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I



Sie hatten die steilsten Bergpässe bereits hinter sich gelassen. Die Höhenluft strich um ihre dick verpackten Nasen. Yanus stützte sich auf den Widerrist und wandte sich zu dem schwerfälligen Karren um. Seçil, der die Zügel hielt, war vom Staub der Bergstraßen bedeckt, selbst seine blonden Locken. Er sah alt aus, verkrustet um Augen und Mundwinkel. Von ihrer jetzigen Position sahen sie die schneebedeckten Kuppen höherer Bergketten; vom Wind kurzgeriebenes Gras bedeckte die niedrigeren Hänge, hier und da grasten zottige Tiere: Rinder und Ziegen. Jetzt kamen Yanus die gesteppten Kleider zu Gute. Der Jüngste Prinz, bis zur Nasenspitze in Pelze gewickelt, schlug den ledernen Windschutz beiseite. Yanus drehte sich zu ihm um. „Was sagst du zu den wittländischen Bergen, mein Freund?“
Yanus zog das Halstuch vom Mund. „Es ist großartig“, sagte er, gegen den Wind.
„Bald werden wir zu angenehmeren Temperaturen herabsteigen“, sagte Mondon. „Dann führe ich dich in den schönsten Landkreis dieses Kontinents: die Ländereien meiner Familie – vor Jahrhunderten den barbarischen Horden abgerungen. Jetzt blühen die Bäume im Tal der Könige; wir haben einen Garten, der nur zu dem Zweck angelegt wurde, Blüten bei Mondschein zu betrachten. Ich werde dich in einem Teil des Palastes unterbringen lassen, der zu den ältesten gehört. Du wirst traditionell wohnen und traditionell unterhalten werden.“
Yanus gab Seçil das Zeichen zum Anfahren. Der Karren rumpelte an, Yanus folgte dem Königlichen Gefährt. Wittland beeindruckte ihn mit der Unterschiedlichkeit seiner Landschaften. Kaum verließen sie Seestadt, befanden sie sich in einer weit ausladenden Wiesenlandschaft, durchzogen von Getreidefeldern und Schafhütten – dann sahen sie schon die Bergketten, die den Kontinent in Scheiben schnitten. Yanus hatte niemals solch hohe Berge zu Gesicht bekommen – in den Kolonien gab es derartige Höhenzüge nicht. Die Ausblicke, die sich ihm an geeigneten Straßenecken boten, ließen ihn nach Luft schnappen. Nachts war es kalt – Yanus rollte sich in dem Zelt, in dem er schlief, fest zusammen, atmete auf die Brust, um sich warm zu halten. Er fühlte sich klein in den Bergen – selbst mit einer Gruppe von Königlichen Soldaten. Mondon schlief im schwer bewachten Wagen, Yanus musste sich das Zelt mit Seçil teilen, der schnarchte, während der Graf de Liarette ganz darin aufging, sich unbedeutend zu fühlen. Waren die Elfen bei der Invasion auch in die Berge vorgedrungen? Gab es noch Spuren auf diesem Weg zu finden? Wenn er morgens aus dem Zelt kroch, trennten ihn nur wenige Meter vom Abgrund. Dann sah er zu den angepflockten Pferden hinüber, rieb sich mit einem Lappen durchs Gesicht. Inzwischen hatte er sich so sehr in seiner Kleidung eingelebt, dass es war, als habe man sie ihm direkt auf den Leib genäht. Der Staub setzte sich in seine Haut, die zwischen Kopf- und Mundschutz freiliegende Augenpartie war gerötet und mit neuen Knitterfalten umgeben. Das erste Mal in seinem Leben hätte man Yanus für einen Menschen halten können. Zu essen gab es auf Steinen gebackene Fladen, Trockenfleisch und gedörrtes Gemüse, mit Honig zu Kuchen zusammengepresstes Obst, die Pferde wurden mit Gerste verköstigt. Seçil erwies sich als verlässlicher Diener, der selbst in kribbeligen Situationen die Ruhe bewahrte. Der Umstand, dass Yanus jeden Abend wie erschlagen auf sein hartes Lager sank, machte ihm das Leben entschieden leichter. Er hatte keine Kraft, keine Gedanken zu verschenken – noch nie war Elisa so weit von ihm entfernt gewesen. Ihr rotes Haar, ihr blasses, entschlossenes Gesicht … manchmal fühlte er sich verlassen … aber die meiste Zeit über befreit. Mondon schien ihn genau zu beobachten: Yanus hatte sich zu bewähren – immerhin ließ er sich nicht von Sänftenträgern über die Berge schleppen – er war Teil der bewaffneten Eskorte. Wehrhaft, strapazierfähig, ein junger, vom Reiten sehnig gewordener Mann. Wenn Elisa ihn jetzt sehen könnte … vermutlich würde sie ihn nicht mehr erkennen. Oder wahrscheinlich doch. Wie viele einäugige Halblinge gab es, die mit der de liarettschen Expertise zu Pferde saßen? Die Landschaft schien ihn einzusaugen, seit einigen Stunden befanden sie sich auf gleich bleibender Höhe – dies war die letzte Nacht, die sie in den Bergen verbrachten. Morgen begann ihr Abstieg zum Palast. Yanus sah, wie sich die Sonne langsam senkte, das Licht violett wurde, als habe man den Himmel zu fest gequetscht.

Das Boot, das seit einigen Tagen den Fluss hinaufgerudert wurde, war schmal und bot gerade genug Platz für zehn Ruderer und die beiden Gäste, die mit angezogenen Knien an verschiedenen Enden des Gefährtes hockten. Sie gaben sich Mühe, einander zu ignorieren. Geschlafen wurde an Deck, in zu Säcken zusammengenähten Fellen. Es gab nicht viele Kapitäne, die dafür zu haben waren, sich bis Westland durchzuschlagen – selbst unter der Protektion der Gesellschaft des Einhorns. Firusz saß im Nieselregen und sah betont nicht zu Mian na Mar hinüber. Der Löwe war immer noch prachtvoll angezogen – das blonde Haar hatte er zu einem strengen Zopf geflochten – die Tunika war aus gesteppter Seide, der Mantel aus blutroter Wolle, mit Seidenpaspeln geschlossen und mit gelber Borte umnäht. Selbst seine Stiefel glänzten noch. Firusz, am Bug des Bootes, kam sich schäbig vor. Und dabei sollte er doch einen reuigen Sünder nach Westland bringen! Mian war nicht zu Kreuze gekrochen. Hoch erhobenen Hauptes stand er vor Qasimirs Schreibtisch und akzeptierte die Bedingungen. Mian und Firusz hatten bisher noch kein einziges Wort gewechselt. Firusz hasste ihn seit dem ersten Moment: Für die entsetzlichen Tage, die Griças Tod gefolgt waren. Die Stille im Haus. Das Getuschel auf der Blauen Brücke. Griça hatte man in der Kapelle der Einhörner aufgebahrt, mit grauweißer Haut, bedeckt von wachsblauen Blüten, deren schweren Duft Firusz ab jetzt mit dem Tod in Verbindung bringen würde, der ihn Verwesung und Trauer riechen ließ. Die Kerzen, die zu Griças Kopf und Füßen brannten, konnten den Raum nicht erwärmen. Der Gottesdienst für den Westländer war eher kurz ausgefallen. Qasimir hatte geredet und dabei sehr streng ausgesehen – rasch senkte man Griça in die Erde. Mian war nicht dabei gewesen. Firusz vermutete, dass er Angst vor Qarl hatte – sie alle entsetzten sich vor der Heftigkeit, die Qarl in seiner Trauer an den Tag legte. Firusz biss sich auf die Lippen. Er konnte kaum wählen, was schlimmer war: mit Mian nach Westland zu reisen oder wie Morrie bei Qarl zu bleiben. Vielleicht hatte er selbst die leichtere Aufgabe; er, der Qasimirs offizielles Schreiben zu Griças Familie trug, der alles würde erklären müssen. Morrie und Firusz hatten auch geweint – aber niemand im Haus der Einhörner gebärdete sich wie Qarl. Niemand. Firusz wurde immer noch ganz kalt, wenn er an die Stunden dachte, die er nach Griças Tod mit Qarl verbringen musste. Stets waren die Vorhänge geschlossen gewesen, stets meinte Firusz, an Qarl den aufdringlichen Duft der blauen Blüten riechen zu können. Und jetzt sah er Mian na Mar jeden Tag. Seit Griça gestorben war, war Firusz das Familiengefühl noch nicht ganz abhanden gekommen, aber er spürte, dass es nur noch an wenigen Fäden hing, wie ein fast abgerissener Ärmel. Qasimir gestattete ihm kein Schwert. Wie würde es erst sein, wenn er und Mian allein unterwegs waren? Qasimir hatte Firusz ausgewählt, weil er ihm vertraute. Weil er glaubte, dass Firusz nicht in der Lage war, jemanden im Schlaf zu erwürgen. Selbst kein Mitglied einer angesehenen Inspektorenfamilie. Mian na Mar verbrachte nicht eine einzige Nacht im Stadtgefängnis. Sie verhörten ihn und brachten ihn zum Haus der Löwen zurück. Die Königliche Familie blieb einen Kommentar schuldig – vielleicht war ein Westländer ihnen nicht wichtig genug. Qasimir erklärte seinen verbleibenden Schülern, dass Griça nicht das erste Opfer der Eifersüchteleien zwischen den Gesellschaften war. In den vergangenen Jahrhunderten waren 23 junge Männer gestorben – jeder auf ähnliche Weise. Griça war auch nicht das erste Einhorn, das von einem Löwen getötet worden war. Auf den Gewürzinseln hatte es oft Scharmützel gegeben. Eigentlich gab es keinen Grund, sich aufzuregen. Vielleicht war das exakt die Meinung, die das Königshaus vertrat. Firusz sah sich die Landschaft an, die am Boot vorüber glitt. Hügel, Schafe – überall Schafe – Büsche am Ufer, die mit Dolden intensiv riechender Blüten besetzt waren; Firusz bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Mian ihn beobachtete. Sie waren wie zwei Tiere, im jeweils eigenen Käfig. Zwischen ihnen ruderte die stinkende Besatzung, die sicher dachte, dass Firusz und Mian kräftig genug aussahen, um mitzuhelfen. Allein, dass sie einen Teufel beförderten, beschwor den Zorn Gottes und all seiner Engel herauf, da waren sich auch diese Männer sicher. Immer wieder sahen sie nach oben, als erwarteten sie Gewitter und Sturmwinde. Es war noch früh. Was nicht war, konnte noch werden.

Gegen Mittag prasselte Regen ins Boot. An Bug und Heck hatte man zwei Quadrate aus Leintuch aufgespannt – die aufquellenden Fasern schlossen das Gewebe und hielten Firusz gerade so trocken, dass er die Situation noch ertragen konnte. Obwohl er im Besitz der Karten und Papiere war, kam der Kapitän wegen jeder Kleinigkeit zu Mian gedackelt, besprach die Details der Reise nur mit ihm. Firusz musste sich anstrengen, um zu hören zu können, was auf ihn zukam. Wenige Meilen flussaufwärts gab es einen kleinen Handelsposten. Dort würde man für die Nacht anlegen, Proviant aufnehmen und einen Abend lang Bier trinken. Die Mannschaft war es gewohnt, an diesem Posten Station zu machen. Mian legte keinen Einspruch ein. Die Menschen auf diesem Boot hielten zusammen. Firusz zog sich den Mantel bis über die Nase hoch.

Der Handelsposten erwies sich als sauberes Dorf mit weitläufiger Anlegestelle. Die Mannschaft loste zwei Männer aus, die als Wache beim Boot blieben, der Rest trabte über die Planke in Richtung Taverne. Mian und Firusz blieben verwirrt auf dem Steg stehen. Der Kapitän drehte sich zu Mian um. „Seht Euch ein wenig um, mein Herr. Perldorf ist berühmt für seine Schmuckhändler, Kammschnitzer und Spangengießer.“
Mian nickte knapp. Der Kapitän eilte seiner Mannschaft nach. Firusz sah sich um. Aus Holz errichtete Häuser standen so dicht nebeneinander, dass sich die mit Stroh gedeckten Dächer berührten. Schilder über den Türen wiesen die Werkstätten aus. In mit Flechtzäunen begrenzten Gärten wuchs Gemüse, blühten Obstbäume, grasten nasse Ziegen. Firusz hätte Perldorf unter anderen Umständen sicher als Beispiel dörflicher Idylle gesehen – jetzt musste er an Mians Seite bleiben.
„Wie wäre es mit dem Perlendreher?“, fragte der Löwe leise.
Firusz zuckte die Achseln. „Soll mir recht sein.“
Sie traten über einen Steg aus Holzbohlen in die Werkstatt ein. Im Haus des Perlendrehers war es so warm, dass ihre Mäntel zu dampfen begannen. Glasperlen, Bernsteinperlen, Beinperlen, Jadeperlen: Perldorfs Reichtum breitete sich in kleinen Specksteinschalen vor den jungen Männern aus. Der Perlendreher verließ seinen Platz am Feuer, Mians prächtige Aufmachung verriet ihm kaufkräftige Kundschaft. Mian hielt sich erst gar nicht bei den billigen Posten auf. Er hatte sofort die Finger in der Schale mit den größten Augenperlen. Der Perlendreher pries seine Fabrikate an, die mit verschiedenfarbigen, ineinander laufenden Punkten besetzten Augenperlen leuchteten in den schönsten Farben. Mian suchte sich Blaue und Rote heraus, auf seiner Handfläche klickte der kostbare Schmuck aneinander. „Nur nicht so bescheiden“, sagte Firusz bitter.
Jetzt erst sah ihn der Perlendreher richtig an – man sah, wie dem Mann der Schreck ins Gebein fuhr. Er starrte Mian entsetzt an. Mian nickte langsam. Plötzlich tauchte der eher beleibte Handwerker unter den Verkaufstisch und zog einen Strang mit acht grasgrünen Perlen hervor, die mit milchweißen Spiralen besetzt waren. Er verbeugte sich tief und bot Firusz den Strang an.
„Das kann ich mir nicht leisten“, sagte der Halbling kalt.
„Nehmt diese Zeugnisse meiner Kunst als Geschenk – ich bitte Euch.“
Firusz’ Kiefer sackte nach unten. Mian nickte dem schwitzenden Mann wieder zu. „Du wirst sicher nicht vergessen werden“, sagte er mit bedeutungsvoller Miene.

Firusz sah auf die acht Perlen in seiner Hand. „Was war das denn?“, fragte er wütend.
Mian schob ihn auf die Straße. Er selbst hatte zum Vorzugspreis gekauft und schien zufrieden. „Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Aberglauben noch existiert. Früher war es Brauch, dass jeder Händler eine Probe seines Könnens bereithielt, um sich den kontrollierenden Teufeln zu empfehlen.“
„Kontrollierende Teufel?“
„In früheren Zeiten hatte stets ein Teufel die Hoheit über einen Handelsplatz. Bestechung und Vetternwirtschaft: Die Händler, die sich gut mit dem Herrn stellten, hatten große Vorteile. Es hat sich als lohnend erwiesen, etwas bereit zu halten, nur für alle Fälle. Perldorf ist wohl ein recht traditionelles Pflaster.“
„Ich bin verwirrt.“
Mian lächelte das erste Mal, seit sie sich kannten. Firusz war so überrumpelt, dass er das Lächeln erwiderte; er ahnte, was nun kam.
„Ich finde, wir sollten den Pelzhändler aufsuchen“, sagte Mian. „Und den Schnallenmacher.“

Die zahlenden Gäste langten als erste beim Steg an. Firusz trug den Perlenstrang bei sich, eine neue Mantelschließe, ein Silberfuchsfell und leuchtend rot gefärbte Beinwickel. Mian war ebenfalls mit Einkäufen beladen. Die Bootswachen empfingen sie mit neidischen Blicken – das erste Mal setzten sich die jungen Männer gemeinsam unter eine Leinenplane. Firusz strich über den Fuchspelz. „Das war tatsächlich eine Überraschung“, sagte er. „Es war das erste Mal, dass man mir in Wittland mit Achtung begegnet ist.“
„Verwechsle Achtung nicht mit Furcht.“
„Immerhin hat niemand versucht, mich rauszuwerfen.“
Mian zuckte die Achseln. Unangenehme Stille machte sich breit. Firusz starrte zu Boden. Mian starrte zu Boden.
„Warum hast du nicht gesagt, dass es dir Leid tut?“, fragte Firusz frostig.
Mian schob den Unterkiefer vor. „Ich werde es den Menschen sagen, die es etwas angeht. Der Familie des Mannes, den ich getötet habe. Es gibt nichts Entsetzlicheres als einen freien wittländischen Mann unter einen Bann zu stellen. Es ist eine sehr altmodische Art der Bestrafung – dein Erstes Einhorn hat mit dieser Entscheidung viel Aufsehen verursacht.“
„Der Bann interessiert mich nicht.“ Firusz knirschte mit den Zähnen.
„Er wird dich interessieren, sobald die Verwandten des Mannes, den ich tötete, ihre Forderungen stellen. Ich rechne damit, in Westland zu sterben.“
Firusz runzelte die Stirn. „Du meinst – sie werden dein Leben für seines fordern?“
Mian hob die blonden Brauen. „Ich werde mich der Verantwortung nicht entziehen.“
Firusz’ Hass wurde der Wind aus den Segeln genommen. Er sah den jungen Löwen betroffen an. Mians straff nach hinten gekämmtes Haar war mit Regentropfen besetzt, sein so unverschämt schönes Gesicht wirkte müde. Firusz schluckte schwer. Mian na Mar würde in Westland sterben. Er war bereit, für Griça zu sterben. Er war ein schon jetzt mit dem Tode gezeichneter Mann …
Mian lächelte wieder. „Für jemanden, der den Tod erwartet, gibt es wahrscheinlich keinen besseren Begleiter als einen Teufel.“

Qasimir na Qes rührte genervt seinen Kräutertee um. Es ergab keinen Sinn, den Unterricht mit zwei Schülern fortzusetzen, trotzdem nahm das Erste Einhorn dieses Wagnis auf sich. Jeden Tag sah er in die bleichen, unkonzentrierten Gesichter seiner Schüler. Er hatte es ihnen zur Aufgabe gemacht, die Hausarbeit des Teufels zu lesen. Qarl und Calmorran taten sich mit Firusz’ wütendem Stil schwer – vor allem, da dieses Schriftstück indirekt für Griças Tod verantwortlich war. Aber nicht nur das. Firusz’ Abwesenheit wurde kaschiert – sie sprachen über traditionelle Vorurteile über Teufel – ausführlich. Qasimir sah, dass Qarl zunächst gar nichts aß, dann aber wieder zuviel. Qarl begann zu trinken. Erst am letzten Abend hatten die Hausburschen ihn aus dem Hungrigen Einhorn gezerrt. Qasimir hatte ihn an diesem Morgen zu sich bestellt, aber sein kleiner Bruder ließ auf sich warten.
Der Tee war heute ungewohnt bitter – Qasimir versenkte einen weiteren Löffel Honig in der Tasse. Als er endlich die Schritte seines Bruders hörte, war der Teetopf fast leer.
„Schön, dass du dich an mich erinnerst.“
Qarl ließ sich in den Sessel fallen. „Es ist noch früh.“
„Ist es nicht. Qarl – wir beide wissen, dass Arkos na Anbar nicht der geeignete Umgang für dich ist.“
Qarl rieb sich die verquollenen Augen. „Arkos spendiert gern. Es gibt keine bessere Gesellschaft.“
Qasimir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein kleiner Bruder stank nach Bier und Rauchfleisch. „Du machst unserer Familie nicht sehr große Ehre.“
Qarl starrte ihn an. „Haben wir beide uns jemals um die Ehre unserer Sippe geschert?“
Qasimir seufzte. „Qarl – es gibt in unserer Familie nicht nur ehrenhafte, vom Königshaus geschätzte Mitglieder. Es gab viele, die sich in der Versenkung wohler fühlten: Viele sind am unmäßigen Trinken zu Grunde gegangen. Gewiss hatten sie alle gute Entschuldigungen.“
Qarl war noch blasser geworden. „Entschuldigungen?“
„Nimm es mir nicht übel – auch ich vermisse Griça. Aber du fängst an, mir unheimlich zu werden.“
„Griça war mein bester Freund“, sagte Qarl kalt. „Willst du mir verbieten, um ihn zu trauern? Ich weiß – für dich war er nur ein Westländer. Gut genug, um die Gesellschaft des Einhorns zu profilieren. Für mich war er ein besonderer Mensch. Ich habe meine Tage mit ihm verbracht. Und die Nächte. Du hättest mir einen anderen Zimmergenossen geben sollen, Bruder.“
„Ich hatte keine große Auswahl. Hätte ich dich mit dem Teufel zusammensperren sollen? Wenn Calmorran dein Zimmergenosse geworden wäre, hätten Teufel und Westländer zusammenwohnen müssen – eine sehr gefährliche Mischung. Es konnte nur Griça sein.“
„Einzelzimmer wären eine Lösung gewesen, Bruder.“
Qasimir lächelte gequält. „Jetzt ist es meine Schuld, ja?“
Qarl sah ihn ruhig an. „Du verstehst mich schon. Arkos na Anbar ist ebenso sehr ein schwarzes Schaf in seiner Familie wie ich in meiner. Vielleicht gehöre ich in seine Gesellschaft.“
„Du gehörst nirgendwohin – nirgendwohin außerhalb dieses Hauses. Soll ich dir Tee kommen lassen, Qarl.“
„Ja, bitte.“
Qasimir stand auf, streckte den Kopf aus der Tür und brüllte nach einem Hausburschen. Als er sich wieder umdrehte, war Qarl zusammengesackt – sein Haar hatte er schon lange nicht mehr gewaschen, es ringelte sich schwer und fettig glänzend über seine Hände. Qasimir wurde von seinem eigenen Mitleid überrascht. Er ging auf seinen kleinen Bruder zu. Als er ihm die Hände auf die Schultern legte, stieß Qarl ein merkwürdiges Ächzen aus. Qasimir strich über seinen speckigen Kopf. „Es tut mir Leid, Qarl. Ich wollte das nicht. Ich habe dich unterschätzt, kleiner Bruder. Ich dachte nicht, dass du dich so offen zeigen würdest. Unsere Familie ist sonst nicht sehr aufgeschlossen, nicht wahr?“
Qarl atmete tief durch. Er dachte an die zahlreichen Onkel, die wie ein Krähenschwarm über alles wachten, was die Familie betraf. Qasimir löste sich von ihm. „Ich glaube, dein Tee kommt.“
Tatsächlich: Der Hausbursche brachte einen dampfenden Tontopf und eine weitere Tasse. Qasimir schenkte seinem Bruder ein, gab zwei Löffel Honig dazu. „Hier.“
Qarl bedankte sich nicht. „Werden die Westländer Mian na Mar töten?“, fragte er.
Qasimir zuckte die Achseln. „Wer braucht schon noch einen Königlichen Inspektor?“

In Seestadt blühten jetzt die Rosen. Im warmen Regen bewegten sich die weichen Blütenblätter in den Stadtgärten, schüttelten einen fruchtigen Duft frei. Morrie und Qarl saßen unter der vorspringenden Galerie und lasen in ihren Schulbüchern. Morrie wirkte unkonzentriert. „Was glaubst du, wie es Firusz geht?“, fragte er. „Mit einem Mörder auf dem Weg nach Westland. Ich würde mich zu Tode grausen.“
Qarl nickte abwesend.
„Ich wünschte, wir hätten mitkommen dürfen“, sagte Morrie und biss in eine trockene Scheibe Brot.
Qarl wandte sich ab – starrte in die Schatten unter der Galerie. „Halt die Klappe, Morrie.“
Morrie machte sich nichts aus dem beleidigenden Tonfall. Er kaute. „Würdest du nicht gern Westland sehen? Es muss großartig sein. Die weiten Grassteppen des Westens, die Birkenwälder … traditionelle Lebensweisen der Barbaren selbst leben dürfen …“
„Morrie … Schnauze.“
„Würdest du denn nicht gern Griças Familie kennen lernen?“
Qarl knallte sein Buch auf den Tisch. „Und was soll ich ihnen bitte erzählen?“
„Dass du Griças bester Freund warst und mehr über ihn erfahren möchtest. Zum Beispiel.“
Qarl presste die Handballen in die Augenhöhlen. „Firusz wird uns davon erzählen.“
„Er wird sich nicht an alles erinnern, das weißt du.“
„Es nützt uns doch nichts“, knirschte Qarl.
„Ich sag ja nur“, schloss Morrie lahm.

