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IV



An diesem Tag kam Liçs Vater spät nach Hause, als wisse er was ihn erwartete. Lup brachte ihre Tochter ins Bett, stopfte die Decke um sie herum fest. „Ich werde mit deinem Vater reden, keine Sorge. So schnell wird uns Qarl nicht wieder belästigen.“
Liç starrte an die Zimmerdecke. Sie war froh gewesen, dass jemand da gewesen war. Sie grub das Gesicht in die Kissen. Lup löschte die Kerze auf dem Nachttisch. „Schlaf schön, Liç. Morgen kümmern wir uns um den Garten.“
Liç blieb im Dunkeln zurück, presste das blaue Einhorn an die Brust. Qarl hatte es ihr an einem sehr kalten Morgen geschenkt, als die Fenster des Wirtshauses mit Eisblumen bedeckt gewesen waren und sie all ihre Kleider übereinander und einen Mantel getragen hatte. Unten in der Wirtsstube flackerte das Kaminfeuer, ihre Mutter war abgelenkt durch die Tatsache, dass ihr Vater am letzten Abend zu viel getrunken hatte – und dann war Qarl da, setzte sich neben sie in den Sessel. Er griff in seine seidene Tunika, förderte das leuchtend blaue Stofftier zu Tage. „Hier – das habe ich dir mitgebracht, Liç. Viel Spaß damit.“
Sie traute sich nicht, sich zu bedanken. Sie drückte den kühlen Stoff an ihren Hals. Sie wagte nicht, das Einhorn mit sich herumzuschleppen – sie legte es auf ihr Kopfkissen, sah mehrmals am Tag nach, ob es noch da war. Im neuen Haus wirkte das Stofftier zugehöriger. Liç hätte nie gewagt, auf weitere Geschenke von Qarl zu hoffen; dass ihre Mutter ihn aus dem Haus haben wollte, ließ ihren Hals schmerzen. Sie war im Dunkeln, allein mit den Umrissen des Bettes und den merkwürdigen Punkten, die das Mondlicht auf den Boden malte. Ihre Mutter hatte die Vorhänge nicht so gründlich zugezogen wie sonst, sie war wütend gewesen und unvorsichtig. Liç setzte sich auf, schlug die Decke von den Beinen. Wenn man nur lange genug wartete … solange, bis sich die Augen entspannt hatten – dann reichte das Licht. Es reichte, um auf nackten Füßen auf- und abzuwandern. Liç wusste, was sie erwartete. Sie würde mit ihrer Mutter allein sein, Tag um Tag um Tag. Sie würde auf das Pferd ihres Vaters warten, den untersetzten Braunschimmel, den die Gesellschaft bezahlte und der in einem Verschlag im Hinterhof wohnte. Das Pferd hatte einen schweren Hufschlag, den Liç schon erkennen konnte. An diesem Tag presste sie schließlich das Ohr an die Tür – zwischen ihre Handflächen. Sie hörte ihren Vater durchs Haus laufen, mit diesem knirschenden Geräusch, das die Sohlen seiner Reitstiefel machten. Bis er sie auszog, dann, wenn er sich heimisch genug fühlte, vertraut mit dem Haus. Ihre Mutter machte es ihm schwer genug. Sie hielt geschrubbte Fußböden gegen den Geruch des Pferdes, einen Korb mit frisch gebackenen Brötchen gegen den Reitmantel. Liç wusste, ihr Vater würde sich mit einem Buch zum Kamin setzen und versuchen, die stickende Frau zu seiner Rechten zu ignorieren. Liç drückte die Wange in die Tür. Die winzige Erhebung eines Astlochs kerbte sich über ihrer Braue ein. Morgen muss er früher kommen, dachte Liç.

Firusz war es lieb, jeden Morgen früh aufzustehen, das Pferd zu füttern, nach dem eigenen Frühstück in die Stadt zu reiten; über die Blaue Brücke zu den Häusern der Handelsgesellschaften. Sie standen wie bunte Würfel nebeneinander, protzten mit geschnitzten Türen und hohen Fronten – aber sie verbargen die hellen, mit Kübelpflanzen besetzten Innenhöfe, in denen mit exotischen Vögeln belebte Volieren standen. Der Tormeister wusste genau, wann der Sekretär des Ersten der Gesellschaft des Einhorns um die Ecke bog. Er stieß das Tor auf, ließ den schwitzenden Braunschimmel ein. Firusz war an diesem Morgen ein paar Minuten später gekommen als erwartet – er hastete über die Galerietreppe nach oben, schob sich durch das dunkle, verwinkelte Haus, bis er vor dem Zimmer stand, in dem er die nächsten Stunden zubringen musste.
„Ich habe dir schon alles bereit gelegt.“ Der Mann, der ihm entgegenstürmte, war in ein bodenlanges blaues Gewand mit Stehkragen gekleidet, dessen Ränder mit silbrigem Pelz gesäumt waren – er sah aus wie eine flitzende Wolke. „Ich muss los, ich wollte nur gerade noch …“ Er nahm Firusz am Arm, zog ihn ins Zimmer. „Das hier sind die wichtigsten Briefe. Fass die Antworten ab und leg sie mir hin. Wie immer. Viel Spaß – bis nachher.“
„Qasimir – gibt es noch …“
„Was? Tut mir Leid, aber ich muss wirklich los.“
„Aber …“
„Du wirst allein damit fertig, ganz bestimmt.“ Qasimir zog die Tür hinter sich zu.
Firusz sah sich im Zimmer um – die Stapel von Akten, die ungewaschenen Teetassen … Qasimir na Qes hatte offensichtlich die Nacht durchgearbeitet. Kein Wunder, dass er so aufgekratzt war. Firusz seufzte und begann erst einmal, Ordnung zu schaffen.

Es war nicht die schlechteste Arbeit, die Firusz sich vorstellen konnte. Er hatte eine saubere, gut lesbare Schrift, das Formulieren fiel ihm leicht … das einzige Problem war Qasimir selbst. Seitdem die Gesellschaft so erfolgreich geworden war, zahlreiche Schüler aufgenommen hatte, war das Erste Einhorn ständig überarbeitet; das einst so aufgeräumte Schreibzimmer ein Haufen aus Depeschen, wahllos abgelegten Briefen, Zeitungen und neuen Büchern. Es kam vor, dass Firusz den halben Tag auf Knien verbrachte, um zu seinem Schreibtisch vorzudringen. Qarls älterer Bruder Qasimir konnte seinen Sekretär über Stunden mit Rechnungsbüchern und unwichtigen Besorgungen beschäftigen. Das Haus der Einhörner, für alle anderen die Startrampe eines erfolgreichen Berufslebens, frustrierte den Sekretär mit dunklen Ecken, den merkwürdigen Gerüchen, die aus den Lagerräumen quollen. Firusz mochte die Tage, die Qasimir ihn allein ließ, am allerwenigsten. Dann musste er sich zwingen, nicht desolat aus dem Fenster zu starren. Er hatte das Land bereist, er hatte die Steppen gesehen, den eisigen Wind gespürt, der über die Hochebenen fegte, das Rascheln der Grasähren gehört, das klagende Geschrei verirrter Lämmer und Kälber. Das Schreibzimmer, in dem er Tag für Tag saß, ging auf die Straße hinaus. Er blickte über die Karren, aus denen Äpfel, gesalzener Kohl und Hühner verkauft wurden. Die Stadt, in der er nun seit vier Jahren lebte, zeigte sich am heutigen Tag freundlich – Kinder spielten mit schmutzigen Hunden. Firusz hatte Seestadt als Kontorsschüler kennen gelernt und somit als abenteuerliches Pflaster – verrufene Kneipen, Gassen voller leichter Mädchen, Rivalitäten zwischen den Gesellschaften … wenn Firusz heute die Kontorsschüler über die Blaue Brücke kommen sah, schnürte ihm der Neid beinahe die Luft ab. Die jungen Männer in den langen schwarzen Roben sahen aus wie Gruppen laufender Amseln – zehn begüterte Sprösslinge unkonventionell eingestellter Familien. Er hatte auch in diese Kategorie gepasst, damals, als er mit Yanus aus den Kolonien gekommen war – naiv, mit entschieden zuviel Taschengeld und gestörtem Selbstvertrauen. Es war, als blicke er auf ein vollkommen fremdes Leben zurück. Ein Leben voller Freundschaften, fettigem Essen und Bierexzessen. Er, Calmorran und Qarl hatten sich enger verbunden gefühlt als heute, nicht nur deshalb, weil sie damals vier Schüler gewesen waren: Griça na Sian war bei Rivalitätskämpfen auf der Blauen Brücke gestorben – der Anlass für Firusz’ Reise zu Griças Sippe, auf der er Lup begegnet war. Die Schülertruppe der Einhörner war heute ein ebenso zusammengeschweißter Haufen. Firusz wusste, dass Qasimir sich regelmäßig mit den Folgen ihrer Streiche herumzuplagen hatte und es kam nicht selten vor, dass ein zerknirschter junger Mann vor der Zimmertür auf- und abtigerte, um sich eine gesalzene Strafpredigt und zusätzliche Hausaufgaben abzuholen. Firusz hatte kein Mitleid mit den Übeltätern – nur mit sich selbst. Er mit all seinen verpatzten Chancen, die ihn zu dem gebracht hatten, das er heute in sich sah: einen erfolglosen Mann mit erfolgreichen Freunden.

