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Erstes Buch
Brücken und Tore




I




Liç war drei Jahre alt, als ihre Familie es sich leisten konnte, ein eigenes Haus zu beziehen. Ihr Vater arbeitete und sparte hart, um der Gesellschaft, bei der er als Sekretär beschäftigt war, nicht länger das Wohnquartier zu schulden. Liçs Mutter, die mit Seidenstickereien die Haushaltskasse aufstockte, nähte ihrer Tochter für diesen Tag neue Kleider, die kratzten und piekten. Liç stand mit strenger Zopffrisur vor dem zweirädrigen Karren, der das Hab und Gut der Familie den Stadtberg hinaufbringen sollte. Sie zogen aus dem Hafenviertel von Seestadt in die Straßenzüge, in denen es kleine Gärten gab, Kirschbäume und Reitwege für den Stadtadel. Sie würden sich jeden Tag die eleganten Damen ansehen, die auf spiegelblank gestriegelten Pferden das Rosenbeet passierten, das hatte ihre Mutter versprochen. Ihr Vater, langgliedrig und mit dunklen Ringen unter den Augen, verstaute die letzte Kiste im Karren, nahm die Zügel auf und bedeutete Frau und Kind sich hinten auf die Kante zu setzen. Es war noch nicht ganz Frühling, vor wenigen Stunden hatte es wieder geschneit; das Straßenpflaster glänzte blaugrau; es roch nach nassen Pferden und zufriedenen Schweinen. Wie immer war ihre Mutter still, drückte das Mädchen an sich. Liç getraute sich nicht, den Menschen zu winken, die dem Karren nachsahen. Das neue Kleid scheuerte am Hals, es war billiger Wollstoff, obwohl die Handelsgesellschaft, bei der ihr Vater beschäftigt war, mit teuerster Seide handelte, mit Luxusgütern wie Pelzen, Gewürzen, Weihrauch und Glasschmuck. Andere Frauen, die mit der Gesellschaft des Einhorns zu tun hatten, boten einen ganz anderen Anblick – da war Frau na Carran, mit Segelohren und hervorquellenden Augen, aber stets in Seide gepackt und mit Perlen beladen. Liç konnte ihrer Mutter den Neid ansehen, das war einfach: dann wurde ihr Mund so schmal und sie bekam eine Falte unter der Nase. Aber es war alles so, wie es sein sollte, das sagte ihre Mutter immer wieder. Sie bekamen ein eigenes Haus, weit weg von den Handelsschiffen. Sie würden Besuch bekommen können, die reichen na Carrans, die Freunde ihres Vaters, vielleicht sogar seinen mäkligen Vorgesetzten. Sie würde abends nicht mehr das Singen aus der Wirtsstube hören müssen, die betrunkenen Männer, vor denen man sich in Acht zu nehmen hatte. Weil man ein Mädchen war und seltsam aussah. Liç hatte die schwarzen Haare ihrer Mutter und türkisblaue Augen. Für ihr Alter war sie groß und hatte immer noch zu viel Babyspeck. Die meisten Menschen fanden sie hübsch oder zumindest außergewöhnlich. Sie sähe ihrem Vater ähnlich, sagten die Leute. Aber Liç hätte lieber wie ihre Mutter ausgesehen. Lup de Liarette stammte aus den Steppen – aus den wilden Sippen, sagten die Leute in der Stadt. Ihr Gesicht war rund, ihre Stirn breit – sie malte sich manchmal den Mund an und die Wangen. Liçs Vater mochte diese Tage nicht, dann gab es Streit. Sie hatten im Wirtshaus gewohnt, jetzt wurde alles besser, ganz sicher. Jetzt sah ihr Vater abends bestimmt nicht mehr so erschöpft aus. Er erzählte ihr sicher wieder Geschichten – von ihrer Abstammung, dass es irgendwo in der Welt ein Land gab, in das sie eigentlich gehörte, in dem man etwas mit ihr anzufangen wusste. Lup wollte diese Geschichten nicht hören, dann gab es auch Streit. Sie ist hier geboren worden, Firusz. Woanders gehört sie nicht hin. Hör auf, ihr Flausen in den Kopf zu setzen.
Aber Liç wusste auch, dass es hier Verwandte gab, reiche Verwandte. Der elende Stolz deines Vaters, sagte ihre Mutter. Sollen sie schnell wieder abreisen, er nimmt doch sowieso keine Hilfe an. Was sollen wir mit den mitleidigen Blicken? Es gab einen Vetter, das wusste Liç, einen Vetter mit Geld und Pferden, einem Stadthaus auf dem Hügel, so opulent eingerichtet, dass man sich alle paar Meter die Füße an goldenen Stühlen stieß. Der verdammte Stolz deines Vaters. Liç beschränkte sich darauf, still zu sitzen, unauffällig zu sein. Unauffällig, das konnte sie ganz gut. Manchmal gab ihre Mutter ihr kleinere Aufgaben, um sie zu beschäftigen, aber das war eigentlich nicht nötig. Eines Tages half Liç ihrer Mutter dann zu sticken. Sie verdiente Geld für das kleine Haus, für den Garten, ein paar Rosen und Kohl. Für einen eigenen Toilettenschuppen. Aber jetzt, da es soweit war, schien ihre Mutter wie versteinert und ihr Vater sah müde aus – müde und noch sehr jung. Es begann zu nieseln und ungemütlich zu werden auf dem Karren. Ihre Mutter ließ sie unter das Umschlagtuch kriechen – Liç kratzte sich, vor Blicken geschützt, an den Beinen, froh, das juckende Kleid für einige Sekunden von der Haut ziehen zu können.
Eine halbe Stunde rumpelten sie durch die Stadt, die das einzige war, das Liç kannte, das einzige, das Bedeutung hatte. Die Bäume am Straßenrand waren noch kahl, aber im Sommer blühten sie, das wusste Liç. Sie würden Tee aus den Blüten trinken, wie jedes Jahr. Damen in pelzbesetzten Jäckchen trabten dann am Zaun vorbei, die Reitpeitschen schnacken lassend. Liç würde nie zu einer dieser Damen heranwachsen, trotz des reichen Vetters. Sie blieb am Boden, sie zupfte das Unkraut aus dem Beet und stellte sich vielleicht für ein paar Minuten vor, wie es war, da oben im Sattel, in den feinen Stiefeln, den bestickten Röcken. Liç spähte aus dem Umschlagtuch, versuchte vorauszusagen, welches Haus nun ihnen gehören würde. Da musste es etwas Besonderes geben, etwas, das ihr sagte, dass sie angekommen waren. Ihr Vater bremste das Pferd, gleich hier musste es sein – das Haus mit den blauen Fensterläden? Das rosa Haus, das mit der gelben Tür? Lup sprang vom Karren, hob ihre Tochter auf die Straße herab. „Wir sind da, Liç. Unser neues Zuhause.“
Liç starrte das Haus mit dem grünen Zaun an, das sie bisher übersehen hatte. Der Garten war unbestellt, der Putz pellte sich ab und war von rauchig-schmutzigem Hellblau, fast wie das Zimmer im Wirtshaus. Ihre Mutter nahm sie an der Hand, stieß das Gartentor auf. „Wir sind daheim, Liç.“
Das Haus roch nach Kalk und toten Mäusen, es war völlig leer. Der Fußboden war kreidig weiß gestrichen, die Wände auch. Liçs Kleid juckte jetzt noch mehr, sie würde sich die Knie blutig kratzen, wenn ihre Mutter nicht hinsah, heute Abend vielleicht. Ein zottiges Pferd kam die Straße entlanggetrabt, hielt neben dem Karren an. Ein braunhaariger Mann sprang aus dem Sattel, band das Pferd an.
„Beq na Borr ist da“, seufzte ihre Mutter. Beq kam aus dem Land hinter den Bergen, wie Lup de Liarette, aber sie mochte ihn nicht. Dabei war Beq stets zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Liç war froh, dass er gekommen war, um die Möbel mit ihrem Vater ins Haus zu bringen. Die Stühle, den Schrank, das große Bett mit der Strohmatratze, den Tisch für die Küche.
„Mal sehen, ob das Brennholz schon geliefert wurde“, sagte Beq und verschwand hinterm Haus. Er hatte auch Lebensmittel mitgebracht, Kuchen und eine helle Fleischpastete, zwei Flaschen Wein. „Firusz – Qarl lässt dir gleich morgen Wurst und Käse bringen. Er will wissen, ob ihr eine Ziege braucht. Oder ein Schwein.“
Firusz wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Er soll gar nichts schicken, und das weiß er auch. Ich möchte mich ihm nicht wieder verpflichten. Ich schulde ihm schon zuviel.“
Liç sah zu ihrer Mutter auf. Der Stolz deines Vaters. Lup schob den Küchentisch hin und her.

