Cover

X



Die Kutsche, diesmal nur zweispännig, hielt an derselben Stelle wie am Tag zuvor. Firusz, mit tiefen Augenringen, puhlte an der Wandverschalung des Gefährts herum. „Das ist keine gute Idee, Liç.“
Das kleine Mädchen sah ihn an – und plötzlich war ihr Vater einem Blick ausgesetzt, in dem mehr Wissen, mehr Erfahrung mitschwang, als möglich war. Innerhalb eines Tages war Liç fremd geworden, hatte mit drei Jahren alles verloren, das kindlich an ihr gewesen war. Teufelskinder waren schon immer anders – aber doch nicht so anders. Firusz’ eigene Kindheit hatte im Wesentlichen aus sehr viel Spielzeug bestanden, aus abgeschwatzten Süßigkeiten und dummen Geschichten, Streichen, Einschlafmärchen, Feindschaften oder Freundschaften mit anderen Kindern auf der Burg. Er stieß den Schlag auf, stieg ins Gras herab. Sie waren allein gefahren, weder Qarl noch Yanus hatten von ihrem Ziel erfahren. An diesem Tag war nicht mehr so schönes Wetter. Zarter aber beständiger Regen raute die Oberfläche des Sees auf, perlte an der Kutsche ab, zeichnete ihren Vater mit einem Muster aus dunklen Flecken. Wie eine Wildkatze, dachte Liç und ließ sich aus der Kutsche heben. Liç wusste, wohin sie gehen musste. Diesmal gab sie Acht, dass es eine feste Stelle am Ufer war. Sie setzte sich vorsichtig hin, zog die Schuhe aus und steckte ihre nackten Füße ins Wasser. Firusz blieb bei der Kutsche, beobachtete die Mienen des Kutschers und des Beisitzers – wartete, bis diese sich gelangweilt abwandten und zu reden begannen. Firusz drehte sich um. „Wartet hinter dem Wäldchen auf uns“, sagte er.
Sobald die Kutsche außer Sichtweite war, setzte sich auch Firusz ins Gras. Was hatte Yanus gesagt? Liç würde nicht ertrinken. Nie ertrinken. Wassergeister hatten seinem Großvater zur Flucht verholfen, hatten ihm mehrmals das Leben gerettet, durch ihre bedingungslose Freundschaft und Treue. Anderen Leuten mochten sie Streiche spielen, aber nicht ihm. Nicht Liç, verbesserte er sich. Er sah, wie sie sich vorbeugte und die Hände ins Wasser steckte. Luftblasen stiegen auf; zwischen den Kringeln, die der Regen aufs Wasser malte, erschien eine Art Strudel – dann wieder helle Fäden. Die mit Algen verklebte Mähne des Wassergeistes, die verschließbaren Nasenlöcher, die kurzen Ohren … und dann strömte Wasser von dem gewaltigen Leib des Lebewesens, das sich ihnen nun zum ersten Mal in seiner ganzen Gestalt zeigte: die eines Pferdes von den Ausmaßen eines schweren Ackergauls, mit einem enormen Mähnenkamm, der Firusz sagte, dass sie es mit einem männlichen Tier zu tun hatten. „Ach, du bist es“, brummte der Wassergeist. „Dir geht es gut, wie ich sehe.“
Liç, die immer noch sitzen blieb, nickte.
„Du bist hier, weil du dich bedanken willst?“, dröhnte die Stimme. Durchaus wohlwollend.
Wieder nickte Liç.
„Das ist nett von dir, aber ich glaube, es war nicht deine Schuld.“
Ein zweiter Strudel entstand – neben dem cremefarbenen Hengst tauchte ein zweites Seepferd auf. Es war noch schlank und sah irgendwie verwachsen aus – vielleicht ein Jährling, dachte Firusz.
Der Hengst wandte sich seinem Sprössling zu. „Sag Entschuldigung.“
Das Fohlen quiekte: „Entschuldigung.“
„Er hat dich unter Wasser gezogen“, erläuterte der große Wassergeist. „Er wollte nur spielen, es war nicht böse gemeint.“
Das Fohlen hatte riesige Augen, einen dürren Hals und klobige Gelenke. Liç stand auf und streckte die Hand aus. „Tut mir Leid“, sagte das Fohlen, ebenfalls ein männlicher Wassergeist, ebenfalls von heller Farbe und über und über mit handtellergroßen roten Flecken bedeckt. Die Mähne war dunkel, vielleicht schwarz. Liç berührte die nasse Nase des jungen Seepferds, das Fohlen kam ans Ufer. Firusz sah die beiden Kinder nebeneinander stehen, erhob sich und ging auf die kleine Gruppe zu.
Der blonde Hengst wandte sich zu ihm um. „Ich hatte nicht geglaubt, dass es noch welche von euch gibt“, sagte er – ein bisschen unfreundlich.
Firusz stellte sich vor, er spräche mit einem Würdenträger bei Hofe. „Ich wusste nicht, dass sie eine Gabe hat“, sagte er. „Sie heißt Liç de Liarette.“
Der Hengst wies mit der Nase auf sein Fohlen. „Er heißt To.“
To begann um Liç herum zu springen, spielerisch nach ihr auszuschlagen – sofort wurde er von seinem Vater in einer fremden, plätschernd klingenden Sprache zurechtgewiesen. To ließ die Ohren hängen, schob die Unterlippe vor, die bedrohlich wackelte. Sein Vater rief ihn zu sich, deutlich widerstrebend trat der junge Hengst in den Grünen See, versank bis zum Hals und verschwand.
„Wir müssen bald in die Stadt zurück“, sagte Firusz. „Aber vielleicht kommen wir in ein paar Monaten wieder.“
Der Hengst sagte nichts mehr. Auch er versank würdevoll zwischen den Seerosenblättern.
Liç lief zu ihrem Vater zurück, klammerte sich an sein Hosenbein. Firusz hob sie hoch. „Deine Mutter wird nie davon erfahren“, versprach er noch einmal.