Auf dem Rückweg zu Frau und Kind kaufte er einen Laib Käse und etwas Schinken – nichts im Vergleich zu den teuren Pasteten, von denen er Lup in der Steppe vorgeschwärmt hatte, auf ihrem langen Weg von Sippe zu Sippe. Niemand hatte sie aufnehmen wollen. Zum einen, weil sie in Firusz einen Mann mit teuflischer Abstammung erkannten, zum zweiten, weil die Geschichte, wie er an Lup gekommen war, die Runde gemacht hatte. Lup schlug den Antrag des Obersten ihrer Sippe aus und warf sich Firusz in die Arme– ein Umstand, der ihn den guten Willen ihrer Familie kostete. Leider hatte Griça na Sians ältester Bruder einen Hang, seine persönlichen Tragödien zu Angelegenheiten der Steppenpolitik aufzubauschen. Niemand erklärte sich dazu bereit, Firusz und die schwangere Lup aufzunehmen. Dass wenigstens Qasimir na Qes ihm verzieh, ihm Arbeit und Unterkunft anbot, war ihm für kurze Zeit wie ein Segen erschienen. Bis seine ehemaligen Klassenkameraden ihm von ihren neuesten Kampagnen berichteten. Dazu kam Lups ständige Maulerei. Für einige Tage hatte er geglaubt, es könne besser werden, gleich nach Liçs Geburt. Da war Lup plötzlich weich und empfindsam und ließ sich sogar von seiner Sorge für seine neue Familie beeindrucken. Er fühlte sich seit langer Zeit wieder einmal ganz – nicht nur unzulänglich, schlecht angezogen und unterbezahlt. Qasimir hatte sich um ein größeres Zimmer im Wirtshaus bemüht, um frische Milch und Arbeitsentlastung für seinen Sekretär. Und da war Liç gewesen: Ein stilles Kind, dass dennoch nie den Eindruck von Zufriedenheit vermittelte. Lup hatte sie ihn halten lassen, für wenige glühende Sekunden hatte er beide in den Armen – er sah bunte Sterne vor Glück, rang nach Luft. Das Begreifen war ihm schwer gefallen. Er hatte von nun an eine Aufgabe, eine Art Handelsmission – er musste für das Wohl seiner Tochter sorgen, für ihr körperliches und seelisches Heil. Er würde sie mit Geschichten aufwachsen lassen, die er selbst gehört hatte: von Zentauren, Wassergeistern, die in der Form von Pferden die Quellen bevölkerten – Kobolde, die unter der Erde die größten und prächtigsten Burgen bauten … Lup wusste diese Ambitionen rasch zu unterbinden. Sie zog Liç so vollkommen an sich heran, sie nahm sie in den Stunden, die er notgedrungen außer Haus war, gegen ihn ein. Heute glaubte er, ihre Blicke im Nacken zu spüren, so wie die Gewissheit, dass Liç auch ihn eines Tages als Gefahrenquelle betrachten würde. „Keine Kinder mehr“, hatte Lup gesagt, eine Woche nach der Geburt. „Liç bleibt die Einzige.“ Sie gab ihm sogar die Erlaubnis, sein Glück in der Gelben Gasse zu suchen. „Vielleicht gibt es da eine Frau, die sich nicht darum schert, von welchem Blut du bist“, sagte Lup. „Viele sind wirklich auf das Geld angewiesen.“
Aber Firusz hatte von dieser Möglichkeit Abstand genommen. Die Mädchen in der Gelben Gasse gaben sich nicht mit Teufeln ab, das wusste er aus bitterer Erfahrung. Auch er hatte sich arrangiert, ließ sich eben von Qasimir anmaulen – mit Qasimir führte er auf vielerlei Hinsicht die erfolgreichere Ehe … immerhin wurde er hin und wieder mit kleineren Geschenken bedacht. Meist Kleidung, wenn die großen öffentlichen Versammlungen anstanden und Qasimir um das Auftreten seines Sekretärs besorgt war. Er ordnete einen Besuch beim Barbier an, suchte aus all den seidenen Tuniken der Stadt zielsicher diejenige aus, die Firusz am wenigsten gefiel und ließ ihm auch das ein oder andere Buch zukommen, damit er beim intellektuellen Geplänkel auf den Empfängen nicht gar so sehr im Regen stand. Als er an diesem Tag seinen Braunschimmel in den Stall stellte, wurde er sich erst nach wenigen Minuten seiner Tochter bewusst, die auf die Haferkiste geklettert war und sich an der Stalltür festhielt. „Was machst du denn hier?“, fragte er, legte den Sattel auf den selbstgezimmerten Bock und zog dem verschwitzten Tier die Trense über die Ohren. Liç antwortete nicht, aber sie schob eine Hand in die Schürze und förderte einen kleingeschnittenen Apfel zu Tage. Das Pferd drehte sich um, eignete sich die Leckerei mit vorsichtig gespitzten Lippen an.
„Das ist nett von dir, Liç. Wir hatten einen anstrengenden Tag.“
Liç wartete, bis die Decke auf dem Pferd lag, dann sprang sie von der Futterkiste und versuchte, sie aufzuklappen.
„Warte, Liç – ich helfe dir. Ich fürchte, Beq hat den Deckel etwas zu schwer gebaut.“ Er nahm eine Kelle Getreide aus der Kiste, ließ die Körner in die Krippe prasseln. „Jetzt ist er versorgt. Danke für deine Hilfe, Liç. Ohne dich wäre ich nicht so schnell gewesen.“
Liç wusste, dass ihr Vater übertrieb, aber sie war ihm dankbar für seine Mühe. „Nett von deiner Mutter, dich raus zu lassen“, sagte er und Liç wurde ganz kalt vor Schreck. Durfte sie ihm sagen, dass Qarl gestern gekommen war? Qarl hat uns nicht belästigt, genau das wollte sie sagen, aber vielleicht hatte sie ihre eigene Wahrheit und ihre Mutter besaß eine ganz andere? Vielleicht … Firusz bückte sich und hob seine Tochter hoch. „Du bist gewachsen, Liç – komm, wir gehen ins Haus.“
Er trug sie an den ordentlich bestellten Gemüsebeeten vorbei – Zwiebeln, Schwarzwurzeln, Salate, Mohrrüben, Kohl – all das, wofür ihre Mutter auf den Knien gelegen hatte. Sie spürte, dass ihr Vater angespannt war, sicher hatte er heute viel schreiben müssen. Sein Vorgesetzter gab ihm jede Menge Arbeit, das sagte ihre Mutter – weil Qasimir na Qes sich lieber die spannenden Aufgaben aussuchte und das öde Zeug für ihren Vater übrig ließ – all das, wovon man Nackenschmerzen und krumme Finger bekam. Brief nach Brief nach Brief: der Fluch deines Vaters ist seine schöne Handschrift.
„Ich bin wieder da!“
Lup trat aus der Küche, das Gesicht voller Mehl, mit schief gezogenem Mund. Sie nahm ihm Liç sofort ab. „Du siehst müde aus.“
„Qasimir ließ mich ein Dutzend Briefe in die Steppen schreiben. Es sieht so aus, als wäre Qarl ein neuer Coup gelungen.“
Lup setzte Liç auf den Boden. „Qarl war hier. Gestern. Vielleicht solltest du ihm nahe legen, dass er nicht mehr allein zu uns kommt. Er hat versucht, mich auszufragen. Warum Männer wie er nur immer so neugierig sind.“
Firusz sah alarmiert auf. „Männer wie er?“
„Er sollte endlich heiraten. Dann hat er genug zu tun.“
Firusz nickte langsam. „Da hast du sicher Recht, Lup. Aber kennst du irgendeine Frau, der du Qarl an den Hals wünschst?“
„Eines Tages wird auch er mit einer Frau aus den Steppen kommen“, prophezeite Lup. „Und dann muss ich mich mit einer westländischen Schönheit herumplagen.“
„Aber mit einer Frau aus den Steppen hättest du vielleicht etwas gemeinsam, und sie käme als Freundin für dich in Frage. Du grenzt dich selbst so sehr aus, Lup – ich mache mir Sorgen.“
„Frau na Carran kommt immer dann vorbei, wenn ich Sehnsucht nach meinen Schwestern entwickle. Und kaum ist sie da, weiß ich wieder, weshalb ich es vorziehe, mit Liç allein zu sein. Ich habe Tee gekocht, Firusz. Zieh dir endlich die Stiefel aus.“

