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Zweites Buch
Türme und Mauern




I



Selbst diese Stadt entbehrte im Winter nicht einer gewissen Schönheit. Frost glitzerte auf den wenigen gepflasterten Straßen, in schneebestäubte Mäntel gewickelte Menschen eilten dahin, unter den Treppen verbargen sich zitternde Hunde. Seestadt hatte sich nicht verändert – nur die Bäume an den Straßenrändern waren größer geworden, angefüllt mit der Erinnerung an die letzten Sommer. Die Schilder, die über den Köpfen der Bevölkerung die Geschäfte bezeichneten, waren mit angefrorenem Schnee bedeckt, der die Schrift bleichen, vom Holz lutschen würde, so dass nurmehr die Form der Schilder Aufschluss über den Beruf des Werkstattinhabers gab. Durch das morgendliche Treiben der Hafenstadt trabten zwei kräftige Pferde, mit aufgerollten Decken hinter den Sätteln. Firusz’ Pferd war stets um eine Nasenlänge voraus, das andere wirkte unausgeschlafen, wie seine Reiterin. Mit 17 Jahren war Liç de Liarette groß, breitschultrig und nur von Nahem als weiblich zu erkennen: das Gesicht verriet ihr Geschlecht. Sie hatte tiefe Augenringe, denn die lange angekündigte Geschichtsarbeit stand bevor. Liç hatte bis in die Morgenstunden hinein gelernt und Firusz war stolz darauf, dass seine Tochter den Unterricht so ernst nahm. Sie hatte sich zu Qasimirs Musterschülerin entwickelt, vor der alle Schülerklassen Angst hatten – sie wussten, sie würden an Liç gemessen werden. Unter ihrem einfachen Mantel trug sie die schwarze Schülerrobe. Sie hatte darum gebeten, sich äußerlich anpassen zu dürfen und Qasimir hatte sich großzügig gezeigt. Firusz vermutete, dass ihn Liç in einem Kleid irritierte, aber so ging es den meisten Menschen. Liç war zu groß, hatte vom Reiten muskulöse Unterschenkel und entschieden zu seidiges schwarzes Haar. Firusz erkannte Lups Verwandte in der Steppe in ihr, die Reiter und Pferdehirten, und seine eigene Familie in den Kolonien in ihrer Größe und der sturen Unterlippe. Mit dem beginnenden Unterricht hatte Liç sich voll und ganz in das Stadtleben geworfen, sich dem Rhythmus der Handelsgesellschaft angeglichen. Sie hatte nie wieder vom Grünen See gesprochen und Firusz sah nur noch manchmal diesen bestimmten verschleierten Ausdruck in ihren Augen. Sie alle hatten sich eingerichtet – in diesem Leben eingerichtet, das doch wenig mehr bot als den Trott vom Haus zur Blauen Brücke. Liç erwachte stets fünf Minuten bevor ihr Vater sie wecken kam – lag im Halbdunkel und ging in Gedanken die Texte durch, die sie für den Unterricht hatte lesen müssen. Seitdem sie die Schulrobe tragen durfte, war das Anziehen weniger qualvoll, nichts, vor dem man sich ängstigen musste. Sie wusch sich mit der kostbaren Gewürzseife, die ihr Vater ihr zum Geburtstag beschafft hatte (er hatte Hilfe von Qarl gehabt) und schob die Bücher vom Studiertisch in die Satteltasche – wie jeden Tag würde sie als Erste im Klassenraum sitzen, auf die Jungen warten. Für diese zählte die junge Frau mit dem fest geflochtenen Zopf schon fast zum Inventar. Liç war nie krank, sie sagte nie etwas – sie war eine Art atmendes Möbel, das stets die besten Arbeiten schrieb und den Blick gesenkt hielt. Die meisten Jungen bekamen ihren Vater nie zu Gesicht, aber keiner von ihnen hätte gewagt, etwas Beleidigendes über sie zu sagen – zumindest nicht im Haus der Einhörner selbst. Wenn die jungen Männer unterwegs waren, in den Kneipen des Hafenviertels, dann konnte es vorkommen, dass einer von ihnen sie als Streberin bezeichnete oder ihr noch wesentlich phantasievollere Namen gab und wenn sie alle ehrlich waren, spielte Liç als einzige Frau in ihrem unmittelbaren Umkreis eine wichtige Rolle in ihren halbgaren Phantasien. Liç ahnte von all dem nichts, sonst hätte sie wohl kaum so ruhig jeden Tag unter ihnen sitzen und sich sogar auf den Unterricht freuen können. Die freien Tage fand sie unerträglich. Ihre Mutter war unzumutbar, das kleine Haus unglaublich erstickend. An diesen Tagen mistete Liç freiwillig die Ställe der beiden Pferde aus oder bat darum, Erledigungen auf sich nehmen zu dürfen. Hin und wieder machte Lup den Versuch, ihre Tochter wieder fürs Sticken zu begeistern, aber dann sah Liç ihren Vater an und Firusz redete es seiner Frau aus. Gewiss, Liç hätte mittlerweile einen Beitrag zu den Haushaltskosten leisten können, aber da gab es stets noch ungelesene Bücher, ungeschriebene