Qarl hatte den Tag denkbar ruhig angehen lassen. Er hatte gebadet, sich bei der Auswahl seiner Kleider Zeit gelassen, beschlossen, heute einen langen Brief an Morrie und einen kurzen Brief an seinen Bruder zu schreiben. Er hatte sich das Schreibkästchen unter den Arm geklemmt und war wieder in den Garten gegangen, diesmal in die überdachte Laube. Er hatte dem sanft fallenden Regen zugehört, den wenigen Vögeln, die um ihn herum sangen. Er hatte an der Schreibfeder herumgekaut, drei Mal von vorn angefangen und ehrlich gesagt nur 15 Mal an den Reitplatz gedacht – als ein Schatten in die Laube fiel. Qarl sah erstaunt auf.
Per stand vor ihm, die Mütze in den Händen. Er roch durchdringend nach Pferd und Leder und er war immer noch sehr blass. „Ich wollte mich bei Euch bedanken, mein Herr“, sagte er leise. „Ohne Eure Hilfe wäre vielleicht nicht nur das kleine Mädchen in Gefahr gewesen. Ich … ich kann nicht besonders gut schwimmen …“
„Du bist in Ohnmacht gefallen“, stellte Qarl klar. „Und ich war selbst kurz davor. Dein Herr kennt diese Dinge aus den Kolonien, uns erschrecken sie zu Tode. Wäre ich umgekippt, hättest du eben mich über Wasser halten müssen.“
Per setzte sich auf die zweite Bank in der Laube, legte die Mütze neben sich. „Und so wäre es richtig gewesen, mein Herr. Es stand mir nicht zu, so schwach zu sein.“
Qarl zog die Augenbrauen hoch. „Nicht immer können wir uns aussuchen, was wir andere Menschen sehen lassen. Es war eine außergewöhnliche Situation.“
„Und ich kann mit niemandem darüber reden“, sagte Per. „Der Kutscher hat nichts gesehen. Niemand würde mir glauben.“
„Behalte dieses Vorkommnis besser für dich“, sagte Qarl. „Als Teufel hat dein Herr schon jetzt keinen leichten Stand.“
„Sie nennen ihn den einäugigen Reiter, Herr. Viele haben Angst vor ihm, obwohl er der gütigste Herr im Hinterland ist. Und sehr großzügig.“
„Du machst dir Sorgen um ihn“, stellte Qarl fest.
„Er kann gut mit Pferden umgehen“, rechtfertigte sich der Stallbursche. „Und wenn es auch ein Talent ist, das die Teufel haben, er stellt jeden Tag Klugheit und Gelassenheit zur Schau. Er ist der, zu dem hier alle aufsehen, auch wenn sie es kaum zugeben wollen.“
Qarl legte die Schreibfeder beiseite. „Dir gefällt deine Arbeit, nicht wahr?“
„Ja, Herr – und ich finde es schön, dass Ihr Euch für Motte interessiert. Er ist ein gutes Pferd.“
„Danke, Per. Ich werde ihn mir bald in die Stadt kommen lassen.“
„Er ist ein gutes Pferd“, wiederholte Per. „Ein treues Pferd.“
Qarl sah ihn misstrauisch an. Sollte er etwas anderes verstehen als das, was er hörte? „Ja, natürlich“, sagte er.
Per stand auf, verbeugte sich, ging dann durch den Garten davon.
Qarl blickte auf seinen begonnen Brief nieder. Hatte er irgendetwas übersehen?

Sie reisten wenige Tage später ab. Qarl wollte in die Stadt zurück, spürte, wie ihm das Geschäftsleben plötzlich fehlte. Firusz wollte Lup sehen, Liç von den Seen fortbringen. Yanus gab ihnen Geschenke mit: Bücher, bunten Wollstoff für Lup, Kuchen und Weinflaschen. Yanus’ eigene Kutsche brachte sie bis zum ersten Gasthaus, wo die der Gesellschaft des Einhorns auf sie wartete, wie verabredet. Liç sah Qarl an, der plötzlich sehr ruhig und zufrieden aussah, wohl all seine Gedanken bereits auf die Stadt gerichtet hatte. Es regnete immer noch ein wenig. Hin und wieder liefen die Pferde durch Pfützen.
„Freust du dich auf Zuhause, Liç?“
Sie sah ihren Vater an und nickte. Konnte sie ihm sagen, dass sie mindestens einen Finger dafür gegeben hätte zum See zurück zu kehren, das Fohlen wiederzusehen? Wenn sie die Augen schloss, brach das Licht sich im Wasser, drängelten sich Fische an ihr vorbei, blank geputzt wie Silberkannen; Kaulquappen schwammen mit militärisch zackigen Bewegungen vorüber – Liç ließ die Lider hochschnappen. Sie hatte instinktiv die Luft angehalten.


XI



Sie erreichten Seestadt in tiefdunkler Nacht. Liç erwachte von den Diskussionen der Wächter am Stadttor, die die Kutsche der Gesellschaft des Einhorns erkannten und nach verkürzten Formalitäten durchwinkten. Sie drehte sich um, landete mit dem Gesicht an der Seite ihres Vaters, der die von Qasimir ausgestellten Papiere zurück in sein Wams steckte. Qarl schnarchte immer noch sacht vor sich hin – auch das laute Getrappel der Hufe auf dem Straßenpflaster vermochte ihn nicht zu wecken. Firusz sah die großen Bäume am Straßenrand vorbeigleiten, ihre Nachtschatten wie ein Reihe vorwurfsvoller Mütter. Firusz spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Liç zog sich an seinem Wams in die Höhe, sah ihn aus zugequollenen Augen an. „Wir sind gleich da“, versprach ihr Vater, strich über ihren zerzausten Kopf. Und tatsächlich: Die Straßenbiegung und die Silhouetten der Häuser kamen ihm bereits vertraut vor. Sie bogen in die Straße ein, in der das kleine Haus stand. Die Kutsche hielt, Firusz wuchtete Liç und die Reisetruhen von Bord. „Setzt Qarl bei der Gesellschaft des Einhorns ab“, sagte Firusz zum Kutscher. „Dort kann er über Nacht bleiben.“ Die Pferde zogen an, die Kutsche rollte davon.
Liç stand frierend vor dem Gartenzaun und versuchte im Dunkeln zu sehen, ob die Gemüsebeete vernachlässigt aussahen oder nicht.
„Kommst du?“ Firusz streckte die Hand aus.