Liç stellte sich vor, wie es wäre, Qarl mit seiner Frau kommen zu sehen. Er würde sie auf einem cremefarbenen Pferd durch die Stadt führen – eine Frau, die so aussah wie ihre Mutter, nur jünger und hübscher. Mit schwarzem glänzenden Haar und Augen wie geschliffenen Edelsteinen. Eine Frau, die sich kaum bewegen konnte, so dick waren die Pelze am Saum ihrer Kleider. Seidenkleider, in den kostbarsten Farben: Blau, tiefes Rot, ein Violett, das sich mit Sturmhimmeln messen konnte … sie selbst stand dann am Straßenrand und winkte, winkte Qarl zu, der schönen Frau – vielleicht bekam auch sie ganz schnell ein Kind, ein Mädchen – jemanden, mit dem sie zusammen sein durfte. Die na Carrans hatten bisher nur Jungen, die Liç nie hatte kennen lernen dürfen … sie schrak zusammen, als sie bemerkte, dass ihr Vater sie ansah. „Du bist so nachdenklich, Liç – hattest du einen schönen Tag?“
Sie nickte. Immerhin war es ein schöner Tag gewesen, bis sie daran gedacht hatte, dass Qarl heiraten könnte.


V



„Das Pony will dir überhaupt nichts tun“, seufzte Yanus von Tredorn. „Er will nur den Brotkanten haben, den du in der Tasche hast.“
Evold sah ihn unter skeptischen weißblonden Brauen an. Die letzten Tage in Gesellschaft seines Adoptivsohnes hatten Yanus zu einem vorsichtigen Mann werden lassen. Evold, obwohl leibliches Kind von Bauern, schien eher nach seiner Adoptivmutter zu schlagen und hielt sich lieber in geschlossenen, klassisch dekorierten Räumen auf: Je mehr Papierlampen und Vasen mit raffiniert arrangierten Zweigen, desto gelassener schien Evold von Tredorn. Frischluft entsetzte ihn, das Pony empfand er offenbar als Quelle unzähliger Gefahren – jedenfalls sah Yanus nichts als blankes Misstrauen in den Augen des Jungen. Das Pony war schlammbraun, uralt und völlig abgebrüht – es sei denn, es ging um Brot oder Möhren. Yanus nahm Evold den steinharten Knust ab und hielt ihn fachgerecht auf der flachen Hand unter das Maul des Tieres. „Das habe ich dir doch jetzt schon hundert Mal gezeigt“, seufzte er. „Das Pony isst keine Finger.“
Evold hatte die Chance genutzt, um größeren Abstand zwischen sich und das Tier zu bringen. Yanus kratzte sich am Kinn. „Soll ich dir lieber eine Geschichte vorlesen?“
Evold nickte mit Nachdruck.

Der Umzug in das Hinterland von Wittland hatte sich damals als eher unkompliziert erwiesen. Yanus, noch nicht lange im Lande, hatte nur wenige Besitztümer gehabt – eine gefüllte Kleidertruhe, ein Paar Stiefel und den Hengst, den er als Stammvater seiner neuen Zucht erworben hatte. Yanus hatte sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: die Zähigkeit alter wittländischer Rassen mit der Präsenz der neuen höfischen Rassen zu vereinen. Der Hengst, auf den seine Wahl gefallen war, war klein, quadratisch gebaut und hatte bereits ein Dutzend hervorragender Fohlen gezeugt. Yanus hatte Evold als Erbe des Hofes vorgesehen – die mangelnde Begeisterung des Jungen ließ ihn besorgt in die Zukunft blicken. Er hatte schon vor seiner Heirat von der Unfruchtbarkeit seiner Frau gewusst. Er selbst hatte nie zu hoffen gewagt, eines Tages Kinder in die Welt setzen zu dürfen, den kleinen Evold zu adoptieren war als Beste aller Möglichkeiten erschienen. Damals. Yanus wusste, dass er einen Erben brauchte – jemanden, der zumindest seinen Familiennamen in diesem Land weiterleben ließ … Evold schien direkt zwischen Gedichtbände und exquisites Porzellan geboren worden zu sein; er brachte es fertig, hochmütiger auszusehen als seine Ziehmutter, eine wahre Kunst. Auch in der Wahl des Vorlesestoffes war der Junge anspruchsvoll. Yanus las Mythen und Legenden aus der Zeit der Teufelskriege vor – Evold saß mit gerunzelter Stirn in seinem Bettchen, hielt die Hände gefaltet und sah seinen Ziehvater so durchdringend an, dass Yanus von Zeit zu Zeit zu stottern begann. „Tut mir Leid, Sohn“, sagte er. „Ich bin kein guter Vorleser.“
Evold schnalzte vorwurfsvoll. „Mutter liest besser.“
„Orelie ist bei Hofe, Evold. Wir müssen noch eine Weile auf sie verzichten.“ Yanus schnippte gegen den Buchdeckel. „Orelie hat auch ohne uns ein sehr aufregendes Leben. Am Hofe liest sie ihre Gedichte vor. Ganze Horden in Seide gekleideter Männer knien vor ihr, berauschen sich an erlesenen Getränken, Speisen und ihren Worten.“
Evold sah ihn auffordernd an.
„Sie ist eine berühmte Frau, Sohn. Sie hat ihr eigenes Haus im Tal der Könige. Niemand anders darf darin wohnen. Sie hat es ganz nach ihren Vorstellungen eingerichtet – die Wände sind mit perlgrauer Seide bezogen.“
Evold sah auf. Yanus räusperte sich. „Jeden Morgen bringt man ihr Tee und frische Blumen. Der Jüngste Prinz persönlich kümmert sich darum, dass sie nur das feinste Papier erhält, die qualitätsvollste Tinte. Sie ist etwas Besonderes.“
Evold wurde gleich eine halbe Handbreit größer. Der Palast interessierte ihn. Yanus spürte plötzlich Eifersucht. Was hatte sie ihrem Adoptivsohn über das Leben im Tal der Könige erzählt? Wie viel gab es, das er als ihr Ehemann niemals erfahren würde, das sie aber gegenüber Evold erwähnt hatte? Als Yanus Orelie kennen lernte, war sie ihm wie eine Art höheres Wesen erschienen, blass und so blond, dass sie farblos wirkte, stets mit besonderer Sorgfalt gekleidet und nur von den schönsten Dingen umgeben. Eine Dichterin, die von Hofschranzen umschwärmt wurde; man sagte auch ihr einen Tropfen teuflisches Blut nach und dass sie sich ausgerechnet für den jungen Grafen aus den Kolonien interessierte, hatte er nur dem Zufall zu verdanken. Hätte er ahnen können, dass sie sich ausgerechnet seine ‚Heldengeschichte’ ausgesucht hatte, um sie zu ihrem nächsten Buch zu machen? Gewiss, Yanus hatte bei den Kämpfen um die Selbständigkeit der Kolonien Ehre eingelegt, aber Orelie war zu Anfang sehr irritiert gewesen, ihrem Helden von Angesicht zu Angesicht zu begegnen: Yanus war offensichtlich nicht den heroischen Tod gestorben, den man ihm andichtete. Er war kein gestählter Frauenheld, kein sensibler Liebender. Yanus erschien ihr als verunsicherter und etwas genervter junger Mann, vielleicht faszinierend einäugig und mit einem glücklichen Händchen beim Pferdekauf. Orelies Recherche zu ihrem Projekt führte beide enger zusammen und brachte sie dazu, Yanus’ Antrag unter bestimmten Bedingungen anzunehmen. Das Ergebnis, das Haus im Hinterland und Evold, schienen ihm an Tagen wie diesem manchmal wenig Gegenleistung für all das, was er in den Kolonien zurückgelassen hatte. Er rief das Kindermädchen, übergab ihr seinen Ziehsohn. Er warf sich den Reitmantel über, ergriff die Flucht in die Stallungen.

