeiten mit einer mageren Puppe austauschen zu müssen, aber dieses Mädchen war klein, untersetzt und hatte offensichtlich Angst vor ihr. Liç knickste artig, das Mädchen knickste viel tiefer.
„Liç, das ist Fina na Fahan. Sie wird in zwei Tagen Evold heiraten. Fina – das ist meine Cousine Liç de Liarette. Ihr Vater kam einst mit mir aus den Kolonien nach Wittland. Sie ist siebzehn und arbeitet für die Handelsgesellschaft des Einhorns.“ Yanus verbeugte sich und ließ die beiden allein, um Liç ein Reitpferd zu organisieren.
Fina starrte Liç für ein paar Sekunden an, dann fragte sie: „Müsst Ihr auch heiraten?“
Liç spürte, dass es geraten war, ihre Ungeduld zu unterdrücken. Sie ließ sich in einen der seidenbespannten Sessel sinken. „Nein, noch nicht. Du kannst ruhig ‚du’ zu mir sagen. Willst du Evold nicht heiraten?“
„Doch, natürlich. Es ist eine Ehre, dass seine Wahl auf mich fiel. Meine Schwester ist schöner und sehr wütend, dass er mir den Vorzug gab.“
„Aber du fürchtest dich trotzdem“, stellte Liç fest.
„Nun ja – ich kenne meinen Mann noch nicht sehr gut. Wir verbringen die Abende hier im Salon und er ist sehr freundlich zu mir – und er ist ja auch berühmt, nicht wahr?“
Liç nickte langsam. „Es wird schon alles gut gehen“, versprach sie. „Ich werde helfen, dich für die Zeremonie zu schmücken – und du kannst mir sofort sagen, wenn du Angst hast.“
„Das ist nett.“ Fina streckte die Hand aus, zögerte einen Augenblick und zog sie dann wieder zurück. „Ich verstehe nicht, weshalb man sagt, Teufel seien böse – alle, die ich bisher getroffen habe, haben mir sofort ihre Hilfe angeboten.“

Qarl hatte die ramponierte Zeitung mitgenommen und sich auf die Bank am Reitplatz gesetzt. Es war ihm gelungen, konzentriert die Hälfte aller Neuigkeiten zu lesen, als plötzlich ein Schatten über sein Gesicht fiel.
„Mein Herr sagte nichts davon, dass auch Ihr wieder mitkommt.“
Qarl sah nicht auf. „Eine Abwechslung von den strapaziösen Geschäften“, sagte er. „Ich hoffe, bei dir läuft es ebenso gut, Per. Wie viele Kinder hast du jetzt?“
„Das achte bereits, Herr. Mein ältester Sohn arbeitet hier im Stall.“
„Das ist schön.“ Qarl ließ die Zeitung sinken. Per hatte ein viel strengeres Gesicht bekommen. Er trug wie immer die braune Mütze, aber das was man von seinem Haar sehen konnte, schien dunkler geworden zu sein. Per setzte sich neben ihn auf die Bank. „Habt auch Ihr geheiratet, Herr?“
Qarl spürte, wie Wut seine Kehle hinaufkroch. „Noch nicht“, sagte er. „Aber ich treffe bereits Vorbereitungen. Meine Geschäfte liefen so gut, dass sie mich vollständig in Anspruch nahmen. Jetzt gönne ich mir eine kleine Pause.“
Per schlug die langen Beine übereinander, sah ihn kurz von der Seite an, dann blickte er wieder auf den Reitplatz. „Es gibt hier einen verschwiegenen Winkel bei der Scheune, Herr.“
Qarl strahlte ihn an. „Nicht nötig – danke.“

Firusz ließ sein Pferd auf der Stelle galoppieren. „Wenn ich Geld hätte – oh, wenn ich nur Geld hätte, würde ich auf der Stelle ins Hinterland ziehen!“ Um ihn herum wurde das erste Heu geschnitten, es roch nach trocknenden Kräutern und Sonne – er drehte sich zu seiner Tochter um, der Yanus das langsamere Pferd gegeben hatte, und die jetzt über die Kuppe des Hügels nachkam. Liç war rot im Gesicht, ihr Blick unstet. „Ich bitte dich, Vater – lass mich allein zum See reiten. Sieh dir die Umgebung an, wenn du willst, aber lass mich zuerst noch allein.“
„Was ist, wenn du wieder in den See fällst?“
„Das wird nicht geschehen“, versprach sie.
