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Hier in Berkshire fangen jetzt die Linden an zu blühen. Dieser hellgrüne süß-harzige Geruch ist für mich eng mit meinem Begriff von Sommer verknüpft. Mein Lieblingsplatz ist auf einer Bank, von der aus man über die umliegenden Hügel blicken kann. Die Bank trägt eine Plakette mit der Aufschrift ‚In Loving Memory of Rodney Baylis, 1951-2002’ und steht neben einer riesigen Linde. Heute habe ich mein rotes Notizbuch mitgenommen, bin den Fußpfad hinter Ducksbridge Cottage hinaufgestiegen und beim Klettern über den hölzernen Stieg umgeknickt. Ich fiel mit dem Gesicht voran ins Gras, mit dem linken Ellenbogen in eine Ansammlung von Brennnesseln. Über die Hügel streicht immer ein sachter Wind, heute ist der erste richtig warme Tag seit Ostern, um mich und meinen brizzelnden Arm schwirren unzählige Insekten, Schmetterlinge jagen sich um die Gräser hinter dem Zaun. Mit jedem Windstoß rollt eine Duftwelle über mich.

Meine Uni befand sich zum Teil in einer Wasserburg aus dem 14. Jahrhundert (mittlerweile wasserlos und kräftig umgebaut), die Zugangsstraße war so schmal, dass nur ein Auto darauf Platz hatte und wurde von gewaltigen Linden flankiert. Ich pflückte die Blüten von den tiefhängenden Ästen, machte Tee daraus, weil ich wissen wollte, wie Prousts Madeleinemoment tatsächlich roch und schmeckte.

Meine eigene Erinnerung bringt noch mehr Lindenalleen ans Tageslicht. Die alte Straße zwischen Bielefeld und Theesen, wo ich aufwuchs, wurde irgendwann für Autos gesperrt, aber mit dem Fahrrad darf man noch durch – eines Nachmittags geriet ich in ein Sommergewitter, man konnte die Linden, die zu beiden Seiten der Straße standen, im prasselnden Regen nicht mehr riechen. Ich schob mein Rad langsam den Hügel hinauf, hielt kurz an, um Luft zu schnappen – vor mir krachte ein Ast auf den schadhaften Asphalt. Ich stand in der Lücke zwischen den Bäumen, bis es aufhörte zu donnern.

Als ich mich von meinem Freund trennte, blühten gerade die Linden und für diesen einen Sommer war der Duft Teil dieser schmerzhaften Entscheidung. Ich versuchte krampfhaft mein Studium zu beenden und fühlte mich nicht in der Lage, mir nebenbei weiterhin vorzuspielen, dass sich alles einrenken würde, dass es irgendwann möglich sein könnte, eine tatsächlich vorhandene Verbindung zu spüren. Ich entwickelte eine milde Allergie und hatte große Angst, dass es die Linden waren, die sie auslösten, zusammen mit Lernstress und überfälligen Erkenntnissen.

Im letzten Sommer bevor ich hierher kam, schrieb meine beste Freundin ihre Diplomarbeit. Ich lud sie zum Schreiben nach Hannover ein, wo ich damals wohnte. Es waren die unglaublich heißen vier Wochen im Juli, bevor der Sommer regnerisch und kalt dahindümpelte. Morgens arbeiteten wir für ein paar Stunden, dann packten wir die Liegedecke und unser Badekram ein und machten uns auf den Weg zu den Teichen. In brütender Hitze fuhren wir die schier endlosen Lindenalleen am Maschseeufer entlang, die Lindenblüte war in den letzten Zügen und die klebrigen Krümel, die zu dieser Zeit von den Bäumen fallen, setzten sich in unser Haar, in die Kleider und in die Reifenprofile der Räder. Der Geruch hüllte uns mit jedem Pedalentritt ein, war kaum noch loszuwerden, übermächtig süß. Ich hatte die goldbraunen Blüten noch in meinem Rad als es schon längst wieder grau und nieselig war.

Die Linde, neben der ich jetzt sitze, musste sich nie in eine Reihe einordnen. Sie hat eine ganz andere Form als die Bäume in der Stadt. Sie sieht aus wie ein Topf übergekochte Milch, hier und da ragen trockene Äste aus den schwer mit Blüten behangenen Zweigen. Der starke Wind der letzten Wochen hat einige zu Boden gerissen, die nun verstreut im Gras liegen. Mein Knöchel ist nicht angeschwollen, überall hört man das Geknatsche und Gerassel der Grillen. Das Rauschen der Linde erinnert an das eines Flusses. Von den Brennnesseln kann ich nur noch ein dumpfes Vibrieren spüren. Ich werde ein wenig hierbleiben, den Sonntag auskosten, ich habe auch etwas zu Lesen mitgebracht. Später pflücke ich dann ein paar Lindenblüten - für Tee.


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Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2011

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