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Heute ist der Tag, an dem wir uns trennen. Weil ich sage „aber der Umweg dauert ganze zwei Stunden“ und er sagt „na und?“
Ich habe ähnliche Situationen immer wieder mit ihm durchgestanden, aber heute habe ich mir die Füße wundgelaufen, ich will nur noch zu Tal, meine Beine in den Fluss hängen und erst nach zwei Tagen wieder aufstehen.
„Ich kann da nicht rüber“, sagt er. Er hat dieses Gesicht. Es ist eisweiß, obwohl wir die letzten Stunden in voller Sonne marschiert sind und die Luftfeuchtigkeit so hoch ist, dass ich schon vom Stehen schwitze. Japan war seine Idee. Dass wir viel Wandern auch. Ich bin mir sicher, dass andere Leute die Aussicht, die man von hier oben über den Bambuswald hat, zu schätzen wissen. Aber die Brücke ist erdbebensicher konstruiert – ein gewaltiges Gebilde aus schwarz gestrichenem Eisen, Stahlseilen und Holz. Jemand hielt es für eine gute Idee, einen Rost in den Boden einzulassen, durch den man auf die Baumkronen sehen kann. Es ist eine schmale Fußgängerbrücke, aber sie ist beeindruckend lang, sicher an die hundert Meter, und sobald man auch nur einen Fuß auf sie setzt, beginnt sie zu schwingen.
Er hat seit seiner Kindheit ein Problem mit Höhenangst. Es fing an, als er fünf war und sein Vater ihn von einem Turm retten musste. Diese Anekdote habe ich inzwischen fast liebgewonnen, weil sie auf fast jeder Familienfeier zum Einsatz kommt. Alle lachen, wenn sein Vater erzählt, wie er seinen Sohn unter dem Zinnenkranz zusammengekauert fand, es ist schließlich nichts Schlimmes passiert und die Geschichte ist so alt, dass man sich nicht mehr schämen muss. Aber leider heißt das nicht, dass man „ich kann da nicht rüber“ auf die leichte Schulter nehmen kann. Er gibt mir seinen Rucksack, damit ich ihn über die Brücke bringe.
„Willst du es nicht wenigstens versuchen?“, frage ich, aber er wendet sich wortlos ab. Er wird zur Straße zurückgehen und ihr ins Tal folgen, zwei Stunden Umweg.
„Wo treffen wir uns?“, rufe ich ihm nach, aber er dreht sich nicht um.
Er hat als Vorbereitung auf diesen Urlaub begonnen Japanisch in der Volkshochschule zu lernen, anderthalb Jahre lang, und hat es doch nicht zu mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln gebracht. Er bekam die günstigen Flugtickets und deshalb ist es jetzt August. Ich weiß nicht, wann mir jemals so heiß gewesen ist. Dabei sind wir gerade in den Bergen, da wo es angeblich kühler sein soll. Ich mache den ersten Schritt auf die Brücke, ohne ihn. Ich muss mich nicht festhalten, ich schwinge mit dem ganzen Gebilde, sanft auf und ab. Durch den Rost sehe ich die Bambusblätter auf mich zuwippen. Es ist ein Schlingern, durch das ich mich auf die andere Seite des Tales zuarbeiten kann. Ich schwimme gegen die Bewegung an, mit zwei schweren Rucksäcken beladen – mit meinem und seinem Gepäck. Sein weißes Gesicht ist noch immer bei mir, ich kann mich an unseren ersten Kuss erinnern. Wir teilten uns eine WG mit zwei anderen Englischstudenten. Er beanspruchte den halben Kühlschrank für sich und wurde extrem ungemütlich, wenn man sich an seiner Milch vergriff. Ich war der letzte Neuzugang in unserer Vierergruppe und ich vermute, dass er gegen meine Aufnahme in die Wohngemeinschaft gestimmt hat. Ich lernte ihn in der Küche kennen, bis zu den Ellenbogen in Vollkornteig. Die Knetschüssel stand neben einem randvollen Aschenbecher. Er rauchte mit verschmierten Händen, warf sich hin und wieder den dunklen Schopf aus der Stirn. „Die anderen kommen später“, sagte er.