Firusz de Liarette hatte es nicht weit in diesem Land gebracht. Er hatte Lup zur Frau genommen und war in die Dienste der Gesellschaft getreten, in der er es zu Ruhm und Reichtum hätte bringen sollen. Er war Schüler der Einhörner gewesen, privilegiert und undankbar. Dann war er auf Reisen gegangen, hatte Lup getroffen, eine Barbarin mit dem eisernen Willen ihr heimatliches Lager zu verlassen. Das Erste Einhorn hatte ihm das nicht verziehen. Firusz sah seine Mitschüler zu Ehre und Reichtum aufsteigen, er selbst war nur der Sekretär des Ersten Einhorns, mit lächerlichem Gehalt und lästigen Pflichten. Seine Freunde verdienten großes Geld in Übersee, finanzierten die Schiffe mit, die jahrein, jahraus zu den Gewürzinseln fuhren. Er setzte die Rechnungen auf – Einnamen, Ausgaben. Er wusste genau, was ihm durch die Lappen ging. Seine Freunde boten ihm Unterstützung an, natürlich. Sie luden ihn zu Bier und Fleisch in die Hafentavernen ein, behielten seine finanzielle Situation im Auge. Er hatte dankbar zu sein und er war dankbar. Das neue Haus war nichts Besonderes. Firusz selbst war in einer Burganlage aufgewachsen, mit Bergen von Spielzeug verwöhnt. Seine Tochter hatte kein eigenes Pony, nur zwei Kleider und ein Paar Schuhe. Qarl na Qes hatte ihr ein blaues Einhorn aus Stoff geschenkt, aber das lag Tag für Tag auf dem Bett und schien sie nicht wirklich zu interessieren.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Qarl jedes Mal und Firusz war es leid. Dann auch noch sein wohlhabender Vetter … der ein Stadthaus besaß, ein Anwesen auf dem Land, der sich gerade einen Namen in der Pferdezucht machte. Firusz hatte aufgehört, Yanus zu besuchen, wenn dieser in der Stadt war. Unerträglich: das teure Mobiliar, das Porzellan auf den Kaminsimsen, die Dienstboten … er wusste, dass niemand ihn demütigen wollte. Aber er demütigte sich selbst. Er begann nachzudenken. Er liebte seine Familie, das stand außer Frage. Er liebte das runde Gesicht seiner Tochter. Liç trug ein schweres Erbe mit sich herum, ohne es selbst zu wissen. Firusz de Liarette war vom Alten Volk, ein Halbelf aus den Kolonien. Liç würde man das eines Tages ansehen, ihre Fremdheit, die Tatsache, dass sie nicht so alterte wie normale Frauen. Eines Tages würde sie ihren Vater zur Rede stellen, das war ihr Recht. Aber Firusz hatte Angst vor diesem Tag – lieber erzählte er ihr ausführlich, wie die Kinder in den Bauch von Frauen kamen, das war zwar peinlich, aber daran konnte selbst er nichts ändern. Dass er den Fluch der elfischen (oder man hier in Wittland sagte: teuflischen) Herkunft an sie weitergegeben hatte … Sein Leben hätte ganz anders verlaufen sollen, ohne Lup, ohne seine Tochter. Lup hatte ihn haben wollen, damals in der Steppe. Er, völlig unerfahren, ließ sich bereitwillig fangen, wie ein vom Licht geblendeter Nachtfalter. Er schnitt das Brot auf, das Beq na Borr mitgebracht hatte. „Du kannst hier wohnen, Beq. Wenn du willst.“
Der Mann vom wilden Volk der Westländer lachte. „Lup würde mich schnell wieder an die frische Luft setzen. Das ist ihr kleines Familienidyll, ich habe hier nichts zu suchen.“
„Ich hätte dich gern hier.“
„Ich weiß, Firusz. Aber Qarl hat mir ein Zimmer beschafft. Er ist sehr gut in solchen Dingen.“