Firusz bemerkte, dass ihre Augen fiebrig glänzten: wie Mandeln aus Porzellan. „In Ordnung. Aber bitte denk daran: Vielleicht versucht er dich ins Wasser zu locken. Sei vorsichtig.“

Liç saß weit oberhalb des Ufers ab, band ihr Pferd an einem der Büsche fest, die den Weg säumten und schlug die Bügel über den Sattel. Sie sah sich noch einmal um, ging sicher, dass ihr Vater tatsächlich einen anderen Weg genommen hatte, ihr nicht gefolgt war. Sie legte den Beutel ins Gras, den sie mitgebracht hatte und von dem ein intensiver Geruch nach Bratfett ausging. Sie kniete am Ufer nieder, bemerkte wie die Feuchtigkeit der Erde durch ihre Hose drang, streckte die Hände ins Wasser. Sofort sah sie blitzende grüne Sterne – sie hatte Mühe zu schlucken, aber es geschah nichts. Nichts. Hatten die Seepferde diesen See verlassen? Das Herz schlug ihr bis unters Kinn. Das durfte nicht sein! Hatte sie sich all diese Jahre an den falschen Ort gesehnt? Sicher konnte ihr Instinkt sie nicht trügen … „Wo bist du?“, flüsterte sie. „Wo bist du – ich brauche dich, To. Du musst hier sein, bitte – du musst.“
„Nach all diesen Jahren“, hallte plötzlich eine Stimme über das Wasser. „Nach all diesen Jahren kommst du zurückgekrochen und erwartest, dass alles so ist wie früher?“
Liç starrte das Seepferd an, das mitten auf dem See stand und hin und wieder mit dem rechten Vorderhuf ins Wasser planschte. To war ohne Frage gewachsen. Das mit roten Tupfen durchsetzte Fell war an den kräftigen Körper des Hengstes geklatscht, seine Kruppe hatte sich gespalten und auch zwischen den Schulterblättern teilten sich Muskelblöcke. Aber er hatte zierlichere Beine als sein Vater und seine Mähne stand in so dicken Locken ab, dass es aussah als habe er einen Zusammenstoß mit einem Brenneisen gehabt. „Ich habe gewartet“, grollte das Seepferd. „Ich habe gehofft, gebetet und einmal sogar geweint. Aber du bist nicht gekommen. Und ich glaube, jetzt kann ich auf deine Anwesenheit verzichten.“
Liç nahm den Beutel auf. „Ich habe dir etwas mitgebracht, To.“ Sie steckte die Hand in den Beutel und zog drei gebratene Fische hervor. Das Fett lief ihr über die Finger. „Mein Vetter hat gesagt, ihr Seepferde mögt das.“
Tos gesprenkelte Nüstern bebten. „Du denkst, mich bestechen zu können? Du glaubst, ich gebe mich so billig für dich her?“
Liç schwenkte die Fische. To kam einen Schritt näher, um besser riechen zu können. „Sie sind ganz allein für dich“, sagte sie. „Ich bin schon satt, ich will gar nichts davon haben.“
To machte noch zwei Schritte. „Es verletzt mich tief, dass du mich für so verfressen hältst. Sehe ich etwa so aus, als würde ich nur an das denken? Ich nehme gern mit ein paar Algen vorlieb. Ich schlage vor, wir unterhalten uns darüber, was du mir angetan hast!“
„Du könntest erst fressen – und dann reden wir.“ Liç winkte wieder mit den Fischen, legte sie dann ins Gras und trat ein paar Meter zurück. To legte den Kopf schief, konnte seinen Blick aber nicht von der Leckerei lassen.