Der Abstieg zum Königlichen Palast war langwieriger als erwartet – die Straßen waren schlammig – aber immerhin wurde der Regen langsam wärmer. Yanus war überzeugt, die Reise allein schneller bewältigen zu können; sein Hengst hatte sich als genügsam, ausdauernd und trittsicher erwiesen und sicher hätte er auch die schwierigen Straßen in annehmbarer Geschwindigkeit hinter sich gebracht. Der Karren hielt sie alle auf, aber die Aussicht wurde grüner, saftiger, selbst unter schweren grauen Wolken schien stets ein heller Streifen Himmel zu wabern. In der Ferne gab es Rechtecke von zartem Rosa – Wittlands Obstgärten. Sie kamen gerade richtig, sagte der Jüngste Prinz. Die Schönheit der Königlichen Gärten … Yanus wurde langsam ungeduldig mit diesem Exemplar der Königlichen Familie. Natürlich war Mondon entsetzlich verwöhnt – bis jetzt hatte Yanus fünf Mal die Latrinen gegraben und fühlte sich ungerecht behandelt. Spannung begann sich aufzubauen – immer, wenn Yanus sich die nasse Mütze aus dem Gesicht schob und Mondon in der trockenen Kutsche sitzen sah, ärgerte er sich. Die Unannehmlichkeiten der Reise wogen die Aussicht auf einen Aufenthalt im Palast bei weitem auf. Die Reisegesellschaft schien sich über das Land zu tasten, wie die Hand eines unbeholfenen Liebhabers über das Fleisch einer ungeduldigen Frau. Und Yanus hatte das Gefühl, dass das Land auf seine Berührung reagierte. Er wünschte sich, es allein durchstreifen zu dürfen. Er hätte sich an den fernen blühenden Bäumen erfreuen können, wenn er nur allein gewesen wäre, ganz sicher.
„Du siehst muffig aus“, stellte Mondon fest.
„Wie soll ich denn aussehen?“, grummelte Yanus. „Seit Tagen regnet es mir in den Nacken.“
„Du wirst belohnt werden“, versprach der Jüngste Prinz. „Du wirst nicht nur das berühmteste Bauwerk dieses Landes sehen – du wirst auch Kundschaft gewinnen.“
„Wie das?“
„Wenn bekannt wird, dass du die Reise zum Palast auf deinem Wunderhengst gemacht hast, wird dein Pferd jeden Tag auf eine Stute steigen.“
„Ich denke, damit kommt er zurecht.“ Yanus wollte sich noch nicht aufmuntern lassen. Er schnippte sich das Wasser von der Nasenspitze.
Mondon lächelte. „Bald wirst du jeglichen erdenkbaren Luxus genießen. Nur noch wenige Tage liegen vor uns.“
„Versprochen?“
Mondon nickte. „Versprochen.“

Es war der letzte Tag an Bord des Bootes. Firusz war zappelig und bildete sich ein, auch Mian ungeduldiger werden zu sehen. Qasimir hatte Pferde bestellt. Firusz, aus einer für ihre Zuchterfolge berühmten Familie, konnte es kaum erwarten, den Wind im Rücken zu spüren, sich mit ihm zu bewegen. Um die Ufer raschelte das Gras, das Boot glitt immer wieder durch ausladende Teppiche von Wasserpflanzen, die die Fahrt hemmten. Die Ruderer hatten hochrote Gesichter – hin und wieder grasten Rinder oder Schafe am Wasser, rissen die Mäuler hoch und trotteten halbherzig ein paar Meter, bevor sie sich dazu entschlossen, sich nicht von dem langsamen Gefährt beeindrucken zu lassen. Die vereinzelten Häuser am Fluss wirkten idyllisch – Hecken wilder Rosen, Brombeeren und Schlehen zogen sich um die Gebäude – manchmal sahen sie Frauen mit Kopftüchern, die Weiden nach getrocknetem Kot absuchten, Gemüsegärten bestellten, Ziegen molken. Es roch süß – nach Wildblumen und Sahne – Firusz krallte die Hände in die Reling. Bald saß er wieder zu Pferde.
Am späten Nachmittag erreichten sie die letzte Ortschaft unterhalb des Quellgebietes. Dieser Handelsposten sah aus wie all die anderen, doch die Häuser wirkten niedriger, beinahe geduckt. „Man hat sie in die Erde gebaut“, sagte Mian. „Man sagt, in Westland gäbe es gar keine Häuser mehr – aber hier errichtet man traditionell Erdhäuser.“
Firusz war jetzt dankbar, dass er jemanden bei sich hatte, er mit ihm sprach, ihm etwas erklären konnte. „Es muss einen Stall geben“, sagte er.
Mian nickte. „Wir werden fragen.“
Zu Firusz’ Genugtuung hatte Mian ein wenig gelitten. Er war genauso schmutzig wie alle anderen, das blonde Haar war fettig und wirkte dunkler, seine Fingernägel hatten schwarze Ränder, um den Kragen glänzte der Stoff seiner Tunika. Firusz’ genoss es, ihn so abgerieben zu sehen. Wenn er sich morgens das Gesicht im Wasser des Flusses wusch, biss ihn die Kälte noch immer … „Wird es in Westland kälter sein als hier?“, fragte er.
Mian zuckte die Achseln. „Es kann nicht schaden, sich einen zusätzlichen Mantel zu besorgen.“
Firusz befürchtete einen neuen Zug durch die Werkstätten der ortsansässigen Handwerker. Sie gingen von Bord, verabschiedeten sich von Kapitän und Rudermannschaft. In dieser Ortschaft standen die Häuser nicht gar so eng beisammen – Schweine lagen in der Sonne und stellten ein seliges Lächeln zur Schau. Mägde standen vor den Häusern, wisperten hinter vorgehaltener Hand. Als die beiden jungen Männer vorbeischritten, drehten sich die Frauen um, starrten ihnen nach. Die Schutzkleidung, die die Besucher trugen, verbarg Firusz’ Volkszugehörigkeit immerhin so lange, bis man ihm ins Gesicht sah. Hier wurden sie angestarrt, weil nicht häufig Fremde kamen, die attraktiv genug waren, um ein paar Tagträume zu speisen. In diesem Landstrich schienen die Männer eher klein und dunkelhaarig zu geraten.
Mian ließ sich nicht beeindrucken. Er balancierte über die Stege, bis sie ein Haus fanden, das so etwas wie ein Tavernenschild besaß: Ein grünes, mit Tang behängtes Wesen hielt einen Humpen hoch. „Der Bestochene Wassermann“, sagte Mian. „Klingt doch vielversprechend.“
Die Innenräume waren grün gestrichen, an den Wänden allerlei Kuriositäten ausgestellt, die der Fluss dem Ort beschert hatte: brettharte Schuhe, ein unleserlich gewaschenes Buch, halbe Kisten … das Bier schmeckte genauso wie in Seestadt: schwer und süß. Firusz hatte Durst und trank etwas zu hastig. Während er sich an der Tischkante festhielt, fragte Mian den Wirt aus.
„Es gibt tatsächlich einen Leihstall“, sagte er schließlich. „Am Ortsrand. Qasimir na Qes hat dir einen Freibrief mitgegeben, nicht wahr?“
Firusz nickte konzentriert.
„Dann klären wir erst die Pferdefrage und suchen uns dann ein Lager für die Nacht.“
Firusz war dankbar, dass Mian die Initiative übernahm. „Alles ist besser als eine weitere Nacht in einem schimmeligen Fellsack.“


II



Der Königliche Palast von Wittland war eine Anlage von insgesamt 42 Häusern, 17 Innenhöfen, vier Tempeln, zwölf Gärten, zwei Kanälen, 27 künstlichen Teichen und Tümpeln, drei Dutzend Gartengebäuden, einem Wasserfall, ungezählten Obstwiesen und Reitbahnen. Die Wohngebäude hatten nur jeweils ein Geschoss – die Dächer waren mit blau glasierten Ziegeln gedeckt und sahen aus als hätten sie Zipfel: an den Dachecken hingen Rohhautlaternen oder aus Blech gefertigte Klappern, die meist die Form einer Motte hatten. Alle Häuser besaßen Veranden, deren Brüstungen aus Weidengeflecht bestanden – Reihen kleiner Hängelampen bildeten Lichtstraßen vor den Türen. Die Fenster waren ebenfalls mit Rohhaut verschlossen – Schiebetüren mit Blüten, Vögeln und Kaninchen bemalt, Seidenvorhänge flatterten in den Hof, von der Sonne gebleicht. In Kübeln blühten frühe Rosen und getrimmte Kirschbäume. Die Höfe, die die Gesellschaft durchritt, waren unirdisch sauber – hin und wieder sah man Putzkolonnen, die mit Besen über die Verbindungswege trabten. Yanus hoffte inständig, dass sein Hengst keinen Haufen fallen ließ. Der Anführer der Männer, die ihnen Geleitschutz gaben, brachte ihre kleine Karawane sicher durch das Labyrinth; Wächter in leuchtend gelben Tuniken standen an jeder Ecke, einmal wäre ein kleiner gelb gekleideter Junge beinahe in Mondons Karren hineingerannt. Offenbar hatte er im Inneren Ring Bescheid gesagt, denn als Yanus auf den Paradeplatz ritt, stand das Begrüßungskommando artig aufgereiht vor der Großen Treppe. Die Hofdamen sahen aus wie Hütchen aus Seidenpapier, weder ihre Hände noch die Füße waren sichtbar. Die Haare trugen sie aufgetürmt oder bis zu den Kniekehlen fallend. Offenbar war in dieser Saison ausgefallene Schminke gefragt: Yanus fühlte sich an Schmetterlinge erinnert, die ihn im Vorbeifliegen musterten. Unter einem tragbaren Baldachin aus sonnenfarbener Seide saß ein Mann mit einem schmalen, topasbesetzten Silberreif auf der Stirn. Er war gerade so alt, dass Yanus ihm glaubte, Mondons Vater zu sein. Das lange, gerade gekämmte Haar hatte nur wenige graue Strähnen, Hosen, Unter- und Obertuniken waren in allen möglichen Rotschattierungen gefärbt, nur das zweitoberste der Gewänder war von einem so leuchtenden Blau, dass Yanus sofort neidisch war. Auf die oberste Weste waren Pflaumenblüten gestickt, sie reichte beinahe bis auf die Lederschläppchen und wurde leicht vom Wind bewegt. Plötzlich fühlte Yanus sich verkleidet. Er kam kaum von seinem Pferd, seine Knie zitterten. Mondon stieg aus dem Karren – über den üblichen schwarzen Hosen trug er jetzt ebenfalls eine lange Weste in aufdringlichem Orange mit Margeritenmuster und rot abgesetzten Säumen. Er sah frisch gewaschen und geplättet aus, selbst seine Stiefel waren sauber. Mondon hatte sich Kleider aufgespart, Yanus dagegen sah aus wie eine Gletscherleiche. Der König von Wittland empfing seinen jüngsten Sohn mit großmütiger Kopfbewegung; sie drückten einander die Hände und die Hofdamen seufzten im Chor. Der Gast wurde nach dem Jüngsten Prinz in Empfang genommen, begutachtet und ausgiebig betuschelt. Yanus brach der Schweiß aus. Sollte er sich verbeugen, einfach nur verkrampft lächeln? Mondon sah ihn auffordernd an. Yanus probierte es mit einer Verbeugung. Es kam gut an – offenbar fand man seine Unbeholfenheit charmant – die Damen giggelten hinter ihren Ärmeln. Die Pferde und der Karren wurden weggebracht. Yanus sah sich sehnsüchtig nach seinem Hengst um. Feiner Staub löste sich vom Hof als die Gesellschaft in Richtung Hauptgebäude schritt.

Die Terrasse, auf der man sich nach einem nervenaufreibenden Gang durch mehrere Teile des Baus niederließ, ragte mitten in einen kleinen, intim wirkenden Garten hinein. Nadelhölzer und niedrige Bäume mit langen Blättern schlossen das Gelände nach drei Seiten hin ab; ein künstlicher Bach plätscherte unter Brücken aus Bruchstein, im Wasser ließen sich Vögel zum Baden nieder. In Kästen wuchsen grazile Blumen, durchschnitten den Garten mit ihren langstieligen Blüten wie lebendige Zäune. Auf einem Tisch standen erlesene Leckereien bereit: Tee, Gebäck und klebrig aussehende Süßigkeiten. Man setzte sich auf winzige Hocker. Die Damen blieben in einer merkwürdigen Aufstellung stehen – als hätten sie vor, in wenigen Augenblicken zu tanzen. Mondon begann auszuschenken – übernahm der Jüngste Prinz bei allen Mahlzeiten diese Rolle? Der König von Wittland saß mit durchgedrücktem Rücken da, trank eine Schale Tee nach der anderen. Das Schweigen, das über der Terrasse lag, war nicht etwa ungemütlich, sondern feierlich. Yanus begriff, dass sie hier waren, um den Garten zu bewundern – jeder still für sich selbst. Sobald er dies verstanden hatte, begann er sich zu entspannen. Er musste schwarz um die Nase sein und nach Pferd stinken, aber es wurde doch Kultur von ihm erwartet; man traute ihm zu, sich am Anblick von Pflanzen zu erfreuen. Yanus versank in der Betrachtung feuchter Steine und der zarten Farben der schwankenden Blüten.
Als Mondon ihn schließlich ansprach, erschrak er so sehr, dass er beinahe die Schale hätte fallen lassen. „Gefällt es dir?“
„Es ist wunderschön“, sagte Yanus leise. „Solche Gärten kennt man in den Kolonien nicht.“
Der König lächelte. „Es freut mich, dass unsere Gartenkunst auch bei weitgereisten Männern solchen Anklang findet.“ Er gab ein Zeichen mit der linken Hand. Sofort setzten sich die Damen in Bewegung, traten in den Garten hinaus. Zu den Geräuschen des Baches begannen sie nun wirklich zu tanzen: der Wind, der in ihre Kleider fuhr, ließ sie rascheln, legte eine Vielzahl von bunten Schichten frei, verborgene Stickereien und aus Perlen geformte Blüten.
Mondon grinste Yanus hinter der Teekanne an. „Habe ich dir zuviel versprochen?“
Yanus wurde rot. „Nein.“

Nach dem Tanz erhielt Yanus die Erlaubnis, sich umzuziehen und für die Abendveranstaltungen zu reinigen. Ein Palastdiener brachte ihn in den ältesten Teil der Gästequartiere. Nachdem sie wieder einige Zwischenhöfe passiert hatten, fand Yanus sich vor einem niedrigen Tor aus Weidenholz wieder. Dahinter erstreckte sich ein größerer Garten. Mit Kies bestreute Wege führten umständlich zu einem aufgeschütteten Hügel, auf dem ein kleines Haus stand, mit Holzschindeldach und einem eigens durch niedrige Zäune abgetrennten Garten, in dem eine Vielzahl verschiedenfarbiger frühblühender Rosen wuchs. Im Großen Garten verstreut standen die berühmten blühenden Obstbäume und verströmten einen irritierenden Duft nach Marzipan. „Was ist das?“, fragte Yanus erstaunt.
„Euer Haus“, sagte der Diener erstaunt. „Sagt es Euch nicht zu?“
„Ich bekomme ein Haus?!“
„Seht es Euch wenigstens an, bevor Ihr es ablehnt“, sagte der Diener unglücklich.
„Ich habe keinesfalls vor, irgendetwas abzulehnen“, wehrte Yanus ab. Das Weidentor quietschte beim Offnen. Seçil trat auf die schmale Terrasse seines Quartiers und winkte, wenig zeremoniell.
„Euer Bursche hat bereits das Gepäck ins Haus gebracht und die Räume für Euch hergerichtet.“
Yanus verbeugte sich und betrat den Garten.

Das Haus bestand aus zwei Zimmern mit Holzfußboden, ließ sich aber durch das Verschieben von Zwischenwänden weiter unterteilen. Ein niedriges Bett und ein Schreibtisch standen Yanus zur Verfügung, Regale an den Wänden waren mit Geschirr, Teezubehör und Bettdecken gefüllt. Seçil würde im kleineren Zimmer schlafen – die Feuerstelle befand sich im Hauptraum. Die mit Rohhaut vernagelten Fenster waren erstaunlich groß, in einer Ecke des Raumes stand ein mit Rosenblüten gefüllter Wasserkrug.
„Es ist schön, nicht wahr?“, fragte Seçil.
Yanus nickte schwach. „Eine ganz andere Welt.“
„Jetzt wisst Ihr, warum Wittländer so merkwürdig sind“, sagte sein Diener und begann die Kleider zurechtzulegen, die er seinem Herrn für den Abend empfahl.

Yanus fühlte sich, als sei er an einem kühlen Tag unter den Zweigen eines Baumes eingeschlafen und fände sich nun in jener Art Traum wieder, die man im ersten Moment noch zu durchblicken meint. Das Leben in Seestadt, die Häuser, Tavernen, Gassen – all das hatte sich nicht wesentlich von den Kolonien unterschieden. Wie mochten sich die Höflinge fühlen, die den Palast verließen? Ihm war, als befände er sich in einem Gemälde – und sicher war dies ein Gemälde, das nur dank strikter Regularien existierte. Selbst Mondon, der ihm wie der einzige klar umrissene Punkt in diesem Netzwerk aus Farben, Gerüchen und taktilen Eindrücken erschien, stand ihm nun nicht länger zur Seite. Mit dem kleinen Haus in den Königlichen Anlagen kam ihm sicher ein großes Privileg zu … Seçil half ihm beim Ankleiden, schnürte seinen Herrn so fest in Seide und gefälteltes Leinen, dass Yanus sich vorkam wie ein Säugling, der seiner Mutter auf den Bauch gebunden wird. „Willst du mit mir kommen?“, fragte er leise.
Seçil kratzte sich unter den blonden Locken. „Ich habe das Haus in Ordnung zu halten. Außerdem nimmt man seine Bediensteten nicht mit zu den Gartenfesten.“
„Aber was bitte soll ich tun? Was wird von einem Gast aus einem fernen Land erwartet?“
„Dass er still sitzt und sich unterhalten lässt. Sicher hat man Tänze geplant.“
„Bei denen ich mitmachen muss?“, fragte Yanus entsetzt.
„Ihr könntet mir erst einmal zuhören“, seufzte sein Diener. „Männer tanzen im Allgemeinen nicht bei Hofe. Ihr habt nicht sehr viel zu tun. Vielleicht müsst Ihr Euch ein wenig Poesie anhören. Ihr werdet erlesene Speisen essen, erlesene Getränke genießen, exotisch aussehen. Das ist wirklich nicht sehr schwer. Hinsetzen.“
Yanus gehorchte. Als er Seçil zum Kamm greifen sah, schwante ihm Übles. Ohne auf das Gejaule seines Herrn zu achten, schrubbte Seçil ihm alle Rattennester vom Kopf, massierte ein süß riechendes Öl ins Haar. Die Frisur, die Seçil ihm mit Hilfe von schmalen Holzstäbchen zusammensteckte, hätte eine Hofdame in den Kolonien vor Neid erblassen lassen. „Was ist das?“
„Eine traditionelle Frisur.“
„Wenn ich der Einzige bin, der so was trägt, komme ich auf der Stelle zurück gerannt und ertränke dich in unserem Privatteich.“
Seçil verdrehte die Augen, kontrollierte den Sitz der einzelnen Zöpfe, hielt Yanus den Spiegel hin. Der Mann, der ihm entgegenblickte, sah unglaublich fremd aus. Als sehe Yanus im Traum in ein stehendes Gewässer und erlebe ein vertrautes Gefühl beim Anblick seiner eigenen Person. Er war so blass, dass man die Adern in den Schläfen sehen konnte: feine, feigenblaue Wasserläufe. Das übrig gebliebene Auge hatte die gleiche Farbe – das fehlende bestand aus einer silbrig leuchtenden Narbe. Die Nase war schmaler geworden, der Mund auch, das ganze Gesicht glatter und undurchdringlich. Die fremden kantigen Gesichtszüge der Elfen fanden sich in diesem asymmetrischen Antlitz verwässert. Die Schönheit seines Volkes hatte sich zu einer angenehmeren Regelmäßigkeit gemildert – die Brauen hatten eine extremere Form, das Gesicht wirkte dreieckiger als bei reinblütigen Menschen. Yanus fand diesen Mann auf beunruhigende Weise gut aussehend, trotz der vernarbten Augenhöhle. Die hibiskusrote Seidentunika mit den unbequem langen Ärmeln, bestickt mit Rosen und schwarzen Schwänen, die voluminösen Hosen … der Stehkragen schnitt ihm in den Nacken. Seçil band ihm einen gelben Schal um. „Ein Diener wird am Gartentor auf Euch warten“, sagte er. „Viel Spaß.“

Der niedrige Tisch bog sich unter den attraktiv angerichteten Speisen. Musiker und Tänzerinnen hielten sich bereit. Yanus hatte gehofft, neben Mondon sitzen zu können, aber man hatte ihm eine der Hofdamen zugeteilt, die ähnlich frisiert war wie er selbst und ihm Häppchen, Tee und Wein reichte. Ihr Lächeln war so kalt wie ihre Hände, vermutlich hatte sie den kürzesten Strohhalm gezogen und kam nun widerwillig ihren Pflichten nach. Mondon saß ihm gegenüber und beobachtete das Unbehagen seines Gastes. „Du schlägst dich gut“, sagte er, nachdem der erste Hunger gesättigt war.
„Und was passiert jetzt?“, fragte Yanus nervös.
„Poesie. Musik. Tanz. Noch mehr Essen. Vielleicht ein Theaterstück.“
„Meine Beine schlafen ein.“
Mondon prostete ihm zu. „Morgen kannst du dich ausruhen. Die Festivitäten bei Hofe folgen einem festen Rhythmus. Einen Tag gibt man sich der Geselligkeit hin, am nächsten sucht man die Einsamkeit in seinem Privatquartier.“
„Deshalb ist die Anlage so weitläufig?“ Yanus nahm einen aus gedünsteter Hirse und Salat gewickelten Happen von seiner Nachbarin an.
Mondon bekam einen Löffel gesottenen Fisch gereicht. Er kaute und nickte. „Du solltest deinen Leibdiener in die Palastbibliothek schicken, um dir die Ruhetage zu versüßen. Die stillen Tage können recht lang werden. Es sei denn, du triffst Verabredungen mit einer Palastschönheit.“
Yanus warf seiner Tischdame einen spöttischen Blick zu. „Ich kann mir die Jubelstürme schon vorstellen.“

Unter all den Getränken, die ihm an diesem Abend gereicht wurden, war eines, das Yanus besonders rasch zu Kopf stieg. Er fühlte sich leicht und ergab sich seinem Schicksal. Der König von Wittland saß immer noch sehr weit von ihm entfernt, sie hatten mehrere Dichter über sich ergehen lassen, mit aufziehender Dunkelheit wurden immer mehr Lichter im Garten entzündet, bis ein ganzer Teil hell erleuchtet war: eine Bühne für die Tänze, die Yanus bereits sehnsüchtig erwartete. Konversation zu treiben hatte sich als unmöglich erwiesen. Alle anderen unterhielten sich lebhaft, nur seine Tischdame schwieg beharrlich. Außerdem hatte er Kopfschmerzen. Vielleicht hatte er das Essen nicht vertragen … als die ersten Klänge der traditionellen wittländischen Musik in den Garten wehten, ließ Yanus sich zurücksinken. Das hier sollte eine Belohnung sein?