Der Schlüssel im Schloss klang unvertraut laut. Firusz schob die Truhen in den Flur. Liç lief in die Küche, fuhr mit der Hand über den Tisch. Er war nicht staubig. Sie atmete auf. Ihre Mutter war nicht gegangen. Es roch nach Äpfeln und frisch gebackenem Brot.
Firusz fiel ein Stein vom Herzen. Er ließ die Truhen stehen, trug Liç die Treppe hinauf. Das Schlafzimmer der Familie lag vom Mondlicht erleuchtet da. Unter den Decken zeichnete sich Lups Umriss ab. Firusz zog Liç bis aufs Unterkleid aus, hob sie aufs Bett – dann begann er sich selbst zu entkleiden. Als er die Decken hob und sich neben seine Frau schob, beugte sich Lup über seinen Nacken. „Ich bin nicht schwanger“, sagte sie. Firusz drehte sich zu ihr um, legte die Arme um seine Frau und dankte allen zuständigen Göttern.

Die Stadt empfing die Wiederkehrer mit ganzen zwei Wochen Platzregen. Wenn Firusz morgens zur Blauen Brücke ritt, kam er bis auf die Haut durchweicht an; meist reichte Qasimir ihm stumm ein Leintuch, damit er die Tinte in den Akten nicht verschmierte. Er fand sich recht schnell wieder in den Alltag ein, in Lups liebevolle Abweisungen – aber Liç verhielt sich merkwürdig. Seine Tochter schien ihre Zeit im Wesentlichen auf dem niedrigsten der Fenstersimse zu verbringen. Sie hatte zwei Kissen übereinandergelegt und wartete, bis das Pferd ihres Vaters hinter dem Zaun zu sehen war. Lup brauchte volle zwei Wochen, bis sie begann sich Sorgen zu machen. Als Firusz mit aufziehender Dunkelheit nach Hause kam und sich den Mantel von den Schultern strich, huschte sie aus der Kaminstube in den winzigen Korridor, nahm ihn beim Ärmel. „Was ist mit meiner Tochter passiert?“, zischte sie, sprühend vor Zorn. „Als du sie mit ins Hinterland genommen hast, war sie noch völlig normal!“
Firusz seufzte. „Sehen wir es ein, Lup – unsere Tochter war niemals völlig normal. Und wie sollte sie auch. Bei einer solchen Familie.“
„Was willst du damit sagen?“
Firusz blickte in das blasse Gesicht seiner Frau und beschloss zu lügen. „Das Treffen mit Yanus’ Ziehsohn war kein großer Erfolg“, behauptete er. „Liç konnte ihn nicht leiden. Vielleicht hat sie gemerkt, wie sehr sie sich von anderen Kindern ihres Alters unterscheidet. Das würde mich jedenfalls melancholisch machen.“
Lup hatte nicht vor, sich so rasch zu beruhigen. „Meine Tochter war schon immer verschlossen, das ist richtig – aber jetzt sieht sie aus, als gehöre sie nicht länger hierher!“
Firusz spürte einen kurzen Schmerz unter den Rippen. Sie gehörte an den Grünen See, richtig. Sie hier in der Stadt zu behalten, diente einerseits ihrer Sicherheit – andererseits vermochte er sich nicht vorzustellen, welchen Trennungsschmerz seine Tochter erlitt. Eine Begabung zu entdecken und sie sofort wieder entrissen zu bekommen … „Vielleicht sollte ich Liç mal zur Arbeit mitnehmen“, schlug er vor. „Sie ein wenig ablenken, sie für die Belange der Einhörner interessieren.“ Sie geht ein in diesem Haus, dachte er. Sie sollte Wasser sehen – und wenn sie nur auf der Blauen Brücke steht und ins Hafenbecken starrt.

Einige Tage später hob Firusz seine Tochter vor sich auf den Braunschimmel. „Qasimir na Qes freut sich darauf, dich kennen zu lernen“, sagte er. „Er ist Qarls großer Bruder und hat schon viel von dir gehört.“
Liç klammerte sich in die Mähne des kräftigen Pferdes, blieb still. Im Schritt ritten sie unter den Linden entlang, die Seestadts Straßen säumten. Liç war ruhig, sie atmete im Bewegungsrhythmus des Pferdes; sie spürte das warme Fell, das Leder des Sattels, den Wollüberwurf ihres Vaters … sie war wach, sehr wach, und doch war ihr immer noch, als blicke sie durch die Wasseroberfläche zur Sonne hoch, als sei sie immer noch in jenes Spiel verwickelt, das To für sie beide erfunden hatte.