Liç zuckte die Achseln. „Hier gibt es bestimmt ein paar streunende Hunde, die sich meines Geschenks nur zu gern annähmen“, sagte sie.
Mit einem einzigen Satz war To am Ufer und schlang die Fische in sich hinein. Liç wischte sich eine schmierige Gräte vom Kinn und lächelte. Alles in ihr zitterte, alles in ihr strebte in eine Richtung. Sie trat auf das fressende Seepferd zu, legte die Arme um seinen nassen Hals. „Es tut mir Leid“, flüsterte sie. „Ich wollte all die Jahre zu dir zurückkommen, glaub mir. Wir beide gehören zueinander, das wusste ich schon immer.“
To schluckte das letzte Maulvoll. „Du warst grausam und selbstsüchtig.“
„Ja, sicher. Verzeih mir, bitte.“
„Du hast mir versprochen, dass du mich liebst.“
Liç presste das Gesicht in die lockige Mähne. „Und das habe ich getan, To. Das tue ich noch immer.“

Firusz führte sein Pferd am Zügel über die Wiesen, strich mit der freien Hand über die zartrosa Blüten an den Bäumen. Der Himmel zeigte sommerliches Blau, sein Herz winterliche Schwere. Das Pferd folgte zufrieden und voller Vertrauen, versuchte nur hin und wieder, sich nach dem Gras zu recken, das noch ungemäht war. Firusz lief auf einem Trampelpfad in ein Wäldchen, bildete sich ein, einen Bach zu hören. Richtig, zwischen den tiefhängenden Ästen der Buchen sah er Wasser über Steine rinnen, wie es sich in kleinen Becken staute, deren Boden mit Laub bedeckt war – die Kühle des Waldes wusch über seinen Nacken. Er ließ das Pferd Blätter fressen, wickelte die Zügel um einen Ast. Er suchte sich einen der großen Steine am Bach aus, trat sich die Stiefel von den Füßen und nahm Platz. Das Wasser war kalt, plätscherte um seine Knöchel; er lehnte sich zurück, stützte die Handflächen auf den Stein. Langsam getrauten sich die Vögel wieder zu singen, langsam begann auch er selbst aufzutauen, als löse das fließende Wasser etwas aus ihm heraus. Er hatte Lup ein Geschäft angeboten und sie war darauf eingegangen. Er hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt, sie ihren. Er konnte nicht zurückkehren und mehr von ihr verlangen, er konnte nicht gegen die Regeln verstoßen. Lup vertraute ihm – wenigstens das. Er würde ihr Vertrauen ehren, natürlich. Er ließ sich hintenüber sinken, jetzt ragten nur noch seine Zehenspitzen ins Wasser, ein kalter Ring um jeden Zeh, etwas, das ihn verankerte. Er hörte, wie sich das Pferd bewegte, wie es weit entfernt von ihm kaute. Etwas raschelte im Laub, die Vögel waren für den Moment still – Firusz öffnete die Augen. Ein Hund hatte seine Vorderpfoten auf den Stein gelegt und starrte ihn an. Ein Hund mit langem braunem Fell und hellen Augen, von dessen Maul Wasser tropfte. Firusz setzte sich auf. Zwischen den Bäumen stand ein Junge. Er hielt einen alten Hut in der rechten Hand, sein Gesicht war schmutzig, das Haar röter als es Pers jemals gewesen war, ein Rot, das Firusz bisher nur an Pferden gesehen hatte, tief und warm. Firusz wusste sofort, an wen ihn der Junge erinnerte: an Yanus’ Vater. Auch Bheldanus von Tredorn hatte solches Haar gehabt und solche Augen: von dunkelstem Blau und schräg wie die einer Katze. Der Junge kam näher. Vielleicht spürte er die Verwandtschaft mit dem barfüßigen Mann, den er hier im Wald überrascht hatte. „Seid Ihr mein Vater?“ Die Stimme des Jungen war bereits jetzt erstaunlich tief, obwohl er sicher nicht älter als dreizehn Jahre war.