„Ich bin Jonas“, sagte ich. „Nett, dich kennen zu lernen.“
„Ja ja“, sagte er. Ein wenig Asche fiel in den Brotteig. Er trug einen gestrickten Streifenpulli.
Die anderen beiden stießen zu uns, entschuldigten sich für ihn. Er hatte damals schon dieses Gesicht. An dem Tag, an dem ich einzog, trug er nur eine Kiste mit in den fünften Stock. Die Kiste mit der Bettwäsche. An diesem Abend spendierte ich eine Kiste Bier und verbrachte die Nacht mit den beiden anderen. Auf dem zerschrammten Küchentisch standen sein selbst gebackenes Brot und Knoblauchbutter. Wenige Tage später erwischte ich ihn im Treppenhaus. Er saß im vierten Stock fest, um seine Füße lagen Einkäufe verteilt: eine Tüte Kichererbsen, zerdrückte Tomaten, eine zerbeulte Dose Champignons. Er zitterte. Ich sammelte die Tüte auf. „Alles in Ordnung?“
„Höhenangst“, sagte er. Um seinen Mund hatte sich eine tiefe Klammer eingegraben, Schweißperlen liefen über seine Schläfen.
Ich warf einen Blick über das Treppengeländer nach unten. Unsere Stimmen hallten in dem heruntergekommenen Altbau. Ich berührte ihn an der Schulter, aber er schlug meine Hand zur Seite. „Lass das“, sagte er.
„Was wolltest du kochen?“, fragte ich.
„Keine Ahnung.“ Er versuchte, aufzustehen. Ich sah ihm dabei zu.
„Wie kommst du sonst durch das Treppenhaus?“
„Es ist das erste Mal, dass …“ Er ließ den Satz unbeendet.
„Warst du im Marvell-Seminar?“, fragte ich.
Er ignorierte mich. Er brauchte einen neuen Versuch, kam schließlich auf die Füße. „Ich werde ins Erdgeschoss ziehen“, kündigte er an.
Für die nächsten sechs Monate verließ er die Wohnung nur drei Mal. Die anderen beiden weigerten sich bald, ihm seine Vorräte mitzubringen, aber ich brachte es nicht übers Herz. Ich hatte das Gesicht gesehen, die riesigen Pupillen, das schweißverklebte Haar. Ich verliebte mich in die Angst, die ich gesehen hatte. Und er ließ mich ein, für den unerheblichen Preis von mehreren Kilo Dinkelmehl. In diesen sechs Monaten gewöhnte er sich das Rauchen ab und ich begann, sein Brot zu essen. Er nahm meine Anwesenheit mit grummeliger Resignation hin. Ich kochte, um ihn zu beeindrucken. Ich rief meine Mutter an, um ihr die Rezepte meiner Familie aus der Nase zu ziehen – sie diktierte mir erstaunt „Schnitzel in Sahnesoße“ in die Feder, „Gegrillter Chicoree“ oder „Oma Ingeborgs Apfelstrudel“. Zuhause hatte ich nicht mal Tiefkühlpizza erhitzt.