Hausarbeiten … Liç liebte das Lernen, aber Lup fand, sie sei lange genug zur Schule gegangen. „Männer heiraten keine gebildeten Frauen“, sagte sie und Firusz sah sie entsetzt an. Aber noch trabte Liç jeden Morgen neben ihm zur Blauen Brücke, gab das Pferd im Stall ab und stieg zu den Unterrichtsräumen hoch. Wie sie es auch heute tat, an diesem entsetzlich kalten Morgen, an dem selbst die kahlen Linden zu zittern schienen. Firusz verabschiedete sich mit jenem geübten Lächeln von seiner Tochter, das tiefe Besorgnis überspielte. Er sah sie ins Schulzimmer gehen, betrat dann seine Schreibstube. Qasimir, der heute erst in der dritten Stunde unterrichtete, sah nicht auf. Das Erste Einhorn hatte mittlerweile graue Strähnen in Haar. „Guten Morgen, Firusz. Deine Tochter hat schon wieder die beste Hausaufgabe abgeliefert. Tut mir Leid, aber sie wird mir langsam zu gut. Ich glaube, bald muss ich sie rauswerfen.“
Firusz sah ihn erschrocken an. „Du machst Witze.“
„Nein. Nein, leider nicht. Ich hätte wirklich eine bessere Verwendung für ihr Talent – aber ich brauche deine Einwilligung. Ich möchte, dass Liç sich ein wenig nützlich macht. Was hältst du davon, wenn ich sie zuerst als Schreibkraft in eines der Kontore gebe?“
„Als Schreibkraft? Qasimir, meine Tochter ist zwar kein Geselle, aber sie hätte die Ausbildung! Und jetzt soll sie eine Arbeit verrichten, die auch jemand ohne Abschluss machen könnte?“
„Ich dachte, für den Anfang …“ Qasimir seufzte. „Sie hat schon mehrere Jahrgänge meiner Schüler irritiert … hatte Qarl nicht mal die Idee, ein neues Kontor zu eröffnen?“
Firusz biss sich auf die Lippen. „Nun – das ist schon sehr lange her. Das war noch vor … Liçs Unfall.“
„Ich wundere mich, weshalb er sein Ziel nie weiter verfolgt hat.“
„Loyalität?“
„Qarl ist kein sehr loyaler Mann.“ Qasimir lachte. „Nein, ich glaube, er war immer ein wenig faul. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich werde mich mal nach geeigneten Räumlichkeiten umsehen.“
„Moment“, unterbrach ihn Firusz. „Was hat das mit Liç zu tun?“
„Eine billige Kontorskraft ist Gold wert“, grinste das Erste Einhorn und tippte sich mit der Schreibfeder an die Nase.
Es kam selten vor, dass Firusz von dem Verlangen überfallen wurde, seinen Vorgesetzten in den Würgegriff zu nehmen, aber gerade jetzt hätte er die Hälfte seines Hauses dafür gegeben, Qasimir kräftig eins auf die Nase hauen zu dürfen. „Du kannst Liç nicht einfach verbannen!“
„Wer sagt denn, dass ich das tue? Ich belohne sie für ihre hervorragenden Leistungen. Wer träumte nicht davon, sofort als volle Kraft in einem Kontor einsteigen zu dürfen? Ich muss es nur hübsch verpacken. Sie ist ein Mädchen – und keine Gesellschaft nimmt Mädchen als Gesellen an. Als Schreibkraft kann ich sie den anderen Gesellschaftsersten besser verkaufen.“
„Liç hat all diese Jahre ihr Herzblut für dich gegeben. Du könntest ihr zuliebe mehr Mut zeigen!“
Qasimir legte den Kopf schief. „Und du könntest deine Tochter nach ihrer eigenen Meinung fragen. Was glaubst du, würde sie lieber tun – auf ewig im Schulzimmer hocken oder die Gelegenheit ergreifen und Geld verdienen?“

Firusz hatte Angst, das Thema vor seiner Familie anzusprechen, aber selbstverständlich merkten Lup und Liç, dass etwas nicht in Ordnung war. Irgendwann setzte Lup die Teetasse so hart auf den Beistelltisch, dass Firusz zusammenzuckte.
„Was ist los?“, fragte seine Frau ungeduldig. „Ich finde sowieso raus, was es ist.“
Firusz zog eine Grimasse, blickte auf seine vom Feuerschein angeleuchtete Tochter, die über den Büchern saß. „Qasimir bietet Liç an, bei einem neuen Kontor einzusteigen. Eine seiner fixen Ideen.“ Firusz fand, dass Liç nicht sehr überrascht aussah. „Wusstest du davon?“, fragte er anklagend.
Liç zuckte die Achseln und sagte in ihrer dunklen Stimme: „Er hat mich schon letzte Woche gefragt, Vater.“
„Was hast du geantwortet, Liç?“ Lup rutschte, angetrieben von Neugier und der Aussicht auf ein zusätzliches Gehalt, näher an ihre Tochter heran.
Liç bewegte irritiert das Kinn nach vorn. „Ich sagte, du solltest zuerst davon wissen.“
Firusz wurde von einem zärtlich weichen Gefühl durchschwommen. „Ich hoffe, Qasimir war angemessen beleidigt.“
„Er hatte mit einer solchen Antwort gerechnet, Vater. Er sagte, das ließe ich wohl besser seine Sorge sein. Er müsse dir nur ein schlechtes Gewissen machen, das sei alles.“
„Er war schon mal subtiler“, ächzte Firusz.