Firusz schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, tut mir Leid. Ich glaube, ich bin so etwas wie dein Vetter, aber ich bin nicht dein Vater.“
Der Junge setzte sich langsam auf den kleineren Stein neben ihn. Von seinen Kleidern ging ein entsetzlicher Geruch aus. „Was macht Ihr hier?“, fragte er.
„Ich ruhe mich aus“, sagte Firusz und zog die nassen Füße auf den Stein.
„Ich habe so oft gehofft, einen Teufel im Wald zu finden“, raunte der Junge. „Jemand, der mir die Fragen beantwortet, die ich habe.“
„Ich gebe mir Mühe“, versprach Firusz.
„Ihr habt mich sofort erkannt. Ihr wisst, ich bin einer von euch.“
„Das ist richtig.“
„Man sagt, mein Vater sei der Mann in dem Haus bei den Pferden.“
„Du siehst aus wie der Vater dieses Mannes, der auch mit mir selbst verwandt ist.“
„Wie lautet mein richtiger Name?“
„Nun – dein richtiger Nachname lautet ‚von Tredorn’, aber du gehörst zur großen Familie ‚de Liarette Eliriel’, dessen Stammvater aus den Kolonien kommt und dort ein sehr wichtiger Mann ist. Ich heiße Firusz de Liarette und bin der Enkel dieses Stammvaters. Du bist etwas entfernter mit ihm verwandt.“
„Wie entfernt?“
„Du bist sein Ur-Ur-Enkel, glaube ich. Unser Stammbaum ist sehr verwirrend, weil viele von uns untereinander geheiratet haben. Dein Großvater, dem du übrigens fürchterlich ähnlich siehst, ist ebenfalls ein bekannter Mann in den Kolonien. Und dein Vater auch. Beide waren in die Unabhängigkeitskämpfe verwickelt.“
Das schien dem Jungen überhaupt nichts zu sagen. „Ist mein Vater der einäugige Reiter?“
„Ja. Deine Mutter ist Annie mit den Ziegen, nicht wahr? Ich erinnere mich an sie. Als meine Tochter damals beinahe ertrunken wäre, brachten wir sie zu ihr. Deine Mutter hat mir sehr geholfen.“
„Weshalb habe ich Euch vorher nie gesehen?“
„Weil ich und meine Tochter für gewöhnlich in Seestadt zu Hause sind. Wir waren erst einmal hier im Hinterland und dabei ist der Unfall passiert. Wie hat Annie dich genannt?“
„Ich heiße Amil. Amil, der Ziegenhirt.“
Firusz lächelte. „Ein schöner Name. Hat er eine Bedeutung?“
„Amil bedeutet ‚Wunsch’.“
„Das ist wirklich nett.“ Firusz legte die Arme um die Unterschenkel.
Amil lachte bitter. „Oh ja – meine Mutter hat sich wirklich ein Kind gewünscht – so sehr, dass sie einen Teufel bestach.“
„Sei ihr dankbar, Amil. Ohne diesen Wunsch wärst du nicht hier.“
„Und wäre das ein so großer Verlust für mich? Ihr habt es bereits gesagt: Mein Vater ist ein reicher, bekannter Mann. Ich hüte die Ziegen meiner Mutter.“
Firusz sah in das angespannte, schmutzige Gesicht des Jungen. „Du wirst ein längeres Leben haben als die meisten Menschen. Du hast genügend Zeit, um dich von einem Ziegenhirten zu einem reichen, bekannten Mann zu entwickeln.“
„Wie viele Teufel gibt es in Wittland?“, fragte Amil leise.
„Ich weiß von vieren. Du, ich, dein Vater und meine Tochter. Hast du eine Gabe, Amil? Etwas, von dem du vielleicht noch niemandem erzählt hast?“
Amil wurde rot, schüttelte aber den Kopf. „Ich habe keine Teufelskräfte.“
Firusz glaubte ihm nicht ganz, fragte aber nicht noch einmal nach. „Ich muss langsam wieder los – meine Tochter wartet auf mich. Es war schön, dich zu treffen. Vielleicht sollte ich dir meine Tochter Liç mal vorstellen. Sie ist ein paar Jahre älter als du und hat eine Gabe. Ich glaube, sie könnte dir auch ein paar Fragen beantworten.“
Amil stand auf, weiter unten am Bach hob der braune Hund den Kopf.