Sicher gab es verlockendere Szenerien als diese. Zugegeben – die Landschaft, in der sie sich befanden, war berückend schön: weitläufig, saftig grün und voller blühender Büsche. Immer wieder gab es Senken, die sie sich zum Übernachten herrichteten. Zwischen Pflöcke gespannte Seile und eine Plane aus Leinstoff bildeten ihr kleines Zelt, um das die geliehenen Pferde grasten. Obwohl nun Sommer war, kühlte der übers Land fegende Wind die jungen Männer aus. Manchmal war es kaum möglich, ein Kochfeuer zu entzünden. Theoretisch wechselten sich Mian und Firusz mit der Wache ab, aber meist schliefen sie beide ein und wachten morgens eng zusammengerollt auf, hungrig und mit pelziger Zunge. An diesem Morgen fiel Firusz als erstes ein spezieller Geruch auf: blühendes Gras. Er hob den Kopf aus der Senke, streifte den Mantel von den Schultern. Die Pferde waren noch da – das war das Wichtigste. Die Tiere gehörten einer alten wittländischen Rasse an, waren klein, kräftig und puschlig – ihre Zäume und Satteldecken waren mit mysteriösen Symbolen bestickt – alles reichlich abgeritten. Die Pferde schienen heute unruhig, vielleicht war es der Geruch: süß, aber ranzig. Firusz sprang auf und pinkelte in den nächstgelegenen Strauch. Die Pferde sahen zu ihm hinüber, näherten sich ihm soweit es ihre Pflöcke zuließen. Firusz sammelte sie ein, brachte sie zum Zelt. Inzwischen hatte sich auch Mian aus seinem Mantel gepellt. „Morgen.“
„Morgen. Du bist eingeschlafen.“
Mian zuckte die Achseln. „Es ist alles in Ordnung, oder?“
Firusz nickte langsam, griff dann nach dem Proviantbeutel. Das Trockenfleisch schmeckte eigentlich ganz gut, wenn Mian zu kochen versuchte, sah das Ergebnis wesentlich schlimmer aus. Sie hatten sich aneinander gewöhnt. Sie aßen zusammen, schliefen Rücken an Rücken, ritten nebeneinander her. Die Landkarten, die sie bei sich trugen, waren einigermaßen verlässlich; Westland rückte von Tag zu Tag näher. Mian schien sein ungewisses Schicksal erfolgreich zu verdrängen, Firusz hingegen fühlte sich verspannt und überreizt. Würde er zusehen müssen, wie Griças Verwandte seinen Reisegefährten hinrichteten? Würde er überhaupt zusehen können? So sehr ihn der Gedanke an Griça schmerzte, wer sagte denn, dass er selbst nicht fähig war, einen Mann im Affekt zu töten? Nach dem Frühstück bauten sie das Nachtlager ab, luden alles auf die Pferde und saßen auf. Am Horizont knäuelten sich dunkle Wolken, der Wind wurde stärker. Zum Aufwärmen trieben sie die Pferde im raschen Schritt über das kurzgefressene Gras. Es dauerte nicht lange, bis sie zum Trab, dann in Galopp wechselten. Firusz genoss es, über das Land zu fegen, fast wie Zuhause … als er mit seinem Vater ausgeritten war, Stunde um Stunde, um die Belastbarkeit der Tiere zu testen, ihr Gangwerk zu bewerten. Damals hatte er nicht geglaubt, dass dieses Gefühl von Freiheit je hätte mit Bitternis gemischt werden können. Natürlich hatte er damals beim letzten Ausritt Wehmut empfunden, als er noch nicht ahnte, was ihn in Wittland erwartete. Er hatte Griça, Morrie und Qarl nicht vorausgesehen. Und die ganze Löwen-und-Einhörner-Problematik … der erste Regenschauer fuhr ihnen in die Kleider, die Pferde senkten die Köpfe.

Mittags machten sie an einem schmalen Bachlauf Rast. Es regnete immer noch – alles schien düster und bedrückend. Westland beschäftigte Firusz’ Gedanken. „Glaubst du, sie essen rohes Schaffleisch?“
Mians Stirn bekam senkrechte Falten. „Ich möchte nicht über Westland sprechen, kannst du das verstehen?“
„Aber in wenigen Tagen kommen wir in das Gebiet der wilden Stämme. Wir sollten vorbereitet sein, oder nicht?“
„Warum? Du wirst ihnen erklären, weshalb du gekommen bist und mich ausliefern.“
„Ich könnte versuchen, dich auszulösen.“
Mian rutschte unruhig hin und her. „Ich möchte mir keine Hoffnung machen. Ich stehe für das gerade, das ich getan habe. Weiter kann ich nicht denken.“
„Wenn ich dich vergiften soll, sag Bescheid.“
Mian starrte ihn an. „Was?“
„Wenn die Westländer dich foltern wollen oder so.“
„Danke für die aufmunternden Worte.“
„Ich werde dir helfen, wenn du das willst.“
Mian lächelte säuerlich. „Ich sage Bescheid. Versprochen.“
Firusz sah ihn beleidigt an. „Ich finde mich nett.“
Für einige Minuten blickten beide in die Landschaft. Dann entkorkte Mian den Wasserschlauch und trank ausgiebig. „Ich werde nicht davonlaufen. Das habe ich oft genug gesagt. Ich freue mich, dass du mich vergiften willst, aber dieses verlockende Angebot werde ich nicht annehmen.“ Mian war in den letzten Tagen hart um den Mund geworden. „Es bedeutet etwas, ein Löwe zu sein, verstehst du?“
„Das ist mit Einhörnern nicht anders.“
„Deine Gesellschaft hat keine langen Traditionen. Ihr seid Nachzügler. Das ist nicht böse gemeint, Firusz. Sei froh darum. Von Löwen wird erwartet, dass sie sich dem Alten Wittland verbunden fühlen. Manchmal müssen wir merkwürdige Kleider tragen und alles gerät in Aufregung. Löwen werden in den Königlichen Palast geladen, Einhörner nicht. Bei uns gibt es für alles Regeln. Selbst die geheimen Bruderschaften unter den Schülern sind fest etabliert.“
Firusz beugte sich interessiert vor. „Geheime Bruderschaften?“
„Geheime Treffen, geheime Kodewörter, geheime Handschläge – du weißt, was ich meine.“
„Nun – mit nur vier Schülern ist es recht zwecklos, geheime Bruderschaften zu gründen. Warst du in einer?“
„Alle Löwen gehören zu einer Geheimen Bruderschaft. Ich sagte doch, es ist Tradition. Man trifft sich an traditionellen Orten in der Stadt, trinkt traditionelle Getränke, isst immer das Gleiche. Und eigentlich geht es nur darum, wer die besseren Noten bekommt und welche Privilegien vergeben werden. Außerhalb der Schulzimmer hat nichts davon eine Bedeutung. Wir leben nur für das, was wir in unserer kleinen Gemeinschaft darstellen. Auch im Geheimbund gibt es strenge Hierarchien.“
„Du hattest sicher einen hohen Rang.“
„Natürlich.“ Mian klang nicht stolz. „Die na Mars haben immer einen hohen Rang in der Bruderschaft bekleidet. Ich habe ihn von meinen älteren Brüdern übernommen. Es war nicht mein Verdienst. Nun, das ist eben Wittland.“
„Und du bist jetzt etwas anderes, richtig?“
Mian schluckte, wischte sich das Wasser aus den Mundwinkeln. „Ich bin etwas anderes, ja. Mein Vater hat meinen Namen aus dem Familienbuch gestrichen. Ich hätte vermutlich nie viel geerbt, aber ich hätte meinen Namen führen dürfen. Jetzt werde ich in der Fremde sterben und niemand hat es für nötig befunden, mich vorher noch einmal zu sehen. Ich muss mich anstrengen, um nicht in Selbstmitleid zu versinken.“
„Du machst das gut.“
Mian stützte das Kinn auf die Knie. „Wir sind ja noch auf der Reise. Wenn wir erst einmal da sind, wird es ganz schlimm.“
Firusz drehte sich zu den grasenden Pferden um. „Ist es schwer, so schön zu sein?“
Mian lachte überrascht. „Was?“
„Liegt diese Art von Schönheit in deiner Familie?“
„Ja.“
„Es ist sicher nicht leicht.“
Mian wandte ebenfalls das Gesicht ab. „Ja.“
„In den Kolonien war es auch so. Halblinge wie ich und mein Cousin sind immer auffälliger als die anderen.“
„Halblinge?“
„Teufel. Mein Vater ist von reinem Blut, ich nicht mehr.“
„Wie nennt man Teufel in den Kolonien?“, wollte Mian wissen.
„Elfen. Halblinge sind von gemischtem Blut.“
„Hat dein Vater eine Menschenfrau geheiratet?“
„Ja.“
„Sie hat freiwillig einen Teufel zum Mann genommen?“
„Ja.“
„Hat man ihr nie gesagt, wie gefährlich das ist?“
„Ich weiß nicht.“ Firusz nahm ihm den Wasserschlauch ab. „Vielleicht war sie schrecklich verliebt und hat nicht auf ihre Familie gehört.“
Mian zog die blonden Brauen hoch. „Das wird mir jedenfalls nie passieren. Schade, eigentlich.“
Firusz lächelte wider Willen. „Vielleicht hast du Glück gehabt. Es muss furchtbar sein, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.“
„Es soll furchtbar sein, sich zu verlieben?“ Mian schnaufte erstaunt. „Was haben sie dir denn nur erzählt?“
Eigentlich sollte ich das Qarl oder Morrie sagen, dachte Firusz. „Mir haben sie gar nichts erzählt. Ich habe es selbst erlebt. Wenn ich mich in dieses Land verliebe, habe ich nicht den Hauch einer Chance das zu bekommen, nachdem es mich verlangt.“
Mian legte den Kopf schief. „Du darfst dich nicht erwischen lassen, das ist alles.“
Firusz verbarg das Gesicht an der Schulter. Er wünschte sich so sehr, mit Qarl sprechen zu können … aber er war jetzt hier, neben dem Mann, der Griça getötet hatte. Den er nicht länger hassen konnte, jetzt, da er wusste, dass man auch ihn töten würde.

Yanus erwachte sehr spät. Neben seinem Schlaflager stand ein Tasse kalter Tee. Seçil musste schon lange aufgestanden sein. Das kleine Haus war gefegt und aufgeräumt; Seçil hatte frische Blumen geschnitten und die nötigen Kleider zurecht gelegt. Es war warm, deshalb zog Yanus nur eines der langen Palastgewänder an. Er nahm die Tasse und trat in den Garten hinaus. Auf dem Sitzplatz am Haus lagen drei Bücher. Yanus setzte sich, lehnte den Rücken an die Wand. Die Sonne schien ihm in die Augen. Es war alles friedlich, alles wundervoll. Als die Gartenpforte quietschte, sah Yanus auf. Mondon stieg den Pfad zum Garten empor. Er trug ebenfalls nur ein leichtes, dafür tiefschwarzes Gewand, der merkwürdige Hut verdeckte sein Gesicht.
„Guten Morgen“, begrüßte Yanus den Jüngsten Prinz.
„Guten Tag. Ich wollte dir gratulieren.“
„Gratulieren?“
„Du hast dich gut geschlagen für den ersten Tag.“
Yanus machte Platz auf der Bank. „Ich würde Euch Tee anbieten, aber Seçil scheint momentan nicht da zu sein.“
Mondon setzte sich mit knackenden Gelenken. „Das macht doch nichts. Aber jetzt begreifst du vielleicht, weshalb es so schwierig für meine Familie war, die Kolonien zu verstehen. Unsere höfische Welt ist so weit von der wirklichen entfernt. Wenn wir über die Berge reiten, die unsere Gärten umschließen, fallen wir hart und tief. Ich hoffe, du verzeihst.“
Yanus hob die Bücher auf seinen Schoß. „Habt Ihr mich deshalb hierher gebracht – damit ich Eurer Familie die Eroberung meines Landes verzeihe?“
„Du beginnst vielleicht zu verstehen.“ Mondon legte den Hut ab. Sein blasses Gesicht wirkte ausgezehrt. „Nachdem wir Menschen die Teufel in diesem Land besiegt hatten, begannen wir uns eine schönere Welt zu gestalten, die nichts mit den entsetzlichen Kriegen früherer Zeiten zu tun haben sollte. Die einfachen Dinge hatten durch die Entbehrungen, die hinter uns lagen, an Bedeutung gewonnen. Wir hoben sie noch höher empor. Die Schönheit der Natur wurde wichtig, die ersten Gärten wurden angelegt, die Kunst der Kombination von Pflanzen über die Jahrhunderte perfektioniert. All das erklärt sich aus der Geschichte dieses Landes, Yanus.“
„Ich verstehe schon. Und es erklärt den ungezügelten Hass auf die Teufel in den Kolonien.“
„In all unseren Geschichten gibt es den fiesen Teufelsfürsten, der das Land unterjocht und am Ende von tapferen Menschen besiegt wird, die entsetzliche Verluste erleiden, um ihr Ziel zu erreichen. Selbst die zeitgenössische wittländische Literatur greift hin und wieder auf diese Erzähltraditionen zurück. Vermehrt, seitdem wir die Kolonien haben.“
Yanus lächelte, legte die Bücher auf den Boden zurück. „Aha.“
„Nach diesem Sommer wird es dir hoffentlich leichter fallen“, sagte Mondon leise.
„Was wird mir leichter fallen?“
„Das Leben in Wittland.“


III



Die ersten Zelte aus Filz sahen sie wenige Tage später. Die Menschen waren in Wollhosen gekleidet und ritten ihnen in halsbrecherischem Tempo entgegen. Von manchen kauften sie Joghurt und getrocknetes Fleisch. Firusz, der sein Gesicht sicherheitshalber verhüllt hielt, erwarb Decken gegen die harscheren Temperaturen der Steppen. Eine rotbackige junge Frau drehte ihm eine gesteppte Tunika an, die mit silbernen Paspeln benäht war und fabelhaft warm hielt, bald trug Firusz keinen Mantel mehr. Mian hatte sich schon lange nicht mehr rasiert und sah nun erwachsener aus. Firusz sah die Blicke der Frauen, die sie in ihre Zelte einluden und war froh, dass auch Mian die Grassenken vorzog. Eines Tages pfiff der Wind so heftig, dass sie ein Loch gruben, mit der Plane abdeckten und hineinkrochen. Firusz starrte durch die seitliche Lücke in der Plane. Der Himmel war klar. Eingewickelt in die Decken, die noch durchdringend nach Filzzelt rochen, nach Steppenschafen, Räucherwerk und Dungfeuer, hörte er Mian im Schlaf wimmern. Firusz zog ihm die dritte Decke über und wartete. Mian schlief in den letzten Tagen immer schlechter. Firusz versuchte ihn zu beruhigen, strich ihm über den Rücken, manchmal half das. Mian rollte sich ein, wurde leiser. Firusz lauschte dem Wind, dem Grasen der Pferde.
„Danke für die Decke“, sagte Mian plötzlich.
„Keine Ursache.“
„Ich kann nicht schlafen“, beklagte sich der Löwenschüler.
„Eben hast du noch geschlafen.“ Firusz lehnte sich an den Rand der Grube.
Mians Gesicht wirkte bleich. „Ich träume schlecht.“
„Ich weiß. Du weinst manchmal.“
Mian wandte den Blick ab. „Tja.“
„Tut mir Leid, ich wollte dich nicht …“
„Keine Ursache. Du sprichst im Schlaf.“
Firusz kratzte sich am Hinterkopf. „Was erzähle ich denn so?“
„Du redest viel von Pferden. Und von deinem Großvater.“
Firusz atmete auf. „Ah.“
„Und manchmal fängst du an, Liebesgedichte zu rezitieren.“
Firusz runzelte die Stirn. „Ich kenne keine Liebesgedichte.“
„Wen hast du daheim zurück gelassen? Ist sie hübsch?“
„Ich habe niemanden gehabt.“
„Noch nie?“
„Noch nie.“
„Ich auch nicht.“ Mian zog sich die Decke übers Kinn.
„Ich dachte …“
„Ich … wollte eigentlich nicht … nicht den Löwen beitreten. Ich wollte Mönch werden.“
Firusz lachte fassungslos. „Mönch? Du wolltest dich an einen Orden verschwenden?“
„Ich hätte mich nicht verschwendet. Meine Mutter hat mich streng religiös erzogen. Ich war der jüngste Sohn. Mein Vater hat nie Interesse an mir bekundet. Gott hat mich mehr geliebt als mein Vater. Ich habe im Gebet all das gefunden, was mir die Welt verwehrte. Bis … bis mein Vater sich plötzlich doch für mein Leben interessierte. Ich wurde zu den Löwen abgeschoben.“
„Das tut mir Leid.“
„Meine Familie ist eine Familie mit langer Tradition. Wie deine sicherlich auch.“
„Königliche Inspektoren, hat Qasimir na Qes gesagt.“
„Richtig. Königliche Inspektoren.“ Mian verzog das Gesicht. „Als ob Wittland nicht genug Inspektoren hätte.“
„Das hat Qasimir auch gesagt.“
Mian versuchte sich wieder hinzulegen, stieß sich den Kopf an einem Stein. „Au. Du darfst dein Erstes Einhorn beim Vornamen nennen?“
„Nein, eigentlich nicht. Qasimir ist Qarls großer Bruder. Deshalb reden wir manchmal so über ihn.“
„Ich beneide dich darum, Firusz. Du hast dich in eine Gruppe eingefunden, die nicht abhängig davon entstand, in welcher Gruppe deine Vorfahren waren. Wen magst du von deinen Mitschülern am liebsten?“
„Ich mochte Griça am liebsten.“
Mian rieb sich den Mund. „Und ich habe ihn dir weggenommen.“
„Ja. Was für ein Pech, nicht wahr?“
„Du weißt, es tut mir Leid.“
„Du musst das nicht ständig wiederholen. Ich weiß Bescheid.“
Sie schwiegen einander an. Schließlich wandte Firusz sich ab, drehte das Gesicht zur Erde.

Im Erdloch träumte er von dem fliegenden Galopp, den wippenden Ohren des Pferdes. Er erwachte als ihm das Wasser, das sich über Nacht in der Plane angesammelt hatte, ins Gesicht lief. Er rüttelte Mian wach. Es regnete sanft auf die Pferde nieder. Sie sattelten schnell, ritten auf die Bergkette zu, die sich in der Ferne abzeichnete. Die natürliche Grenze zwischen Wittland und Westland. Sie sahen Bäume auf den Hängen, Felsen, trockenes Gras, das das Wasser aufsog. „Wie lange werden wir noch brauchen?“, ragte Firusz.
Mian schüttelte den Regen aus den Wimpern. „Einen Tag vielleicht.“
„Was glaubst du, wird in Westland anders sein?“
„Firusz, du nervst.“
„Ich meine, werden die Menschen wirklich anders sein als die, die mir auf dieser Seite der Berge begegnet sind?“
„Nein, ich glaube nicht, dass sich so viel ändern wird. Reite bitte einfach weiter.“
Für eine Weile kam Firusz dieser Aufforderung protestlos nach. Bis sie sich die erste der Anhöhen emporarbeiteten. „Es sieht genauso aus wie auf der anderen Seite.“
„Firusz!“
„Ich bin nervös, das ist alles.“
„Warum musst du nervös sein?“
„Ich muss die ganze Redearbeit leisten, schon vergessen?“ Firusz blickte über den nassen Staub. Er hörte die Ähren des Grases rascheln. Die Sonne verbarg sich hinter einer feinen Wolkendecke, als läge ein grauer Seidenschleier über dem Land hinter den Bergen. Es waren keine Zelte zu sehen, keine Tiere. Westland schien leer.
„Ich dachte immer, Grenzen bedeuten Soldaten und Mautstellen.“
„Die Westländer vertrauen traditionell darauf, dass der Ruf ihrer Sippen ausreicht, um Menschen davon abzuhalten, in ihr Land einzufallen. Vernünftige Menschen, heißt das.“ Mian drehte sich um.
„Unheimlich“, fand Firusz.
Mian atmete tief durch. „Ja, natürlich.“
Irgendwann wurde der Weg so steil, dass sie absitzen und die Pferde führen mussten. Firusz hatte nasse Füße, bald zitterten seine Knie. Westland präsentierte sich zugeknöpft: der Regen nahm zu, zog einen Mantel über das Land. Mian und Firusz ließen sich nebeneinander auf einen Felsvorsprung sinken, schnappten nach Luft.
„Sie werden denken, man habe uns außer Landes gejagt“, sagte Mian irgendwann, die Kapuze tief im Gesicht.
Firusz war froh, Qasimir na Qes’ Briefe bei sich zu haben. Aber hatte der Name des Ersten Einhorns in dieser Ödnis soviel Zug wie auf der anderen Seite? War Qasimir na Qes überhaupt ein wichtiger Mann? Er konnte Mian und den Löwen nicht einmal mehr böse sein, dass sie das Erste Einhorn so wenig respekteinflößend fanden: eigentlich war Qasimir doch nicht mehr als ein Mann, bei dem man nie wusste, woran man war. Er war weder freundlich, noch wahrhaft mitfühlend. Warum hatte Firusz sich so von ihm beeindrucken lassen?
Die Pferde ließen im Regen die Köpfe hängen, versuchten so viel wie möglich aus dieser Pause herauszuschlagen. Mian sank langsam nach vorn, bettete die Stirn auf die eigenen Knie. „Können wir nicht hierbleiben?“
„Wohl kaum. Mein Hintern wird nass. Und wir könnten im Schlaf vom Felsen rollen.“
Sie harrten noch ein paar Minuten aus, dann machten sie sich wieder an den Aufstieg. Der schmale Pfad führte in Schleifen auf den höchsten Punkt, niedrige gelbe Blumen wuchsen überall um sie herum. Manchmal bildete Firusz sich ein, auch ihren Duft wahrnehmen zu können, als sei die Luft um einen Bruchteil süßer, sonnenfarbener; trotz Regen, trotz Nebel. Am höchsten Punkt des Passes hielten sie noch einmal Rast – Mian war grün um die Nase – sackte mit einem feuchten Geräusch in sich zusammen. „Ich will nicht weiter.“
Firusz legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich werde dir beistehen, Mian. Es ist nicht sicher, dass sie dich umbringen.“
„Ist es nicht?“, fragte Mian bitter. „Du kennst das alte Wittland nicht. Es kennt keine Gnade.“ Mian stemmte sich in die Höhe. „Ich wünschte, ich wäre ein Feigling.“
Firusz faltete ein Stück Papier auseinander. „Wenn diese Karte annähernd richtig ist, wäre es möglich, noch heute Abend einen kleineren Handelsposten zu erreichen. Dort können wir hoffentlich unter einem Dach beraten.“