„Darf ich in das neue Kontor gehen?“
„Natürlich“, seufzte er. „Du hast es verdient.“
Lup kniff die Augen zusammen. „Was für ein neues Kontor soll das überhaupt sein?“
Firusz nahm die eigene Teetasse zwischen die Handflächen. „Es ist eine Idee, die Qarl vor ein paar Jahren hatte. Qasimir wird ihn zum Vorstehenden einer neuen Niederlassung machen. Er sucht schon nach geeigneten Räumen. Qarl hat sich in den letzten Jahren einen guten Namen gemacht, vielleicht will er sich noch weiter spezialisieren, oder seine Unternehmungen ausweiten. Vielleicht will er seine Fühler bis zu den Gewürzinseln ausstrecken. Früher hat er oft von den Gewürzinseln gesprochen. Ich halte es für gut, wenn Qarl eine neue Aufgabe bekommt. Er ist so traurig, seitdem …“ Er brach ab, bemerkte, dass Liç ihn sehr interessiert ansah. Sollte er es sagen? „Seitdem die Sache mit Per so schlimm ausgegangen ist.“
Lup wurde blass um die Nase. Unter sich hatten die beiden oft über Qarls zurückliegende Dummheit geredet, aber nie in Gegenwart ihrer Tochter.
Liç war nicht irritiert. Sie wandte sich wieder den Büchern zu. Sie war noch immer von diesem sanften Flirren erfüllt, wie das Sonnenlicht in den Lindenblüten, das in dem Moment begonnen hatte, in dem Qasimir sie im Flur abgepasst und ihr die wichtige Frage gestellt hatte. Sie war vor ihren Mitschülern ausgezeichnet worden. Sie würde eine eigene Schreibstube führen und sich Tag für Tag in Verantwortung begeben. In Verantwortung für Qarl.

Firusz schob den Humpen süßen Biers von sich. „Dein Bruder wird unerträglich.“
Qarl nahm einen Hühnerschenkel zwischen Daumen und Zeigefinger. „Er kann eben mit Geld umgehen, das ist alles. Ich finde sein Angebot gar nicht so schlecht. Ich habe endlich Gelegenheit, etwas Eigenes aufzuziehen – anfangs noch unter der Protektion der Gesellschaft des Einhorns, aber wenn das Geschäft erst einmal läuft …“
„Wirst du versuchen, Morrie mit ins Boot zu holen?“
„Ich werde mit ihm darüber reden, sobald er wieder zurück ist.“ Qarl kratzte sich unter den dichten Locken. „Und solange werde ich Möbel für das neue Kontor zusammensuchen. Wenn Liç irgendwelche Ideen dazu hat, soll sie sie bloß vortragen – schließlich wird sie von nun an einen Großteil ihres Lebens in diesen Räumen verbringen. Qasimir sagte schon, dass sie eine begabte Schülerin ist. Sie wird die Bücher also in Ordnung halten.“
Firusz nahm doch wieder einen Schluck Bier. „Wenn mir irgendwann zu Ohren kommt, dass du sie nicht ordentlich behandelst oder nicht gut genug bezahlst, bist du in großen Schwierigkeiten.“
Qarl sah ehrlich entsetzt aus. „Ich kenne Liç seit ihrer Geburt! Wie sollte ich sie jemals nicht ordentlich behandeln! Du hältst mich offenbar für ein Ungeheuer.“
„Nein – nur manchmal für nicht ganz zurechnungsfähig. Du bist ein bisschen zu erfolgreich geworden in den letzten Jahren.“ Firusz seufzte. „Wenn du wenigstens reisen würdest, so wie Morrie – aber du sitzt nur in Seestadt herum. Wie eine alte Kröte.“
Qarl hatte tatsächlich etwas an Gewicht zugelegt. Er sah jünger aus in seinen glänzenden Pelzen, die er achtlos über die Wirtshausbank geworfen hatte. Er hatte seine Vorliebe für exotische Speisen entdeckt. Immer wenn Morrie Rezepte von seinen Reisen mitbrachte, musste er sie sofort ausprobieren. Er riss sich immer noch alle fremdartigen Früchte unter den Nagel, selbst nach bitteren Enttäuschungen. „Ich bin keine Kröte“, sagte er leise. Firusz bildete sich ein, für einen Moment einen nassen Schatten unter seinen Wimpern zu sehen.
„So habe ich das nicht gemeint. Du gräbst dich hier in der Stadt ein. Wir hätten doch mal wieder ins Hinterland fahren können. Liç hätte sich sicher gefreut.“
Qarl griff nach dem nächsten Hähnchenteil. „Als Yanus das letzte Mal hier war, hat er von Pers neusten Kindern erzählt.“
„Das ist doch jetzt schon so lange her …“
Qarl warf den Knochen auf den Teller zurück. „Es ist nicht lange her. Ich hätte auch heiraten sollen, aber ich hatte nie den Mut dazu.“
„Warum begleitest du Morrie nicht einmal?“
„Ich werde seekrank, hast du das vergessen?“
„Ist das deine beste Ausrede?“ Firusz stupste ihn mit dem Bierkrug in die Schulter, hinterließ einen riesigen feuchten Fleck.
„Eh – das ist westländische Seide, du Idiot!“
Firusz, dem das Bier schon kräftig zu Kopf gestiegen war, gluckste liebevoll. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.“
Qarl runzelte die Stirn. „Du bist betrunken – und ich habe mich überfressen.“ Qarl sah ihn kalt an. „Lass uns nach Hause gehen.“
Firusz presste den Daumen in die Stirn. „Sagst du mir Bescheid, wenn Morrie zurückkommt? Ich möchte mit ihm reden.“
Qarl nickte gequält. „Natürlich. Hör zu, Firusz. Ich gebe dir mein Wort: Ich werde gut auf Liç aufpassen. Ich werde dafür sorgen, dass sie von Qasimir anständig bezahlt wird, dass sie ordentliche Kleidung für das Kontor bekommt, endlich die Schulrobe ablegen darf – findest du nicht auch, dass sie furchtbar aussieht in diesem Ding?“
„Sie trägt es gern.“ Firusz überlegte, ob er doch noch ein Bier bestellen sollte, aber Qarl zog ihn auf die Füße.