Yanus’ Familie war berühmt in den Kolonien, in Wittland selbst aber unbekannt. Als Mitglied einer elfischen Sippe, deren Vertreter das Schicksal der Kolonien weitgehend mitbestimmten, fühlte Yanus sich in diesem Land eher unzureichend integriert; er war eine Art Held des Unabhängigkeitskampfes, eine quasi romantisch umwitterte Gestalt, Hauptfigur eines epischen Gedichtes, das bereits jetzt als Klassiker der wittländischen Literatur gehandelt wurde. Aber davon abgesehen war er politisch nicht besonders geschickt, stets etwas nachlässig gekleidet und nach wenigen Stunden bereits uninteressant. Er bemerkte die Blicke der weiblichen Dienstboten. Keine nahm ihn für voll. Im Stall galt sein Wort immerhin etwas. Am liebsten preschte er auf einem seiner jungen, begeisterungsfähigen Pferde über die Hügel, so wie gerade jetzt – mit dem Schmierfilm des Frühlingsregens im Gesicht. Die Bauern grüßten ihn nicht, sie drohten ihren Kindern am Abend: Wenn du nicht artig bist, holt dich der einäugige Reiter, der teuflische Graf. Für seinen heutigen Ausflug hatte er sich eine junge Fuchsstute ausgesucht, die leichtfüßig über die Hecken setzte. Er galoppierte am Ufer des Trüben Sees entlang, umkreiste Schafherden, ließ sich im Vorüberhetzen von Hofhunden anbellen. Der einäugige Reiter ging um – eine Warnung für das Landvolk – ein Schrecken für die Mägde, die Unkraut in den Gärten zupften. Yanus nahm die Menschen, die er passierte, als verwischte Schemen wahr, konzentrierte sich auf den Weg: rutschige Stellen, Durchlässe in Weiden, die er elegant übersprang. Gerade hielt er auf das Wäldchen zu, das eine Seite des Grünen Sees umspannte, als unter den tiefhängenden Zweigen der Tannen schon wieder ein Hund auf ihn zuschoss, ein zerzauster Kläffer. Die Stute scheute. Yanus verlor das Gleichgewicht, kippte links über den Hals des Tieres. Das Gras rauschte auf ihn zu, die Halme zu Streifen gezogen, die Schlammpfütze auf dem Weg wie ein gähnendes Maul. Er schlug auf dem Boden auf.

Als der Junge im Gebüsch den reichen Mann vom Pferd stürzen sah, trat er instinktiv einen Schritt zurück, versuchte unsichtbar zu bleiben. Der Hund beschnüffelte sein Opfer, kehrte dann zurück. Das rote Pferd war nach einigen Sprüngen stehen geblieben und hatte zu grasen begonnen. Der Junge wagte es, sich aus dem Busch zu schieben. Der reiche Mann lag ganz still. Sein Reitmantel war umgeschlagen und bedeckte sein Gesicht. Der Junge hatte freie Sicht auf die Börse des Mannes. Das Pferd drehte sich zu ihm um, als er sich näherte, kam dann mit hängendem Zügel herangetrottet. Der Junge nahm das Tier am Gebiss. Der Mann bewegte sich immer noch nicht. Der Junge beugte sich über ihn, zupfte an der Börse. Nichts. Vorsichtig löste er die Lederbänder. Er drückte die Hand auf den Brustkorb des Mannes. Er konnte das Herz spüren. Der Junge warf dem Pferd die Zügel über den Hals und zog sich in den Sattel.

Etwas lief seinen Nasenrücken entlang. Aufreizend langsam, beinahe liebkosend – aber er war nicht zuhause, ihm war kalt, er lag nicht in seinem Bett und Orelie war weit fort. Etwas wischte an seiner Wange herum, etwas fiel von der Haut ab, wie ein angetrocknetes Stück Schmutz; seine Haut spannte, er versuchte die Knie zu bewegen. Er konnte es nicht.
„Liegt still“, sagte jemand. „Es wird gleich wieder wehtun.“
Aber es tat nicht weh. Er lag auf der Seite, das war alles. Er lag irgendwo, wo es kein Licht gab, aber das Geräusch eines Feuers.
„Ich habe Suppe für Euch gekocht. Wenn Ihr den Mund öffnet …“
Er versuchte, den Mund zu öffnen. Jemand half mit dem Daumen nach. Die Suppe schmeckte salzig und mehlig zugleich. Als habe man Wurzeln zu Brei gekocht und mit Wasser aufgegossen. „Sie haben Euch zu mir gebracht. Ihr seid schwer gestürzt.“
Er sah nur den See in seinem Kopf, das bewaldete Ufer. Er konnte sich an den Geruch des Pferdes erinnern, den Duft blühenden Schwarzdorns.
„Ihr schlaft jetzt“, sagte die Stimme. Und er schlief.

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, war es hell. Das Licht, das in den Verschlag hineinsickerte, in dem er lag, war von eigentümlich blassem Grau. Es musste sehr früh sein – oder sehr spät. Er versuchte den Kopf zu heben. Eines seiner Beine hatte man straff in Leinenbinden gewickelt. Gerade Äste hielten es in seiner Position. Er stöhnte. Er hob die Hände. Unter seinen Nägeln klebte Blut. Wer hatte ihn gefunden? Hatte man im Haus Bescheid gegeben? Er spürte noch immer keinerlei Schmerz, vielleicht hatte man ihn betäubt. Er war isoliert, in einem einzelnen Raum mit gestampftem Lehmboden und einer ausgebrannten Lampe, die von der Decke hing. Über seinem Oberkörper lag eine Decke, die nach angesengter Ziege roch. Er konnte sich selbst über die Hügel reiten sehen. Schneller, immer schneller – vielleicht war der Boden rutschig gewesen, vielleicht war die Stute gestürzt, hatte getötet werden müssen? Er versuchte zu rufen, aber er konnte die Zunge nicht bewegen. Er begann an die Wand zu klopfen. Eine Tür wurde aufgerissen, direkt hinter ihm. Er versuchte, den Kopf zu drehen.
„Ihr habt sicher Hunger.“ Eine Frau trat ein. Sie war in den gleichen buntkarierten Stoff gekleidet, aus dem seine Decke war, trug ein speckiges grünes Kopftuch und hatte eines jener alterslosen Gesichter, die Yanus von vornherein überforderten. Alles an ihr schrie ‚Heilerin’. Yanus hatte gelernt, sich vor diesem Frauentyp zu fürchten, auch wenn sie jetzt noch freundlich und harmlos wirkte. Sie brachte ihm in Brühe eingeweichtes Brot und Saft, mit bitterem Tee aufgegossen. Er ließ sich füttern. Schlucken ging ganz passabel. Sobald er den Saft geleert hatte, wurde ihm schwindelig. Er sackte zurück, schlug mit dem Hinterkopf in die Kissen. Die Träume, die die Heilerin ihm bescherte, waren stumpf. Wie vom Meer abgeschliffenes Glas.