Der Abstieg war glitschig und erforderte großes Geschick von Mann und Tier. Als sie sich auf der westländischen Seite des Berges wiederfanden, dampfte die Steppe noch immer, ließ sie in ihren Reisegewändern schwitzen. Die Pferde schienen ebenso erleichtert zu sein, wieder ebenen Boden unter den Hufen zu spüren. Die letzte Etappe des Tages nahmen sie eifrig in Angriff, wohl in der Hoffnung, an diesem Abend etwas anderes als Gras fressen zu dürfen. Auch die aufziehende Dunkelheit schien anders auf dieser Seite des Berges – rotstichiger, beunruhigender. Das nasse Gras rauschte nicht, gab hin und wieder ein nasses Klatschen von sich, von den Absätzen der Reiter tropfte das Wasser. Bald war es so dunkel, dass sie beinahe an den niedrigen Filzzelten vorbeigeritten wären. Die Hunde schlugen an. Es waren kleine Hunde mit dichtem Fell und aufgestellten Ruten – ihre Fellzeichnung erinnerte an Masken. Firusz’ Pferd erschrak, versuchte aber nicht, wegzulaufen. Es wirbelte herum und schlug so heftig nach den Kläffern aus, dass Firusz beinahe aus dem Sattel geschleudert worden wäre. „Whoa!“
Ein kleines Öllicht erschien zwischen den Zelten. In Fellmäntel gewickelte Männer kamen ihnen entgegen, wedelten mit den Händen. „Was ist los?“, fragte Firusz beunruhigt.
Mian stieg ab. „Sie laden uns ein.“

Die größte Überraschung war, dass es Möbel in den Zelten gab. Regale, auf denen blau glasierte Keramikschalen, Lackschatullen und gefaltete Kleider lagerten. Firusz und Mian nahmen ihre Sättel mit hinein, benutzten sie zum Anlehnen. Die Männer waren dunkelhaarig. Firusz bildete sich ein, ein wenig von Griça in ihnen zu sehen. Vielleicht war es die Form der Augen. Firusz lächelte dankbar in die Runde. Sie bekamen eine Schale mit Grasschnaps. Die Männer rochen nach Ziege und hatten Schmutzstreifen im Gesicht. Mian unterhielt sich in einem altmodischen wittländischen Dialekt. „Sie sind Hirten“, übersetzte Mian schließlich. „Sie gehören nicht zu Griças Stamm. Sie sagen, wenn wir die na Sian finden wollen, müssen wir in Richtung Nordwestküste reisen. Sie haben dort oben gute Weiden. Sie züchten eine besondere Schafrasse, die allerfeinste Wolle gibt. Sie handeln mit teuren Stoffen.“
„Eine reiche Sippe?“
„Sehr reich.“
Sie übernachteten im Hirtenzelt, verabschiedeten sich am Morgen und ritten über das taufeuchte Gras Richtung Nordwesten. Der Himmel war von einem kalten grauen Blau. Vor ihnen erstreckten sich die letzten Ausläufer der Bergkette und weites grünes Land.
„Am nächsten Handelposten sollten wir uns umhören“, empfahl Mian. „Was die hiesigen Wetterbedingungen an zusätzlicher Kleidung erfordern. Und an Spezialausrüstung.“ Er sah übernächtigt aus.
„Spezialausrüstung?“
„Im Nordwesten soll es kälter sein.“
„Meinetwegen.“ Firusz wusste, was auf ihn zukam. Mian würde ihn noch einmal vorführen.

„Wie viele Vettern hast du in der Seefahrt?“
Morrie hob die Achseln. „Fünf, glaube ich.“
Sie standen am Hafen von Seestadt. Vor ihnen lag die Planke, über die sie das Schiff betreten würden. Qasimir na Qes erwartete sie mit einem Gesichtsausdruck, der ihnen bewusst machte, was er davon hielt, innerhalb weniger Wochen all seine Schüler auf Wanderschaft zu schicken.
„Ich finde das nicht gut“, sagte Qasimir leise. „Aber wenn mein kleiner Bruder sich etwas in den Kopf gesetzt hat, beugen sich alle Gesetze der Gesellschaft.“
Qarl, grau im Gesicht und nicht bereit, sich auf einen brüderlichen Schlagabtausch einzulassen, senkte den Blick und zog das Reisebündel zwischen die Schulterblätter. Morrie räusperte sich. „Sollten wir nicht langsam an Bord gehen?“
Qasimir legte die Hand auf seinen Arm. „Ich wünsche euch Glück“, sagte er. „Egal, wie wütend ich bin: Ich hoffe, ihr findet Firusz und das, was von Mian na Mar übrig ist. Bringt Firusz sicher nach Hause.“
Qarl schoss seinem Bruder einen zornigen Blick zu. Morrie nahm ihn am Ellenbogen und zog ihn auf die Planke. „Auf Wiedersehen“, sagte er und hoffte, dass Qarls Einwand ungehört blieb: „Ich glaube kaum, dass wir uns wieder sehen.“

Sie machten es sich unter Deck so bequem wie möglich. Morrie stopfte seinen Mantel in die Koje. „Du wirst dich nicht ins erstbeste Schwert werfen – versprichst du mir das?“
Qarl begann, seine Schuhe aufzuschnüren. „Was passiert, passiert.“
Morrie stand auf, packte Qarl an der Schulter – mit solcher Kraft, dass Qarl einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. „Was ist mit mir, Qarl? Hast du dir auch nur einen Augenblick darüber Gedanken gemacht, dass du für mich Verantwortung übernommen hast? Du bist wahrscheinlich drei Mal so stark wie ich, willst du mich allein in der Steppe sitzen lassen? Ich habe Angst, du verdammter Mistkerl.“
Qarl versuchte, die Hand von seiner Schulter zu streifen. „Morrie …“
Morrie hielt fest. „Hörst du mir zu? Ich fühle mich sicherer an Land. Ich fühle mich sicherer, wenn dein großer Bruder bei uns ist.“
Qarl begann, sich vor Schmerzen zu winden. „Qasimir? Was könnte er tun? Die bösen Jungs mit dem Federkiel abwehren? Oder mit rhetorischen Spitzfindigkeiten?“
„Dein Bruder hat jedenfalls kein Problem damit, sich für seine Schützlinge einzusetzen.“
„Verdammt, lass mich los, Morrie!“
Morrie ließ los. „Wenn du mich verlässt, Qarl, laufe ich schnurstracks zu einem meiner Cousins – er ist Priester und kann deine Seele ganz schön auf Trab halten.“
Qarl schleuderte den Schuh vom Fuß. „Morrie – ich will nicht sterben. Wirklich nicht.“
Morrie setzte sich auf die Kante seiner Koje. „Tut mir Leid. Das kaufe ich dir nicht ab.“
„Wärst du jetzt lieber bei Qasimir? Er könnte dir sicher viel über mich erzählen.“
Morrie biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe schon verstanden. Ihr mögt euch nicht besonders.“
Qarl lachte durch die Nase. „Du hast schon Recht. Qasimir schafft es, Geborgenheit zu vermitteln. Ich kann gar nichts. Vor allem nicht rechnen. Ich bin kein guter Schüler. Weshalb sollte ich mir zusätzlich das Leben schwer machen?“
„Also springst du lieber auf irgendein Schiff und siehst zu, dass du so schnell wie möglich aus Seestadt wegkommst. Schon klar. Und warum muss ich unbedingt mit?“
„Weil ich jemanden brauche, der auf mich Acht gibt, meinst du nicht?“
Morrie stöhnte. „Tolle Aufgabe.“
„Fühl dich geehrt.“
Morrie lehnte sich zurück, stützte die Hände auf seinen Mantel. „Wir werden sehen.“

Hier schien sich niemand für Firusz’ Volkszugehörigkeit zu interessieren. Mian feilschte, bis der kleine drahtige Mann, der so durchdringend nach Schaf roch, ihm nicht nur mehr abgeknöpft hatte, als die Decken wert waren, sondern ihnen auch ein zusätzliches Pferd angedreht hatte – im Tausch gegen einen halben Strang Bernsteinperlen. Sie verbrachten die Nacht unter einem aufgespannten Hirschfell – Mian verfiel in seine übliche Wimmerei, bis Firusz ihn weit nach Mitternacht aufs Gesicht drehte. Er hörte noch immer das leise Singen des Wachpostens. Die Kälte war an diesem Tag schneidender, schien tief in die Schlaffelle einzudringen. Am nächsten Morgen fühlte er sich wie zertreten. Mian lag noch immer auf dem Bauch, atmete merkwürdig flach. Firusz spürte Angst – wie eine vom Licht überraschte Motte, deren Sehnsucht nicht schnell genug nachkommt. Was war, wenn Mian ihm auf der Reise abhanden kam? Was würde die Sippe der na Sian tun, wenn Firusz allein bei ihnen vorsprach und Qasimir na Qes’ Briefe abgab? Vielleicht sollte er in diesem Fall gar nicht erst weiterreiten, sondern umdrehen und sich nach Seestadt durchschlagen. In diesem Moment setzte Mian sich auf. Firusz rollte das Bettlager zusammen, um seine zitternden Hände zu verbergen.

An diesem Tag begegneten sie keinem einzigen Menschen. Firusz, der in Mians müdem Gesicht die Knochen zu sehen begann, bemühte sich, in die andere Richtung zu blicken. Auch in den Kolonien war er viel geritten, nun aber hatte er sich so sehr an den Sattel gewöhnt, dass er wahrscheinlich selbst im Galopp hätte schlafen können. Wittländische Steppenpferde hatten ein eigentümlich flaches Gangwerk, wenn man sich ein Stück in den Steigbügeln aufrichtete, war es, als würde man durchs Gras gezogen, schneller, immer schneller. Als sie am Nachmittag an einem Fluss kamen, errichteten sie ihr Lager, ließen die Tiere trinken und kauten auf getrockneten Fleischstreifen herum. Mian hatte ein schmales Buch aus der Satteltasche gezogen und sich in die Geschichten vertieft, die die Buchstaben ihm malten.
Firusz räusperte sich. „Ich gehe mich ein wenig umsehen.“
Mian nickte geistesabwesend.
Firusz ging ein Stück den Fluss hinunter. Die flachen Ufer waren von schmalen Hufen aufgewühlt, vielleicht eine Antilopenart. Oder Wildpferde. Die Sonne rutschte immer tiefer; als Firusz das kleine Zelt aus Hirschfellen nicht mehr sehen konnte, setzte er sich, starrte in den veilchenblauen Himmel. Eines Tages würde er nach Seestadt zurückkehren. Dann galt es Worte für all das zu finden. Für die Farbe des Grases, die sich je nach Lichteinfall veränderte. Für die Gesichter der Menschen in den Steppen, die gleichzeitig fremd und vertraut waren. Für die Tiere, die zottiger und schmaler waren, die er bislang gekannt hatte. Vielleicht sollte er versuchen, ein paar Pferde nach Seestadt zurück zu bringen … es wurde immer dunkler.

An der schmalen Seite seines Hauses gab es eine Terrasse, die nur dafür da war, die Sterne zu beobachten. Yanus hatte sich in drei Schichten Seidenmäntel eingewickelt und trug wattierte, mit Wolfspelz besetzte Stiefel. Die Nächte im Tal der Könige waren relativ mild – ideal für verschwiegene Treffen unter freiem Himmel. Er saß allein, neben sich eine dampfende Tasse Tee. Hin und wieder tauchte Seçil auf, um sich nach seinen Wünschen zu erkundigen. Irgendwann drehte Yanus sich zu ihm um. „Willst du dich nicht setzen? Du gehst mir auf den Geist.“
Seçil stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Na, endlich.“ Er streckte die Beine aus, zog eine Teetasse aus dem Kittel und schenkte sich ein. „Ich hatte schon gedacht, Ihr hättet Euch zu einem typisch wittländischen Adeligen entwickelt. Euch gefällt der Palast, richtig?“
„Wem könnte der Palast nicht gefallen? Allein schon die Gärten … wenn ich nach Hause komme, werde ich gleich ein paar Veränderungen anregen.“
„Zuhause in Seestadt oder zuhause in den Kolonien?“ Seçil kratzte sich den Nacken.
„Zuhause in den Kolonien.“ Yanus zupfte an den Seidenmänteln. „Vielleicht sollte ich ein Portrait von mir malen lassen, hier, inmitten dieser leuchtenden Blumen.“
„Ich kann mich umhören“, bot Seçil an. Sie lehnten sich an die Hauswand, sahen zum Himmel hoch, bis sich ihre Hälse verkrampften.
„Ich konnte noch nie die Sternbilder auseinander halten“, sagte Yanus leise. „Ich wünschte, wir wären wieder auf der Straße, zwischen den Zelten am Wegesrand.“
„Ihr habt genug von Gedichtrezitationen im Mondschein?“
„Noch nicht ganz. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie man dieses Maß an Schönheit auf die Dauer ertragen kann.“
„Das ist die Hauptbeschäftigung unseres Adels.“ Seçil zog eine Schnute, stützte den Ellenbogen auf die Knie.
Yanus leerte die Teeschale. „Ich bin morgen auf dem Trainingsfeld verabredet. Mondon möchte mir eine Demonstration in Sachen traditioneller Schwertkampfkunst geben.“

Yanus hatte merkwürdige Träume in letzter Zeit. In ihnen nahmen die Düfte des Gartens einen prominenten Platz ein. Er träumte von Schränken voller gefalteter Wäsche, Frauenbädern und Picknicks unter ausladenden Ästen. Wenn Elisa zu ihm kam, steckten wittländische Blumen in ihrem Haar, rot und schwer glitt es durch seine Hände. Wie sollte er hier am Hof jemanden finden, der sie ersetzen konnte? Die blassgepuderten Damen, die so schrill in ihre Ärmel kicherten? Sicher nicht. Wie so häufig erwachte er, weil Seçil an seiner Schulter rüttelte. „Alles gut“, flüsterte sein Diener. „Mein Gott – Ihr schreit den ganzen Palast zusammen.“
„Tut mir Leid“, keuchte Yanus. Schweiß strömte ihm von der Stirn.
Seçil reichte ihm ein zum Quadrat gefaltetes Tuch. „Weiß diese Frau, was Ihr ihretwegen leidet?“
„Ja.“
„Und weshalb lässt sie Euch leiden? Was habt Ihr ihr angetan?“
„Gar nichts. Sie ist meine Cousine und hat keine Sekunde daran gedacht, mich zum Mann zu nehmen.“
„Habt Ihr sie gefragt?“
„Oh ja.“
„Und? Was hat sie gesagt?“
„Sie hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen – das war’s.“
„Sind Teufelsfrauen so hartherzig? Ich hatte sie mir immer schön und verführerisch vorgestellt.“ Seçil setzte sich auf die Bettkante. Er roch schläfrig. Yanus fragte sich, wie oft er Seçil bereits aus dem Schlaf gerissen hatte.
„Aber leider wissen sie schon früh, was sie eigentlich wollen. Ich war nie ein Teil ihres Plans.“
Seçil schnaufte missbilligend. „Wir müssen Euch verkuppeln.“
Yanus ächzte. „Das hat noch nie geklappt. Ich eigne mich nicht für solche Spielchen.“
„Ein Diener ist für seinen Herrn verantwortlich“, sagte Seçil selbstzufrieden. „Und somit auch für seine Herzensdinge. Lasst mich nur machen.“
„Seçil …“
„Seçil regelt das für Euch. Spätestens in sechs Monaten seid Ihr verheiratet. Versprochen.“

Mian weckte ihn bei Sonnenaufgang. „Firusz, kümmerst du dich um die Pferde? Ich habe schon angefangen, zusammenzuräumen.“
Firusz stützte sich auf die Ellenbogen. „Ja gut.“ Seine Rückenwirbel knackten, als er sich streckte. Der Himmel war von zarten Farbstreifen bedeckt, als habe jemand Seidenstoffe zerrissen und die schmalen Bahnen um Luft und Wolken gewickelt – oder als befänden sie sich in einer riesigen, durchleuchteten Kissenhülle. Noch halb schlafend bürstete Firusz die Pferde über, kontrollierte Hufe und Fesselgelenke. Das Leder der Sättel war noch warm, auf seinen hatte er den Kopf zum Schlaf gebettet. Firusz zwang sich, die Gurte doppelt zu kontrollieren, lud die Packen auf, die Mian bereitgelegt hatte. Als sie wenig später im Trab über das kurzgefressene Gras trabten, fühlte Firusz sich wach, entspannt. Wie eine Ente im Wasser, hatte sein Vater immer gesagt. Er hatte kaum noch Heimweh gehabt in den letzten Tagen. Die Anstrengungen der Reise hatten all das von ihm genommen, ihm das Leben einfacher gemacht. Die alte, bröckelnde Burg, in der er aufgewachsen war, die so archaische Bilder lieferte wie seine Mutter, die, das Haar zu Schnecken aufgesteckt, über ihrem Stickrahmen saß: ein alter Holzstich, eine kostbar kolorierte Buchillustration. Die Trainingsstunden der Burgwache, wenn der ganze Hof widerhallte vom Geschepper der Waffen und Rüstungen – der Blick über den Strand der Steilküste und die Schatten der Inseln am Horizont … der Blick über die Steppe war ganz ähnlich: Gebirgsketten tauchten wie Inseln hinter dem Horizont auf, wuchsen den Hufen der Pferde entgegen, sobald sie in den schaukelnden Reisegalopp fielen, den die Pferde bevorzugten. Firusz schloss die Augen, spürte, wie ihm der Gegenwind in die Kleider fuhr, sich mit zärtlicher Beharrlichkeit in sein Gesicht presste … plötzlich machte sein Pferd einen Satz nach rechts. Firusz packte geistesgegenwärtig in die Mähne – er hörte Mian fluchen, brachte das Tier zum Stehen, auch das Packpferd hielt mit zitternder Nase. Mitten in einem Nest von hohem Gras lag eine zusammengerollte Gestalt. Unter dem Umhang aus blassgrüner Wolle ragten nackte, schmutzige Füße hervor, mit Lederriemen gefesselt.
„Ist er tot?“, fragte Mian, knallrot im Gesicht und außer Atem.
Firusz rutschte aus dem Sattel, stieß den Liegenden mit der Haselnussgerte an. „Keine Ahnung.“
„Dreh ihn um.“
„Dreh du ihn doch um“, zischte Firusz zurück, außer sich vor Angst.
Mian ließ die Zügel seines Pferdes los, kniete sich neben den Fremden. Er zog den Mantel vom Gesicht des Mannes. Der Unbekannte war jung. Auch um den Hals trug er Riemen, deren Ende um seine Handgelenke geschlungen worden waren. Das Haar war dunkelbraun und geflochten, die Zöpfe waren mehrmals um seinen Kopf geschlungen und mit leuchtend grüner Wolle durchwirkt. Man hatte ihm mit Kohle das ganze Gesicht bemalt, Zeichen, die Firusz noch nie zuvor gesehen hatte.
„Er ist völlig ausgekühlt“, sagte Mian. „Aber er atmet noch.“ Er versuchte, die Lederriemen zu lösen, zog schließlich sein Messer und zerschnitt die Fesseln vom Hals zu den Armen. Der junge Mann stieß ein leises Röcheln aus, drehte sich selbständig auf die andere Seite, seine Wange kam auf Firusz’ Stiefel zu liegen. Die Kleidung des Fremden war nicht etwa schäbig, sondern von bemerkenswerter Qualität: Hosen, Tunika und Mantel waren fein bestickt, er trug einen Gürtel mit silberner Spange. „Man hat ihn nicht ausgeraubt“, stellte Mian erstaunt fest.
„Was ist mit seinen Schuhen?“, fragte Firusz.
„Vielleicht liegen sie hier irgendwo?“ Mian drehte sich suchend um. Firusz versuchte, zurückzutreten, ohne dem Mann wehzutun. Er schaffte es, den Knoten der Fußfesseln zu lösen. „Er hätte sich befreien können“, sagte er. „Er hätte den Knoten selbst aufbekommen.“
Mian stemmte die Hände in die Hüften. „Es gibt keine Schuhe.“ Er kniff die Augen zusammen, ging zum Packpferd und löste eine der Decken aus dem Gepäck. „Was tun wir mit ihm?“, wollte Firusz wissen.
„Lass uns eine Pause machen und ein bisschen was kochen“, schlug Mian vor. „Unser Schützling braucht etwas zu essen.“
„Unser Schützling?“
„Willst du ihn hier liegen lassen?“
„Wir haben ihn befreit, oder nicht?“
„Er liegt hier schon sehr lange“, regte Mian sich auf. „Er könnte sterben! Sind alle Teufel so leichtfertig?“
„Vielleicht hat es einen Grund, dass er hier ist! Vielleicht war es ein Fehler, dass wir die Fesseln gelöst haben!“
„Firusz! Willst du den Tod eines Menschen auf dein Gewissen laden? Willst du so fühlen wie ich?“
Firusz schoss das Blut ins Gesicht. Er beugte sich über den „Schützling“, um es Mian nicht sehen zu lassen. Der junge Mann zu seinen Füßen schlug die Augen auf und kreischte, als sei er in einen Seeigel getreten.
Mian schubste Firusz zur Seite. „Geht es dir gut?“, fragte er. „Keine Angst – der da tut dir nichts.“
Der „Schützling“ kauerte sich auf Knien und Ellenbogen zusammen, als sei Firusz in der Lage, ihn auf der Stelle um sein Leben zu bringen, nur durch einen Blick, eine Berührung. Der Fremde begann panisch ins Gras zu brabbeln.
„Was sagt er?“, fragte Firusz verwirrt.
Mian kniete sich neben den Unbekannten. „Ich glaube, er betet.“
„Betet?“
Der junge Mann setzte sich auf, die Handflächen vor der Brust zusammengelegt. Er sprach so hastig, dass ihm Speichel über die Lippen lief. „Danke, dass du es mir gewährt hast, mir als Erstem von so Vielen. Danke, dass du ihn mir auf den Weg gesandt hast, dass ich meine Aufgabe erfüllen kann, wie sie von jeher erfüllt werden muss. Danke, dass du mich prüfst, meinen Mut herausforderst …“
Mian nahm ihn an der Schulter. „Was ist los? Wer hat dich gefesselt?“
Der Mann kroch ein paar Schritte zurück, fing wieder an zu stammeln. „Wer hat dich gefesselt?“, brüllte Mian.
Der Mann reagierte auf laute, unfreundliche Töne. „Mein Vater. Meine Freunde.“
„Weshalb?“
Der Mann glotzte ihn an. „Weil es verlangt wird – weil es schon seit Jahrhunderten Pflicht ist.“
„Pflicht? Was ist das für ein seltsames Ritual?“
„Moment mal“, sagte Firusz leise. „Ich glaube, von diesem Brauch habe ich schon gehört. Als ich für meine Arbeit recherchierte. Es ist eine Art von Opferung. Die Eltern setzen einen Jungen, der auf der Schwelle zum Mannsein steht, aus, um ihn den Teufeln anzubieten. Der junge Mann muss zwei Nächte und einen Tag den Elementen und der Angst trotzen, dann hat er sich vor den Ahnen der Familie bewährt. Die Familie zeigt sich bereit, ein Mitglied auf der Höhe seiner Kraft den Teufeln zu opfern, dann, wenn er am wertvollsten für die Gemeinschaft ist. Erst nach dieser Weihe ist der Junge im heiratsfähigen Alter. Griça hat mich auf das Buch aufmerksam gemacht.“
Sowohl Mian als auch der Fremde starrten ihn an. „Ist das richtig?“, fragte Mian schließlich.
Der Fremde nickte langsam. „In den letzten Jahrzehnten sind alle Jungen als Männer ins Lager zurückgekehrt. Ich bin der erste seit langer Zeit, der …“ Er schien sich zu besinnen und warf sich wieder mit dem Gesicht zur Erde. „Der Brauch verlangt, dass ich mich voll und ganz in Eure Hände begeben muss.“
Mian räusperte sich. „Ich glaube, er meint dich, Firusz.“
„Aber … ich … ähm … eigentlich wollte ich nur zur Sippe der na Sian reisen.“
Der junge Mann riss den Kopf hoch. „Ich kann Euch nützen, Herr. Die na Sian sind mit meiner Sippe verwandt. Ich kann Euch zu ihnen bringen.“
„Hört sich gut an“, fand Mian. „Lagern sie weit von hier?“
„Das Sommerlager liegt auf der Grauen Ebene.“
„Das heißt …“
„Etwa eine Woche. Zu Pferd.“
„Schön.“ Mian zog sein Pferd näher an sich heran. „Willst du etwas essen?“
Der Mann streckte sofort die Hände aus. Mian verteilte Beerenkuchen. „Wie heißt du?“
„Beq na Borr.“
„Mian na Mar. Und er heißt Firusz de Liarette.“
„Firusz de Liarette Eliriel“, wandte Firusz beleidigt ein.
„Egal“, sagte Mian.
Beq warf sich wieder vor Firusz’ Füße. „Ich werde meiner Familie Ehre machen und Euch so gut dienen, dass Ihr mich eines Tages zurückkehren lassen werdet.“
„Meinetwegen kannst du jetzt schon zurückgehen“, sagte Firusz.
Beq starrte ihn entsetzt an.
„Ich glaube, jetzt hast du was Falsches gesagt“, meinte Mian.
Beqs Unterlippe begann zu zittern „Bin ich es nicht wert? Muss ich meinem Vater sagen, der erste meiner Sippe, der seit Jahrhunderten von einem Teufel aufgelesen wird, sei nicht der Ehre wert gewesen, seiner Familie Gehorsam zu erweisen? Ich werde niemals heiraten können!“
„Willst du denn heiraten?“, fragte Firusz.
„Wenn Ihr mich nicht wollt, wird mich niemand wollen!“
Firusz sah Mian gequält an. „Muss das sein?“
„Du hast es doch gehört. Er kann uns zur Grauen Ebene bringen. Er wird uns nützlich sein. Lass ihn mitkommen.“
Firusz starrte in das mit Kohle beschmierte Gesicht, in dem blaugrüne Augen leuchteten. „Wie alt bist du?“
„Zwanzig Sommer. Das Alter, in dem man hier zum Mann wird.“
Firusz seufzte. „Also gut – wo sind deine Schuhe?“