Sie traten aus dem Wirtshaus in den leise fallenden Schnee hinaus, der helle Akzente in der dunklen Stadt setzte. Qarl, in seinen Pelzen, sah prachtvoll aus. Firusz fühlte sich wie immer schäbig neben ihm, aber er ließ es zu, dass Qarl ihn unterhakte und in Richtung Straße zerrte. „Ich hab aber noch ein Pferd im Stall“, protestierte er lahm.
„Du kannst es später holen. Ich möchte, dass du mich nach Hause begleitest.“
Sie schritten durch die stillen Straßen, die Kälte biss sie ins Gesicht. Firusz dachte an den Weg zurück, den er allein würde machen müssen, den entsetzlich kalten Ritt nach Hause … gegen Qarls Seite gedrückt war ihm warm genug. Die Straßen der neureichen Kaufmänner waren gut beleuchtet – Schneeflocken schmolzen in den Fackeln, zischten leise. Die protzigen Häuser schienen sich über die beiden Männer zu neigen, die schweigend dahinschritten. Firusz lehnte sich immer schwerer auf Qarls Arm. Plötzlich, zwei Schritte vor seiner eigenen Tür, blieb Qarl stehen. „Du musst nur Bescheid sagen, wenn du aus Qasimirs Schreibstube befreit werden willst. Du hast so viel für mich getan – du musst nur ein Wort sagen.“
„Kümmere dich um meine Tochter, das reicht mir.“
„Du kannst hier schlafen. Ich habe ein Gästezimmer.“
„Gute Idee. Ich kann bestimmt nicht mehr allein stehen.“

Qarls Haus roch gut. Es war phantastisch eingerichtet, mit den kostbarsten Wandbehängen, den schönsten Schränken, fremdartigen Mitbringseln. Firusz ließ sich von Qarl in einen Sessel schieben, legte die schneenassen Füße auf einen Schemel. In der Wärme des Kaminfeuers begannen seine Socken zu dampfen. Qarl schenkte Branntwein ein. „Du bist stolz auf deine Tochter, nicht wahr?“
„Liç hatte es nicht sehr leicht, weißt du. Ihre Abstammung … und all das am Grünen See …“
„Du hättest allein mit ihr ins Hinterland fahren sollen“, murmelte Qarl. „Nach all dem, was du mir erzählt hast, gehört sie genau dorthin. Yanus hätte sie sicher aufgenommen.“
„Du glaubst, dann hätte sie es später in der Stadt leichter gehabt? Ich kann mich noch gut an meinen Großvater erinnern. Ich weiß, wie solche Leute sind.“
„Sie erinnert sich auch, Firusz. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, hat sie dieses merkwürdige Grün in den Augen, das da nicht hingehört.“
„Was?“
Qarl stürzte ein zweites Glas Branntwein hinunter. „Siehst du deine Tochter denn nie an? Sie wirkt, als ob sie noch immer unter Wasser sei.“
Firusz zog die Knie an, befühlte seine Socken. Sie waren schon fast wieder trocken. „Mein Großvater …“
„Vergiss deinen Großvater.“ Qarls Stimme schlurrte sacht. „Vielleicht lenkt die Arbeit im neuen Kontor Liç ein wenig ab, aber was soll ich tun, wenn sie mich ansieht und … und sie ist eigentlich gar nicht da?“
Firusz zuckte die Achseln. „Sie wird schon da sein. Lass sie einfach ihre Arbeit machen. Ich glaube nicht, dass sie dich enttäuscht.“


II



Die Kälte machte seinem Bein zu schaffen. Yanus lief auf und ab, rieb sich dabei den Oberschenkel. Orelie hatte sich, in etwa zehn Seidenkleider eingewickelt, in ihren Räumen verbarrikadiert, arbeitete und hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie unter keinen Umständen gestört zu werden wünschte. Auch Orelie hatte sich in den letzten Jahren verändert. Sie schrieb nun fast Tag und Nacht, überanstrengte sich, fing sich entsetzliche Erkältungen ein … es war, als schriebe sie gegen die Zeit, gegen das, was ihr blieb. Yanus drehte sich um. An dem kleinen Ebenholzsekretär zwischen den Fenstern saß sein Ziehsohn, schlank, mit einem ungebärdigen blonden Schopf, und starrte seine Schreibfeder an. Evold hatte Gedichte veröffentlicht, war als Sohn einer berühmten Mutter wohlwollend aufgenommen worden und verwendete einen Großteil seines Einkommens darauf, sich nach der neusten Mode zu kleiden. Nach dem Vorbild der Kolonien waren vielfach geknotete Halstücher ein absolutes Muss, auch wenn Evold damit aussah wie ein gewürgter Wasservogel. Yanus hatte ihn bereits zwei Mal mit an den Königlichen Hof ziehen lassen, Reisen, von denen Evold mit aufgefrischter Arroganz und neuen Ideen zurückkehrte – Evold widmete sich jetzt dem Gartenbau. Mit 17 Jahren hatte er bereits riesige Umpflanzungen im Kopf, sein Zimmer war mit Karten gepflastert, die Alleen zeigten, einen neuen Rosengarten