Das Haus der Einhörner war in hellem Taubenblau getüncht und man konnte sehen, dass es nachträglich mit Schnitzereien gehübscht worden war, denen noch etwas Vulgäres anhing, so neu waren die Farben, so weiß strahlten die hölzernen Einhörner über der Blauen Brücke. Im Innenhof des Hauses gab es einen winzigen Stall, in dem das Pferd Platz fand; ein Vogelkäfig stand unter der Galerie des ersten Stocks. Hier sah man, wie schlicht das Haus noch vor kurzem ausgesehen haben musste. Liç ließ sich auf den Arm nehmen und in das muffige Dunkel des Hauses hineintragen. Die Schulräume lagen dicht neben dem Arbeitszimmer des Ersten Einhorns. Man hörte die Schüler auf ihren Bänken herumrutschen – wie durch einen Schleier aus Wasserpflanzen sah Liç die Türen vorbeigleiten, die Regale, in denen Bücher und Schriftrollen geschichtet lagerten. Die Tür am Ende des Ganges war hell gestrichen. In dem Raum, der sich hinter ihr verbarg, standen zwei Schreibtische und mehrere Sessel. Es roch nach Papier, saurer Tinte und Gras. Eine Vase stand auf dem größeren der beiden Tische, gefüllt mit einfachen Wiesenblumen, die auch am See wuchsen. „Das ist das Arbeitszimmer“, sagte ihr Vater. Liç ließ sich auf einem Klappschemel absetzen, schob die Hände unter den Hintern. Sie starrte die Blumen an. Die Tür öffnete sich. Liç wusste, dass sie an dem Mann hätte interessiert sein sollen – Qarls großer Bruder – aber der grüne Duft der Blumen war wichtiger.
Qasimir beugte sich über das Mädchen. „Sie wächst ja erstaunlich schnell.“
„Sie war schon immer sehr groß.“
„Aber sie ist nicht besonders gesprächig.“ Qasimir sah den kummervollen Blick seines Sekretärs.
„Ich weiß“, flüsterte Firusz.
„Ich wette, das hat sie von ihrer Mutter.“ Qasimir zog einen kleinen rosa Storchschnabel aus der Vase, reichte den nassen Stängel an Liç weiter. Das Mädchen schien aus ihrem Wachtraum aufzuschrecken. Liç nahm die Blume an, richtete die schrägen türkisgrünen Augen auf den Vorgesetzten ihres Vaters. Qasimir ertappte sich bei einem Schaudern. Er sah: Liç würde hübsch werden. Aber auf eine fremdartige, beängstigende Art und Weise. Es sollte keine Teufel in diesem Land geben, dachte Qasimir na Qes. Hier werden sie nicht glücklich.
Aber über Liçs Gesicht huschte der Schatten eines Lächelns. Sie faltete die Hände um die zart behaarte Pflanze, ließ die Blüte an ihre Nasenspitze wippen. So hatte das Ufer gerochen, kurz bevor es geschehen war.
„Typisch Frau“, fand Qasimir. „Mich guckt sie nicht an – aber die Blume. An die Arbeit, Firusz. Wir haben einen Stapel abzuarbeiten, der mir schon vor einer Woche Angst gemacht hat.“

Liç saß so lange still, bis die Blume schlapp zwischen ihren Fingern herabhing, dann rieb sie die Handflächen gegeneinander, bis nur noch grüngraue Würstchen zurückblieben. Qasimir hob den Kopf. Firusz’ Tochter war ihm unheimlich. Sie war so konzentriert, so versessen darauf die Blume zu zermalmen, jetzt, da sie alle Schönheit eingebüßt hatte. Qasimir bemerkte erst wenige Sekunden später, dass er das kleine Mädchen missbilligend anstarrte – als Liç zurückblickte. Sie wischte sich die Hände an den Knien ab. Ihr Vater hatte ihr ein Buch mit schönen Illustrationen bereitgelegt, das Liç jetzt auf ihren Schoß hob. Qasimir sah wie die Augen des Mädchens dumpf über die Seiten glitten. Sie hatte nichts von dem Enthusiasmus, dieser strahlenden Unfähigkeit zur Melancholie, die Qasimir an anderen kleinen Kindern so entsetzlich fand. Etwas musste mit ihr geschehen sein. Wieder sah Qasimir die Frau vor sich, die einst aus ihr werden mochte. Sie wird niemanden finden, der sie heiratet, dachte er – nicht zum ersten Mal an diesem Tag. „Firusz – vielleicht solltest du jetzt Mittagspause machen“, sagte das Erste Einhorn. „Und Liç mit auf die Blaue Brücke nehmen, ihr einen Apfel kaufen oder ein warmes Brötchen.“

Liç sah ins Hafenbecken hinab, doch das schlammbraune Wasser war nicht in der Lage, ihr etwas zu erzählen. Hier gab es ganz sicher keine von ihnen. Nicht bei all den Abfällen, die von der Blauen Brücke geworfen wurden. Sie klammerte sich an das Hosenbein ihres Vaters, der nicht länger in der Lage war, ihr unglückliches Gesicht zu ertragen. „Was soll ich denn tun, Liç?“, fragte er leise.
Sie streckte die Arme nach ihm aus, ließ sich von ihm hochheben. Ihr Vater roch nach der Schreibstube und warmem Leder; sie legte den Kopf an seine Schulter, das dunkle Haar fiel über ihr Gesicht, verdeckte die fremdartigen Züge des Kindes.
Firusz flüsterte: „Willst du nach Hause? Soll ich dich nach Hause bringen?“
Liç schüttelte den Kopf.
„Es muss doch etwas geben … soll ich Qasimir fragen, ob du beim Unterricht der Schüler zusehen darfst? Es ist noch früh, das vielleicht, aber wenn du Lust hast, schon jetzt etwas über die Welt zu lernen … Qasimir unterrichtet Geschichte, weißt du?“
Liç überlegte einen Moment, dann spürte Firusz das Nicken gegen seine Brust. Liç schob das Haar beiseite, sah auf den Dunst hinaus, der weit draußen über der See lag. Qasimir na Qes wusste gewiss nicht von allen Dingen – aber vielleicht konnte er Manches erklären …
„Qasimir hat auch mich unterrichtet“, sagte Firusz leise. „Er ist ein guter Lehrer. Ich werde ihn fragen, Liç – mehr als ‚nein’ sagen kann er schließlich nicht.“