Die Nachricht hatte sich von Hof zu Hof verbreitet. Die Kinder trugen sie über die Hügel. Der einäugige Reiter ist verletzt. Manche gingen so weit, ihn für tot zu erklären. Dutzende von enttäuschten Müttern suchten nach neuen Schreckgespenstern für die lieben Kleinen. Für andere wurde die finstere Gestalt jetzt erst richtig greifbar. Sie erschauerten, fürchteten sich vor dem Augenblick, in dem er sein Krankenlager verlassen durfte. Er liegt unten am Grünen See. Die Heilerin hat ihn aufgenommen, ihr wisst schon, Ziegen-Annie.
Dann tauchte auf einem der umliegenden Märkte ein Sattel auf, in den das überseeische Wappen des Reiters gepunzt worden war: ein dreibeiniges Pferd über einer Pflugschar. Jemand hat ihn bestohlen, sagten die Leute. Oder Ziegen-Annie hat den Sattel verkauft, um für seine Versorgung zu bezahlen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Ziegen-Annie hielt eine kleine Herde Ziegen, sie spann, webte und färbte die Wolle in einem Kupferkessel. Wenn sie einmal im Jahr ihren mit Tuch beladenen Karren auf dem Marktplatz zog, begann ein eiserner Kampf um den Stoff. Der Geruch nach Ziege verflüchtigte sich erst nach mehreren Wäschen – aber schon wenige Tage nach dem Markttag sah man plötzlich in Flammendrot gekleidete Hausherren, tiefviolette Lieblingssöhne und grüne Schürzen. Die Menschen um den Grünen und den Trüben See, ja das gesamte Hinterland, gierte jetzt nach Neuigkeiten aus der Hütte der Färberin. Als Yanus nach einer Woche zu sprechen beginnen konnte, versammelten sich noch am gleichen Abend ein Dutzend mutige Männer auf der Ziegenwiese.
„Habt Ihr im Haus Bescheid gesagt?“, fragte Yanus.
Annie reichte ihm ein Tablett mit Brot, Ziegenkäse und einer Tasse Tee. „Selbstverständlich habe ich das. Aber da ich die einzige Heilerin in diesem Teil des Hinterlandes bin, hätte ich Euch sowieso zu mir kommen lassen müssen. Die Haushälterin lässt Euch bestellen, dass sie sich um den Jungen kümmern wird, solange Ihr hier seid.“
„Ich muss trotzdem zurück. Wegen der Pferde.“
„Nur zu. Aber wenn Ihr den bescheidenen Rat einer Frau hören wollt, die sich wirklich damit auskennt, dann rührt Ihr Euch nicht vom Fleck. Wenn die Verbände verrutschen, wächst das Bein schief zusammen. Sie werden Euch neue Heldentaten andichten, wenn Ihr über die Weiden humpelt. Und vielleicht könnt Ihr nie wieder reiten.“
Yanus funkelte die Heilerin an. „Wenn Ihr es so ausdrückt …“
„Ich wusste, Ihr seid ein vernünftiger Mann.“
„Als Elf muss man gegen seinen Ruf anarbeiten.“
„Als was?“
Er seufzte. „Als Teufel.“
„Ach so, das.“
Immerhin war die Verpflegung gut, vor allem der mit Kräutern versetzte Käse. Abends hörte er seine Pflegekraft leise vor sich hin singen, vermutlich befand sich die Kochstelle direkt auf der anderen Seite der Wand, genau hinter seinem Kopf. Selbst tagsüber lag Yanus in jenem merkwürdigen Zwielicht, das durch die Bretterritzen drang – die meiste Zeit über schlief er, betäubt von bitteren Kräutern, deren Geschmack er mittlerweile mit Frieden, Ruhe und faszinierend bewegten Träumen verband. Die stumpfen Stunden hatten sich in ausgedehnte Spaziergänge in seine Vergangenheit gewandelt. Yanus sah die Burg, in der er aufgewachsen war, ganz im Norden eines anderen Kontinents, ein Gewirr düsterer Gänge und von Talglampen erleuchteter Flecken, Wachnischen, Hundekörbe. Der Innenhof mit dem Trainingsplatz der Wachmannschaft, der Rosengarten neben dem Familienfriedhof. Yanus roch die schweren Düfte der Rosen, die sich über den Beeten um eiserne Gerüste rankten, den scharfen Geruch der beschnittenen Buchsbäume; er sah die Frauen, die Kräuter sammelten, mit dem Halbmondmesser zu Pasten wiegten. Er sah das bleiche Gesicht seiner Cousine Elisa, die unter einem schützenden Dach aus Leinenplane in Gedichtbänden las. Damals war er nach Wittland gereist, um eben dieses Gesicht zu vergessen. Er hatte Orelie und die ganze Welt gefunden, die diese kultivierte Frau umgab – ein adäquater Ersatz für das, was er zurückgelassen hatte? Wenn er morgens erwachte, dauerte es ihn, all das hinter sich gebracht zu haben. Elisa, heute glücklich verheiratet und Herrin einer vielköpfigen Familie, hatte ihm nie Hoffnungen gemacht. Mit Evold und Orelie war er besser beraten, ohne Frage. Am sechsten Tag brachte man ihm einen Brief auf lavendelfarbenem Papier. Orelies langgezogene Dichterschrift sprach Mitleid aus, Aussicht auf Genesung und Besorgnis um das Haus, in dem der kleine Evold sich nun ganz allein beschäftigen sollte. Yanus’ nächste Tage vergingen in einem silbrigen Flirren – Bilder von roten Stuten wechselten sich ab mit blühendem Schwarzdorn. Umhüllt vom Geruch von Ziegenwolle und Ziegenkäse träumte er den Sturz nach, viele hundert Mal sicherlich, bis er eines Nachts schweißverklebt aus dem Schlaf fuhr. Die Heilerin saß an seinem Bett.
„Eure Knochen heilen gut. Ich wusste nicht, dass Teufel über diese Eigenschaft verfügen. Bald könnt Ihr versuchen, aufzustehen.“
Yanus keuchte. „Ich danke Euch, Annie. Ihr habt Großmut bewiesen – ich werde Euch reich dafür belohnen.“
Sie zog ein schiefes Gesicht. „Das ist meine Berufung.“
„Trotzdem. Meine Tante ist Wahrsagerin. Ich weiß, dass es immer etwas gibt, das fehlt. Bitte, lasst mich Euch helfen.“
„Was werden die Leute sagen, wenn Ziegen-Annie sich dem einäugigen Reiter verpflichtet?“ Sie grinste. „Ich habe keinen Ruf zu verlieren.“ Sie rutschte über die Bettkante näher. Ihre Hand legte sich auf seine Brust, drückte ihn auf das Lager zurück. „Ruht Euch aus.“
„Ich kann Euch Geld geben“, sagte Yanus leise. „Ich verdiene nicht überragend viel mit der Pferdezucht, aber ein paar neue Ziegen dürften rausspringen.“
„Ich will nicht noch mehr Ziegen.“ Sie griff sich in den Nacken, löste das grüne Kopftuch. Das Haar, das darunter zum Vorschein kam, war rotbraun und gewellt. Annie strich ihrem Patienten über die bleiche Wange. „Ihr könnt mich auf sehr einfache Weise zufrieden stellen“, drohte sie.