IV



„Habt Ihr niemals Sehnsucht nach der Welt außerhalb des Tals?“ Yanus saß mit rot angelaufenem Gesicht im Schatten unter dem vorspringenden Dach. Zu seinen Füßen lag ein aus Holz gefertigtes Schwert. Mondon, auf dessen Stirn nicht eine Spur von Schweiß zu sehen war, legte den Kopf schief. „Ich betrachte meine Aufgaben außerhalb des Palastes als Bürde. Der Stadtadel zwingt uns, Zugeständnisse zu machen. Früher war dieses Tal der Mittelpunkt des Landes. Wer nicht die Mittel hatte, sich hier einzurichten, war ganz einfach nicht wichtig. Jetzt muss die Königliche Familie zu ihnen kommen. Es ist entwürdigend.“
„Die frühen Könige der Kolonien hatten keine Paläste“, sagte Yanus nachdenklich. „Sie reisten das Jahr über quer durch das Land und nahmen Quartier bei einem der Fürsten.“
Mondon sah ihn schockiert an. Die Kleidung, die er für das Trainingsfeld gewählt hatte, war ungewöhnlich weit, nur um die Taille zusammengerafft, die Ärmel hatte er mit einer Kordel zurückgebunden. Yanus, in Kleidung, die eigentlich in die Kolonien gehörte, fühlte sich dürr und unansehnlich neben ihm. Mondon hatte die gerade geschnittenen Hosen und die ärmellose Tunika mit einem vielsagenden Heben der Brauen quittiert – und dann hatte er Yanus nach allen Regeln der Kunst gedemütigt. Die Schwertkunst der Wittländer, die Yanus beim Kampf in den Kolonien als unkoordiniert und grob erlebt hatte, unterschied sich deutlich von den fließenden Bewegungen, die Mondon auf dem mit hellem Sand eingegrenzten Platz vollführte. Yanus fühlte sich eher zum Tanzen aufgefordert – bis die stumpfe Schneide des Holzschwertes auf seinen Nacken niederkam. „Ist es immer so warm hier?“, fragte Yanus.
„Warm? Der Sommer hat noch nicht einmal richtig begonnen“, lachte Mondon. Er drehte sich um und deutete zu einem der langgestreckten Gebäude. Auf der ersten Galerie sah man Frauen in leuchtenden Gewändern. „Sie wollten dir alle zusehen“, sagte er.
Yanus runzelte die Stirn. „Hat Seçil mit Euch gesprochen, Mondon?“
Der Jüngste Prinz schnalzte leise. „Sollte er das?“
„Nein – ich dachte nur … ach, egal.“

Yanus kehrte mit hängenden Schultern zu seinem Quartier zurück, den Nacken voller Salzkristalle, mit trockenem Mund und schmerzenden Fingern. Seçil kippte gerade den letzten Eimer heißes Wasser in den Badebottich, der zwischen Schilfmatten stand. „Wünscht Ihr, dass ich Euch etwas zu essen fertigmache?“
„Haben wir heute Abend noch irgendetwas vor? Oder darf ich mich in Ruhe auf meinen Muskelkater vorbereiten?“
Seçil räusperte sich. „Ehrlich gesagt, heute Abend wird eine der bekanntesten Dichterinnen Wittlands aus ihren Werken lesen. Ich dachte, das würde Euch vielleicht interessieren.“
Yanus warf seine feuchte Tunika über die Sitzbank am Haus. „Ich wusste nicht, dass Dichterinnen in Wittland erlaubt sind.“
„Sie haben sogar eine ziemlich lange Tradition, Herr. Fast alle Werke, aus denen man in Eurer Gegenwart zitiert hat, wurden von Frauen verfasst. Als Mann hat man es auf diesem Gebiet eher schwer.“
Das Badewasser hatte perfekte Temperatur. Kaum hatte Yanus sich zurückgelehnt, drückte ihm Seçil die Seife in die Hand. Sie roch nach Kirschblüten und Mandeln. „Nun … vielleicht sollte ich sie mir ansehen.“
Als er sich zu Seçil umdrehte, wurde dessen Gesicht sofort ausdruckslos. Hatte er gegrinst?

Die Veranstaltung fand in einem der kleineren, weit abgelegenen Häuser statt. Man hatte Sitzkissen bereitgelegt. In einer Ecke des Raumes stand ein Gesteck aus wachsartigen weißen Blüten, die Türen zum Garten standen offen und boten einen grandiosen Blick auf den in der Dunkelheit liegenden Garten. Die Bäume verloren ihre Blüten, die Rasenflächen waren jetzt von milchigem Blau. Nur wenige Gäste waren geladen. Mondon hakte Yanus unter und setzte sich mit ihm in die vorderste Reihe. Von diesem Punkt aus waren auch die silbrigen Spitzen der Blumenbeete sichtbar, das schwebende Schilf des Teiches. Yanus fühlte sich wohl. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte er das Gefühl, all das zu verstehen. Diener reichten Branntwein und Häppchen, Yanus biss gerade in einen luftigen Keks, auf den Fischrogen gestrichen worden war, als die Künstlerin in Sicht kam. Sie ging über die Rasenfläche aufs Haus zu, löste sich wie ein Streifen helleres Blau zwischen den Bäumen heraus. Ihr taubenfarbenes Kleid war bis zum Hals zugeknöpft und wallte nur ein bisschen. Das Haar war von silberblonder Farbe und fächerte um ihre Hüften auf. Mondon klopfte Yanus auf den Rücken. Ein Stück Gebäck schoss ihm aus dem Mund, dann bekam Yanus wieder Luft. „Sie macht Eindruck auf alle von uns“, sagte Mondon leise. Ein Diener wischte den ausgespuckten Krümel auf. „Sie zählt noch keine 40 Jahre – und doch wird ihr Werk vom ganzen Land gelobt. Sie hat schon viel Auszeichnungen erhalten.“
„Sie sieht jung aus.“
Mondon beugte sich über seine Schulter. „Man munkelt, es habe vor vielen Generationen einen Halbteufel in ihrer Familie gegeben.“
Yanus ächzte. „Ich muss Seçil wohl umbringen.“
„Er macht sich doch nur Sorgen um dich.“
„Er will mich quälen.“
„Das vielleicht auch.“
Die Dichterin nahm ebenfalls auf einem Kissen Platz. Im hell erleuchteten Raum sah man, dass sie nicht mehr ganz den schlanken Körper eines Mädchens hatte. Sie hielt sich sehr gerade, um ihren Mund spielte ein wissendes Lächeln, während sie rezitierte. Sie schrieb in einem altertümlichen Dialekt des Wittländischen. Während alle um ihn herum vor Vergnügen seufzten, verstand Yanus kein einziges Wort. Er sah zu Mondon hinüber. Auch der schien entzückt. Yanus musste sich damit begnügen, die Frau anzustarren. Sie sah Elisa überhaupt nicht ähnlich. Die Augen waren runder und in Anbetracht der Haarfarbe verwirrend dunkel. Ihr Mund war voller als Elisas, vor allem die Oberlippe. Ihr Gesicht war breiter, herzförmig und um die Augenbrauen hatte sie einen welterfahrenen Zug. Sie muss in etwa so alt sein wie Elisa. Wie ich. Aber sie ist ein Mensch. Vielleicht hat sie bereits Kinder geboren.
Sie war ihm um vieles voraus. Wie konnte Seçil erwarten, dass sie sich für jemanden wie ihn interessierte? Und wie konnte er sich für sie interessieren? Sie hatte eine dunklere Stimme als Elisa. Eine Stimme, die jenseits seines Verständnisses die berückendsten Gefühle zu wecken vermochte. Wenn er nur begreifen könnte, von was sie da sprach … „Wurde sie schon ins Neuwittländische übersetzt?“, fragte er.
Mondon reagierte nicht. Die Dichterin schenkte Yanus einen irritierten Blick. War es seine Einäugigkeit, die sie aufmerksam machte – oder dass er einfach so dazwischen quatschte? Yanus spürte sein Herz wummern.
Es war nur ein kurzer Vortrag. Als eine der Hofdamen begann, auf ihrer Laute zu spielen, lösten sich die Zuhörer aus der Erstarrung. Applaus brandete auf. Yanus klatschte eher zögerlich – die Augen der Dichterin wurden zu schmalen Schlitzen. „Was hat ihm nicht gefallen?“, fragte sie Mondon.
Während die anderen Gäste sich wieder über Getränke und Leckereien hermachten, beugte sich Mondon vor: „Er versteht die Sprache nicht, Orelie. Er spricht nur Neuwittländisch.“
Sie starrte ihn unfreundlich an. Yanus spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Nun – dann wüsste ich an seiner Stelle, welche Defizite zu bereinigen sind.“
„Er stammt aus den Kolonien“, erklärte Mondon.
„Das sieht man“, spottete sie. „Aber er ist doch hoffentlich von Adel? Ich hätte nie diese beiden Farben kombiniert.“
Yanus sah an sich herunter. Zur purpurroten Hose trug er einen violetten Überwurf. „Blass und elegant steht mir nicht“, sagte er. „Dann sehe ich aus wie eine Wasserleiche.“
Orelie schob das Kinn vor. „Nur weil wir Wittländer leuchtendere Farben zustande bringen als die Stümper in den Kolonien, heißt das noch lange nicht, dass man sich so darin suhlen muss. Selbst Westländer ziehen sich dezenter an.“
Yanus zupfte sich an der Nasenspitze. „Nun … auch Teufeln sagt man einen gewissen Hang zur Auffälligkeit nach.“
„Man hat die Wahl, welchem Laster man sich hingibt“, entgegnete sie kalt.
„Ist Stolz ein Laster?“, fragte er.
„Nein. Nicht die richtige Art von Stolz. Aber wer sich zu fein ist, sich mit der literarischen Sprache Wittlands zu befassen …“
„Ich bin erst seit ein paar Monaten in diesem Land“, protestierte Yanus. „Und bisher hatte ich noch keine sprachlichen Schwierigkeiten. Die Dichter der Kolonien lehnen es ab, in altertümlichen Idiomen zu schreiben. Sie leben voll und ganz im Hier und Jetzt, sie trachten vielmehr danach, die Sprache zu erneuern, ihr eine frische, unerwartete Schönheit zu schenken.“
Sie zog sie Luft durch die Zähne. „Ihr sagt mir, meine Gedichte seien altmodisch?“
„Ich maße mir kein Urteil an. Aber wenn ich Eure Gedichte verstünde, müsste ich das vielleicht behaupten.“
Mondon mischte sich ein. „Orelie, dies ist Yanus von Tredorn.“
Orelie erblasste. „Der Halbmond?“
„Der Halbmond?“ Mondon sah Yanus fragend an.
Yanus biss sich auf die Lippe. „Das war ein Spitzname. Als ich in den Kolonien kämpfte.“
„Ein Teufel, der an der Spitze des Rebellenheeres in die Schlacht zog“, ergänzte Orelie. „Ich arbeite gerade an einem Klagegesang über … über Euch. Ich dachte, Ihr wäret in der Schlacht gestorben.“
„Ich lebe noch – tut mir Leid.“
„Alle Helden sterben auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes“, stellte sie beleidigt fest.
Mondon verschränkte die Arme vor der Brust. „Gibt es da etwas, das ich nicht weiß?“
„Offensichtlich“, sagte Orelie leise. „Yanus von Tredorn ritt als Anführer in die Schlacht, suchte nach dem Herrn der wittländischen Armeen und geriet in einen Zweikampf auf Leben und Tod. Er wurde tödlich verletzt, doch bevor er zwischen all den gemeinen Soldaten sterben konnte, erschienen Engel, die ihn vom Feld trugen, so dass sein Blut sich im Tode nicht mit Söldnerblut mischen musste.“
„Eine gute Geschichte“, fand Mondon.
„Ganz so war es nicht“, wandte Yanus ein.
„Ich habe diese Geschichte nie zuvor gehört“, gab der Jüngste Prinz zu. „Orelie – bitte vollendet diesen Klagegesang in meinem Namen. Ich werde Euch so großzügig dafür entlohnen, wie es mir möglich ist.“
„Königliche Protektion?“, flüsterte sie.
Mondon nickte. „Das, was noch keine Dichterin seit den alten Zeiten gewann: Königliche Protektion.“

„Das lief ja besser als erwartet“, sagte Mondon, als er Yanus zu seinem Haus zurückbrachte.
„Besser als erwartet? Wir haben uns die ganze Zeit gezankt!“
„Sie hat dich bemerkt, ist das nichts?“
„Lasst mich etwas klarstellen: Was soll eine Frau wie diese mit mir anfangen?“
„Sie ist doch schon halb in dich verliebt. Sie hat deine Geschichte für ihr neues Meisterwerk ausgesucht. Sie hat sich in einen Helden verliebt.“
„In einen toten Helden“, erinnerte ihn Yanus düster.
„Der nun unerwartet in ihr eintöniges Leben tritt. Dichterinnen ziehen es meist vor, unverheiratet zu bleiben. Natürlich kreisen ihre Gedanken permanent um Männer.“
„Ich finde, das ist eine gefährliche Verallgemeinerung.“
„Was hat sie denn schon groß zu tun? Sie steht auf, trinkt ihren Tee und starrt ein paar Stunden lang aufs Papier. Solche Frauen verlieben sich immer in Helden.“
„Die dann nicht ihren Vorstellungen genügen.“
Mondon lachte. „Sie hat einen Teufel gewählt, hast du daran gedacht? Es ist zugleich ein Rückgriff auf alte Formen und ein gewagter Schritt in die Zukunft. Teufel treten nicht in Heldenrollen auf. Sie sind verschlagen, rachsüchtig und stinken. Sie sterben nicht so edel. Schon gar nicht mit der Unterstützung von Engeln.“
„Einem Engel.“
„Was?“
„Ach, nichts.“
„Das mit den Engeln ist wahr?“
Yanus blieb mitten in seinem Garten stehen. „In den Kolonien laufen die Dinge etwas anders. Es gibt Leute, die … begabt sind. Die Kontakt zu Schutzgeistern aufnehmen können. Oder, wie mein Großvater, Wassergeister zu ihren Freunden zählen.“
Mondon schloss für einen Moment die Augen. Im Sternenlicht sah sein Gesicht grau aus. „Magie.“
Yanus schüttelte den Kopf. „Es sind … Talente. Spezielle Fähigkeiten. Magie ist Manipulation. Mein Vater ist ein Magier, ich kann das also beurteilen.“
„Und warum hast du mir das nie erzählt?“
„Das kann man nicht eben mal beim Tee erzählen, oder? Dazu braucht es einen Anlass.“
„Und du … du kannst nicht …?“
„Ich kann gar nichts. Außer auf einem Pferd sitzen und einigermaßen repräsentativ aussehen. Ich habe diese Schlacht überlebt, weil ich eine sehr begabte Tante habe, die mir Hilfe sandte. Und übrigens: Der Engel ist nicht besonders aufregend. Er ist hässlich und riecht nach Schweiß.“
„An dir hat Orelie ihr ganzes zukünftiges Werk! Sie ist schon jetzt berühmt, aber sie wird in die wittländische Geschichte eingehen – mit diesem Stoff!“
„Wenn sie es ins Neuwittländische übersetzen lässt. Nur mal so als Idee.“ Yanus beugte sich zur Erde und pflückte einen Zweig Duftkraut. Die winzigen weißen Blüten rochen nach Honig und Äpfeln.

„Wie oft hast du dich jetzt schon übergeben?“ Morrie tauchte einen Lappen in Wein, wrang ihn aus.
Qarl richtete sich auf. Sein Gesicht sah schon wesentlich schmaler aus. „Ich habe aufgehört zu zählen. Warum gehst du nicht an Deck? Dir scheint das Geschaukel ja nichts auszumachen … dafür hasse ich dich, Morrie.“
„Du darfst nicht den hassen, der dir die Haare zurückhält und das Gesicht abputzt.“
„Wer sagt das? Ich darf jeden hassen, der nicht grün im Gesicht ist und nicht riecht wie aufgewärmter Räucherhering.“
„Qarl … du hattest die Idee, mit dem Schiff nach Westland zu reisen.“
„Ich habe noch nie etwas so sehr bereut.“
„Du wirst eines Tages noch wichtigere Dinge bereuen, glaub mir.“
„Danke, Morrie. Du bist gut im Aufmuntern.“ Qarl zog sich die Decke bis zum Hals hoch.
Morrie legte ihm die Hand auf die Brust. „Wir werden bald da sein. Du wirst es überstehen. Willst du irgendwas? Zwieback in Milch aufgeweicht?“
„Nein“, stöhnte Qarl. „Oh nein.“
„Dann stirb schön weiter. Wir sehen uns heute Abend.“

Morrie verbrachte einen angenehmen Nachmittag auf dem Deck der Windskind. Er saß neben dem Mast auf einem Fass und wiegte sich mit dem Schiff. Er beobachtete, wie sich das Licht veränderte. Man konnte die Küste sehen. Eine Küste, die sich ebenfalls veränderte. Sie war grün. Sie war gelb. Manchmal sah sie sogar blau aus. Braun, schwarz. Violett. Sie spiegelte sich in der Brandung, im Gefieder der Seevögel. Wenn sie an Land gingen, würden sie es nicht mehr kennen. Morrie hatte mit seinem Cousin vereinbart, dass er sie im westlichsten Hafen absetzen würde. Bei starkem Seegang würden sie mit dem Beiboot zum Strand rudern müssen. Wenn Qarl überhaupt zum Beiboot kam. Morrie sprang vom Fass, streckte die Beine. Er kletterte unter Deck. Qarl lag flach auf dem Gesicht. Morrie setzte sich in seine eigene Koje, wand sich aus den Stiefeln. „Geht es dir besser?“
„Nein. Es wird mir nie wieder besser gehen.“
„Ist dein Bruder auch so wehleidig?“
„Er ist schlimmer.“
„Ich wünschte, er wäre hier.“
„Mein Gott, Morrie – was hast du ständig mit meinem Bruder?“
„Er ist das Sicherste in meinem Leben – ich dachte, das hättest du inzwischen verstanden.“
„Wie lange dauert es noch?“
„Mein Cousin schätzt vier Tage.“
„Oh, grausames Schicksal.“
„Je stärker der Wind, desto rascher legen wir an.“
„Und desto mehr Geschaukel.“ Qarl sammelte all die Kraft, die er noch besaß, richtete sich auf und ließ die nackten Beine aus der Koje hängen. „Vielleicht ist es oben besser.“
„Ja, klar. Dass du es nur weißt: Wenn du ins Wasser fällst, springe ich ganz bestimmt nicht hinterher. Bleib hier, Qarl. Wir können über irgendetwas reden, um dich abzulenken.“
Qarl angelte mit den Zehen nach dem Notfalleimer. „Über was?“
„Darüber, warum wir das hier tun. Hier wird es dir schwer fallen, wegzulaufen. Also kann ich wohl mit einer vernünftigen Antwort rechnen, nicht wahr?“
„Wir tun das, weil wir Griças Familie kennen lernen wollen. Weil wir wissen wollen, wie er gelebt hat, bevor er nach Seestadt kam.“
„Wir tun das, weil du sonst nie über Griças Tod hinweg kämst. Weil du ihn viel zu sehr geliebt hast.“
„Morrie, was redest du da für einen Blödsinn.“
„Wir sind zu weit draußen für Lügen. Glaubst du, dein Bruder hätte nicht den gleichen Verdacht? Deshalb hat er dich überhaupt gehen lassen. Weil er Angst vor dir und deinen spektakulären Trauerbezeugungen hat.“
„Das ist nicht wahr.“
„Qarl.“ Morrie sah ihn eindringlich an. „Qarl, du musst nichts leugnen. Ich verstehe schon.“
„Du verstehst gar nichts. Wir haben immer gedacht, dass du vielleicht, du weißt schon …“
„Ich habe vielleicht keine Ahnung von solchen Dingen, aber bisher habe ich mich immer nur in Frauen verliebt. Du hast nichts … nichts mit ihm gehabt, oder?“
„Natürlich nicht! Griça war nicht … so jemand.“
„Wirst du es Firusz erzählen? Firusz kommt aus den Kolonien. Dort ist das völlig normal.“
Qarl hob den Eimer auf den Schoß. „Vielleicht sollte ich auswandern.“

Das Schwierigste an Beq na Borr war, ihn zum Schweigen zu bringen. Er ritt mit verschmiertem Gesicht voran und schien jeden Grashalm kommentieren zu müssen. „Die Graue Ebene heißt eigentlich gar nicht ‚Graue Ebene’. Das ist die Kurzform von ‚Die Ebene, auf der alle Schafe grau aussehen’. Das liegt daran, dass ‚Der Berg der brüderlichen Zusammenkunft von Erde und Himmel’ einen so langen Schatten wirft.“ Beq saß mit nackten Füßen auf dem Packpferd. Mian und Firusz wechselten einen gequälten Blick. „Haben wir noch irgendetwas sehr Zähes zu essen?“
Firusz schüttelte den Kopf. In den letzten Tagen hatte sich die Landschaft um sie herum verändert, schien welliger und enger geworden zu sein, als zöge sich langsam eine Schlinge zu. Beq na Borr bot den Vorteil, dass alle Menschen, denen sie begegneten, sogleich in die Belange der kleinen Gefährtenschaft eingeweiht wurden und freigiebig mit Nahrungsmitteln und starken Getränken waren, um noch mehr zu erfahren. An diesen Tagen hatte sich Firusz gefühlt wie ein Bär, der am Nasenring durchs Dorf geführt wird. Die Satteltaschen platzten vor Proviant und Geschenken, die in den Kolonien helles Aufsehen erregt hätten. Gürtelschnallen, Zaumzeugbeschläge – mit langen fließenden Mustern verziert, die sich auch in den Tätowierungen der Männer fanden, sie sie bewirteten. Die meisten trugen typisch wittländische Pluderhosen und offene Westen, die einen Großteil des Hautschmucks sehen ließen: stilisierte Tiere, die im Begriff schienen, ihre Träger zu verschlingen. Selbst die Hirsche sahen blutrünstig aus. Die Tätowierungen zeigten an, welcher Sippe die Männer zugehörten. Mit 19 Jahren, kurz vor dem Teufelsritual, wurden sie angebracht, so hatte es Beq erklärt. Er selbst trug ein Erdhörnchen auf der linken Seite der Brust. Das Zeichen der na Sian sei ein Nachtfalter, hatte Beq gesagt.
„Wenn Griça Tätowierungen hatte, so habe ich sie nie gesehen“, musste Firusz zugeben. „Vielleicht hätte ich Qarl danach fragen sollen. Er hat das Zimmer mit Griça geteilt.“ Mian sah bei diesen Worten zur Seite.
„An diesem Fluss fanden schon viele Sippensammlungen statt“, sagte Beq jetzt, während er sein Pferd durch die Furt trieb. „Manche nehmen sogar Wasser aus dem Fluss mit, wenn sie zu ferner gelegenen Treffen reiten. Das Wasser bringt Wahrheit und Trost, so sagt man hier.“
„Aha“, machte Mian.
Firusz hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Es war anstrengend, Beqs Herr und Meister zu sein. Dass Beq bei jeder Gelegenheit mit ihm angab, machte es noch komplizierter.
„Können wir ihn nicht irgendwo anbinden?“, hatte Firusz gefragt.
„Irgendwie würde er doch freikommen und uns nachreisen“, prophezeite Mian. „Geh lieber den einfachen Weg und finde dich mit ihm ab. Wittland hält dich gepackt, Firusz. Eines Tages gehst du in die Kolonien zurück und musst ihn mitnehmen.“
Firusz war sich nicht mehr sicher. Würde er jemals in die Kolonien zurückkehren? Nach dem, was ihm in dieser kurzen Zeit in Wittland widerfahren war?