Qasimir besah sich so ausgiebig seine Fingernägel, dass Firusz hätte schreien mögen. Schließlich wandte sich das Erste Einhorn seinem Sekretär zu. „Sie ist erst drei Jahre alt, Firusz.“
„Und sie ist alles andere als eine gewöhnliche Dreijährige, wie du bereits mehrmals erwähnt hast. Sie geht zuhause ein, Qasimir. Früher kannte sie nichts anderes – jetzt hat sie gelernt, dass es außerhalb Seestadts noch etwas gibt. Ich kann ihr nichts bieten – und Lup erst recht nicht. Liç will lernen. Lass sie einfach mit im Zimmer sitzen. Sie wird kaum auffallen.“
„Sie wird allen auffallen“, widersprach Qasimir. „Also gut – unter einer Bedingung: Du sagt mir, was mit ihr geschehen ist. Ich möchte keine unliebsamen Überraschungen.“
Firusz lächelte gequält. „Sie hat eine Gabe.“
Qasimirs verschiedenfarbige Augen leuchten auf. „Eine teuflische Gabe?“
„Wenn du es so sehen willst … Lup darf nichts davon wissen, hörst du? Wir haben es durch Zufall herausgefunden und Liç … sie ist so unglücklich …“
„Was kann sie?“
„Es ist nichts Großartiges.“
„Ich hoffe, es geht dabei nicht um Feuer.“
Firusz lachte leise. „Elfengaben haben nichts mit Feuerbällen zu tun.“
Qasimir sah tatsächlich enttäuscht aus. „Ich muss also nicht jeden Moment damit rechnen, dass das Dach in Flammen aufgeht?“
„Liç ist ein ganz normales Mädchen. Sie ist nur etwas stiller und trauriger als die meisten. Gott, ich möchte wirklich gern wissen, von wem sie das hat. Ich glaube, mein Großvater konnte das mit der Melancholie auch ganz gut – wahrscheinlich muss ich ihm die Schuld dafür geben. Wer hätte ahnen können, dass Liç ausgerechnet nach ihm schlägt?“
„Dein Großvater war der Mann mit den Seepferdchen, richtig?“
Firusz sah Qasimir erschrocken an.
Das Erste Einhorn zuckte die Achseln. „Du hast es irgendwann mal erwähnt. Liç kann mit Seepferdchen reden?“
Firusz nickte düster. „Aber in Seestadt ist das Meer zu schmutzig – es gibt hier keine. Du hättest sie sehen sollen, Qasimir. Seit dem Moment, in dem wir das Hinterland verließen, ist sie wie betäubt.“
„Sie darf in den Unterricht kommen“, sagte Qasimir leise. „Aber eines Tages möchte ich über wirklich alle Details in Kenntnis gesetzt werden – ist das klar?“

Zugegeben, das Wetter hatte etwas aufgeklart, dennoch hielt sich dieser Sommer mit Sonne und duftenden Blumen zurück. Der Geruch der Linden, der sich sonst durch jede kleine Ritze in die Häuser stahl, war nicht halb so intensiv wie sonst. Qarl saß im Fenstererker seines Hauses und blätterte gelangweilt in einem der neusten Gedichtbände, eine Sammlung zeitgenössischer Meisterwerke – auch Yanus’ Gattin war mit einigen Gedichten darin vertreten. Qarl konnte den meisten nichts abgewinnen. Er brauchte weder die tausendste Beschreibung einer heroischen Landschaft noch die pittoreske Ansicht eines Bauerndorfes. Orelie hatte in letzter Zeit offenbar eine Vorliebe für Trauergesänge entwickelt und erfüllte beinahe als einzige die Ansprüche, die er an Lyrik stellte. Insgesamt war das Buch eine klassische Fehlinvestition. Er klappte es zu, seufzte über dem teuren goldgeprägten Einband und warf es zielsicher in Richtung Tür – wo es den soeben eintretenden Hausburschen nur knapp verfehlte.
„Verzeiht, Herr“, stammelte dieser. „Eine Lieferung ist für Euch eingetroffen.“
Qarl, der es hasste, für jede Kleinigkeit unterschreiben zu müssen, erhob sich, trappelte ins Erdgeschoss seines luxuriösen Hauses hinunter. Auf dem Tisch neben der Eingangstür lag ein weiteres Buch, ebenfalls in Leder gebunden. „Das ist es?“, maulte er den Hausburschen an. Er nahm es in die Hand, ließ es aufschnappen. Für einige Sekunden starrte er das mit sicherer Feder beschriebene Papier an, dann wandte er sich wieder an den Burschen. „Wer hat das abgeben?“, zischte er.
Der Dienstbote, der seinen Herrn schon immer ein wenig unheimlich gefunden hatte, wich zurück. „Ich habe ihm Geld gegeben, Herr, um das Pferd unterzustellen.“
„Ist er im Hungrigen Einhorn?“
Der Hausbursche hob die Achseln, Qarl raffte fluchend den leichten Wollmantel um sich, stopfte das Stammbuch ins Wams und stürmte zu Fuß in Richtung Hafenviertel. Die Leute, die zu dieser Tageszeit ihre Verkaufsstände aufgebaut hatten, die Bauern, Müllerburschen, Fischweiber sahen nicht oft einen so reichen Mann, der pfeifend vor Wut übers Kopfsteinpflaster stratzte – der Pelzbesatz des Mantels leuchtete silbern und rauschte dramatisch. Auf den letzten Metern verfiel er in Laufschritt, rannte den Unterarm gegen die Wirtshaustür und fand sich Auge in Auge mit der Wirtsfrau wieder, die ihn erstaunt musterte. „Ist Yanus von Tredorn hier abgestiegen?“, fragte er.
Die Frau schüttelte den Kopf, wischte dann weiter Tonbecher trocken. „Nein – aber vielleicht versucht Ihr es in seinem eigenen Haus, Herr.“
Qarl biss sich auf die Unterlippe. Natürlich! Jemand wie Yanus stieg nicht mehr im Hungrigen Einhorn ab – er hatte ein eigenes Stadthaus! „Ich brauche ein Pferd“, sagte er.