mit Lavendelrondell und einem Glashaus für Kamelien und andere Kostbarkeiten. Yanus, der nicht im Mindesten daran dachte, sein Geld für Blumen auszugeben, wenn er in die Pferdezucht investieren konnte, ließ seinen Ziehsohn planen, nickte freundlich und deutete auf Kleinigkeiten hin, die Verbesserungen bedurften. Dann nagte Evold sich ein paar Fingernägel ab und begann noch einmal ganz von vorn. Dieses Programm hatte Yanus schon ein paar Mal abgespult und es klappte noch immer. Er trat zum Fenster, knetete sein Bein und blickte über die schneebedeckten Hügel. Die Wäldchen waren etwas dunkler. Wie so oft dachte Yanus an den Grünen See und dass er nie vollständig zufror. Vor wenigen Tagen war er im Schnee dorthin geritten, hatte eine halbe Stunde vor sich hingestarrt. Er hatte Firusz und seine Familie in der Stadt besucht, sich mit selbstgebackenen Keksen und süßem Tee bewirten lassen, im Vergleich zu Orelie hielt Lup sich vortrefflich und für einen Moment wurde Yanus neidisch – bis er merkte, dass Lup und Firusz sich nie zu berühren schienen. Etwas stimmte nicht. Yanus vergaß seine Eifersucht innerhalb von Sekunden. Auch jetzt war er dankbar für all das, was die Götter ihm gönnten. Er verkaufte alle Fohlen, er konnte sich großartige Hengste leisten und hin und wieder ritt er an Annies Ziegenherde vorbei und starrte den in bunten Filz gekleideten Jungen an, der bei den Tieren war und unter einer schmierigen gelben Kappe hervorlugte. Der Junge hatte ein spitzes dreieckiges Gesicht und schnurgerade Brauen – seine Augen waren von einem so dunklen Blau, dass sie schwarz wirkten. Jedes Mal, wenn Yanus den Jungen sah, schien sein Herz zu knistern, als sei es kurz vor dem Anfrieren. Annies Junge war schön, selbst wenn er sich unter unkleidsamen Hüten verbarg. Natürlich quälte Yanus die Tatsache, dass Evold nicht imstande war, die gleichen Gefühle in ihm zu wecken. Er drehte sich zu seinem Ziehsohn um. Evold hatte wieder angefangen zu schreiben, rasch und mit wenigen Ausstreichungen. Er saß mit gebeugtem Kopf da, sein blondes Haar stand wie ein glänzender Sturmwirbel hoch. Yanus seufzte. Er hatte seinen Sohn noch nie ohne den Hut gesehen, er wusste nicht, wie er hieß … er humpelte in die Eingangshalle, nahm seinen Mantel und warf ihn sich um die Schultern. Er ging über den Hof zu den Stallungen; er hörte ein gedämpftes Wiehern, stieß die Tür auf.
Per saß auf der Sattelkiste und rieb die Zäume mit Öl ab. Als sein Herr den Stall betrat, sah er auf und lächelte. Es war Nachmittag, alle wirklich wichtigen Arbeiten waren bereits erledigt. Das Wetter erlaubte keine großen Sprünge, trotzdem wurden die Pferde noch jeden Tag auf eine der Weiden gelassen. „Alles gut gegangen?“, erkundigte sich Yanus.
Per nickte. Er sah müde aus. Er hatte gerade wieder einen Säugling im Haus und bekam kaum noch Schlaf. Pers Frau war praktisch pausenlos schwanger. Sein ältester Sohn arbeitete von Zeit zu Zeit schon im Stall mit. Ein paar Mal hatte Yanus versucht, mit Per über Qarl zu reden, aber auf diesem Ohr war Per konsequent taub – selbst die deutlichsten Anspielungen glitten an ihm ab. Yanus lehnte sich an die Stallwand.
Per sah den Schmerz in seinem Gesicht. „Es ist das Bein, nicht wahr?“
Yanus nickte. „Manchmal hat es seinen eigenen Willen. Lass gut sein, Per, das kann auch jemand anderes machen.“
„Ich putze gern Lederzeug.“
„Wie geht es deinem Rücken?“ Per war vor einem halben Jahr so heftig vom Pferd gefallen, dass er einen vollen Monat hatte liegen müssen.
„Es ist auszuhalten. Wirklich, Herr. Die Ruhe im Winter wird mir gut tun.“
„Du solltest dir überlegen, wie lange du das noch tun willst.“
„Herr – ich bin noch nicht zu alt.“
Yanus lächelte traurig. „Aber ich werde dich nicht mehr auf die ganz jungen Pferde setzen können, das wirst du doch verstehen. Ich möchte, dass du deinen ältesten Sohn ausbildest. Er wird eines Tages ein fabelhafter Reiter sein.“
Per rieb mit dem Öllappen über das Stirnstück, man sah es in seinem Gesicht arbeiten. „Ganz wie Ihr wollt, Herr.“
„Und ich möchte, dass du auch Evold unterrichtest. Ich werde dir mehr Geld für diese Aufgaben geben. Schließlich hast du jetzt noch ein Kind zu versorgen.“
Per wurde rot. „Danke, Herr.“
„Die Ehe scheint dir zu bekommen.“
Per nickte, sagte aber nichts.