Beq blieb zum Essen. Sie saßen in der Küche und kauten die Fleischpastete herunter. Lup sah blass aus und abgespannt. Liç puhlte die Champignons aus der Pastete, legte sie in säuberlichen Kreisen auf den Tellerrand. Draußen rief ein Vogel, Beqs Pferd fraß Unkraut im Garten. Als sich der Westländer verabschiedet hatte, hakte Lup sich bei ihrem Mann unter. „Hier wird es uns ganz gut gehen, nicht wahr?“
Firusz lächelte. „Wir werden sehen.“

Liç konnte nicht schlafen. Es war kalt im Zimmer und ohne ihre Eltern schien ihr die Welt zu entgleiten. Sie sah beide unten in der Küche sitzen, bei spärlichem Licht. Ihre Mutter stickte, ihr Vater las die Stadtzeitung oder vielleicht ein Buch, das er sich aus der Bibliothek der Einhörner ausgeliehen hatte. Sie tranken stark gebrühten Tee aus Sommerkräutern, ihr Vater nahm nichts vom teuren Honig, ihre Mutter für zwei. Liç vergrub ihren Kopf in den Kissen, die noch nach dem Zimmer des Wirtshauses rochen. Vielleicht war alles anders, wenn sie morgen aufwachte. Wärmer, weniger kalkig. Vielleicht war ihre Mutter ja plötzlich glücklich.