„Das ist ‚Der Berg der brüderlichen Zusammenkunft zwischen Himmel und Erde’!“ Beq zeigte auf den bläulichen Schatten am Horizont. „Heute Abend reiten wir über die Graue Ebene.“
Mian wurde blass. „Das ging schneller als gedacht.“
Beq kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Ihr wollt doch zu den na Sian, oder?“
Firusz atmete tief durch. „Hör zu, Beq …“
„Nein“, unterbrach ihn Mian. „Ich finde, er sollte die Wahrheit erfahren.“
Beq lauschte mit schief gelegtem Kopf. „Ich verstehe“, sagte er schließlich.
„Was ist in solchen Situationen üblich?“, fragte Firusz angespannt.
Beq räusperte sich. „Jede Sippe hat da natürlich ihre eigene Vorgehensweise. Bei uns nimmt man das Leben des Mörders für das seines Opfers.“
Mian schluckte. „Darauf habe ich mich in den letzten Wochen vorbereitet.“
„Ihr seid ein tapferer Mann. Die na Sian werden stolz sein, Euch für ein Sippenmitglied töten zu dürfen.“
Firusz sah ihn sprachlos an. War das tatsächlich die Art, in der die Westländer dachten? „Wie wird er sterben?“, brachte er schließlich heraus.
Beq zuckte die Achseln. „Diese Entscheidung liegt beim Sippenoberhaupt.“ Er sah zum drohenden Schatten des Berges. „Aber die na Sian sind nicht gerade für ihren Sanftmut berühmt.“


V



Das Sommerlager der na Sian war erstaunlich weitläufig, so als wünsche jeder Zeltbesitzer seine Privatsphäre zu bewahren. Die Graue Ebene war übersät mit langhaarigen Rindern, Schafen und Ziegen. Eine Herde blanker Pferde graste an der flachsten Stelle des Flussufers. Auf eines der Filzzelte war eine Fahne gesteckt worden: das Emblem des Nachtfalters, der aussah wie der Schatten eines besonders blutgierigen Raubvogels. Die Kinder, die am Fluss spielten, sahen die drei Reiter zuerst. Sie zupften die Frauen am Ärmel, die in der zaghaften Sommersonne Butterhäute schwenkten, Felle spannten oder Filz klopften. Frauen, die ihr braunes Haar straff aus der Stirn geflochten trugen und sich kaum vereinbaren ließen mit der Vorstellung, die Firusz’ sich von Griças Sippengenossinnen gemacht hatte. Über dem Lager lag der durchdringende Geruch von ungewaschener Schafwolle und ausgekochten Kräutern. Färbesud stand köchelnd in der Glut, die Pferde schüttelten irritiert die Köpfe. Die barfüßigen Kinder starrten die Fremden an – Beq ritt mit stolzgeschwellter Brust voran. Er führte seinen Herrn und Meister direkt zum bannergeschmückten Zelt. Es war aus dunkler Wolle gefilzt und trug eine Art Banderole aus leuchtend grüner Seide, an die kleine Lederlappen geheftet waren, die im Wind ein flappendes Geräusch von sich gaben.
„Was ist das?“, flüsterte Mian.
„Gebete, die man in Leder gepunzt hat“, sagte Beq. „Am Zelt des Sippenhauptes entfalten sie größere Wirkungskraft als am eigenen.“
„Sollen wir absteigen?“ Firusz zog die Füße aus den Steigbügeln. Beq nickte.
Vor dem Zelt waren Pflöcke angebracht, an denen sie die Pferde festmachten. „An wen müssen wir uns wenden?“
Beq warf sich die Satteltasche über die Schulter. „Überlasst alles mir.“ Beq wählte den einfachen Weg. Er verbeugte sich vor einer der spinnenden Frauen und sprach leise mit ihr. Die mit Ton beschwerte Spindel hörte auf, sich zu drehen. Die Frau nickte, deutete auf das Zelt.
Beq kam zu seinen Gefährten zurück. „Wir sollen hier warten. Das Sippenhaupt inspiziert die Herden und kommt bald. Man wird uns etwas zu essen bringen.“
Zwei Frauen trugen ein Tablett mit Ziegenmilch und in Schmalz gebackenem Brot heran. Firusz und Mian ließen sich auf einem ausgebreiteten Fell nieder, stärkten sich. Der Milch waren Honig und Kräuter beigegeben; sie hinterließ einen klebrigherben Geschmack auf der Zunge. Das Brot war knusprig und fettig, Firusz aß es gierig – bis aus dem Schatten des nächsten Zeltes ein großer breitschultriger Mann hervortrat, dessen mit Pelz besetzte Mütze sein straffes Gesicht betonte, die schmalen Augen, die vorspringende Nase. Er trug mit Faltern bestickte Stiefel und eine knielange, vorn geknöpfte Tunika in tiefem Violett. Für einen Mann, der sein Leben hauptsächlich in Wind, Sonne und Regen verbrachte, war er bemerkenswert blass. „Man hat mir die Neuigkeit bereits zugetragen. Ein na Borr hat ungewöhnliche Gäste mitgebracht.“ Er musterte Mian und Firusz, entschied sich dafür, mit Mian zu sprechen. „Was verschafft mir die Ehre?“
Firusz atmete tief durch. „Wir kommen aus Seestadt. Eure Sippe hat Griça na Sian in die Gesellschaft der Einhörner entsandt.“
Sein Gegenüber ließ nachdenklich den Unterkiefer knacken. „Das ist richtig.“
„Vielleicht sollten wir drinnen weiterreden“, sagte Firusz.

Ein Schlaflager aus Fellen bildete den Mittelpunkt des Zeltes. Eine Feuerschale mit Klauenfüßen erinnerte Firusz an seine Heimatburg, der Widerschein der Glut ließ die wenigen Holzmöbel satt glänzen: als habe man sie aus Bernstein geschnitzt. Eine Art Kommode stand im Zelt, ein paar Hocker und ein Schreibpult, offenbar aus der Stadt importiert. Dies war kein Versammlungsort, sondern ein Privatraum. Der Oberste der na Sian ließ sie auf den Hockern Platz nehmen, er selbst begnügte sich mit dem Bett. „Was ist so wichtig, dass Ihr es nicht vor den Ohren der ganzen Sippe besprechen wollt?“
„Vielleicht sollten wir uns erst vorstellen. Dies ist Mian na Mar, Mitglied der Gesellschaft des Löwen. Ich bin Firusz de Liarette Eliriel, Kontorsschüler in der Gesellschaft des Einhorns. Wir bringen Briefe und … schlechte Nachricht.“
„Zaēl na Sian.“ Der Mann verbeugte sich. „Wen hat Griça geheiratet?“
Firusz schluckte. Seine Kehle fühlte sich heiß und geschwollen an. „Griça ist tot.“
Zaēl na Sian ließ sich nichts anmerken. „Ah. Ich wusste, es ist entweder das eine oder das andere.“ Er streckte die bleiche Hand aus. Firusz griff in seine Tunika und zog das Bündel Briefe heraus, das er nun schon seit so vielen Tagen bei sich trug.
Zaēl brach Qasimirs Siegel auf; er blieb ruhig, das Papier in seinen Fingern zitterte nicht. Als er zu Ende gelesen hatte, legte er die zerknitterten Briefe beiseite und nahm die Mütze ab. Er hatte langes dunkelbraunes Haar, an den Schläfen ausrasiert und im Nacken mit einem breiten Seidenstreifen zusammengebunden. „Ich halte es jedem zugute, der heute noch den Mut besitzt, für seine Taten einzustehen.“ Er erhob sich und ging zu Mian hinüber. Der Löwe bebte auf seinem Hocker. Zaēl berührte sein Gesicht mit dem Finger, zog eine Linie von der äußersten Kante der rechten Augenbraue bis zum Kinn. Dann holte er aus.
Mian wurde quer durch das Zelt geschleudert, landete gekrümmt auf der Seite. Sofort breitete sich Blut unter seinem Gesicht aus. Firusz warf sich vor ihn.
Zaēl lachte. „Keine Angst. Ich werde ihn nicht im Verborgenen umbringen.“
Firusz sah ängstlich zu ihm auf. „Er ist bewusstlos!“
„Und?“ Zaēl ließ sich auf die Knie nieder, zog Firusz von Mian fort. „Du musst ihn nicht beschützen.“
„Ich will ihn gar nicht beschützen!“ Firusz spürte, wie ihm Tränen vom Kinn tropften. „Griça war mein bester Freund.“
Zaēl nahm sein Gesicht in die Hände, küsste ihn auf die Wange. „Ich bin dir dankbar, dass du gekommen bist“, sagte er. „Du kannst dich darauf verlassen: Ich werde meinem Bruder gerecht werden.“

Sie wurden in einem winzigen Zelt untergebracht. Mian lag zusammengerollt auf den Fellen, sein Gesicht war angeschwollen und lief langsam dunkel an. Firusz stellte einen Becher Wasser neben ihn. „Wie geht es dir?“
Mian stöhnte. „Ich habe immer noch Angst. Dass Griça von so hohem Rang war, macht alles noch schwieriger.“
Firusz legte sich neben ihn. „Ich bleibe hier.“

In den nächsten Stunden fungierte Beq na Borr als Kontaktpunkt zur Welt des Lagers, in der sich die Nachricht von Griças Tod ausbreitete. Firusz saß neben der Bettstatt und nagte sich die Fingernägel ab. „Meinst du, sie werden sich mit Mians Tod begnügen? Oder bringen sie den Teufel gleich mit um?“
Beq zuckte die Achseln. „Euch trifft keine Schuld, Herr. Für gewöhnlich können auch wir Westländer Unterschiede machen. Griça na Sian scheint beliebt gewesen zu sein. Er hat eine große Lücke hinterlassen, als er damals nach Seestadt ging. Sein Bruder hat ihm diesen Wunsch gewährt und schon damals ein schlechtes Gefühl dabei gehabt. Westländer gehören nicht in die Stadt. Stadtmenschen reagieren von Natur aus aggressiv auf uns.“
Firusz kniff die Augen zusammen. „Warst du schon mal in der Stadt, Beq?“
Beq sah sehnsuchtsvoll aus. „Nein.“
„Ah. Glaub mir, Griça hatte es nicht schwerer als ich.“
„Das kann man wohl kaum vergleichen. Mit dem größten Respekt, Herr.“
Firusz stützte den Kopf in die Hände. „Seestadt ist bunt und aufregend. Im Hafen legen Segler an, die den Duft ferner Inseln mitbringen. In ihren Rümpfen verbergen sie kostbarste Gewürze, Stoffe und Edelsteine. Überall in der Stadt kann man sich für wenig Geld unterhalten lassen. Das Bier ist süß und köstlich, das Essen mit all den fremdländischen Spezereien gewürzt, die in Seestadt verkauft werden. Griça hat sehr gut in diese Stadt gepasst. Der ewige Rangstreit zwischen den Handelsgesellschaften ist an seinem Tod schuld. Mian hätte sich von der Verantwortung freikaufen können, seine Familie besitzt Reichtum und Einfluss.“
„Oh, ich finde ihn mutig“, beruhigte ihn Beq mit strahlenden Augen. „Aber erzählt doch ein bisschen mehr von der Stadt.“

Es war spät in der Nacht, als Beq ihn vom Bett zerrte. „Zaēl na Sian wünscht Euch zu sehen“, sagte er leise, um Mian nicht zu wecken. Firusz ließ sich von ihm durchs Lager leiten. Es war windig und kalt, ihm klapperten die Zähne, als er das immer noch kuschlig warme Zelt des Sippenhauptes betrat. Rings herum saßen viele Männer im Kreis, alle hatten die Tuniken abgelegt und ließen ihre Tätowierungen sehen. Firusz erkannte den Falter in einem Dutzend von Varianten – es gab selbst in der Steppe den alten und den neuen Stil.
Zaēl na Sian stand mit überkreuzten Armen an der Mittelstange des Zeltes. Er war als einziger zugeknöpft bis unters Kinn. In seinen Augen las Firusz weder Verständnis noch Milde. Hier stand ein Mann, der Rache für den Tod seines kleinen Bruders wollte, der so wütend war, dass er schon wieder ruhig sein konnte. „Setz dich“, sagte er. „Lass meine Sippenbrüder sehen, was du bist.“
Für einen Moment sah Firusz ihn regungslos an, dann begriff er. Er löste den Gürtel, rollte das Obergewand von den Schultern, um zu zeigen, dass er nicht tätowiert war. Die anderen Männer, alle dunkelhaarig und mit gebräunten Gesichtern, nickten einander zu. Firusz fühlte sich auf sonderbare Weise erleichtert. Hier schien niemand an der Tatsache interessiert zu sein, dass er ein Teufel war. Vielleicht wurde bei den na Sian das Mannbarkeitsritual auf andere Weise praktiziert. „Du sprichst für Mian na Mar“, stellte Zaēl fest.
Firusz nickte langsam.
„Ginge er ohne Furcht in den Tod?“
„Nein“, antwortete Firusz wahrheitsgemäß.
Gemurmel erhob sich.
Zaēl hüstelte Ruhe gebietend. „Ließ seine Familie ihn freiwillig ziehen?“
„Sie hat ihn ausgeschlossen.“
„Ist er ein guter Reiter?“
„Ja.“
„Hattest du Gelegenheit, ihn beim Handeln zu beobachten? Versteht er sich darauf?“
Firusz wurde rot. „Er hat … er hat mich dazu benutzt, günstigere Preise herauszuschlagen. Meine … Volkszugehörigkeit, wenn Ihr versteht.“
Daran war Zaēl nicht besonders interessiert. „Hast du ihn als freundlich empfunden?“
„Die meiste Zeit über ja.“
„Ist er dein Freund geworden?“
„Wenn Ihr damit meint, dass er Griça ersetzt haben könnte …“
Zaēls Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse. „Das meine ich ganz sicher nicht.“ Er löste sich von der Zeltstange und ließ sich auf einem Knie neben ihm nieder. Firusz empfand diesen Westländer als ehrfurchtsgebietender, wenn er sich auf Augenhöhe herunterließ. Zaēl wusste um diese Wirkung, da war er sich sicher. „Ist er dein Freund geworden?“
„Nein. Nein, ich glaube nicht.“
„Heute Mittag hast du ihn geschützt.“
„Ich … ich …“
„Schon gut. Lässt er eine Frau zurück?“
„Nein.“
„Kinder?“
Firusz sah verwirrt in die Runde. „Nein.“
„Ich habe die Briefe deines Ersten Einhorns gründlich gelesen.“ Zaēl lächelte kalt. „Er ist ein Mann, der die Denkweise der Steppen versteht. Wir fordern Gleiches für Gleiches.“
„Ich verstehe.“
„Ich rechne es ihm hoch an, dass er mir einen Mann schickt, der meinen Bruder liebte so wie ich selbst. Und der ihn vielleicht besser gekannt hat. Dies hier ist die Welt, aus der er kam und von der du noch nichts weißt.“ Er drehte sich um. Beq na Borr, der am Zelteingang stand, öffnete die Klappe. Eine Frau trat ein. Im Licht der Feuerschale leuchtete ihr Haar rötlich, aber vermutlich war es braun. Sie hatte breite Schultern und Hände, ihre Augen schienen merkwürdig hell, vielleicht waren sie blau. Zu ihrer dunklen Haut sah das unpassend aus – wie ein schwarzer Hund mit hellen Augen. Es war lange her, dass Firusz so dicht bei einer Frau gesessen hatte, die keine Schankmaid war. Seine Ohren begannen zu puckern.
„Da ist Teya na Sian. Sie hätte Griça heiraten sollen.“
Firusz wurde so kalt, dass er sich gezwungen sah, die Tunika wieder um die Brust zu ziehen. „Es tut mir Leid.“
Sie sah ihn mit ihren merkwürdigen Augen an, als verstünde sie all das, was er in den letzten Wochen durchgemacht hatte. „Mir tut es auch Leid.“
Zaēl ließ sie sich ebenfalls setzen. Teya faltete in einer Art die Beine unter den Körper, die Firusz sagte, dass sie nicht daran dachte, sich in ihrer derzeitigen Situation um Anmut zu bemühen. Ihr Verlobter war tot und sein Mörder nur wenige Schritte von ihr entfernt. Zaēl bedeutete einem der Männer, ihr einen Becher heißen Weins zu reichen. Firusz bekam keinen.
„Wir müssen auch in Teyas Namen Gerechtigkeit fordern“, sagte Zaēl.
Wieder zustimmendes Gemurmel.
Teya senkte den Kopf, starrte auf den Becher in ihren Händen. Zaēl wandte sich Firusz zu. „Du verstehst jetzt, weshalb uns keine Wahl bleibt. Ich muss dich auffordern zu gehen. Wir werden noch länger beraten.“

Firusz sah sich nicht imstande, sofort zu Mian zurück zu kehren. Er schickte Beq zum Zelt, damit wenigstens er zu Schlaf kam. Er selbst wanderte im Lager auf und ab, blind für den klaren Sternenhimmel über ihm oder die Pferde, die ihn auf seinem Streifzug beobachteten. Hatte Qasimir das vorausgesehen, als er ihn schickte? Firusz ließ sich auf einen Stein sinken, der zwischen den Zelten lag. Er zitterte noch immer. Ein Hund lief von Zelt zu Zelt, schnüffelte herum, kam schließlich zu ihm herübergetrabt und setzte sich. Im Sternenlicht glänzte sein kurzes Fell. Firusz streckte die Hand aus. Der Hund rückte näher an ihn heran, leckte ihm die Finger ab.
„Ich sehe, dass du dich quälst.“
Er sah auf. Teya beugte sich über ihn, das Haar war ihr über die Schultern gerutscht und bauschte sich vor seinen Augen zur Wolke. „Du musst geschehen lassen, was geschieht. Diese Männer sind in der Fällung von Entscheidungen geübt.“
„Wie soll ich mich fühlen, wenn ich das Zelt mit jemandem teile, der in wenigen Tagen stirbt – der fast vor Angst vergeht und immer noch nicht auf sein Pferd springt und sich seiner Verantwortung entzieht?“
Sie streckte die Hand aus. Firusz kam zu ihr, wie der Hund zu ihm gekommen war, drängte sich an ihre Handflächen. Sie küsste ihn auf den Scheitel. Er presste seine Stirn an Teyas Bauch. Für einen Moment schien alles um ihn herum zu flirren, als löse er sich für einige Wimpernschläge auf, brande gegen sie wie eine kleine, verwirrte Welle. Sie strömte Wärme aus, obwohl er auch ihren Schmerz spürte: ein zappelnder Vogel hinter einem unbewegten Vorhang. Firusz hielt sich fest, versuchte seine Fassung wiederzufinden, seinen Rahmen. Die Dankbarkeit, die er empfand, dass sie sich von ihm berühren ließ, ohne jeglichen Ekel … Irgendwann er ließ er sie los, da er fürchtete, nicht länger ertragbar zu sein. Sie legte die Hand an seine Wange und ging davon. Der Hund folgte ihr.