Yanus sah sich im Stall um. Alle Pferde sahen zufrieden aus, kauten Heu oder Stroh, prusteten leise auf den Fußboden. Ob ich das hier eines Tages meinem Sohn werde zeigen können, fragte sich der Hausherr. All das, was Orelie und ich uns auf diesen wenigen Schritt Erde aufgebaut haben? Orelie wird ihn niemals in ihrem Haus dulden, versuchte er sich zu bremsen. Evold konnte den Geruch der Stallungen nicht ertragen, aber sein Sohn war mit Ziegen aufgewachsen. Sein Sohn würde sicher in der Lage sein, eines Tages den Stall zu übernehmen. Noch hielt Annie ihn zwischen den Hügeln versteckt, noch. Yanus trommelte auf eine der gemauerten Trennwände zwischen den einzelnen Boxen. Die helle Stute drehte sich interessiert um. Er rieb ihr die flache Hand über die Stirn. Sein Bein zwickte. Vielleicht war er tatsächlich schon alt, früher als erwartet, früher als all die anderen Männer seiner Familie … Firusz war noch ein echter Halbling, aber er selbst? Sollte er sterben, bevor er ein anständiges Menschenalter erreicht hatte? Sollte er Orelie am Ende als Witwe zurücklassen, mit einem dichtenden Ziehsohn? Womöglich würden sie die gesamte Zucht verscherbeln …
„Per, versprichst du mir etwas?“ Yanus drehte sich zu seinem Angestellten um. „Falls irgendetwas geschehen sollte – du weißt schon, falls es wieder einen Unfall gibt oder so – wirst du ein Auge darauf haben, dass die Pferde in gute Hände kommen?“
Per runzelte die Stirn, schob sich die braune Kappe in den Nacken. „Habt Ihr Vorzeichen gesehen, Herr?“
Yanus starrte ihn für einen Moment an, dann lachte er – wie befreit. „Nein. Nein, ich habe nichts gesehen.“



III



Offenbar hatte Qasimir bereits Räumlichkeiten für das neue Kontor im Blick gehabt – keine zwei Wochen später wurden die ersten Möbel in das Erdgeschoss eines Hauses in der Schwanenliedstraße gebracht. Qasimir schlug deshalb auch den Schwan als Wappentier vor, aber Qarl schob sehr ruhig einen Stoß bedrucktes Papier zu seinem Bruder hinüber. Das runde Erkennungszeichen des Kontors zeigte ein Pferd mit dem Hinterleib eines Fisches. „Wir fanden ein Seepferd gut“, sagte Qarl und dabei blieb es. Die Geschäftsräume waren in einem freundlichen hellen Grün getüncht, Qarl brachte ein paar Gemälde mit, die er in den letzten Jahren erstanden hatte, und hängte sie eigenhändig auf – aus dem Goldrahmen blickten den Bewunderern Seenlandschaften entgegen. Liçs Platz würde zwischen all diesen Gemälden sein – als Firusz das neue Arbeitsumfeld seiner Tochter zum ersten Mal sah, wurde ihm übel vor Angst, aber Liç nahm es gelassen hin. Quietschneue Bücher und Stöße sauberen Papiers verbargen sich in den Wandschränken, hinter einer aus Glasscheiben zusammengesetzten Wand hatte Qarl seinen Rückzugsbereich, seine Weinkaraffen und das Schränkchen mit den versteckten Süßigkeiten.
„Es sieht gemütlich aus“, fand auch Calmorran na Carran, den alle seit jeher Morrie nannten, und der seinem Haarausfall mit goldfadendurchwirkten Mützen entgegenarbeitete. Liç hatte in Morrie stets eine Art Kuriosum gesehen: einen glücklichen, erfolgreichen Mann. Sie hatte das Gefühl, dass ihn trotzdem alle ernst nahmen. Morrie brachte ein beachtliches Vermögen mit ihr kleines Unternehmen. Er rückte eines der Seegemälde gerade und nickte. „Gefällt mir.“ Dann nahm er neben Qarl Platz und einen der Dattelzimtkekse aus der silbernen Schale, die auf dessen Schreibtisch stand. „Was hat Qasimir gesagt?“
„Er lässt uns freie Hand.“ Qarl legte ihm ein hochoffiziell aussehendes Pergament vor die Nase, biss von einem schrumpligen Winterapfel ab.
Morrie unterzeichnete beinahe gelangweilt. „Ich hoffe, wir ändern nichts an unserer bisherigen Vorgehensweise“, sagte er. „Mir gefällt das Reisen. Außerdem habe ich mich an die vielen Geschenke gewöhnt. Meine Frau fordert ihren westländischen Schmuck ein.“
Qarl nickte. „Solange es kein Zaubermittel gegen Seekrankheit gibt, hast du nichts zu befürchten.“
Morrie zog die blonden Brauen hoch. „Hatte Yanus nicht mal Kontakt zu einer weisen Frau?“
Qarl machte ein gequältes Gesicht. „Ich glaube kaum, dass Yanus an diesen Kontakt erinnert werden will.“
Morrie warf einen Blick durch die Glasscheibe. „Kann sie uns hören?“
Qarl schüttelte langsam den Kopf.