II



Im Hinterland, einer der schönsten Regionen Wittlands, lag das Anwesen der von Tredorns: ein weitläufiger Fachwerkbau mit zipfligem Kacheldach und noblen Stallanlagen, Reitplätze, Weiden, Haferspeicher, Heuscheunen. Der hintere Teil des Hauses gehörte allein der großen Dichterin, die das Anwesen schon vor einem Jahrzehnt erworben hatte und schließlich die Frau des Yanus von Tredorn geworden war. Im Stall standen drei Hengste und sieben edle Stuten, Yanus beschäftigte fünf Pferdeburschen und einen ganzen Schwung Hausdiener, dennoch fand man den hohen Herrn meist mit den üblichen Gerätschaften im Stall: Mistgabel, Schaufel, Reisigbesen. Yanus verbrachte nur wenige Stunden im Haus, morgens trappelte er die Treppe in die Eingangshalle hinunter und warf sich in die dreckverklebten Stiefel. Wenn er für ein paar Tage nach Seestadt reiste, geriet das gesamte Stallpersonal in Panik – er war ein strenger Herr. Wie sein Vetter war er von gemischtem Blut, groß, eher schlaksig. Er hatte langes dunkelbraunes Haar und nur ein Auge. Am Anfang hatten die Dienstmädchen Angst vor ihm gehabt, aber mittlerweile war auch dem letzten klar, dass er im Haus nichts zu melden hatte; seine Autorität beschränkte sich auf die Außenanlagen. Sie tratschten hinter seinem Rücken, schließlich gehörte er zum Volk der Teufel und die waren für seltsame Ideen bekannt. Er hatte die großen Hunde angeschafft, mit denen sie sich herumschlagen mussten, er aß jeden Morgen Zimtbrötchen, er ließ seine Frau den ganzen Tag über allein. Überhaupt: die Frau des Hauses. Sie war bereits zu alt, um Kinder zu bekommen, hatte aber einen Jungen aus der Umgebung adoptiert, als dessen Mutter im Kindbett gestorben war. Die Herrin las jeden Tag mehrere Stunden, schrieb mehrere Stunden, Bücherpakete mussten zu ihr gebracht werden, sie wünschte Blumen in jedem Zimmer und den Tee auf bestimmte Art gebrüht. Manchmal reiste sie an den Hof des Königs, um die feine Gesellschaft mit ihren Gedichten zu unterhalten. Sie war eine Frau von Welt und stets schlicht aber kostbar gekleidet, das hellblonde Haar trug sie mit Achatnadeln hochgesteckt und konnte sehr unfreundlich werden, wenn sie schlecht gelaunt oder wenn man unachtsam gewesen war. Orelie von Tredorn hatte sich mit Gedichten einen großen Namen gemacht, aber die wenigsten der Dienstmädchen konnten lesen. Sie fanden die Art ihrer Herrin seltsam, beinahe unirdisch. Sie schien durch die oberen Räume des Hauses zu schweben, sie trug stets weiche Schlappen um nicht gehört zu werden, sprach nicht mit den Dienstboten, wenn es nicht nötig war. Sie sprach auch kaum mit ihrem Mann, obwohl ihr persönliches Mädchen schwor, dass sie ihn oft in ihr Bett kommen ließ. Yanus von Tredorn hatte sicherlich einen gewissen exotischen Charme, dennoch hätte sich keines der Mädchen von ihm anfassen lassen. Der adoptierte Erbe war kein glückliches Kind. Seine Amme hielt ihn beschäftigt, spielte mit ihm im kunstvoll gestalteten Hausgarten. Er hatte Glück, eines Tages ein solches Haus zu erben. Evold von Tredorn war blond und hatte ein von Natur aus schlecht gelauntes Gesicht – er sah stets unausgeschlafen und vergriesgrämelt aus.
An diesem Morgen erfreute sich Yanus ausgezeichneter Laune. Er hatte Nachricht aus Seestadt erhalten; der Umzug seines Vetters war zufriedenstellend verlaufen. Jetzt konnte er sich mit all seinen Gedanken den Dreijährigen zuwenden, die er zuzureiten hatte. Er trug seine ältesten Kleider, die schmutzigsten Stiefel und freute sich jetzt schon auf das Bad, das er am Abend nehmen würde, mit Veilchenseife und parfümierten Handtüchern, so wie seine Frau es schätzte. Die Nacht würde er in ihrem Gemach verbringen dürfen, das hatte sie ihm bereits vor zwei Tagen angekündigt. Ihm wurde schwindelig vor Vorfreude. Er hatte aus Liebe geheiratet, sie vielleicht nicht, aber sie behandelte ihn gut, lud ihn in ihr Reich ein, besprach den Wochenablauf mit ihm. Sie schloss ihn in ihre Entscheidungen ein, manchmal kaufte sie ihm sogar neue Kleider. Die Verhältnisse im Hause Tredorn waren für Wittland sehr ungewöhnlich, für die Kolonien hingegen nicht. Yanus war in einem matriarchalisch geprägten Haushalt aufgewachsen, er war es gewöhnt, dass Frauen ihren eigenen Besitz verwalteten und ihre eigenen Meinungen vertraten. Es war ihr Haus, ihm gehörte nur das Anwesen in der Stadt. Sie war die nationale Berühmtheit, er der eingewanderte Exot. Yanus fühlte sich wohl im Hinterland, er fühlte sich wohl in der Stadt. Er hatte Beschäftigung, Essen, Unterkunft. Er versuchte sich vor Aufenthalten im Königlichen Palast zu drücken, wann immer es ging. Der Gedanke an das Schlafgemach seiner Frau verfolgte ihn in den Stall. Er dachte an ihr Haar, während er die junge Stute zum Putzplatz führte, an den Duft, der sie umgab, während er all die kleinen Vorbereitungen traf, die nötig waren. Die Stallburschen warfen einander Blicke zu, sie waren an das stille Lächeln des Hausherrn gewöhnt. Sie alle waren neidisch, denn ihre Herrin war trotz fortgeschrittenen Alters eine schöne Frau. Was keiner von ihnen wusste: Yanus sah wesentlich jünger aus als seine Gemahlin, aber sie hatte ihm lediglich drei Jahre voraus. Seine Abstammung begünstigte ihn mit alterslosen Zügen und einem unverschämt charmanten Lächeln – wenn er in Stimmung war. Wenn die Pferde schlecht gestriegelt oder nicht korrekt gefüttert wurden, ließ er Blitz und Donner über die armen Burschen kommen. Yanus nahm die Stute am Zügel, brachte sie zum Reitplatz. Das Leben war ihm nichts schuldig geblieben.