Firusz sah die Sonne aufgehen. Als ihn das erste Licht traf, schauderte er bis tief in die Erde hinein. Er blieb sitzen, bis Beq ihn bei der Schulter fasste. „Ihr seid völlig ausgekühlt. Ihr werdet Euch den Tod holen, Herr.“
„Es geht mir gut, Beq.“
„Habt Ihr Hunger?“
„Nein.“
„Vielleicht solltet Ihr versuchen, Euch für ein paar Stunden hinzulegen, Schlaf nachzuholen. Das Bett ist jetzt frei.“
Firusz fuhr auf. „Wo ist Mian?“
„Sie haben ihn abgeholt.“
„Was?!“
„Ihr könnt nichts tun.“ Beq klopfte ihn auf den Rücken.
„Wo ist Zaēl na Sian?“
„Vermutlich in seinem Zelt.“ Beq schloss die Augen. „Nein, bitte nicht. Er wird ungehalten sein! Herr!“

Firusz riss die Zeltklappe so heftig auf, dass die Lederstrippen zurückschnalzten. Das Zelt des Sippenhauptes war dunkel, nur der Rest Glut in der Feuerschale glimmte.
„Wo habt Ihr ihn hinbringen lassen?“, schrie Firusz.
Unter einem Haufen Felle und Filzdecken arbeitete sich der Oberste der na Sian hervor. „Bitte was?“
„Wo ist Mian na Mar?!“
„Glaubst du wirklich, ich lasse ihn still und heimlich umbringen?“ Zaēl richtete sich stöhnend auf. „Reiß dich zusammen. Beq: geh raus und mach die Klappe zu.“
Sobald sie allein waren, brach Firusz neben der Feuerschale zusammen.
Zaēl stand auf, kam zu ihm. „Es ist ihm nichts geschehen“, sagte er leise. „Ich habe ihn in ein Zelt bringen lassen, das seiner jetzigen Situation angemessen ist. Eines, das typische Einrichtung und ein wenig Komfort bereithält.“
„Danke“, schniefte Firusz. „Es tut mir Leid – ich weiß nicht, was mit mir los ist.“
Zaēl legte die Arme um ihn, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie Teya es getan hatte. Vielleicht waren die Barbaren so. Vielleicht standen sie so viel enger in Kontakt mit dem, was man im entscheidenden Moment benötigte … er spürte die Bettwärme auf Zaēls Haut. Er versuchte ruhig zu atmen. Er war so mit seinem eigenen Körper beschäftigt, dass er erst einige Minuten später merkte, dass Zaēl weinte. Er weinte leise, auf unheimliche Art würdevoll. Dann begann er zu reden: „ … er hat versprochen, wiederzukommen. Er hat mich bekniet, mich angefleht … hätte ich ihm das abschlagen können? Er hat sich so sehr nach etwas anderem gesehnt … ich habe ihm gesagt, die Reise wird gefährlich, du wirst dir Feinde machen …“ Zaēl presste das Gesicht in Firusz’ Brust, so fest, dass es wehtat, dass seine Lungen brannten. „Ich habe seinen Mörder bei mir, verstehst du? Ich habe ihn hier bei mir.“ Zaēl stieß sich mit der Stirn von Firusz’ Körper ab, landete mit einer fließenden Bewegung in der Hocke und stand auf. Firusz rieb sich die Brust.
„Es tut mir Leid“, sagte das Sippenhaupt.
Firusz starrte ihn betroffen an. „Nein“, sagte er. „Nein. Ihr müsst – Ihr müsst so denken.“
„Das meine ich nicht.“ Zaēl klang wieder so frostig wie vor wenigen Stunden. „Wir Barbaren sind … körperlicher als die Menschen in den Städten. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Es ist in Ordnung. Es tröstet.“
Das Morgenlicht kam durch den offenen Teil der Zeltdecke, breitete sich mit silbrigen Glanzlichtern auf den Möbeln aus, auf Zaēls Nachtkleidung. „Ich habe mich noch nicht entschieden“, sagte er. „Die anderen haben ihre Stimmen gegeben und Mian na Mars Schicksal ist bestimmt worden. Aber ich selbst habe mich noch nicht entschieden, was ich mir für ihn wünsche.“
„Ich danke Euch“, flüsterte Firusz. „Ich weiß nicht, ob ich an Eurer Stelle so unentschlossen wäre.“
„Hast du Brüder?“
„Nein, auch keine Schwestern.“
„Griça war das einzige meiner Geschwister, das überlebt hat. Meine Mutter ist daran zerbrochen, dass eines nach dem anderen starb. Sie hat Griça und mich verlassen, sie ist in den Fluss gegangen, hat sich von den Fischen fressen lassen.“ Er zog eine Seidentunika von der Kommode, schlüpfte hinein. Der Stoff schien sich mit dem Körper, der ihn ausfüllte, zu entzünden: plötzlich kehrten die Farben in den Morgen zurück. Die Tunika war kornblumenblau, die Decke auf der Bettstatt rosenfarben, die Stiefel vor dem Bett von sattem Grün. Zaēl sah inmitten all der Pracht verloren aus. Er hatte keine Frau, die das Zelt mit ihm teilte und vielleicht nicht einmal Kinder, die ihn in die nächsten Jahre tragen konnten. Was war mit Zaēls Frau geschehen? War auch sie gestorben? Hatte ihn verlassen, und alles was ihm bis gestern geblieben war, war der Gedanke an den kleinen Bruder gewesen, so glücklich wie möglich irgendwo in der Ferne? Der eines Tages zurück kommen und ganz neue Geschichten in die Steppen bringen würde?
„Mian na Mar wird vorbereitet.“
Firusz schloss die Augen, griff nach der Mittelstange. Klammerte sich fest.
Zaēl legte ihm die Hände auf die Schultern. „Willst du mit mir frühstücken?“
Firusz nickte schwach. Wie würde er diesen Tag ohne Zaēls Hilfe überstehen? Ohne Teyas Hilfe, die auch anwesend sein musste, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun?

Gegen Mittag, als sie sich für Stunden über kaltem Fleisch und Brot angeschwiegen hatten, kam ein Mann ins Zelt. „Fertig“, sagte er.
„Ich werde es mir ansehen. Kommst du mit?“
Firusz begann wieder zu zittern. „Ja, natürlich.“
Sie gingen durch das Lager, das eigentümlich unbelebt schien. Die Wolken hingen tief über den Zelten, langsam baute Zaēl seine unerbittliche Körperhaltung auf, Schritt für Schritt wurde er wieder zu dem Mann, der die Bräuche seiner Sippe ehrte. Der selbst vielleicht vergeben konnte, aber jegliches Verständnis zu leugnen bereit war. Das Zelt, das sie nun betraten, war so groß, dass man ohne Probleme die gesamte Sippe darin unterbringen konnte. Mian saß auf einem Schemel, seine Augen waren geschwollen, das Gesicht aufgequollen und blau. Er hatte Schmerzen. Starke Schmerzen.
Firusz sah fassungslos in die Runde. Die Männer, die anwesend waren, schienen unbewegt. Teya stand zwischen ihnen, mit streng zurückgekämmtem Haar. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“ Er drehte sich um, rammte Zaēl na Sian die Fäuste in die Brust. „Ihr habt ihn foltern lassen!“
Zaēl keuchte, versuchte, seine Handgelenke fest zu halten, bekam hektische Flecken im Gesicht. „Hör auf!“
Firusz schlug ihm den Ellenbogen unter den Kehlkopf – Zaēl ging nach Luft ringend zu Boden. Niemand versuchte, Firusz abzuhalten. So als erwarte man von ihm, seine Wut am Sippenhaupt auszulassen. Es war Teya, die ihm schließlich Einhalt gebot. „Er wurde nicht gefoltert.“
Firusz wandte sich um. Mian schwankte auf seinem Hocker. Die dünne Tunika hatte sich verschoben, man sah die gerötete Haut.
Firusz knirschte mit den Zähnen. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Sie haben mich tätowiert“, sagte Mian leise.
„Warum?“
Zaēl richtete sich mit Teyas Hilfe auf. „Es sind nur die Außenlinien“, sagte er heiser. „Ausgefüllt wird später.“
„Warum?“, fragte Firusz noch einmal.
Teya berührte ihn am Ellenbogen. „Das ist die übliche Vorgehensweise, wenn man in die Sippe der na Sian aufgenommen wird.“
„Er muss zur Sippe gehören, um für Griça zu sterben?“
„Er wird Griças Platz einnehmen“, erklärte Teya. „Er wird Gleiches mit Gleichem vergelten. Er hat der Sippe ein Mitglied genommen und er wird es ersetzen.“
Zaēl rieb sich den Hals. „Außerdem hätten die Ältesten gern ein paar blonde Kinder im Lager.“
Firusz starrte Teya an. „Du wirst Mian zum Mann nehmen?“
„Alle erfüllen ihre Pflicht.“ Zaēl nahm ihn an den Schultern. „Herzlichen Glückwunsch. Du bist offizieller Zeuge der Trauung.“


VI



Dichterinnen schienen in Wittland einige ungewöhnliche Privilegien zu genießen. Yanus ließ sich von Seçil erzählen, dass Orelie die einzige Frau bei Hofe war, die ebenfalls den Status des Königlichen Gastes inne hatte und über eine ähnliche Wohnsituation verfügte wie Yanus selbst. Zudem wurde sie nie im Zusammenhang mit einer Sippe erwähnt – sie schien für sich selbst sein zu dürfen. Es wurde noch wärmer im Tal der Könige, die Blüten waren von den Bäumen verschwunden, von den Wegen gefegt; nun zeigte sich zum ersten Mal das satte Grün des späten Sommers in den Gärten. Die Farben der Blumen wurden kräftiger. Yanus erwachte eines Tages vom Duft eines Straußes rosenähnlicher Blüten, die Seçil auf seinen Teetisch gestellt hatte. Sie rochen frisch, ein wenig nach Zitrusfrüchten und doch beruhigend süß. Er führte eine der fedrigleichten Blüten an seine Nase. Orelie hätte gewiss Worte für das gefunden: die kitzelnde Berührung der Blütenblätter an seinem Mund, das leise Rascheln und Schaben, die Festigkeit des Stieles, das Wasser, das ihm gerade in den Ärmel lief … Dichterinnen wurden dafür bezahlt, Worte zu finden. Jetzt saß sie in ihrem Haus und füllte Papier mit seiner Geschichte – verklärt, überschönt. Wie sah ich im ersten Entwurf aus? Yanus steckte die Blüte zurück in die Vase und bedauerte, sich ankleiden und ins Licht hinaus treten zu müssen. Seçil hatte ihm den Badezuber fertig gemacht – er hörte das Platschen des heißen Wassers. Er warf sich in den leichten Seidenmantel und trat vor sein Haus. Blütenblätter schwammen auf dem Badewasser, ein Krug mit Fruchtsaft stand bereit … die Binsenmatten ließen einen Blick auf den Garten frei – alles strahlte und streckte sich, das Wasser umspülte seinen Nacken. Ein Luxus, aus Vergnügen baden zu dürfen, nicht, weil man unerträglich stank … er tauchte die Haare ins Wasser.
„Morgen.“ Orelie trat in die Öffnung zwischen den Binsenmatten.
Yanus quietschte und schlug die Beine übereinander. „Was macht Ihr hier?“
„Ich darf mich frei bewegen.“ Sie trug ein eng anliegendes Gewand in Lavendelblau. Das Haar hatte sie mit Nadeln aus rosa Holz aufgesteckt. Sie drehte den Eimer um, den Seçil zum Befüllen des Zubers verwendet hatte und setzte sich. „Beruhigt Euch – ich guck Euch schon nichts ab.“
Yanus sagte sich, dass sie in ihrer gegenwärtigen Position unmöglich in den Zuber schauen konnte. Trotzdem gelang es ihm nicht, sich zu entspannen. „Warum seid Ihr gekommen?“
„Ich brauche Eure Hilfe. Mondons Auftrag stürzt mich in Konflikte.“
„Und mich erst“, murmelte Yanus. „Was soll ich denn tun?“
„Mich mit den Fakten vertraut machen. Ich möchte das Leben in den Kolonien so wahrheitsgetreu wie möglich darstellen. Teufelsgetränke, befremdliche Tischsitten, exotische Speisen … Ihr seid meine Quelle der Wahrheit.“
„Wahrheit? Damit Ihr uns zu dem machen könnt, das wir in den Augen der Wittländer immer waren?“
Ihr Mund wurde schmal. „Ich bin bereit, zuzuhören. Künstlerische Inspiration zu Voraussetzungen zu suchen.“
„Darf ich mich erst anziehen?“
Sie griff in ihr Gewand, holte ein gefaltetes Stück Papier und einen Kohlestift hervor. „Ich dachte, Ihr könntet mir jetzt ein paar Fragen beantworten. Morgens bin ich im Allgemeinen sehr produktiv.“
„Habe ich eine Wahl?“
Sie knickte das Papier auf. „Nein.“

„Meine Finger fangen an zu schrumpeln.“
„Gleich fertig. Wie muss ich mir die Kleidung zum Zeitpunkt des Aufstandes vorstellen?“
„Kleidung ist wirklich ein großartiges Stichwort. Ich stehe jetzt auf – und wenn Ihr auch nur einen Funken Anstand im Leib habt, geht Ihr solange auf die andere Seite des Hauses. Seçil!“
Nichts rührte sich. Yanus knirschte mit den Zähnen. „Verräterschwein.“
Orelie steckte sich den Kohlestift hinters Ohr. „Ich erwarte Euch im Haus.“ Sie stand auf.
Yanus wäre beinahe im Zuber ausgeglitscht, so hastig erhob er sich. Ihm war kalt, die Baderobe rieb über die Gänsehaut; er knotete die Hose am Bauch zu, band sich das Haar auf. Orelie saß neben dem niedrigen Teetisch und stupste die duftenden Blüten mit dem Stift an. Ein Blatt löste sich, segelte wie eine Schale aus Federn zu Boden.
„Müsst Ihr alles kaputt machen?“, fragte Yanus, nicht länger in der Lage, schüchtern und verschämt zu sein.
Sie hatte noch mehr Papier aus dem Gewand gezogen, sicher war es warm und roch nach ihr. „Was habt Ihr damals getragen?“
„Ein Wams nach Art der Kolonien, geknöpft wie die westländisch beeinflussten Gewänder hier bei Hofe, lederne Reithosen, schiefgetretene Stiefel.“
„Ist das die Tracht der Kolonien?“
„Die meisten der Männer, die mit uns kämpften, waren einfache Bauern. Sie trugen alles, was ihnen in die Hände fiel. Mode hat uns damals nicht sehr beschäftigt.“
„Wie war das Wetter am Tag der Schlacht?“
„Ich glaube, es hat genieselt. Aber zuvor hatte es stark geregnet und der Boden war aufgeweicht. Ich kann mich daran erinnern, dass der Schlamm warm von Blut war.“
„Habt Ihr an diesem Tag das Auge verloren?“
„Nein. Nein, das war bereits zuvor geschehen. Bei der Belagerung einer Landknechtsgarnison. Mein Vater hat mich gesund gepflegt und in die Rebellenarmee eingeschleust. Man hielt das Wappen der de Liarette für zugkräftig.“
„Was habt Ihr bei diesem Kampf verloren?“
„Einen guten Freund meines Vaters.“
„Keinen Eurer Freunde?“
„Ich kannte nicht viele. Vater hat dafür gesorgt, dass ich keinen Umgang mit den Männern hatte.“
„Warum glaubt Ihr, hat Euch die Überlieferung für tot erklärt?“
Yanus trommelte mit den Fingern auf den Teetisch. „Weil es die bessere Geschichte ist – so wie Ihr selbst gesagt habt. Es war vor vielen Jahren.“
„Ihr seht noch sehr jung aus.“
„Das ist einer der Vorteile, die man als Halbling hat. Oder Nachteile, je nachdem. Sagt man nicht, dass … äh?“
„Was?“
„Ach, nichts.“
Sie legte den Stift beiseite. „Man hat Euch erzählt, ich stammte von einem alten Teufelherrschergeschlecht ab?“
„Mondon hat so etwas angedeutet.“
„Viele Generationen sind seither vergangen.“ Orelie zupfte sich an der Nasenspitze. „Es stimmt – alle Mitglieder meiner Familie zeichnen sich durch Wohlgestalt und Anmut aus – aber das kann andere Gründe haben. Mitglieder meiner Familie initiierten den ersten Zug in die Kolonien, habt Ihr das gewusst?“
„Ihr seid eine Westländerin?“
„Nein. Die väterliche Linie stammt aus diesem Gebiet, aber mein Westländerblut hat sich längst ausgewaschen. Die mütterlichen Linien, die meine Familie kreuzten, waren von großer Bedeutung für die Königliche Familie. Aber meine Vorfahren brachten Legenden mit. Sie hinterließen Aufzeichnungen über ein Volk von kleineren Teufeln, die Burgen unter der Erde bauen. Die ‚Unterirdischen’, die in ihren Kammern Goldschätze unbekannten Ausmaßes horten. Einer meiner größten Erfolge ist ein Märchen über den Schatz der Unterirdischen.“
„Kobolde“, korrigierte Yanus.
„Es gibt sie tatsächlich?“
„So wie es Wasser- und Schutzgeister gibt. Ich bin sicher, sie leben auch hier in Wittland.“
„Aber hier gibt es keine Sagen über sie. Wir sind schon immer den Worten unserer Priester gefolgt.“
„Aber Eure Priester glauben ebenfalls an Schutzgeister, an Wesen, die in den himmlischen Sphären wohnen.“
„Was ist mit dem Engel, der Euch vom Schlachtfeld holte?“
„Ein Freund der Familie.“
Sie runzelte die Stirn. „Was?“
„Nun … er hilft meiner Tante im Haushalt … und so. Er spült das Geschirr, kocht Tee. Sie ist Wahrsagerin und er ist ihr bei den Prognosen behilflich.“
„Eine Art Hausgeist?“
„Er wäre sehr beleidigt, wenn Ihr ihm das ins Gesicht sagtet.“
„Die Kolonien faszinieren mich.“
Seçil tauchte plötzlich hinter ihr auf, setzte ein Tablett mit Tee und Gebäck ab. Yanus packte ihn am Ärmel. „Gewissenloses Miststück“, zischte er.
Seçil machte sich frei und zuckte die Achseln. „Ich dachte, wenn Ihr schon hier seid, könntet Ihr Euch wenigstens etwas nützlich machen.“
„Ihr leistet einen wertvollen Beitrag zur wittländischen Literatur“, sagte Orelie mit knappem Lächeln. „Und sehr wahrscheinlich werdet Ihr durch mein Werk berühmt.“
„Was habe ich davon? Ich will meine Pferdezucht aufbauen, das ist alles.“
„Warum sollte Eure Bekanntheit diesem Vorhaben schaden?“, wandte Seçil ein.
„Wenn ich in diesem zukünftigen Meisterwerk sterbe, schadet es mir sehr wohl!“
Orelie schnellte vom Boden hoch. „Wer sagt, dass ich Euch immer noch sterben lasse?“
„Es wäre Euch zuzutrauen! Ihr redet viel von der Wahrheit – aber in Wirklichkeit sucht Ihr doch nur nach einem spektakulären Rahmen für Eure eigenen Ideen!“
„Das ist eine Lüge“, sagte sie ruhig.
„Wie viel von dem, was ich Euch heute erzählt habe, werde ich später wiederfinden? Was werdet Ihr nicht verdreht haben, bis es Eurem Verständnis von mir und meinem Land entspricht?“
„Vielleicht solltet Ihr es lesen, bevor es veröffentlicht wird – um mich auf meine gröbsten Fehler aufmerksam zu machen.“
„Mit Freuden!“, schäumte Yanus.
„Wunderbar!“, zischte sie zurück, leerte die Teetasse in einem Zug und stapfte aus dem Haus.
Seçil sah seinen Herrn bebend vor Wut im Raum stehen. „Geht es Euch gut?“
Yanus schloss die Augen. „Ich glaube, ich bin verliebt.“

Die nächsten vier Tage hielt sie sich von ihm fern. Er wurde ungeduldig, begann schlecht zu schlafen. Elisa verließ ihn – er spürte, wie sie sich nach all den Jahren von ihm verabschiedete, ihr Gesicht erleichtert und ausgezehrt. Statt ihrer erwartete ihn Orelie, sobald er die Decke über sich zog. Der Blick, der sich an ihm festsaugte, als er sich ihr schutzlos gegenübergestellt fühlte, aus der verknöcherten Schale gezogen. Sie musste die Narben gesehen haben, die Überbleibsel von der Schlacht. Vielleicht war dies ihre Absicht gewesen. Sie wollte die Verletzungen, die sie beschreiben würde, sehen. Yanus legte unter der Decke die Fingerspitzen auf die Brust, ertastete die langen gewölbten Linien, die sich wie aufgestickt über seinen Leib zogen. Eine beschrieb eine Kurve über dem linken Hüftknochen. Die hatte sie nicht sehen können, das wusste er. Und auch den Schmiss zwischen den Schulterblättern mochte er vor ihr verborgen haben. Eines Tages würde sie wissen wollen, was er zurückhielt. Konnte es sein, dass Mondon recht hatte: dass sie sich in dem Augenblick in ihn verliebte, in dem sie sich entschied, ihn zu ihrem neuen Helden zu machen? Konnte es sein, dass er nun endlich an die Reihe kam? In all den Jahren, in denen er um Elisa trauerte, war ihm gewesen, als habe sein Schutzgeist etwas dagegen, ihn mit einer Frau teilen zu müssen. Als sei er nie dazu bestimmt gewesen, sich jemandem auch körperlich und nicht nur geistig zu nähern … Orelie ließ sich von seiner Anwesenheit nicht erschüttern. Vielleicht war sie diejenige, auf die er sich all diese Jahre vorbereitete. Elisa hatte ihm vor 13 Jahren gesagt, sie werde ihn niemals zum Mann nehmen. Damals wollte er leiden. Wenn nötig, sein ganzes Leben lang. Orelie konnte unmöglich ahnen, welche Chance sie ihm bot.