„Wir sehen uns wieder“, sagte Firusz, gab dem Jungen die Hand. „Ich komme dich besuchen.“
„Bringt Ihr meinen Vater mit?“

„Wie kannst du das dem Jungen antun?“, fuhr Firusz seinen Vetter an, als er ihn abends im Salon sitzen sah.
„Was?“
„Dein Sohn, Yanus! Der arme Junge ist hochgradig verwirrt und sehr, sehr unglücklich.“
„Du hast ihn getroffen? Gott, ich wollte ihn schon so oft besuchen … Orelie hat mir erst vor einigen Wochen erlaubt, ihn zu treffen und mit der Hochzeit war bisher noch keine Zeit …“
Firusz schenkte sich ein Glas Branntwein ein. „Du musst dir für die wichtigen Sachen Zeit nehmen. Der Junge sieht aus wie dein Vater. Wer weiß, was er sonst noch von ihm geerbt hat … Annie hat ihn Amil genannt und er weiß, dass er nicht in dieses Land gehört. Versprich mir, dass du ihn aufsuchst. Amil macht einen sehr verlorenen Eindruck.“
„Und was ist mit Liç? Ist alles gut gelaufen?“
„Keine Ahnung. Ich war nicht mit dabei. Aber sie sieht zufrieden aus.“
Yanus biss sich auf die Unterlippe. „Wie ist mein Sohn?“
„Er ist schon sehr erwachsen.“
Yanus trank seinen Branntwein aus. „Ist Liç schon ins Bett gegangen?“
„Sie sollte sich umziehen.“
„Ist sie wieder in den See gefallen?“
„Nein, ich glaube nicht. Aber sie war voller Fettflecken und roch ziemlich nach Fisch.“

Liç schnürte sich im Laufen das Kleid zu. Ihr Haar tropfte dunkle Flecken zwischen ihre Schulterblätter, den rechten Schuh hatte sie nur halb an, er schlappte beim Laufen laut hinter ihr her. Sie hatte gerade die Treppe im Erdgeschoss erreicht, als sie Fina am Geländer stehen sah, die Hände ins Holz gekrampft.
„Was ist los?“, fragte Liç leise. „Ich habe dir doch gesagt, dass du mich jederzeit um Hilfe bitten kannst. Du wirst doch nicht so dumm sein und springen?“
Fina drehte sich zu ihr um, lachte merkwürdig. „Nein. Ich habe nur Höhenangst.“
Liç atmete pfeifend ein. „Du hast mir einen großen Schreck eingejagt.“
„Das wollte ich nicht. Das Haus meiner Eltern ist zwar sehr groß, aber nur die Dienstboten wohnen im oberen Geschoss. Es ist seltsam, sich an teuflische Gepflogenheiten anpassen zu müssen.“
Liç sah sie erstaunt an. „In Seestadt wohnen viele Menschen in den oberen Geschossen“, sagte sie. „Das ist keine allein teuflische Sache.“
Fina zuckte zusammen. „Du musst für mich für sehr töricht halten.“
„Mit Evold wirst du sicher bald an den Königlichen Hof reisen. Du wirst noch viel von der Welt sehen.“
„Was soll ich denn bei Hofe?“, fragte Fina. „Ich werde mich lächerlich machen.“

Im Salon saßen Yanus und Firusz dicht nebeneinander. Qarl hatte sich das abgelegenere Sofa unter dem Fenster ausgesucht und las in einem Buch, das aussah als habe man es vor einigen Jahren versehentlich in den Zuber fallen lassen. Er sah still aus und konzentriert, aber als Liç an ihm vorbeiging, hob er kurz den Blick und lächelte. „Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag.“
Fina knickste und ging dann weiter, um sich neben den Kamin zu setzen, Liç blieb neben Qarl stehen. „Ich habe mein Seepferd gefunden, wenn du das meinst.“
„Und? Ist auch er erwachsen geworden?“
„Wie man es nimmt. Ich sehe, du bist bereits besser gelaunt.“
Qarl kratzte sich am Hals. „Es gelingt mir nicht so schnell, die Arbeit hinter mir zu lassen – schließlich bin ich für dein berufliches Wohlergehen verantwortlich, Liç.“
„Aber du hättest auf der Reise freundlicher sein können“, fand sie.