Als er an diesem Abend zu seiner Frau hinaufstieg, hatte er ein paar blaue Flecke mehr als am Morgen, roch nach Veilchenessenz und war jetzt schon mit einer angenehmen Schwere behaftet. Er klopfte an, trat ein. Orelie saß wie üblich an ihrem niedrigen Schreibpult. „Du bist pünktlich“, sagte sie. „Wie schön. Ich brauche nur noch ein paar Sekunden.“
Yanus lächelte und schenkte sich gekühlten Saft ein, nahm ein Plätzchen aus Kastanienmarzipan zu sich. Seine Frau hatte Auge, Ohr und Zunge für die kleinen Dinge – eine Eigenschaft, die ihm immer wieder Bewunderung entlockte. Sie war wie versprochen in wenigen Momenten fertig, wischte die Schreibfeder sauber und erhob sich. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen, Yanus.“
Er steckte sich ein zweites Plätzchen in den Mund. „Etwas Unangenehmes?“
„Das kommt darauf an, wie angenehm du es dir machst. Ich bin in den Palast geladen worden.“
„Mal wieder.“
„Zu einem längeren Aufenthalt, wie ich befürchte. Du wirst dich um Evold kümmern müssen. Wirst du das schaffen?“
„Nun … er kann reiten lernen.“
„Er ist drei Jahre alt. Er kann noch nicht reiten lernen.“
Yanus zog eine Schnute. „Du wolltest ihn doch adoptieren.“
„Ich wollte ein gutes Werk tun. Und du warst Feuer und Flamme. Es wird schon nicht so schlimm werden. Lies ihm Geschichten vor, das dürfte ihm gefallen.“ Sie kam zu ihm, ließ die Hände über seine Brust gleiten. „Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie mit jenem Tonfall, bei dem ihm jedes Mal die Knie wackelten. Er vergaß die Aussicht auf Wochen unter der Fuchtel seines Adoptivsohnes, als sich ihr Mund über seinem schloss.