Morrie schniefte. „Jetzt, da wir den geschäftlichen Teil erledigt haben: Warum heiratest du nicht endlich?“
Qarl verdrehte die Augen. „Du weißt weshalb.“
„So wie ich das sehe, ist das nur ein Grund mehr, dich nach außen hin normal zu zeigen. Sieh mich an – meine Frau ist glücklich mit unseren Kindern, trägt die schönsten Kleider der Stadt – das alles könntest du auch haben.“ Morrie nahm sich noch einen Keks. „Ich kann mich für dich umhören, wenn du willst. Auch in Westland.“
„Und dann wäre ich plötzlich mit jemandem wie Lup verheiratet? Nein, vielen Dank. Steppenfrauen sind mir zu willensstark.“
„Du kannst dich nicht ewig drücken. Ich bin sehr glücklich.“
„Ja, weil du dich den größten Teil des Jahres gar nicht in der Stadt aufhältst! Ich hätte sie Tag um Tag am Hals.“
„Wenn du erst ein alter Mann bist, wird dich niemand mehr haben wollen. Jetzt hast du immerhin noch so etwas wie Charme und eine gewisse körperliche Attraktivität. Wenn du nur nicht so dick wärst.“
Qarl sog getroffen den Atem ein. „Du findest mich dick?“
„Du hast ein wenig zugelegt, seitdem ich dich das letzte Mal sah, ja.“
„Das ist nur Kummerspeck!“
„Dann tu was dagegen! Wenn du nicht das bekommen kannst, was du willst, dann nimm dir etwas möglichst Ähnliches! Du hast bei Frauen gelegen, oder etwa nicht?“
Qarl starrte ihn für ein paar Sekunden an, dann nickte er.
„Das heißt, du weißt, dass es dir möglich sein wird, Kinder zu zeugen. Eine gute Idee, da dein großer Bruder ebenfalls keine Anstalten macht, sich fortzupflanzen. Hat er vielleicht ein ähnliches Problem wie du?“
Qarl lachte bitter. „Qasimir? Qasimir hätte Mönch werden sollen, das ist alles. Er versucht seine Situation möglichst klosternah zu gestalten.“
„Dann solltest du es als deine Pflicht betrachten, für den nötigen Nachwuchs zu sorgen, finde ich. Das gibt dir immerhin etwas zu tun. Such dir eine hübsche, naive Frau, die in Unschuld erzogen wurde und gar nicht will, dass du ihr Bett öfter als nötig aufsuchst. Dann bekommen alle das, was sie wollen.“

Liç hatte die Papiere, die Qasimir am morgigen Tag von ihr verlangen würde, in die mit grünem Leder bezogene Mappe gelegt und beschäftigte sich nun damit, den Schreibtisch aufzuräumen – das Ohr hatte sie stets beim Gespräch der beiden Männer. Sie konnte nicht alles verstehen, gerade Qarl sprach sehr leise, aber sie hörte Morries Vorwürfe. Sie krampfte die Finger um die Tintenflasche. Sie hatte so lange Glück gehabt. Qarls Unwille, sich eine Frau zu nehmen, hatte ihr die Jahre leichter gemacht. Sie wusste, er hatte das Kontor für sie grün streichen lassen, für sie die Bilder an die Wand gehängt. Er hatte sie schon vor langer Zeit verstanden. Er wusste, dass sie zweigeteilt war – ein Teil im Hier und Jetzt, in der Stadt – der andere weit entfernt, zwischen Seerosen und Schilfrispen. Er hatte sich bemüht, beide Teile anzugleichen, er wusste, was sie nie vergessen konnte. Das Kontor war zum Teil ein Geschenk an sie selbst, an die Erinnerung, die beide mit den Ferien im Hinterland verbanden. Sie stand auf, als sie die Männer ihre Stühle zurückschieben hörte. Qarl war verärgert, das sah sie sofort. Morrie raffte den Mantel um sich und verabschiedete sich mit freundlichem Nicken von ihr, bevor er auf die Straße trat. Qarl blieb vor Liçs Schreibtisch stehen, seine Fäuste öffneten und schlossen sich hilflos.
„Hat er nicht unterzeichnet?“, fragte Liç leise.
Qarl, der es nicht gewöhnt war, dass sie von sich aus das Wort an ihn richtete, sah sie erstaunt an. „Oh doch, hat er. Aber er muss sich mal wieder in mein Leben einmischen. Oh Gott – das nächste Mal wird er mir sicher ein paar Miniaturen vorlegen und verlangen, dass ich mir eine Frau aussuche.“
Liç bemühte sich, möglichst fragend auszusehen. Qarl fiel darauf rein. „Er will mich unter die Haube bringen“, erklärte er. „Offensichtlich haben sich alle gegen mich verschworen. Selbst dein Vater beginnt, mir auf die Nerven zu gehen.“ Qarl räusperte sich. „Aber gerade jetzt – jetzt, da wir unser eigenes Kontor haben – werde ich wohl kaum die Zeit finden, auf Brautschau zu gehen. Fehlt nur, dass Yanus Kandidatinnen aus dem Hinterland in die Stadt schickt.“
„Sie machen sich nur Sorgen.“
„Ich weiß. Aber es ist trotzdem unangenehm.“ Er lächelte, kratzte sich verlegen an der Nasenspitze. „Wie dem auch sei – ich muss los. Lagertermin. Falls Kunden kommen, weißt du ja, was zu tun ist.“
Liç nickte. Sie wusste es. Und sie wusste, wohin Morries erste Reise im Namen des Seepferd-Kontors führen würde. Sie hatte bereits die Liste für Qasimir zusammengestellt. Morrie würde die Kontaktmänner auf den Gewürzinseln aufsuchen, sie über die veränderten Verhältnisse in Kenntnis setzen. Liç hatte die Holzstiche gesehen, die die Nelkenbäume zeigten, Muskatplantagen … die Felder, auf denen Safrankrokusse blühten. Vielleicht hatte sie selbst eines Tages Gelegenheit, ein Schiff zu diesen Inseln zu besteigen, konnte beladen mit Seide, Zimtrinde und Perlen zurückkehren … sie übergab Qarl die Papiere, die er im Lager benötigen würde.