Für einen Augenblick war Qarl stark versucht, ihr einfach die Wahrheit an den Kopf zu werfen, statt dessen ließ er ein leises „Hmpf“ hören und versenkte sich wieder in sein Buch.
Liç setzte sich neben ihren Vater. Firusz lächelte. „Erzähl uns von To. Was ist aus ihm geworden?“
„Ein männliches Seepferd“, sagte seine Tochter. „Er gibt mir die Schuld daran, dass wir uns solange nicht sehen konnten. Seine Eltern haben ihm schon mehrmals nahe gelegt, den Grünen See zu verlassen und sich ein eigenes Gewässer zu suchen, aber er hatte Angst, nicht auffindbar zu sein, sollte ich mich jemals nach ihm umsehen.“
„Aber jetzt habt ihr beide euch wiedergefunden.“ Yanus massierte seinen Oberschenkel. „Das ist sehr romantisch, nicht wahr, Firusz?“
Ihr Vater runzelte die Stirn. „Du muss Acht geben, Liç, dass To sich nicht zu besitzergreifend verhält. Schließlich wäre es schade, wenn du seinetwegen den Gedanken an eine Heirat verwerfen müsstest.“
Liç spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „To ist mein Freund. Ich werde ihm helfen, einen See in der Nähe von Seestadt zu finden, damit seine Eltern ihn nicht eines Tages an die Luft setzen.“
Die Tür des Salons öffnete sich – Evold trat zu ihnen, neben sich eine Frau, die Liç noch nicht gesehen hatte. Sie hatte graues, mit Achatstäbchen aufgestecktes Haar und trug ein lavendelblaues Kleid, das mit Paspeln über der Schulter geschlossen wurde. Sie bewegte sich mit kleinen, bestimmten Schritten vorwärts und ihre Augen durchbohrten Liç bis zum Hinterkopf. „Jetzt lernen wir dich endlich kennen“, sagte Orelie leise. „Wie schön, dass du diese Gelegenheit ergreifen konntest …“
Liç streckte ihr die Hand hin, aber Orelie lächelte nur. „Ich glaube, Yanus hegte immer den heimlichen Wunsch, dass du eines Tages Evold heiratest, aber ich denke, du hast gut daran getan, dich nicht für ihn zu entscheiden. Dieses Haus wird in die Hände einer menschlichen Familie übergehen.“
Liç konnte sich nicht entscheiden, ob sie eben beleidigt worden war oder nicht. Sie blieb stumm, wie es wohl von ihr erwartet wurde. Orelie nahm sie an den Handgelenken und führte sie auf das zweite Sofa am Fenster, fort von den anderen Männern, aber direkt gegenüber von Qarl. „Du siehst meinem Mann ein wenig ähnlich“, sagte Orelie leise. „Aber du hast etwas Besonderes an dir … interessierst du dich für die Dichtkunst?“
„Ein wenig.“
„Bist du vertraut mit der großen Tradition der Dichterinnen in Wittland?“
„Ich habe davon gehört.“
„Also weißt du, dass ich eine von ihnen bin.“
„Natürlich.“
„Mein Mann gab mir zu verstehen, du seiest umfassender ausgebildet worden als andere Mädchen.“
„Ich durfte am Unterricht im Haus der Einhörner teilnehmen.“
„Und jetzt arbeitest du selbst im Kontor, wie es eigentlich nur Handelsschüler tun. Wir sind uns bereits jetzt ähnlicher als du denkst. Du hast dir fast ebenso viel Freiheit erkämpft wie ich.“
Liç sah in das bleiche Gesicht der Dichterin. „Ich hatte vor allem Glück.“
„Aber siehst du nicht, dass du etwas besitzt, das der guten Fina vollkommen abgeht? Du besitzt die Möglichkeit, dich den Konventionen zu widersetzen. Sie muss den Mann heiraten, den ihre Eltern für sie bestimmten. Du verdienst eigenes Geld.“
„Dank der Freundlichkeit meiner Eltern und Lehrer.“
„Dagegen ist nichts einzuwenden.“ Orelie richtete sich mit einem Ruck auf. „Verzeih mir, dass ich dich so überfallen habe, aber mir ist solange niemand wie du begegnet … Ich brauche eine gute Nachlassverwalterin.“