III



Qarl na Qes, im letzten Quartal zweiterfolgreichster Kaufmann der Hafenstadt, saß bei seinem üblichen Frühstück: Bier, Brot, gebratenes Huhn. Er hatte nicht vor, jetzt schon einen exklusiven Geschmack zu entwickeln, nicht bevor er sicher war, dass der Erfolg ihm die Treue hielt. Er legte sein Geld eher in Kleidung an, spekulierte ein bisschen an der Blumenbörse und versuchte, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit 23 Jahren war Qarl ein in sich gekehrter, breitschultriger Mann, der Ruhe und Verlässlichkeit ausstrahlte – bis er zu lächeln begann. Dieses Lächeln hatte ihn zu Beginn seines Aufstiegs den ein oder anderen Geschäftsabschluss gekostet – es wirkte ironisch und hintersinnig, nicht ganz vertrauenswürdig; eine Erinnerung an den Jungen, der er gewesen war. Qarl residierte in einem großen Haus: drei Geschosse, die Giebel mit bunt bemalten Schnitzereien bedeckt. Die meisten der 26 Zimmer standen leer oder wurden als Lagerräume genutzt, unter schweren Kassettendecken stapelten sich Weinkisten, Pfeffersäcke und Ballen feinsten Tuchs; Qarl war vielseitig interessiert. Sein Geschäftspartner Calmorran na Carran übernahm die Reisen, er hatte den Vorteil, nicht unter Seekrankheit und Höhenangst zu leiden. Qarl war für den Erhalt der gewonnenen Partnerschaften zuständig. Als Gesellen der Gesellschaft des Einhorns hatten sie jener Institution zu neuem Ansehen verholfen; von den fünf Gesellschaften, die in Seestadt ansässig waren, galt diese dank ihres Ruhms als innovativste, aufregendste. Dass Qarl es vorzog, nicht länger im gesellschaftseigenen Haus auf der Blauen Brücke zu wohnen, lag daran, dass sein ältester Bruder den Posten des Ersten Einhorns bekleidete. Qarl konnte auf die Beaufsichtigung durch seine Sippe verzichten. Er war überhaupt ein ziemlicher Morgenmuffel – vor dem ersten stark gebrühten Tee nicht zu gebrauchen – heute allerdings hatte er einen Besuch zu machen. Eine der Eichenbohlen knarzte. Er sah auf. Beq na Borr, in gesteppter Tunika und Wollüberwurf, sah ihn erstaunt an. „Du bist schon wach?“
„Ich habe Firusz versprochen, bei seiner Familie vorbeizuschauen und ein paar Worte aus Lup herauszuholen.“
Beq schüttelte den Kopf. „Wenn die beiden nur endlich anfingen, miteinander zu reden … dann müssten wir uns nicht ständig zu solch zweifelhaften Freundschaftsdiensten herablassen.“
Qarl sah ihn ruhig an. „Wo warst du? In der Gelben Gasse? Dass du überhaupt Geld für Mädchen hast, wundert mich.“
Beq hatte den Anstand zu erröten. „Das ist einer der wenigen Vorteile, die eine Hafenstadt bietet: Es gibt etwas für jeden Geldbeutel.“
„Ich wünschte, ich könnte die Nächte durchfeiern.“ Qarl schob den Teller mit Hühnchenteilen seinem Gast zu. „Lass es dir schmecken. Ich werde jetzt mein Versprechen einlösen.“