Der Tag, an dem Yanus nach Hause kam, war voller Blumengirlanden, Kuchen und kandierten Blüten. Yanus stützte sich auf einen Stock, sah sich die Hausangestellten an, die tatsächlich so wirkten, als freuten sie sich über die Heimkehr ihres Herrn. Man hatte Evold gewaschen und in sein bestes Paar Hosen gesteckt. Alles kratzte und roch nach den Kräutern, die in den Kleidertruhen lagen. Sein Adoptivvater löste die Hand vom Stock und legte sie ihm auf den Kopf. Yanus roch nicht gut, fand er. Nach Käse. Evold versteckte sich hinter den Röcken der Kinderfrau. Yanus lächelte bitter. Das Haus war sauber, die Ställe waren ebenfalls in gutem Zustand – offenbar hatte Yanus’ Stirnrunzeln auch aus der Ferne gewirkt. Auf der Weide hinter dem Stallgebäude graste sein Zuchtnachwuchs, interessierte sich nicht für seine Rückkehr. Yanus ächzte, als er sein Bein belastete. Es war seltsam auf dem frisch geharkten Kies in der Sonne zu stehen. So lange hatte er in Annies Anbau gelegen und das Spiel des Lichts zwischen den Brettern beobachtet … er hatte die Zeit an den Mahlzeiten abgelesen. Irgendwann hatte Annie ihn für gesund genug befunden. Er blinzelte über die Wiesen. Er ließ sich auf der Bank zwischen den Tränkbottichen nieder, man reichte ihm eine Tasse Tee. Sein Schädel brummte. Nach Annies bitteren Tinkturen schmeckte der Tee, den sich Orelie aus dem Tal der Könige schicken ließ, labbrig und uninteressant. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Kinderfrau, die Evold an der Hand gefasst hatte, lächelte ihn an.
„Hat sich Orelie gemeldet?“, fragte er.
Die Frau schüttelte den Kopf.


VI



Liç hatte den Regen satt. Seit Wochen tropfte es von den Fensterläden in den Gemüsegarten. Die Bettdecke war klamm; es begann schimmlig zu riechen. Liç lief mehrmals am Tag die Treppe hinauf und hinunter, weil Lup sie nicht nach draußen ließ. Sie legte das Ohr an die Tür, lauschte auf den Hufschlag des Braunschimmels. Wenn sie Glück hatte, hielten zwei Pferde auf der Straße vor dem kleinen Haus. Zwei Männer saßen vor dem Zaun ab, banden die Pferde an. Liç strich sich das Kleid glatt, stellte sich in die Ecke neben dem kleinen Korridor. Lup wischte sich die Hände an der Küchenschürze ab. „Was soll das?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
Liç legte den Zeigefinger an die Lippen.
Firusz lachte, drückte die Tür nach innen – ein Vorhang aus Regentropfen sprühte ins Haus. Der zweite Mann war ebenfalls bis auf die Haut durchnässt. Liç ließ enttäuscht die Luft aus den Lungen. Beq na Borr. Selbst Calmorran na Carran mit seinen Segelohren war spannender. Liç sah den tropfenden Mann seinen Mantel ablegen. Beq griff in seine Tunika, förderte einen Apfel zu Tage. „Hier – für dich.“
Liç nahm die Frucht mit aufgerissenen Augen an. Beq na Borr kam ebenso wie ihre Mutter aus den Steppen, auch er hatte die hohen Wangenknochen und das dunkle Haar. An wärmeren Tagen sah man die Zipfel seiner Stammestätowierung seinen Hals hinaufkriechen, aber heute war er gut verschnürt. Liç biss in den Apfel, weil er sie immer noch erwartungsvoll ansah. Beq strich ihr über den Kopf. Firusz räusperte sich. „Du könntest dich bei Beq bedanken, Liç.“
Lup knallte ein Tablett mit Teetassen und aufgeschnittenen Brötchen auf den Kamintisch. „Sie bedankt sich dann, wenn sie es für nötig hält“, zischte sie.
Beq winkte grinsend ab. „Schon gut, schon gut. Liç weiß, dass sie mir nichts sagen muss.“
Firusz ließ die Schultern sacken. „Wie du meinst. Ich hätte nur gern eine höfliche Tochter.“
„Du hast eine zurückhaltende Tochter.“ Lups schmale Lippen leuchteten. „Eine der größten Tugenden, die man in dieser Welt besitzen kann. Mach nicht immer alles kaputt.“

Als sie sich allein vor dem Kamin die Füße trockneten, beugte sich Beq zu ihm hinüber. „Was hast du mit Lup gemacht, Firusz?“
Der Herr des Hauses zuckte die Achseln. „Das geht jetzt schon seit Monaten so.“
„Gefällt ihr das Haus nicht?“
„Ich hatte gedacht, jetzt, da wir uns nicht mehr in unmittelbarer Nähe des Hafens befinden, ließe sie Liç etwas mehr von der Leine. Sie tut so, als sei ganz Seestadt ein Haifischbecken.“
„Sie hat nicht so unrecht, weißt du?“
„Aber Liç sollte mit anderen Kindern spielen. Sie sollte sich amüsieren, solange sie unschuldig genug ist.“
„Lup hat ihr Angst gemacht?“, fragte Beq leise.
„Lup benutzt Liç wie einen Rammbock gegen mich.“ Firusz griff nach dem Weinglas, das auf der Lehne seines Armstuhles balancierte.
„Hab ein Nachsehen mit ihr. Sie ist eben kein Stadtkind. In der Steppe hätte sie ihre Tochter unter Verwandten aufwachsen sehen. Hier ist sie fremd und verunsichert.“
„Wer in den Steppen leben will, muss sich an die Regeln halten. Lup wusste das besser als irgendjemand sonst. Aber auch sie wollte etwas anderes kennen lernen. Sie hat bewusst alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie wollte in die Stadt. Sie wollte das ganze Land sehen. Und eines Morgens war ihr übel. Sie hatte solche Angst, Beq. Sie hat mich angeschrien. Sie hat getobt. Wir mussten für das Kind in geordnete Verhältnisse zurückkehren. Liç hat sich protestlos in alles gefügt – manchmal wünsche ich mir, sie würde mir eines Tages entgegenlaufen – vom Kopf bis Fuß voller Grasflecken und in einem matschigen Kleid.“
Beq stand auf. „Vielleicht traut sie sich eines Tages. Hier in der Nachbarschaft muss es doch noch andere Kinder geben.“ Beq nahm den am Feuer getrockneten Mantel an sich. „Wenn dir der Hausfrieden etwas wert ist, Firusz, sprichst du mit Lup darüber.“

Am nächsten Morgen ging Firusz die Briefe durch, die für ihn gekommen waren. Lup, bis zu den Ellenbogen mit Mehl bestäubt, tanzte um ihn herum, schien ihm selbst diese wenigen Minuten zu missgönnen, die er hatte, bevor er aufs Pferd steigen und an den Schreibtisch musste. „Es scheint als hätte mein Vetter ein kleines Abenteuer gehabt“, sagte er.
Lup hielt inne, schob den Brotteig von sich. „Abenteuer?“
„Er ist vom Pferd gefallen und hat sich alle Gräten gebrochen.“
Lup schnaufte. „Es war doch nur eine Frage der Zeit. Ich hoffe, er wird sein Leben lang humpeln.“
„Lup!“ Firusz legte verärgert den Brief beiseite. „Ich finde, wir sollten ihn besuchen. Es würde uns gut tun, wieder einmal unterwegs zu sein. Ich habe Yanus’ Haus im Hinterland noch nie gesehen.“
Lup faltete den Teigklumpen. „Es ist das Haus seiner Frau.“
Firusz wischte die Frühstückskrümel zusammen. „Yanus hat einen Sohn, der genauso alt ist wie Liç. Sicher würde sie sich über einen Spielkameraden freuen.“
„Es ist ein Ziehsohn.“
„Was macht das für einen Unterschied?“ Firusz erhob sich. „Ich werde Qasimir um Urlaub bitten.“
„Wenn du ins Hinterland reist, werde ich nicht mitkommen.“
Firusz stöhnte. „Warum gönnst du dir nicht wenigstens das, Lup?“
Sie sah ihn ruhig an. „Weil mich die Reise an das erinnern wird, was hätte sein können. Glaub mir, das willst du nicht.“
„Dann bleib eben. Ich nehme Liç mit ins Hinterland.“
Lup sah alarmiert auf. „Nein, wirst du nicht.“
„Entweder oder, Lup. Entweder du kommst mit oder Liç ganz allein.“
„Jemand muss sich um den Garten kümmern.“
„Wie du willst.“