Liç wurde kalt um die Kehle. „Seid Ihr denn krank?“
„Ich bin alt, das dürfte genügen. Und ich muss alles in besten Händen wissen. Evold …“ Sie sah zu dem jungen Mann hinüber, der sich flüsternd mit seiner Braut unterhielt. „ … ist vielleicht in der Lage, die ästhetische Leistung zu würdigen, aber nicht die meiner Lebenssituation. Ich möchte, dass du ihm über die Schulter siehst, wenn es daran geht, meine Schubladen zu leeren und bislang Unveröffentlichtes für die Druckereien vorzubereiten. Wirst du das tun?“
Liç blinzelte ein paar Mal, dann nickte sie.
Orelie atmete auf. „Du gehörst zur Familie, deshalb dürfte wohl kaum jemand Einspruch erheben. Ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Ich lade dich morgen zum Frühstück in meine Gemächer ein.“

Als Liç ihrem Vater von der Aufgabe erzählte, die Orelie für sie vorgesehen hatte, machte dieser ein ungläubiges Gesicht. „Es ist sicher eine große Ehre“, sagte er schließlich. „Gott – deine Mutter wird das hassen.“
„Hat sie etwas gegen Orelie?“
„Sie ist nur neidisch, glaub mir. Und dass Orelie dich – aus welchen Gründen auch immer – so sehr mag, dass sie dich sofort in diese ehrenvolle Pflicht nimmt, wird Lup sicher sauer aufstoßen.“
„Aber Mutter hat uns aus dem Haus geworfen“, wandte seine Tochter ein. „Sie hat nicht mehr das Recht, sich zu beklagen.“
„Sie wird es dennoch tun.“ Firusz und seine Tochter bewohnten dieselbe Gästesuite wie bei ihrem ersten Aufenthalt im Hinterland. Am gemeinsamen Kamin nahmen sie den letzten Tee des Tages zu sich, beide barfuß und in seidenen Hausmänteln. „Orelies eigene Gemächer sind in diesem Haus so etwas wie ein Heiligtum. Du hast natürlich schon bemerkt, dass sie sehr … traditionell ist. So wie sie hier lebt, leben auch die Menschen am Hof. Sie zieht sich in diese Welt zurück, um Abstand von der Wirklichkeit zu gewinnen, sagt Yanus. Das versetzt sie in die Lage, ihre Werke schreiben zu können.“
„Ich mag ihren Stil“, sagte Liç. „Auch wenn er tatsächlich etwas altmodisch ist.“
„Das ist eine gute Vorraussetzung für das, was dir bevorsteht. Aber wie sehr Orelie dich auch in der Zukunft vereinnahmen mag, ich bin überzeugt davon, dass die Arbeit für die Einhörner stets an erster Stelle für dich steht.“
Liç nickte. „Das tut sie. Qasimir und Qarl na Qes haben mir einen so großen Dienst erwiesen, dass ich es nie werde vergelten können. Aber in Zukunft muss ich mich auch um To kümmern.“
„Du bekommst das alles bestimmt unter einen Hut. In der Nähe Seestadts münden einige Flüsse ins Meer. Ich bin mir sicher, dass To einen geeigneten Wohnplatz findet – wenn er nicht ganz ins Meer umziehen will.“
„Offenbar ist er ein Süßwasser-Seepferd“, sagte Liç nachdenklich. „Auch diese Art ist in der Lage, im Meer zu leben, aber er ist dort ein Fremder, verstehst du? Außerdem hat er Angst vor Walfischen.“
Firusz lachte leise. „Es ist, als hätten wir plötzlich einen Hund. Aber ich fürchte, ich brauche noch etwas, bis ich mich an ihn gewöhnt habe.“
Liç stand auf, stellte ihre Tasse auf den Kaminsims. „Du wirst dich gewöhnen müssen, Vater. Er gehört schon seit sehr langer Zeit zu meinem Leben – nur jetzt etwas mehr. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Liç.“ Firusz sah seiner Tochter nach, die mit einer Kerze in der Hand das Kaminzimmer verließ. Unglaublich, wie rasch die Zeit vergangen war. Unfassbar, wie fremd ihm seine Tochter in all der Zeit geblieben war. Er stemmte sich seufzend in die Höhe und ging ins Bett.