Da Qarl derjenige von Firusz’ alten Freunden war, der sich fast die ganze Zeit in der Stadt aufhielt, war er von Anfang an stärker in die Familie de Liarette eingebunden gewesen als andere. Er vermochte zu helfen, obwohl er wusste, dass Firusz Almosen hasste. Die Beraterrolle in Sachen Eheprobleme war ein Weg, das moralische Dilemma zu lösen. Qarl hatte sich seinen grauen Hengst satteln lassen, trabte durch die kalte Stadt in die einfacheren Viertel, die sich andere Leute seines Standes nur interessehalber ansahen, nicht aber, weil sie dort Freunde hatten. Das blaue Haus mit dem grünen Zaun sah immer noch armselig aus, obwohl Lup den Vorgarten umgegraben hatte, um Gemüse zu ziehen. Qarl band den Hengst vor der Haustür an und klopfte.
Es dauerte ein wenig, bis Lup öffnete. Sie trug eine Schürze, war von Kopf bis Fuß voller Mehl. „Qarl. Ich wusste nicht, dass du heute kommen wolltest.“
„Ist Firusz nicht da?“
„Er arbeitet und das weißt du. Du kannst trotzdem einen Tee bekommen. Und ich backe gerade.“
Qarl trat ein, legte den Mantel ab. Das Haus war kärglich möbliert, wenigstens hatte Lup einige Stickereien in einfachen Holzrahmen aufgehängt. In der Küche war es warm – Liç saß am Küchentisch und stach Brötchen aus dem Hefeteig.
„Liç!“ Qarl breitete die Arme aus, aber sie sah ihn nur an. Sie sah einen kräftigen Mann mit Stupsnase und schwarzem, in Zöpfe geflochtenem Haar. Sie fand, dass er fast so müde aussah wie ihr Vater.
„Warum versuchst du es nur immer wieder?“, schalt ihn Lup und stellte eine dampfende Tasse aus unglasiertem Ton vor ihn hin.
„Sie ist so ernst“, fand er enttäuscht.
„Sie ist zurückhaltend – wie es sich für ein Mädchen geziemt.“
„Liç, hast du Angst vor mir?“, fragte Qarl.
Liç schüttelte den Kopf. Aber sie hatte Angst. Angst davor, wie er riechen könnte, der Pelzmantel. Angst, in seinen Armen zerdrückt zu werden – schließlich waren Männer von Natur aus grob. Ihr Vater gab sich solche Mühe, ihr nicht wehzutun – ein Augenblick der Schwäche, eine Sekunde, in der sie dem Wunsch nachgab, sich in Qarls Mantel zu werfen, würde alle Bemühungen zunichte machen. Qarl hatte ihr das Einhorn geschenkt. Er war der einzige, der mit ihr sprach. Sie stach Brötchen aus, sie war hinreichend beschäftigt.
Qarl trank Tee. „Das ist sehr gut, Lup. Wie ich sehe, machst du aus jeder Situation das Beste.“
Sie sah ihn für ein paar Sekunden an. Ihr Lächeln sah nicht mehr echt aus. „Du brauchst mir nicht zu schmeicheln, Qarl. Ich weiß, dass dir dieses Haus ärmlich vorkommt.“
„Und was, wenn? Ich habe bereits in nach Ziegen stinkenden Zelten gehaust, ganz wie du selbst. Wir haben unter freiem Himmel geschlafen und Wirtshauskost gegessen. Ein Haus ist ein Haus, Lup.“
„Du hast dir deines sicher nicht nur wegen der vorteilhaften Lage ausgesucht. Du wolltest, dass es deinen Status repräsentiert. Wir finden alle unseren Platz.“
Qarl schloss für einen Moment die Augen. Diese Bitterkeit erlebte Firusz Tag für Tag … „Was hast du denn gedacht, Lup? Dass ihr über die Berge kommt und alles dir gehört?“
„Dir gehört doch auch alles.“
Qarl warf Liç einen besorgten Blick zu. Das Mädchen hatte alle Hände voll zu tun, aber natürlich hörte sie zu. Als seien solche Worte selbstverständlich. „Aber ich habe nicht halb so viel Ehrgefühl wie Firusz. Ich hätte dich nicht geheiratet, Lup.“
„Firusz hat sich frei entschieden. Ich habe ihn nicht gezwungen.“
„Und doch hast du sein Leben geformt. Du kannst dich nicht aus der Verantwortung ziehen. Gott, ich dachte immer, ihr Frauen aus Westland seid anspruchslos!“
„Wir sind anspruchslos, weil wir in der Steppe nichts erwarten dürfen“, sagte Lup kalt. „Hier ist das etwas anderes.“
„Ich würde jederzeit mit Firusz tauschen“, zischte Qarl.
Liç sah auf, legte die Stanzform beiseite. Ihr war plötzlich ganz schlecht vor Angst. Qarl wollte mit ihrem Vater tauschen? Damit jeden Tag solch böse Worte fielen?
Lup lachte. „Das nehme ich dir nicht ab, Qarl.“
„Ich weiß, dass er dich liebt, Lup. Hätte ich die Wahl zwischen diesem Haus und meinem, würde ich immer dasjenige wählen, in dem jemand auf mich wartet.“
Lup schnaubte durch die Nase. „Mach weiter, Liç. Wir brauchen viele Brötchen; dein Vater wird hungrig sein, wenn er herkommt.“
Qarl sah, wie das Mädchen ohne zu zögern gehorchte. „Du könntest auch spielen gehen“, sagte er.
„Sie spielt nicht“, sagte Lup. „Und du hast ihr nichts zu sagen.“
„Entschuldige.“ Qarl verschränkte die Finger ineinander. „Ich sollte mich nicht einmischen. Du weißt besser über deine Tochter Bescheid.“
Lup sah ihn misstrauisch an. Sie hasste diesen Tonfall an ihm. „Was tust du hier eigentlich?“ Sie wandte sich ab, um die von Liç ausgestochenen Teigkreise auf das Holzbrett zu schichten, das sie später zum Backhaus tragen würde.
„Ich wollte euch besuchen – ist das so schlimm?“
„Es ist schlimm, wenn du mich nachher bei Firusz schlecht machst.“ Lup schenkte ihm zum zweiten Mal Tee ein, berührte Qarl für einen Moment am Hinterkopf: eine Warnung, die Liç nicht sehen sollte. Aber sie bemerkte, dass Qarl zusammenzuckte und ein Stück mit dem Stuhl nach vorn rutschte. Und sie hörte ihn: „Autsch! Ziege.“
Liç hob die Stanzform, als wolle sie sich verteidigen.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe.“ Qarl ließ die volle Tasse stehen. Lup nickte langsam. „Das nächste Mal kommst du, wenn du weißt, dass Firusz hier ist, in Ordnung?“