Qasimir nach Qes war in ungewöhnlich sonniger Laune. Als Firusz ihn beim Mittagessen fragte, ob er Yanus besuchen dürfte, ließ das Erste Einhorn Löffel und Messer sinken. „Ich dachte schon, dieser Tag würde niemals kommen! Die letzten drei Jahre hast du dir keinen einzigen Tag freigenommen! Ich hatte schon deine Frau in Verdacht.“
„Lup wird nicht mitreisen.“
Qasimir wurde plötzlich ernst. „Hat sie vor, dich zu verlassen?“
Firusz lachte gepresst. „Wie kommst du darauf? Nein, natürlich nicht. Sie kann Yanus nicht leiden, daran liegt es.“
„Natürlich kannst du reisen. Soll ich dir eine Kutsche besorgen?“

„Ich hätte nie gedacht, dass mein Bruder so großzügig ist.“ Qarl wischte sich den Bierschaum von der Nasenspitze. „Du hast dich in den letzten Jahren aber auch wirklich krumm für ihn gemacht.“ Qarl winkte der Bedienung. „Zwei gebratene Hühner, einen Laib Haferbrot und eine Schüssel in Rahm gekochtes Gemüse.“
Firusz seufzte und hielt Zeige- und Mittelfinger hoch. „Noch zwei dunkle Biere.“
Das Mädchen nickte. Firusz sah ihr nachdenklich hinterher. Die Schankmaid hatte breite Hüften, die unter dem grünen Rock einladend hin- und herschwangen.
Qarl schob die leeren Bierkrüge zur Seite. „Wie lange hat Lup dich nicht mehr rangelassen?“
Firusz wurde hummerrot im Gesicht. „Seit Liçs Geburt.“
Qarl sah ihn ungläubig an. „Warum bist du dann noch mit ihr verheiratet?“
„Weil ich zu meinem Wort stehe.“ Firusz fuhr sich über die glühenden Wangen.
„Versprich mir eins, Firusz: Wenn du deinen Vetter besuchst, bring Liç in einem gesonderten Zimmer unter. Und dann lachst du dir ein Dienstmädchen an, ist das klar?“
„So einfach ist das nicht, Qarl.“
Der junge Kaufmann verschränkte die Arme vor der Brust. „Das habe ich noch nie an dir verstanden. Du versuchst gar nicht erst das zu bekommen, das dir zusteht.“
„Steht es mir zu? Ich kann Lup verstehen. Sie hat Angst, noch ein Kind zu bekommen. Es war keine leichte Geburt.“
„Wenn es nur darum geht: Es gibt Kräuterfrauen, die da Abhilfe schaffen.“
„Lup vertraut auch den Kräuterfrauen nicht.“
Qarl seufzte. „Die Mädchen auf Yanus’ Landsitz sind mittlerweile an Teufel gewöhnt, sollte man denken. Vielleicht findest du bei ihnen Trost.“
Das Schankmädchen kam mit ihrem vollbeladenen Tablett. Qarl rupfte einem der Hühner den Schenkel ab. Er wartete, bis das Mädchen gegangen war. „Es gibt keinen Grund, weshalb es dir so gehen soll wie mir, Firusz. Damals, als Griça gestorben ist, wusste ich, dass ich von nun an allein bleiben muss. Du kannst dir jederzeit jede Frau aussuchen.“
„Jede Frau, die verrückt genug ist, sich mit einem Teufel einzulassen, meinst du? Lass gut sein, Qarl. Ich bin mit Lup vollkommen zufrieden. Vollkommen.“
Qarl zupfte Muskelfleisch vom Knochen, schob es sich zwischen die Zähne. „Du kannst mich so fest anlügen wie du willst – ich glaube dir kein Wort.“
Firusz brach Brot ab, tauchte es in die Gemüseschüssel. „Lup hat sich geweigert, wieder auf Reisen zu gehen. Ich dachte, das hätte vielleicht alles besser machen können.“
„Du könntest sie betrunken machen“, schlug Qarl vor. „Vielleicht wird sie dann wieder locker.“
Firusz sah ihn vorwurfsvoll an. „Sicher.“
Qarl legte die abgenagten Knochen beiseite. „Ich weiß, dass auch ich eines Tages heiraten muss“, sagte er. „Qasimir ist so vollkommen damit beschäftigt, das Erste Einhorn zu sein, dass ich glaube, die Sippe hat ihn schon abgeschrieben.“
Firusz sah ihn entsetzt an. „Und deshalb wirst du dich opfern?“
Qarl nahm sich des zweiten Huhns an. „Ich hätte schon gern Kinder – eines Tages. Und die Sippe wird unruhig. Vielleicht finde ich eine Frau wie Lup – die mir einen Erben schenkt und froh ist, wenn ich sie nie wieder anfasse.“
Firusz stürzte sein Bier in einem Zug hinunter.

Lup hörte ihren Mann nach Hause kommen. Sie hatte Liç schon vor Stunden ins Bett gesteckt und den Rest des Abends stickend verbracht, bis das Feuer so weit heruntergebrannt war, dass sie kaum noch etwas erkennen konnte. Sie lehnte sich im Armstuhl zurück, wartete bis ihr Mann den Mantel abgelegt und die Stiefel von den Füßen gestemmt hatte. „Hast du dich gut amüsiert?“, fragte sie bitter. „Du warst mit Qarl unterwegs, richtig? Du riechst nach Wirtshaus.“
Firusz lächelte verträumt, beugte sich über die Stuhllehne. „Ich soll viele Grüße bestellen“, sagte er und küsste Lup auf den Scheitel.
Sie sprang auf. „Ich habe gewartet.“
Firusz lehnte sich an den Kaminsims. „Warum?“
„Weil dein Platz hier ist.“
„Hier bei dir?“ Firusz zog ein Lederband aus dem Gürtel und schnürte sich das Haar im Nacken zusammen. „Da musst du mir erstmal erklären, weshalb.“
„Was hat Qarl dir erzählt?“, fragte Lup.
„Ich habe versucht, dir alles recht zu machen, Lup. Ich habe so lange geschuftet, bis wir uns dieses Haus leisten konnten, obwohl ich es weiter bis ins Haus der Einhörner habe. Du kannst Liç hier bei mir lassen und in die Steppe zurückkehren, wenn es das ist, was du willst.“
Lups Augen waren schmale Schlitze. „Ich werde nicht gehen, das weißt du. Liç ist meine Tochter.“
„Aber du willst, dass sie dein einziges Kind bleibt.“
Sie lachte. „Darum geht es also. Hast du dich in der Stadt umgehört? Lässt sich keine von dir anfassen?“
Firusz nahm sie bei den Schultern. „Bitte, Lup. Ich habe nie versucht, mich anderweitig umzusehen. Alles, was ich möchte, ist, dich mit ins Hinterland zu nehmen. Qasimir hat den Urlaub bewilligt. Bitte lass mich all das gutmachen, was du mir in den letzten Jahren vorzuwerfen hattest.“
Lup senkte den Blick. „Firusz …“
„Bitte. Du hast mich geheiratet, weil du mich wolltest, oder nicht? Irgendwann wolltest du mich. Ich weiß, wir haben uns nicht sehr gut gekannt …“ Er versuchte sie zu küssen.
Lup wandte ihr Gesicht ab. „Firusz …“
Er packte sie fest bei den Wangen, presste seinen Mund auf ihren. „Ich bin dein Mann, oder nicht?“
Sie funkelte ihn an. „Du bist ein Teufel.“
Er küsste sie noch einmal. Diesmal reagierte sie. Sie krallte sich an ihren Mann, ganz so, wie sie es früher getan hatte. Firusz’ Herz hämmerte gegen seinen Kieferknochen. Er drängte seine Frau an die Wand des Wohnzimmers, fegte ein paar mit Stickereien bestückte Bilderrahmen zur Erde. Lup war ihm nicht beim Ausziehen behilflich – Firusz knöpfte sich mit fliegenden Fingern das Wams auf, presste Lups Hände auf seine Brust. Das letzte Mal hatte er noch in den Steppen bei ihr gelegen. So lange war sie mit hochgeschlossenem Schlafrock ins Bett gestiegen – jetzt war ihre Haut weich, schmiegte sich in seine Handflächen. Lup ächzte leise, ihr hochgestecktes Haar löste sich, fiel seidig und schwarz auf ihr aufgeschnürtes Kleid nieder. Firusz sog ihren Geruch ein, tief ein, schob Rock und Unterrock nach oben, seine Finger zwischen ihre Knie. Für einen Augenblick hielt sie noch dagegen, dann gab sie nach. Firusz sah zu, dass sie auf ihre Kosten kam, sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, wohl aus Angst, von Liç gehört zu werden. Als er schließlich in sie drängte, rutschte Lup ihm mit zitternden Beinen entgegen, hatte keinerlei Proteste aufzubieten. Auf dem Holzfußboden vor dem Kamin sackte er in sich zusammen; ihre Röcke schlugen über seinen Rücken.
Lup weinte. Firusz musste all seine Kraft aufbringen, um sich hochzuwuchten. „Was ist los?“
Sie rollte sich zusammen. Jetzt war es das Schluchzen, das sie mit den Händen zu ersticken versuchte. Firusz presste die Handballen in die Augenhöhlen. Er war ausgelaugt. Seine Schultern fühlten sich an als seien sie aus Blei. „Lup … du hättest ‚nein’ sagen können.“ Er rappelte sich auf, schloss den Gürtel. „Es tut mir Leid.“ Er stieg langsam die Treppe hinauf.