Qarl setzte die Pelzmütze auf. Er sah müde aus, hatte rote Lider. Er schloss den Mantel sorgfältig gegen die Kälte. „Bis nachher, Liç.“
Sie steckte sich die Schreibfeder hinters Ohr. „Versuch, nicht zuviel zu trinken“, sagte sie.

Qarl wickelte den Lagertermin so kurz ab wie möglich, winkte dann eine Mietskutsche heran, um schnell zur Blauen Brücke zu fahren und seinem Bruder die nötigen Dokumente zu überbringen. Trotz der üppigen Kleidung war ihm kalt, die Straßen erschienen ihm zu eng, die ganze Stadt schnürte ihn ein. Was wusste Morrie überhaupt? Liç hatte ihn so seltsam angesehen, sicher hatte sie etwas gehört. Immerhin würde sie es nicht sofort an ihren Vater weiterquatschen – darauf konnte er sich verlassen. Heute hatte sie überraschend viel gesprochen … es war schön, jemanden bei sich zu haben. Jemanden, der den Betrieb der Gesellschaft kannte, dem er nicht alles erklären musste … er seufzte, machte sich zum Aussteigen bereit. Der Schnee auf der Blauen Brücke war zu festen Platten zusammengetreten, die hier und da tückische Eiskrusten bildeten. Er bezahlte den Kutscher, tastete sich vorsichtig zum Tor vor. Man hatte ihn kommen sehen, ließ ihn ein. Qarl klopfte sich die wenigen Schneeflocken ab, die sich auf den Pelz gesetzt hatten. Er blickte die Galerie des Innenhofs entlang. Dieses Haus würde für ihn stets das Haus seines Bruders bleiben, egal, wer seinen Posten eines Tages übernahm. Qasimir na Qes schien diesem Gebilde aus Stein, Holz, Mörtel, Lehm und Stroh seinen Charakter aufgeprägt zu haben. Qarl stieg hinauf zu den Schreibstuben, der Wind griff ihm von der Seite ins Haar, machte ihn für einen Moment blind. Er wusste, wenn Qasimir heute in die selbe Kerbe schlug wie Morrie, würde er beginnen, ernsthafte Erwägungen zuzulassen. Sie hatten ihn fast soweit. Du bist nicht mehr der Jüngste, Qarl. Später wird dich niemand mehr wollen. Hübsche Mädchen mögen keine dicken Männer.
Qarl klopfte an die Tür seines Bruders. Firusz öffnete ihm und lächelte ihn an. „Qasimir ist gleich hier. Setz dich, Qarl. Es muss ja wirklich kalt draußen sein, du hast richtige Apfelbäckchen.“
Qarl nickte, setzte sich.
Firusz bemerkte die Niedergeschlagenheit, die seinen Freund umgab wie Duft eine Rosenblüte. „Morrie hat dich ins Gebet genommen“, vermutete er.
„Seit wann ist er so … hart geworden?“, beschwerte sich Qarl.
„Er hat dir die Tatsachen anschaulich vor Augen geführt?“, fragte Firusz leise. „Qarl – die Leute fangen eben langsam an zu reden. Ich würde alles geben, um dich glücklich zu sehen, aber ich fürchte, in Wittland musst du das Spiel mitspielen.“
„Ich wünschte, ich könnte mir wenigstens aussuchen, wann ich bereit dafür bin.“
„Du hast dir schon sehr lange Zeit gelassen. Wir alle machen uns Sorgen, das ist alles.“
„Ich bin es nur leid, immer das Gleiche zu hören.“
Firusz zuckte die Achseln. „Dann konzentriere dich erst einmal auf das Kontor. Wie macht sich meine Tochter?“
„Sie hält alle Fäden in der Hand. Ohne sie wäre ich schon jetzt aufgeschmissen. Sag Lup, dass Liç das Wertvollste ist, das das Kontor des Seepferdchens besitzt.“
Firusz lachte. „Sie wird wenig erfreut sein, das zu hören. Sicher, es ist schön, dass wir jetzt beide auf der Gehaltsliste der Einhörner stehen, aber Lup sähe es wohl lieber, wenn sie einen Ehemann für Liç aussuchen dürfte.“
Qarl zog die Brauen hoch. „Aber Liç ist doch noch so jung!“
„Sie ist siebzehn, Qarl. Als Lup mich zum Mann nahm, war sie bereits überdurchschnittlich alt für eine Frau aus Westland. Dort werden Frauen schon früh verlobt, wie du weißt. Und so wenig sie selbst ein zweites Kind möchte – ich glaube, gegen Enkel hätte sie nichts.“
„Hast du Liç davon erzählt?“
„Ich wette, Liç weiß schon davon. Sie kennt ihre Mutter.“
„Hast du deshalb zugestimmt, dass ich Liç ins Kontor hole? Aus Angst, Lup könne versuchen, sie zu verkuppeln?“
Firusz legte den Kopf schief. „Vielleicht. Liç und du, ihr befindet euch in einer ähnlichen Situation. Ich wünschte, ich wüsste, was Liç für sich selbst will. Sie kann doch nicht ewig die folgsame Tochter sein.“
„Im Kontor macht sie sich erstmal sehr gut“, sagte Qarl. „Und eines Tages macht sie schon den Mund auf und sagt, was sie will. Du wirst sehen.“

BALD GEHT ES WEITER!


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Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2011

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