Die Pferde der Gesellschaft des Einhorns waren nur wenige Straßen entfernt untergebracht. Qarl folgte dem üblichen Prozedere. Er ließ sich von der Wirtsfrau einen der vorgefertigten Zettel aushändigen und knallte die Wirtshaustür hinter sich zu. Was fiel Yanus ein, ihm so einfach das Stammbuch hinzuschieben? War er nicht wichtig genug für einen anständigen Besuch? Er hatte sich im letzten Jahr zu einem der reichsten Bürger der Stadt gemausert! Er verdiente Achtung – und einen Beweis der Freundschaft! Selbst von einem Teufel! Er hätte sich gern mit Yanus über Orelies letzte Werke unterhalten, ihn mit den Köstlichkeiten überrascht, mit denen er in den letzten Wochen seine Speisekammer gefüllt hatte. Um auf genau solche Besuche vorbereitet zu sein! In Öl eingelegtes gefülltes Gemüse. Getrocknete exotische Früchte. In Rosenblätter gepackten Käse. Qarl sah sich nicht um, stiefelte einfach über die Straße, bog in die Einfahrt unter einem schmucklosen blau gestrichenen Torbogen ein. Der Stallmeister kam ihm bereits entgegen, nahm den Zettel an sich. „Wenn Ihr einige Minuten warten wollt, Herr …“
Qarl ließ sich auf eine der Bänke plumpsen, die hinter dem Anbindebalken standen, schob den Mantel von den Schultern. Er schwitzte. Natürlich schwitzte er – schließlich hatte er sich gerade entsetzlich aufgeregt. Er hatte doch gewusst, dass Yanus ein eigenes Haus besaß … verärgert sah er sich um. Am hinteren Ende des Balkens hing ein Sattel aus dunklem Leder, die Schabracke war aus dunkelblauem Wollstoff, mit dem Wappen … er kannte das Wappen! Ein weißes dreibeiniges Pferd über einer goldenen Pflugschar. Er sprang auf. Er kannte genau diesen Sattel! Gerade als er ihn hochgehoben hatte, trat Per aus dem Stall, am Zügel einen fetten Schimmel, der offenbar für Qarl bestimmt war. „Euer Pferd, Herr.“
Qarl presste den Sattel an sich. „Guten Tag“, sagte er leise.
Per zog die roten Brauen hoch. „Das ging aber schnell“, sagte er. „Euer Hausbursche meinte, Ihr wäret gerade sehr, sehr beschäftigt.“
„Ich glaube, ich werde ihn wohl entlassen“, murmelte Qarl. „Wo ist Yanus?“
Per lächelte freundlich. „Er ist im Hinterland, Herr. Mottes Ausbildung ist abgeschlossen und er bat mich, die Reise auf mich zu nehmen und ihn zu Euch zu bringen.“
Für einen Augenblick sah Qarl Sternchen. „Das ist nett von ihm. Aber ich habe einen eigenen Stall.“
„Dann werde ich ihn Euch gleich mitgeben, Herr. Es dauert nicht lange.“ Er verbeugte sich, ließ Qarl mit dem Schimmel stehen. In Qarls Kopf flackerten Wörter in Großbuchstaben … DENK NACH. DENK SCHNELLER NACH, VERDAMMT …
Als Per seinen Schützling auf den Hof führte, jetzt angetan mit dem prächtigen Sattel und einem silberbeschlagenen Zaum, fragte Qarl: „Wie lauten deine Anweisungen?“
„Oh – mein Herr dachte, wenn ich schon in der Stadt bin, kann ich gleich ein paar Dinge mitbringen. Ich habe eine lange Einkaufsliste, Herr.“
„Yanus wird mir gewiss Vorwürfe machen, wenn ich seinen besten Stallburschen nicht angemessen bewirte. Du kannst mir die Liste geben – ich kenne mich mit den aktuellen Preisen aus – ich werde versuchen, Yanus’ Ausgaben auf ein Minimum zu reduzieren.“
Per neigte den Kopf. „Ich glaube, darauf hat mein Herr gehofft. Er meinte, Ihr hättet gute Beziehung zu den einzelnen Kontoren.“
„Nun – ich bin dein Mann – ähm, in solchen Dingen. In diesen Dingen … kenne ich mich tatsächlich aus, ich …“
IDIOT.

Lup war von der Idee nicht sehr begeistert. „Sie ist erst drei Jahre alt, Firusz! Sie wird überfordert sein und sich nicht trauen, es uns gegenüber zuzugeben!“
Beide drehten sich um, blickten auf ihre Tochter auf dem Fensterbrett, die ein riesiges, mit weißen Glockenblumen besticktes Kissen umarmte und in den Vorgarten starrte.
„Sie wird doch keine Arbeiten mitschreiben“, widersprach Firusz leise. „Sie soll nur zuhören, sich ablenken lassen. Wenn ihr langweilig wird, kann sie jederzeit zu mir kommen. Weißt du, wie hart es war, Qasimir diesen Gefallen abzuschwatzen? Soll ich ihm jetzt sagen, dass du dich sperrst? Sicher hat er auch schon den anderen Lehrern Bescheid gegeben.“
„Deine Tochter wird in einem Raum mit halbwüchsigen Jungen sitzen!“
„Unter Qasimirs Aufsicht!“
„Es ist keine gute Idee, Firusz – weshalb gibst du das nicht zu? Keine der Gesellschaften hatte jemals einen weiblichen Schüler!“
„Sie ist keine Kontorsschülerin, Lup. Sie ist nur eine Art … Zaungast.“
„Und du glaubst, das tut ihrem Selbstbewusstsein gut?“
Firusz presste für einen Moment frustriert die Augen zu, dann wandte er sich an seine Tochter. „Liç!“, rief er. „Liç – sag es deiner Mutter. Willst du im Haus der Einhörner unterrichtet werden?“
Im Licht der einzelnen Kerze, die auf dem Fensterbrett stand, wirkten Liçs Augen wie von einer Art Schleier bedeckt. Sie nickte, ließ endlich das Kissen los.
Lup sah für einen Augenblick so wütend aus, dass Firusz einen Schritt zurückwich. „Meinetwegen. Aber ich mache dich für alle Folgen verantwortlich!“