Orelies Gemächer waren so kalt, dass Liç für einen Herzschlag glaubte, sie müsse sich gewiss verlaufen haben. Dann erhob sich aus der letzten Ecke des Zimmers die Hausherrin persönlich. Sie hatte so bewegungslos auf dem mit Strohmatten bedeckten Boden gekniet, dass Liç sie zunächst völlig übersehen hatte. Sie trug einen gesteppten goldgrauen Mantel, bestickt mit Löwenzahnblüten. Das Haar, in dem noch einzelne hellblonde Strähnen zu sehen waren, fiel lose ihren gebeugten Rücken hinab. „Schön, dass du dich zu kommen getraut hast.“ Sie betätigte einen gut versteckten Glockenzug. Ein Dienstmädchen öffnete die Tür, trat mit einem Tablett herein, das sie direkt vor ihrer Herrin auf den Boden stellte. Gekochtes Gemüse war kunstvoll in Porzellanschalen angeordnet, Tee duftete Liç entgegen, in Scheiben geschnittene Knollenfrüchte, Obst und eingelegtes Getreide. Liç, die noch nie mit der höfischen Kochkunst in Berührung gekommen war, fand, dass alles zu hübsch angerichtet war um tatsächlich gegessen zu werden. Orelie aber reichte ihr eine der kleinen Suppenschalen. „Hier – das habe ich nur für dich zubereiten lassen. Fischbrühe mit Kräutern.“
Liç nippte an der Schale. Ein feiner, köstlicher Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Eine idealisierte Version des Seewassers, der Gerüche, die To anhafteten.
Orelie sah, dass es ihrem neuen Schützling schmeckte. „Du hast dich sicher schon mit Evolds Braut unterhalten“, sagte sie. „Was hältst du von ihr?“
„Fina ist noch etwas besorgt. Aber da Evold so freundlich zu ihr ist, wird sie sicher glücklich sein.“
Orelie nickte langsam. „Mein Mann und ich waren erstaunt, dass Evold sie den anderen Mädchen vorzog. Fina ist noch etwas ungeschliffen im Vergleich zu all den anderen zukünftigen Gattinnen, die hier im Hinterland herangezüchtet werden.“
„Sie ist ehrlich und ohne großen Ehrgeiz – vielleicht ist es das, was sie von den anderen Mädchen unterscheidet.“
Orelie schob ihr eine zweite Schale hin – jetzt waren es Scheiben eines leuchtend roten Gemüses, das Liç nie zuvor gesehen hatte. „Du bist nie viel unter Mädchen gewesen, nicht wahr?“
„Ich war allein in all den Schülerklassen der Einhörner.“
„Du sprichst auch nicht wie ein Mädchen.“
„Es waren kaum Frauen an meiner Erziehung beteiligt. Und auch meine Mutter ist eher ungewöhnlich, schließlich stammt sie aus den Steppen.“
„Wenn du dir eine Frau wünschst, die dir behilflich ist, deinen weiteren Weg in diesem Land zu gehen, Liç, dann zögere nicht, dich an mich zu wenden“, bot Orelie an. „Wie schade, dass wir uns bei deinem ersten Besuch nicht kennen lernen konnten. Vielleicht hätte sich dann Vieles ganz anders entwickelt.“

BALD GEHT ES WEITER!

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Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2011

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