„Du hast es ja nicht lange ausgehalten.“ Beq setzte sich zu Qarl in den Fenstererker. Qarl steckte die Schreibfeder hinters Ohr, klappte das Buch zu, in das er die letzten Gewinne eingetragen hatte. „Lup hat mir unmissverständlich klar gemacht, dass sie meine Anwesenheit in ihrem Haus nicht schätzt.“
„Sie hat ihren Mann schon längst durchschaut“, seufzte Beq und angelte nach der Schale mit den Marzipankugeln.
„Und sie hält das arme Mädchen ganz schön unter Verschluss. Liç wird es schwer haben, das scheue Gehabe abzulegen.“
„Seestadt ist ein gefährliches Pflaster“, gab Beq zu bedenken. „Da ist es ganz gut, auf seine Töchter aufzupassen.“
„Lup ist zu streng mit ihr. Das Mädchen ist ein Teufel. Sie sollte sich amüsieren, solange sie noch keine Ahnung davon hat.“ Qarl entzog Beq die Konfektschale. „Sollten wir Firusz unsere ehrliche Meinung dazu sagen?“
„Wenn du dich traust …“ Beq nahm das Buch an sich. „Oh. Schön für dich.“
„Finger weg! Auch vom Marzipan!“ Qarl biss sich auf die Unterlippe. „Übrigens, Morrie hat geschrieben. Seine Frau ist schon wieder schwanger. Und er hat ziemlich viel türkisblaue Seide aufgetrieben.“
Beq grinste. „Du könntest ihn erwürgen, richtig?“
„Manche Männer haben einfach jedes Glück der Welt.“
Beq zog die rechte Augenbraue hoch. „Hast du dir seine Frau mal richtig angesehen? Sie sieht aus wie ein aufgeschreckter Fisch.“
„Sie sieht genauso aus wie Morrie – sie sind Cousin und Cousine, hast du das nicht gewusst?“
„Findest du Morrie etwa hübsch?“ Beq legte den Kopf schief.
„Nein“, gestand Qarl. „Und das mag ich an ihm.“
„Na also. Er wird viele kleine Kinder haben – die alle aussehen wie Forellen.“
Qarl ließ den Kopf sinken. „Ich glaube, es ist Zeit für eine Scheinehe.“
„Was?“
„Ach nichts. Es ist unfair, dass manche ihre Kinder so unglücklich machen dürfen, und andere …“
Beq kratzte sich an der Nasenspitze. „Natürlich bist du neidisch.“
„Vor Liçs Geburt hat Firusz mich gebeten, dass ich ihm helfe … mit Liçs Erziehung und so. Lup hat das nie zugelassen.“
„Wundert dich das?“
„Ich habe doch sowieso keine Ahnung. Ich wollte nur … ich wollte Firusz einen Gefallen tun. Und mir selbst. Ich mag die Kleine. Sie sollte nur etwas fröhlicher sein.“
„Sie wird schon fröhlicher werden. Eines Tages wird sie erwachsen sein und ihre Mutter anschreien.“
„Ich wünschte, ich hätte meinen Vater nur einmal angebrüllt“, seufzte Qarl. „Das hätte mir gut getan. Keiner meiner Brüder hat sich das je getraut. Selbst Qasimir hat sich geduckt.“

BALD GEHT ES WEITER!

Impressum

Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2011

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