Falls Per sich darüber wunderte, wie ein hoher Gast behandelt zu werden, ließ er es sich jedenfalls nichts anmerken. Er trank den entsetzlich teuren Wein, aß den Rosenblätterkäse und tupfte das kostbare Öl in seiner Schale mit dem letzten Rest Brot auf, der sich auf dem Tisch befand. Qarl gab vor, die Liste zu studieren, die Per ihm gegeben hatte, dabei wusste er längst, wie er die von Yanus gewünschten Dinge zusammenbekommen konnte. Zu allem Überfluss hatte Per die Mütze abgenommen und umgeben von Bienenwachskerzen entfaltete sein Haar eine Leuchtkraft, die Qarl nicht wenig aus der Fassung brachte. „Hat … hat Yanus noch irgendetwas gesagt?“
Per schüttelte den Kopf, lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nein, Herr – aber ich werde ihm von Eurer Großzügigkeit berichten. Es ist sehr freundlich, dass Ihr mich aufgenommen habt, auch wenn mein Herr wohl auch darauf insgeheim hoffte – aber ich hätte auch auf dem Strohboden geschlafen.“
Qarl nickte langsam. „Ich halte nicht viel davon, jemanden, der solche Mühen auf sich genommen hat, schlecht zu behandeln.“
„Es war keine große Mühe, Herr. Motte ist ein gutes Pferd.“
„Das hast du jetzt wirklich oft genug gesagt.“
Per grinste. „Ich werdet Eure Entscheidung nicht bereuen, Herr.“
Qarl legte die Liste auf den Tisch. „Vielleicht sollten wir uns jetzt zu Bett begeben. Ich hoffe, dein Zimmer gefällt dir?“
Per stand auf – das linke seiner Knie knackte – er verzog für einen kurzen Moment das Gesicht. Qarls Herz stürzte ab. Er hat Schmerzen, dachte er panisch. „Was ist?“, fragte er.
Per zuckte die Achseln. „Es geht auf die Knochen, so viele Pferde zu reiten“, sagte er. „Es ist völlig normal, Herr.“
„Du bist vom Pferd gefallen?“
Per lachte. „Herr – natürlich bin ich vom Pferd gefallen! Das gehört zu meinem Beruf! Ich kann die Stürze schon kaum mehr zählen. Umso freundlicher von Euch, mir ein Zimmer zuzuweisen, das eines Kaufherrn würdig wäre. Mein Herr wird Euch sicher für Eure Großzügigkeit ehren, Herr.“
Qarl hatte Mühe beim Atmen. „Dann wünsche ich dir eine gute Nacht, Per. Nimm die Gelegenheit wahr und ruh dich aus vor der Heimreise.“ Qarl nahm eine der Kerzen mit in den düsteren getäfelten Korridor des Obergeschosses. Sie trennten sich vor dem Flur des Gästequartiers. Qarl bog um die Ecke, öffnete leise die Tür seines eigenen Schlafgemachs.
Heute wirst du nicht schlafen, prophezeite er sich selbst. Du wirst wachliegen und auf jedes Geräusch horchen. Was täte er, wüsste er Bescheid? Im Regen schlafen, vermutlich. Es muss ihm widerlich sein, unter diesem Dach zu bleiben …
Qarl zog die Schuhe aus, löste den Gürtel. Die Tunika faltete er gedankenverloren zusammen, strich mit dem Daumen über die Seidenborte. Würdest du das alles aufgeben? Würdest du selbst im Regen schlafen?

Qarl hatte sich bereits vor Sonnenaufgang auf den Weg gemacht – bis zur Mittagsstunde hatte er die Liste abgearbeitet, verhandelt, bis die Kontorsgesellen ihn unglücklich ansahen, aber er hatte fast alles zum Vorzugspreis bekommen, in sein privates Lager bestellt und die Kutsche organisiert, die die Waren ins Hinterland befördern sollte. Als er sich zum Tee im Fenstererker niederließ, war er so müde, dass er mit der Stirn auf die Handgelenke gestützt einschlief und erst erwachte, als sein Gast ihm gegenüber Platz nahm.
„Ich habe seit Jahren schon nicht mehr ausgeschlafen, Herr“, sagte Per. „Das war ein merkwürdiges Gefühl.“
„Sieh es als persönliches Geschenk.“ Qarl rieb sich den Nacken.
„Ihr habt Euch so viel Mühe gegeben“, sagte Per. „Ich frage mich, ob ich das wirklich wert bin, Herr.“
„Ich wollte dir nur ein wenig Arbeit abnehmen.“
„Ich weiß, Herr.“ Per griff nach der Schale mit dem inzwischen erkalteten Tee, leerte sie in einem Zug. „Aber eigentlich hatte ich gehofft, dass Ihr mutiger wäret, Herr.“
Qarl kratzte sich den Schlaf aus den Augen. „Mutiger?“
„Ich habe lange auf Euch gewartet“, sagte Per und stellte die Teeschale ab. „Ihr wisst, wo mein Zimmer ist, oder nicht? Ihr habt es höchstpersönlich ausgewählt, Herr.“
Qarl starrte ihn an.
Per verschränkte die Arme vor der Brust. „Im Herbst werde ich heiraten. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit, Herr.“
„Du wirst heiraten?“
„Oh ja – eine meiner Cousinen. Ich habe mir schon gedacht, dass mein Herr Euch einen Gefallen tun will – aber wer konnte wissen, dass Ihr Euch so dumm anstellt, Herr?“
Qarl schloss die Augen. „Merkt man es denn so sehr?“
„Man merkt, dass Euch die Erfahrung fehlt. Unter uns: Es ist üblich, auf gewisse Signale einzugehen, Herr. Ich war sehr dankbar, dass Ihr mich aus dem See gezogen habt – und ich bin zu Euch gekommen, könnt Ihr Euch daran erinnern?“
Qarl nickte unglücklich. „Ich war nicht sehr nett, oder?“
„Ihr wart misstrauisch und arrogant, Herr.“ Per streckte die Füße unter den Tisch. „Und Ihr seid es immer noch. Ihr hättet zu mir kommen können. Ihr hättet das Recht des Hausherrn ausüben dürfen.“
„Hast du tatsächlich damit gerechnet?“
„Ich war ein bisschen beleidigt. Ich hatte geglaubt, Ihr mögt mich, Herr.“
Qarl brachte es kaum fertig zu schlucken. „Ich habe Angst.“
Per beugte sich nach vorn, die roten Brauen zu einem Strich zusammengezogen. „Angehörige Eures Standes haben so oft Angst.“
„Was ist mit den Strafen?“
„Man findet immer einen Weg, Herr.“ Per rieb sich das kaputte Knie. „Ich werde langsam zu alt“, seufzte er. „Ich werde heiraten und eine Familie gründen – und das solltet auch Ihr bald tun.“
Qarl presste die Lippen aufeinander. „Ich habe vor, mich den Gepflogenheiten anzupassen.“ Er zuckte zusammen. Per hatte ihn mit den Zehen berührt.
„Ich werde morgen abreisen“, sagte der Stallbursche. „Es gibt viel zu tun im Hinterland, Herr.“
„Gewiss.“ Qarl schlug die Beine übereinander. „Hast du gefrühstückt?“
„Natürlich.“ Pers schwielige Finger schlossen sich über seiner Hand. Qarl senkte den Blick.