Liç hörte ihren Vater ins Zimmer kommen. Er roch seltsam. Nach Bier, gebratenem Huhn und frischem Schweiß. „Schlaf weiter, Liç. Alles ist in Ordnung.“
Liç glaubte ihm nicht. Sie wartete auf ihre Mutter. Doch Lup de Liarette kam in dieser Nacht nicht ins Bett.

Am nächsten Morgen stellte ihre Mutter die Teetasse vor sie hin. „Ich glaube, dein Vater hat dir etwas zu erzählen.“
Firusz schob das Buch beiseite, in dem er gelesen hatte. „Wir werden eine Reise machen, Liç. Qarls großer Bruder hat mir Urlaub gegeben. Wir können Vetter Yanus besuchen fahren, er hat ein großes Haus im Hinterland.“
Lup stieß ein gezacktes Messer in ein Frühstücksbrötchen. „Es gehört seiner Frau, Firusz. Ich wünschte, das könntest du dir merken.“
Firusz lächelte säuerlich; ein Lächeln, das Liç noch nie an ihrem Vater gesehen hatte. „Deine Mutter wird nicht mit uns kommen“, sagte er. „Sie will sich um den Garten kümmern.“
Liç wurde kalt bei dieser Ankündigung. Sie nahm einen Schluck Tee. Sie konnte sich an ihren Vetter erinnern. Sie hatte ihn gemocht, auch wenn er nur ein Auge hatte. Sie sah ihre Mutter an. Lup tipste mit der Fingerspitze Brotkrumen auf. Firusz beugte sich über den Tisch, strich seiner Tochter über die Wange. „Qarl hat versprochen, mitzukommen.“

Die Kutsche, die Qasimir na Qes organisiert hatte, stand am nächsten Morgen vor der Tür. Qarl stieß den Schlag auf, zog die pelzbesetzte Mütze vom Kopf. „Guten Morgen, liebe Mitreisende.“
Die Reisetruhen lagen bereits im Garten. Liç stand zwischen den Beeten, das blaue Einhorn an die Brust gepresst und grinste, als habe sie zuviel Honigtee getrunken. Firusz stülpte sich den breitkrempigen Reisehut auf. „Lup, wir müssen los. Qarl ist da.“
Sie nickte. „Viel Spaß.“
„Soll ich Yanus von dir grüßen?“
„Wenn du willst.“
„Lup, wir müssen darüber sprechen.“
„Qarl ist hier. Du musst gehen.“
Firusz schluckte. „Also gut. Küsst du mich zum Abschied?“
Sie klopfte sich das Mehl von der Schürze. „Muss ich?“
„Wir werden spätestens in vier Wochen wieder da sein.“
„Schon gut.“
Firusz nahm den Mantel vom Haken. „Ich hoffe, du bist noch da, wenn wir wiederkommen.“
Lup nickte langsam. „Mal sehen.“

„Täusche ich mich, oder hat sich die Atmosphäre in eurem hübschen kleinen Haus deutlich verschlechtert?“ Qarl, in seinem kostbaren blutroten Mantel, saß Vater und Tochter gegenüber.
Firusz hielt Liç die Ohren zu. „Gestern Abend bin ich wohl etwas zudringlich geworden. Nach unserem Gespräch und so. Ich meine, sie hat nicht ‚nein’ gesagt. Sie schien ganz zufrieden damit.“
Qarl sah, wie Liç versuchte ihren Vater anzusehen. Firusz presste unbarmherzig ihre Ohren zu. Qarl seufzte. „Schließlich hat auch sie drei Jahre lang enthaltsam gelebt. Ihr hat es doch sicher auch gefehlt. Wenn sie tatsächlich so viel Angst vor einer zweiten Schwangerschaft hat, wird sie gerade sehr hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Männern traut man im Allgemeinen nicht zu, dass sie ihre Bedürfnisse im Zaum halten. Frauen hält man doch für gewöhnlich für weniger … hm … du verstehst schon.“
„Notgeil?“, fragte Firusz.
Qarl sah Liç an und wurde rot. „Solche Worte solltest du nicht sagen, wenn deine Tochter neben dir sitzt.“
„Sie kann nichts hören.“
Qarl hustete, kratzte sich zwischen den schwarzen Augenbrauen. „Bist du dir sicher?“
„Liç – hörst du was?“
Liç nickte ernsthaft.
Firusz nahm die Hände von ihren Ohren. „Also gut. Reden wir später darüber. Geht’s dir gut, Liç? Möchtest du ein Brötchen?“
Liç schüttelte den Kopf.
Qarl grinste von Ohr zu Ohr. „Was für ein braves Mädchen. Freust du dich auf das Hinterland, Liç?“
Sie nickte begeistert. Sie quetschte fast die Holzwolle aus dem Einhorn.
Qarl rieb sich die Kniekehle. Die zweispännige Kutsche schien durch die Stadt zu schweben. Firusz presste die Fingerknöchel gegen die Lippen.
Lup hatte in dieser Nacht in der Wohnstube geschlafen; er hatte ihre Wärme im Bett vermisst und die halbe Nacht wachgelegen. Lup hatte die Angewohnheit, sich so zu ihm zu drehen, dass sie ihm direkt in den Nacken atmete. Manchmal, wenn sie unruhig schlief, drückte sie ihre Brüste in seinen Rücken, schenkte ihm wirre Träume. Er hatte gehabt, was er sich so lange wünschte – aber war es das wert? Lup hatte gezittert, das tat sie immer, wenn sie kaum noch an sich halten konnte. Sie machte merkwürdige pfeifende Geräusche und es war, als liefen kleine Wellen durch sie hindurch, die sich auf ihn übertrugen … Firusz sah seine Tochter an, seine Augen waren außergewöhnlich blank, fand sie. Er legte Liç den Arm um die schmalen Schultern, Liç lehnte den Kopf an seine Rippen. Für einen Moment schloss sie die Lider. Sie hörte das Trappeln der Hufe, spürte das Schwingen des Gefährts. Sie belauschte den Atem der beiden Männer. Sie verließen die Stadt Richtung Osten.

BALD GEHT ES WEITER!

Impressum

Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

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