Ich bot ihm zu essen an, manchmal ließ er sich herab. Ich wusste inzwischen, dass er den Streifenpulli besonders liebte, obwohl er inzwischen Mottenlöcher hatte. Ich konnte ihn mir nicht mehr ohne ihn vorstellen, nicht mehr ohne den Anflug von Panik, der über seine Augen strich, wenn der Kühlschrank zu leer wurde. Ich ging immer weniger zu meinen Seminaren, weil ich bei ihm blieb. Es war genug, neben ihm in der Küche zu sitzen und dabei zuzusehen, wie er Erbsen einweichte, barfuß und zart nach ungewaschener Wolle riechend. Ich wartete darauf, dass er mit mir sprach. Ich aß seine Eintöpfe freiwillig. Hin und wieder brachte ich ihm Bücher aus der Bibliothek mit, damit er nicht ganz aus dem Takt kam. Die beiden anderen zogen sich mehr und mehr zurück, verbrachten die Wochenenden bei ihren Freundinnen. Er begann die Tür zu seinem Zimmer aufstehen zu lassen. Ich sah ihn zwischen seinen Flohmarktmöbeln sitzen, auf dem schrappigen Schreibtisch stapelten sich eng beschriebene Papiere, verschmierte Kugelschreiber und klebrige Teetassen. Der Tag, an dem er mich zu sich bat, war bedeckt. Das schmale Fenster hinter seinem Bett ließ taubengraue Wolken sehen, dicht an dicht gepackt. Das Licht auf seinem dunklen Haar war blau, schien Funken unter seine Stirn zu setzen. „Ich möchte reisen“, sagte er.
„Du kommst nicht mal die Treppe runter“, sagte ich.
Er überhörte mich. „Ich sollte Japanisch lernen“, sagte er. Er stand von seiner mit Kordstoff bezogenen Couch auf.
„Bist du schon mal geflogen?“, fragte ich.
Er trug den üblichen Pulli, über seiner Brust spannte der blaue Streifen. Ich sah etwas vibrieren, unter dem Streifen.
„Ja“, sagte er leise. „Nach London.“
„Es dauert zwölf Stunden, wenn man nach Tokio fliegt“, sagte ich.
„Zwölf Stunden?“
Ich nickte.
„Wie wär’s mit Paris?“, fragte er.
„Ich soll mit?“
Der blaue Streifen begann noch deutlicher zu zittern. Ich begriff, dass ich sein Herz klopfen sah.
„Hast du Geld für Paris?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf, rieb sich über das Haar, bis es über dem Nacken in die Höhe stand. Wir hatten die letzten Tage von seinen Kichererbsenfladen gelebt. Im Kühlschrank gab es nur noch ein halbes Glas eingelegte Gurken und sechs Eier, erst vor wenigen Minuten hatte er die letzte Milch für seinen Tee gebraucht. Vielleicht war das der Grund, weshalb sein Herz so heftig schlug.
„Soll ich dir ein bisschen Brot kaufen?“, fragte ich.
„Bring mich hier raus“, sagte er.

Er brauchte vierzig Minuten für fünf Stockwerke, aber wir schafften es. Als er den ersten Schritt auf die feuchte Straße tat, leuchteten seine Augen auf. Er drehte sich zu mir um und küsste mich, unter den tiefer fallenden Wolken. Es begann zu regnen, während er mich küsste. Er ließ mich los und wir gingen einkaufen. „Wir fliegen nach Japan“, sagte er, als wir vor den Zuccinis standen.

Ich warte am anderen Ende des Bambuswaldes auf ihn. Zu meinen Füßen liegt mein Rucksack, liegt sein Rucksack. Als ich seine Schritte auf dem Asphalt der schmalen Straße höre, hebe ich beide Gepäckstücke auf meine Schultern. Er ist völlig durchweicht, von den Haarspitzen bis zu den Sandalen. Heute trägt er ein gestreiftes T-Shirt, das ihm jetzt auf der Brust klebt.
„Wie war die Brücke?“, fragt er, keuchend.
Ich denke an das schwimmende Gefühl auf dem Rost, über dem Bambus. „Ich habe mich gefragt, ob du tatsächlich kommst“, sage ich.
Er streckt die Hand nach seinem Rucksack aus. Sein Blick streift meine Schulter, er sieht stumm an mir vorbei, dorthin, wo er die Brücke vermutet.

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Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

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