Qarl hatte bei Tageslicht erst wenig Zeit in seinem Schlafzimmer verbracht. Es kam ihm kahl und ungemütlich vor; ein paar Kleider lagen herum, auf der Kommode stand eine halbvolle Karaffe Rotwein. Per betrat den Raum. Qarl schloss die Tür hinter ihm, lehnte sich für einen Moment gegen das dunkle Holz. Per drehte sich um. Obwohl er am Morgen gebadet haben musste, roch er noch immer nach Leder und Pferd. Seine Schultern stießen gegen die des Hausherrn. Qarl prallte gegen die Tür zurück, schlug sich leicht den Wangenknochen an. Per packte ihn im Nacken, schob das lange dunkle Haar beiseite. Qarl drückte die Stirn zwischen die Handflächen an die Tür, Per griff unter seinen Achseln hindurch in den flauschigen Pelzbesatz des Mantels. Qarl versuchte sich umzudrehen, aber Per hielt ihn fest, presste ihm den Mund an den Hals. Qarl spürte die Zähne, die Zungenspitze des Stallburschen gegen seine Haut. Qarl ließ die Arme sinken, der Mantel fiel zu Boden. Die seidene wattierte Tunika hatte Paspeln über der Brust. Per löste sie mit den gleichen energischen Griffen, mit denen er Pferde absattelte. Per knöpfte sich das Wams auf – Qarl spürte, wie sich Pers Brustbein in sein linkes Schulterblatt grub. Per war größer als er, aber schmaler gebaut. Pers rechte Hand grub sich unter den Tunnelzug der Hose, mit der linken zog er Qarls Kinn zu sich – Qarls Knie gaben nach, aber Per hielt ihn aufrecht, küsste ihn.
„Ruhig – ganz ruhig.“ Pers Stimme war dunkel, voll Rauch und Honig – endlich erlaubte er Qarl sich umzudrehen. „Ihr habt feuchte Hände, Herr“, sagte er. Er küsste Qarl in die Halsbeuge, stieß ihn dann auf das mit bestickten Decken belegte Bett. Qarl schloss die Augen. Wie oft hatte Per das schon getan? Mit wem? Im Herbst würde er heiraten …


XII



Am nächsten Morgen saß Liç aufrecht wie ein Besenstiel in der ersten Pultreihe des Schulraums. Die Schüler in ihren schwarzen Roben starrten das Mädchen ein paar Sekunden lang an, dann betrat Qasimir na Qes den Raum, in blauen Seidenschläppchen und einer bodenlangen Robe. „Wir haben einen Neuzugang, wie ihr alle seht. Ich habe euch ja gestern schon vorgewarnt – Liç wird eine Weile bei uns bleiben, uns ein wenig zuhören – also, strengt euch an, Jungs.“
Liç wurde rot, aber sie sank nicht in sich zusammen. Qasimir fand, dass sie fast lebendig aussah.

Am nächsten Morgen erwachte Qarl, das Gesicht fest in die Kissen gedrückt. Er drehte sich um. Per saß auf der Bettkante, zog sich die Stiefel an. „Es wird Zeit für mich zu gehen, Herr.“
Qarl schlang die Arme um die Knie. „Du wirst heiraten.“
„Das ist der Plan, ja.“ Per überprüfte die Knöpfe seines Wamses, das rote Haar fiel ihm in einer weichen Welle in die Stirn. Er beugte sich vor, legte eine Hand unter das Kinn des Hausherrn. „Vielleicht kommt Ihr ja bald wieder ins Hinterland, Herr.“
Qarl schüttelte den Kopf. „Nein. Wohl eher nicht.“
Per runzelte die Stirn, richtete sich auf. Er verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

Am nächsten Morgen legte Lup den Stickrahmen beiseite. Die erste Apfelblüte war fertig und ihre Finger schmerzten. Das kleine Haus war nicht leerer ohne Liç. Lup stand auf, setzte sich auf das Fensterbrett. Wenn sie nicht auf ihren Blick Acht gab, verschwamm alles, wurde zu Wellen aus gelbgrün schimmerndem Gras, unterbrochen von dunkleren Flecken, dort wo das Vieh weidete, dort, wo die Zelte aus Filz standen. Lup presste das Glockenblumenkissen gegen die Brust.

Am nächsten Morgen zügelte Yanus die junge Fuchsstute am Ufer des Grünen Sees. Die Seerosen hatten sich noch nicht geöffnet, im Gras hüpften Frösche umher. Das Pferd war ungeduldig, Yanus war es auch. Er ließ es vor den Rosensträuchern am Ufer tänzeln. Er würde nach der Heilerin sehen, ihr ein paar Meter feines Leinen und etwas Borte vorbeibringen – er würde sein Kind sehen, nicht mehr als eine Kaulquappe in Annies Körper. Er sah die Wasserpflanzen unter der Oberfläche des Sees wabern, bildete sich für einen Moment ein, Nasenlöcher zu sehen.
Die Stute begann auf der Stelle zu galoppieren, aber Yanus sah Liç, die ins Wasser glitt – von einem auf den anderen Augenblick verschwunden. Annie würde auf sein Kind Acht geben, das wusste er. Sie würde es Ziegen hüten lassen, während Evold sich hinter Büchern verschanzte. Es würde weben lernen und färben, sich vielleicht eines Tages ein ganz persönliches Muster ausdenken. Yanus trabte am Ufer entlang. Und eines Tages würde Orelie es herausfinden, ganz sicher. Yanus dachte an sich selbst zurück – in dem kleinen, nach Ziegen stinkenden Verschlag. An Annies sachte Berührung, die ihn alles andere als abgestoßen hatte … er hatte sich ihr begierig zugewandt, hatte sich ausgedörrt gefühlt, hungrig. Annie hatte es verstanden, diesen Hunger zu stillen. Für einige Stunden hatte er sein Bein nicht mehr gespürt. Er lenkte die Stute zum Hügel. Das Pferd fiel wieder in Galopp, setzte mit kraftvollen Sprüngen die Heuwiesen hinauf. Unter ihm, in der Mitte des Sees, tauchten Ohrspitzen auf.

ENDE DES ERSTEN BUCHES
BALD GEHT ES WEITER MIT DEM ZWEITEN BUCH: TÜRME UND MAUERN


Impressum

Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2011

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