Orelie schien ihren Aufenthalt im Palast vorrangig zum Arbeiten zu benutzen. Abgesehen von den seltenen Auftritten, die sie ihrer Anhängerschaft gönne, habe sie das immer schon so gehalten, erklärte Mondon ihm einige Tage später. „Dichterinnen müssen sich naturgemäß rar machen“, sagte der Jüngste Prinz. „Sonst verlieren sie ihre mysteriöse Ausstrahlung.“
Yanus, acht Tage nach Orelies Besuch nahe am Rand des Wahnsinns, vergrub das Gesicht in den Händen. War Elisa überhaupt ersetzbar? Sie hatte ihn all die Jahre begleitet: die wenigen Gespräche nicht-feindseliger Natur, die sie miteinander führten, hatten sich ihm so tief ins Gedächtnis gebrannt … es waren drei gewesen, und alle beschränkten sich auf die banalsten Dinge. Das Wetter, in Yanus’ Fall ein großer Favorit, wenn es darum ging, den Gesprächspartner wenigstens für einige Minuten in denselben Kontext einzubinden, interessierte Elisa nie sonderlich. Ihr war es mehr um die Lyrik des Heroischen Zeitalters zu tun gewesen. Sie hätte sich auch für die Sitten am wittländischen Hof interessiert, hätte vermutlich wesentlich mehr Verständnis für das Zeremoniell aufgebracht. Und Orelies Arbeiten. Yanus bemerkte, dass Mondon ihn von der Seite ansah. „War sie schon verheiratet?“, fragte er den Jüngsten Prinz.
Mondon zuckte die Achseln. „Das sagt man sich, ja.“
„Hat sie Kinder?“
„Yanus, warum fragst du sie nicht selbst?“
„Ich bekomme sie doch nie zu Gesicht! Wenn sie mich nicht gerade beim Baden belästigt.“
„Sie recherchiert noch. Über kurz oder lang wird sie schon an deine Pforte klopfen.“ Mondon winkte Seçil heran, ließ sich von ihm Tee nachschenken. „Sie wird dich nach deinen Liebschaften fragen, um dir eine trauernde Witwe anzuhängen.“
„Ich hatte noch nie eine Liebschaft.“
Mondon kniff die Augen zusammen. „Du siehst jung aus – aber nicht so jung.“
„Es gab Umstände, die das bisher verhinderten.“ Yanus spürte, wie heiß sein Gesicht war.
„Was hat sie dir angetan?“ Mondon nahm bedächtig einen Schluck Tee.
„Gar nichts. Elisa hat sich nur nie für mich interessiert. Sie hat meinen Halbbruder geliebt und darauf gewartet, dass er ihr seine Heiratswilligkeit bewies. Als ich glaubte, meine Liebe erklären zu müssen, hat sie dementsprechend wütend reagiert. Das ist alles.“ Yanus starrte in den Garten hinaus. „Ich habe ihr nichts vorzuwerfen.“
„War sie nicht der Grund, der dich in den Kampf trieb?“
„Es war meine eigene Entscheidung. Ehe ich mich versah, war ich in Geschehnisse verwickelt, die weit über meinen Horizont hinausgingen. Elisa hatte nichts damit zu tun.“
„Erstaunlich, dass du es so siehst.“ Mondon stellte die Tasse ab. Seçil schenkte nach. „Ich neige dazu, meinen Verflossenen all das anzukreiden, für das ich mich nicht verantwortlich fühlen möchte.“
Yanus krauste die Nase. „Immerhin habt Ihr Verflossene vorzuweisen. Ich habe mich mein Leben lang so sehr auf Elisa konzentriert, dass mir alles andere schwerfällt.“
„Aber Orelie scheint dich jetzt zu beschäftigen.“
„Wie kann ich mich nicht mit einer Frau beschäftigen, die so unbefangen in meinen Badezuber glotzt?“
Mondon lachte. „Sie kommt wieder, mach dir keine Sorgen.“

Sie kam wieder. Nach drei weiteren Tagen. Diesmal weniger spektakulär. Sie ließ sich ankündigen. Seçil betrat das Haus mit jenem speziellen Lächeln, das Yanus zu fürchten gelernt hatte. „Was ist los?“
„Sie hat noch ein paar Fragen, würde ich meinen.“
Orelie hatte an ihre Aufmachung wohl kaum mehr als fünf Minuten verschwendet und doch stellte sie alles in den Schatten, das Yanus je gesehen hatte. In blassem Graurosa sah sie gleichzeitig abgelebt und berückend schön aus. Das Haar zu nachlässigen Schnecken aufgesteckt, mit einem Hauch roter Salbe auf den Lippen. Das Kleid hatte einen hohen Kragen, gefüttert mit geblümtem Stoff. Diesmal trug sie ein gebundenes Heft bei sich. „Es gibt Dinge, die noch nicht geklärt sind.“ Sie setzte sich ungefragt. Seçil schien Tee und Gebäck bereits vorbereitet zu haben: Er stellte das Tablett auf den Tisch und war so schnell verschwunden, dass Yanus der Verdacht kam, Orelie habe Absprachen mit seinem Dienstboten getroffen.
„Lasst mich raten: Ihr braucht eine Frau in der Geschichte.“
Orelie zog den Stift hinterm Ohr hervor. „Um ehrlich zu sein – ich brauche mehrere Frauen. Was ist mit Eurer Mutter?“
Yanus wurde ein wenig kalt ums Herz. „Meine Mutter?“
„Ich muss wissen, wie sie Euch erzogen hat. Hat sie Euren Vater aus Liebe geheiratet?“
Yanus schloss für einen Moment die Augen. „Das ist eine wirklich komplizierte Geschichte. Und ganz sicher ist diese Familiengeschichte keinem Helden angemessen.“
Sie erstarrte. „Woher wollt Ihr wissen, was genau ich brauche? Ich habe mir geschworen, ehrlich zu sein.“
„Wollt Ihr tatsächlich schreiben, dass … hört zu. Meine Mutter hat meinen Vater nie so geliebt, wie es von Heldenmüttern erwartet wird. Sie war in seinen besten Freund verliebt. Mein Vater und meine Mutter sind Cousin und Cousine. Sie sind zusammen aufgewachsen und konnten sich die meiste Zeit nicht leiden. Sie hat ihn zum Mann genommen, um die Situation zu retten. Sie wurde schwanger. Sie hat sich ein paar Mal zwischen den beiden Männern umentschieden. Sie hat Jahre bei dem einen, Jahre bei dem anderen gelebt. Das ist kein vorbildhaftes Verhalten, findet Ihr nicht?“
Orelie war blass geworden. „Habt Ihr sie dafür verachtet?“
Yanus schüttelte langsam den Kopf. „Sie hat stets die richtige, der Zeit angemessene Entscheidung getroffen.“
„Eine solche Frau auftreten zu lassen … das Buch würde sofort verboten. Wittland ist noch nicht soweit. Mondon müsste mir die Unterstützung entziehen.“
„Lasst den Teil über meine Erziehung einfach weg“, schlug er vor.
Sie legte das Heft vor sich auf den Boden. „Aber Euer Vater … er hat Euch in der Schlacht begleitet, nicht wahr?“
Yanus lachte. „Mein Vater hat sein Leben damit verbracht, auf so viele Frauen wie möglich zu springen. Er weiß, dass er nie die wahre Liebe finden wird – also versucht er es gar nicht erst. Er hat sich auf meine Mutter und mich eingelassen – mit all seiner Kraft. Mein Vater hat mich verteidigt, er hat mich gepflegt, als ich mein Auge verlor. Aber auch er ist kein Heldenvater.“
„Ihr seid eine komplizierte Figur.“
„Aber nicht interessant genug – für mich allein genommen.“ Yanus zuckte die Schultern.
Orelie schoss ihm einen misstrauischen Blick zu. „Einsame Helden gehen gegen die wittländische Tradition.“
Yanus grinste. „Perfekt.“
Ein Lächeln schob sich auf ihr Gesicht, langsam und verstehend. „Ihr werdet mich berühmt machen.“
„Ihr seid doch schon längst berühmt, Orelie. Habt Ihr nicht in die Gesichter Eurer Zuhörer gesehen?“
„Sie sehen so entzückt aus, weil sie mir zuhören. Sie lesen meine Schriften, weil sie einst die Ehre hatten, mich anblicken zu dürfen. Wenn ich gestorben bin, wird dieser Zauber verblassen. Ihr werdet mir helfen, dagegen anzukämpfen.“
Yanus sah sie betroffen an. „Ihr wollt diese Aufgabe ausgerechnet einem Teufel zukommen lassen?“
„Keinem anderen stünde sie besser zu Gesicht. Ich werde Euch schön schreiben, Yanus von Tredorn. In meinem Werk werdet Ihr jeden betören.“
Yanus’ Mund war staubtrocken. „Das ist kein Kompliment, nicht wahr?“
Sie ließ den Stift sinken. „Haltet Ihr Euch für hässlich?“
„Nun … ich bin ein Teufel, oder? Und somit chancenlos in Wittland.“
Sie lachte. „Welche Frau würde sich nicht gern eine Kerbe zu Euren Ehren in den Bettpfosten schnitzen? Alle versuchen es tapfer zu verbergen, aber Ihr seid das Interessanteste, was an diesem Hof in den letzten Jahrzehnten aufgetaucht ist. Die Frauen bei Hofe haben nicht viel zu tun, außer sich um ihre eigene Schönheit und die Schönheit ihrer Künste zu sorgen. Ihr habt Ihnen ein unerschöpfliches Thema gegeben. Wann immer ich mich unter sie mische, höre ich nur von Euch.“
„Aber an ihnen bin ich überhaupt nicht interessiert!“, protestierte Yanus.
Sie nahm den Stift wieder auf. „Ich weiß.“
Für eine Sekunde setzte Yanus’ Herz aus. „Ist es so offensichtlich?“
Orelie sah ihn verwirrt an. „Ihr seid kein Mann, der mit Eroberungen prahlt. So habe ich Euch auch nicht angelegt. Ihr seid auf der Suche nach der wahren Liebe – um Euch wenigstens etwas zu geben, das Euch mit der klassischen wittländischen Heldensage verbindet.“ Sie machte sich ein paar Notizen, das Heft knisterte unter ihren Fingern. „Ist es wahr? Seid Ihr so jemand?“
Yanus versuchte etwas anderes wahr zu nehmen als seine glühenden Ohren. „Ich … ich glaube schon. Meine Cousine Elisa …“
„Die erste große Liebe Eures Lebens …“ Man sah ihr an, wie die Phantasie mit ihr durchging. „Erzählt mir von ihr. Alles.“

Yanus hatte noch nie so erschöpfend über seine Gefühle gesprochen. Orelie fragte nach Elisas Lieblingsbüchern, ihren Angewohnheiten, welche Farben und Stoffe sie bevorzugte. Yanus malte ihr die hochgewachsene rothaarige Frau mit den sperrigen Handgelenken – ein Falter, kurz nach dem Schlüpfen, noch feucht und knittrig, doch mit bereits greifbarer Schönheit. „Eigentlich ist sie erst richtig schön geworden, nachdem sie das erste Kind bekam. Sie hat ihre Kanten verloren. Sie … Gott, ich kann kaum daran denken. Sie und ihr Mann sahen so glücklich aus. Es war ekelhaft. Auf dieser Hochzeit habe ich sehr viel getrunken. Eines muss man meiner Familie lassen: Sie kommt an erstklassigen Wein. Am nächsten Morgen wachte ich auf der Strohschütte im Großen Saal auf, um mich hatten sich riesige Hunde zusammengerollt. Elisa kam als erste in den Saal und fand mich. Sie sagte, ihr Mann hätte sich um mich gesorgt. Es täte ihr sehr Leid, dass ich meinen Schmerz nur mit Hilfe von so viel Wein bekämpfen könne, das ein oder andere Dienstmädchen wäre mich billiger gekommen.“
„Sie hat Euch immer so schlecht behandelt?“, fragte Orelie.
„Wir haben uns gegenseitig schlecht behandelt. Aber es werden nicht aus allen streitenden Kindern liebende Ehegatten. Elisa hat mir nie richtig vergeben, dass ich als Kind so ein Ekel war. Was hätte ich tun sollen?“
Orelie räusperte sich. „Sie hatte nicht ganz unrecht. Die ein oder andere Maid hätte Euch sicher große Dienste erwiesen.“
Yanus senkte den Blick. „Ich … ich mag aber nicht.“
„Ich dachte, diese Geisteshaltung fände man nur bei Frauen.“ Ihr Lächeln war sanft und zärtlich – so, stellte Yanus mit Entsetzen fest – wie das Lächeln, das man einem kleinen Bruder schenkt.


VII


In den letzten Tagen hatte man Mian immer mehr von ihm abgegrenzt. Firusz, ausgelaugt von Eifersucht und der verlorenen Anspannung, war eher erleichtert. Sie hatten ihm ein Einmannzelt zugewiesen, in dem er großzügig seine Kleider verstreute. Inzwischen war Mians Tätowierung vollendet worden. Beq na Borr berichtete Firusz von den einzelnen Schritten – Mian war bereits Mian na Sian geworden, ein Westländer unter dem Wappen des Nachtfalters. Firusz hatte sich nicht nur räumlich von Mian entfernt – das Band, das sie während der Reise verbunden, dass ihn dazu bewegt hatte, sich schützend vor Mian zu stellen, Zaēl sogar tätlich anzugreifen – dieses Band war fragil geworden, hatte sich an Firusz abgerieben. Beq versorgte ihn mit Wein und kaltem Braten, warf ihm hin und wieder besorgte Blicke zu. Die Frauen behandelten Mians Haar mit Salben und Tinkturen, arbeiteten den Glanz heraus. Sie nähten ihm Hochzeitskleider, webten Borten, punzierten Gürtel und Armschmuck. Mian verwandelte sich in einen Mann, der bald nur durch die Haarfarbe von ihnen zu unterscheiden war. Firusz erhielt auf einen Schlag seine gesammelte Exklusivität zurück; er war wieder der Teufel, der am Hochzeitstag hinter Mian stehen und rauchend vor Eifersucht die Braut anstarren würde. Firusz wusste nicht, wie er sich Teya gegenüber verhalten sollte. Diese unauffällig braunhaarige Frau brachte ihn zum Stottern – zu deutlich war die Erinnerung an die Wärme, die sie ihm gespendet hatte. Er versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen. Noch wusste er nicht, ob er offiziell als verliebt galt – bis zu diesem Abend. Zaēl hatte ihn zum Nachtmahl eingeladen und beste Kleidung verlangt. Es stank nach offiziellem Anlass. Beq half seinem teuflischen Herrn beim Anlegen der Kluft. „Macht Euch keine Sorgen. Sicher will er nur die Einzelheiten der Hochzeit mit Euch besprechen, Herr. Westländische Hochzeiten tendieren zu komplexen Abläufen. Ihr müsst Euch mit den Ritualen vertraut machen.“
Also stapfte Firusz zur angegebenen Stunde in Zaēls Zelt, ließ sich auf eines der voluminösen Kissen sinken und harrte der Erklärungen, die ihn erwarteten. Zaēl na Sian hatte besonders prachtvolle Gewänder angelegt. Jeder Saum war mit Pelz verbrämt, er hatte seine Augen mit Kohlstift umrahmt, ein Effekt, der Firusz so sehr irritierte, dass er ihm während der ersten Minuten kaum ins Gesicht sehen konnte.
Auf dem niedrigen Tisch standen Speisen und eine Kanne starken Tees. Zaēl setzte sich ihm gegenüber. „Sei unbesorgt. Ich habe nicht vor, dir Vorträge zu halten.“
Firusz verlagerte das Gewicht von der einen auf die andere Gesäßhälfte. „Was ist es dann?“
„Ich möchte dir noch einmal erklären, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Entweder nimmt Mian den Platz, den wir für ihn ausgewählt haben, ein, oder wir müssen ihn töten.“
„Ich bin mir dessen wohl bewusst. Dazu hätte ich dieser Einladung nicht Folge leisten müssen.“
Zaēl leerte seine Teeschale, stellte sie mit beiden Händen auf den Tisch zurück. „Teya ist zweifelsohne eine nett anzusehende junge Frau. Aber ich kann dir auf Anhieb fünf andere aufzählen, die sie an Liebreiz und Anmut übertreffen.“
Firusz schloss die Augen. Er war aufgeflogen. „Ich bin nicht auf der Suche nach Liebreiz und Anmut. Ich suche jemanden, der mich trotz allem mag. Teya hat sich mir in einem Augenblick zugewandt, in dem ich verletzlich war.“
Zaēl nahm vorsichtig ein Stück kaltes Fleisch aus einer der Schüsseln. „Das kann man auch anderen beibringen.“ Er kaute langsam. „Ich überlasse dir die Entscheidung: Soll ich ihn töten?“
Firusz sah auf, zum ersten Mal seit Beginn des Treffens begegneten sich die Blicke der beiden Männer. „Mian töten?“
„Wenn du Teya haben möchtest, darf sie Mian nicht heiraten.“ Zaēls Augen erinnerten an kleine Mondfinsternisse, ähnelten den Illustrationen dieses Naturphänomens in Qasimirs Büchern. „Man stellt niemanden vor eine solche Wahl“, sagte Firusz betroffen.
Zaēl lächelte sanft. „Ich habe dir gesagt, dass ich die Entscheidung unserer Ältesten nicht für richtig halte. Ich nähme Mians Leben gern für das meines Bruders. Und ich hätte gern ein wenig Unterstützung.“
„Ich kann Euch in dieser Sache nicht behilflich sein.“
Zaēl griff über den Tisch, quetschte Firusz’ Handgelenk. „Es ist noch nicht zu spät!“
„Zaēl!“ Firusz versuchte, sich zu befreien. „Du … Ihr … Ihr wollt, dass ich mir die Hände blutig mache?“
„Nein.“ Zaēls Nägel pressten in sein Fleisch. „Ich will, dass du deine Wünsche genau überprüfst. Teya würde dich zum Mann nehmen.“
Firusz gelang es, den Arm wegzureißen. „Aber ich nehme sie nicht – nicht unter dieser Bedingung!“
Zaēl senkte den Blick. „Ich bin froh darum.“
„War das … war das eine Fangfrage?“
Zaēl schüttelte den Kopf. „Nein. Aber diese Dinge müssen geklärt werden. Ich bin froh, dass Griça dich zu seinen Freunden zählen durfte. Ich wünschte mir dich ebenfalls zum Freund. Teya wird dich für deine Entscheidung ehren.“
„Du … Ihr werdet … du wirst es ihr nicht erzählen!“
„Versuch, mich daran zu hindern!“ Zaēl prostete ihm zu.
Firusz verbarg das Gesicht in den Handflächen. „Weiß es das ganze Lager?“
Zaēl klopfte ihm auf die Schulter. „Alle interessieren sich für dich, weißt du? Du bist etwas Besonderes. Selbstlos, edelmütig, großzügig … jetzt iss was. In ein paar Stunden wirst du dich auf der Hochzeit von Mian und Teya betrinken. Das da ist gut, probier das.“ Er deutete auf die gefüllten Feigen. Firusz gehorchte.
Griças Bruder nahm die mit Pelz benähte Mütze ab. Jemand hatte blaue Bänder in sein Haar geflochten und mit Goldfäden umwickelt. Er sah aus wie ein aufgeputztes Pferd. „Furchtbar, oder?“
Firusz sah ihn an wie hypnotisiert. „Warum?“
„Für die Hochzeit. Wir werden uns alle hübsch machen. Hast du keine andere Tunika?“
„Sollte ich mich deshalb aufrüschen? Damit du meine Kleidung inspizieren kannst?“
Zaēl schenkte wieder Tee aus. „Man wird mich dafür verantwortlich machen, wenn du in Lumpen auftauchst.“
Firusz zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich benehme mich. Nichts wird auf dich zurückfallen, versprochen. Habt Ihr … hast du mit Teya geredet?“
„Sie ist … war die Verlobte meines Bruders. Natürlich habe ich mit ihr geredet. Sie versteht die Situation. Es tut ihr Leid. Sie mag dich, Firusz. Sie ist ein vernünftiges Mädchen. Sie lässt sich nicht von deinem Gesicht abschrecken.“
„Danke.“
„Versteh mich nicht falsch. Ich habe nicht gesagt, dass du hässlich bist. Du siehst anders aus, aber auf diese Dinge kommt es in der Steppe nicht an. Was ist mit mir? Ich bin das Sippenhaupt. Weil man mich auserwählt hat. Meine Abstammung sprach für mich, meine Taten sprachen für mich. Nur ich selbst … ich wollte nicht. Griça hat mich dazu überredet. Er hat mir klar gemacht, welche Ehre ich ablehnen wollte. Griça hat diese Dinge stets sehr pragmatisch betrachtet. Er hätte selbst Sippenhaupt werden können, vielleicht hätte ich das Amt zu seinen Gunsten niedergelegt. Mian na Sian wird mich nicht erlösen, soviel ist sicher.“ Er legte die Stirn in Falten. „Du bist nicht der einzige, der nicht hierher gehört. Dir mag man es ansehen. Ich will schon seit Jahren hier raus.“ Er zog die Knie an die Brust. Die Tunika verschob sich, man sah die Tätowierung, die den Hals hinaufkroch. „Wir werden Mian und Teya in die Ehe entlassen – und dann musst du dich entscheiden, was du tun willst. Willst du dir nicht doch ein Mädchen aus meiner Familie suchen – oder wirst du nach Seestadt zurückkehren?“
Firusz puhlte eine gefüllte Feige auseinander. „Und du willst mitkommen?“
Zaēl rieb sich mit der Hand über den Mund. „Das wird nicht möglich sein.“
„Du willst Qasimir na Qes keine Fragen stellen?“
„Natürlich will ich das. Aber das ist keine gute Idee. Ein Wilder in der Stadt.“
Es war das erste Mal, dass Firusz in den Sinn kam, dass Zaēl nicht viel älter sein konnte als er selbst. Vielleicht war er sogar jünger. „Warum bist du noch nicht verheiratet?“
„Griça war bereits verlobt. Er sollte sich vor seiner Heirat in der Welt umsehen dürfen, deshalb ließ ich ihn nach Seestadt gehen.“ Zaēl stand auf. Der Golddraht in seinem Haar klimperte aneinander. „Du kannst gehen, wenn du willst.“
Firusz nahm noch eine Feige. „Hast du das mit Mian ernst gemeint? Würdest du ihn töten, wenn ich Teya haben wollte?“
Zaēl zog sich die Stiefel aus. „Natürlich nicht.“ Firusz sah zu ihm auf. Auf der einen Seite war der Kohlstift verwischt. „Ich möchte meine Männer gern einschätzen können, das ist alles.“ Er begann, die Paspeln der Tunika zu öffnen. „Du musst ins Bett gehen, Firusz. Es ist bald soweit.“

Die Hochzeitszeremonie der Westländer beinhaltete zwei von Kopf bis Fuß mit blauer Farbe bemalte Pferde – diesmal hatte man einen Schimmel und einen Falben ausgesucht, auf deren Köpfe so etwas wie Geweihkonstruktionen geschnallt worden waren, so dass sie wie eine bizarre Mischung aus Pferd und Hirsch aussahen. Die Satteldecken waren mit Nachtfaltern bestickt und mit Glöckchen behängt. Mian na Sian stand zwischen Beq und Firusz und hibbelte in der prachtvollen Bräutigamskleidung hin und her − bis Firusz ihn unzeremoniell festhielt. „Wehe, du versaust das“, zischte er.
Mian biss sich auf die Lippen. Die Aussicht auf den Tod mit der Aussicht auf baldige Vermählung tauschen zu müssen, hatte den ehemaligen Löwen verschlossener gemacht. Es war fast so, als fände er seine Strafe selbst unangemessen. Was Wunder, dachte Firusz. Ich würde sie mit Freuden auf mich nehmen. Auch das Tätowieren.
Endlich, endlich gab Beq das Zeichen. Mian durfte aufsitzen. Das goldene, durch die blaue Bemalung unirdisch transparent wirkende Pferd tänzelte nervös, als es sich selbst läuten hörte. Mian klopfte seinen Hals, sprach leise mit ihm. Firusz konnte die Worte nicht verstehen, aber sie beruhigten wohl beide, Ross und Reiter. Beq reichte Mian die Zügel des Schimmels, dann saßen er selbst und Firusz auf. Ihre eigenen Pferde trugen blaue Wollbommel am Gebiss, der einzige Hinweis auf ihre Funktion. Sie ritten durch das Lager: drei traditionell gekleidete Männer mit eingeflochtenen Haaren. Die zweite Gruppe erwartete sie neben dem Zelt des Sippenhauptes. Teyas Schwestern saßen ebenfalls zu Pferde, ihr Vater und Zaēl flankierten die Braut, die als einzige mit beiden Füßen auf dem Boden stand. Ihr Kopfschmuck ähnelte dem ihres Brautpferdes, er war von zarten Tüchern bedeckt, ließ die Morgensonne durchscheinen, als trüge sie einen kleinen Baum mit sich herum. Zaēl ließ seinen Hengst ein Stück vortreten. „Ein Mann kommt in unser Lager“, sagte er. „Er führt ein betrübtes Pferd am Zügel.“
Mian räusperte sich. „Ein Mann kommt in Euer Lager. Ein leerer Sattel ruft nach der Frau, die ich Euch nehmen werde.“
Teya raffte das ausladende Kleid und trat in die Mitte zwischen die Reiter. „Ich verlasse meinen Vater.“ Ihre Stimme war die kräftigste von allen. Und sie sah Firusz an, bevor sie fortfuhr: „Ich gehe, um meinem Willen zu dienen. Ein Pferd wartet auf mich.“
Man hatte Firusz erklärt, dass die meisten Zeremonien der westländischen Hochzeit sich aus dem Brauch des Brautraubes ableiteten und dass es in heutiger Zeit wichtig war, dass die Braut ausdrücklich sagte, sie gehe aus freien Stücken. Firusz sah Teya hinter den Schichten ihres Kleides leuchten: Man hatte auch ihr die Augen geschminkt und die Lippen nachgedunkelt, ihre Wangen glühten. Sie hatte sicher den schönsten Bräutigam an der Hand, der jemals in dieses Lager eingeritten war; ihre Schwestern sahen aus, als wollten sie jederzeit den Platz mit ihr tauschen, als sie trotz voluminöser Kleidung elegant auf das Pferd stieg. Zaēl und ihr Vater folgten Braut und Bräutigam aus dem Lager hinaus, um den privaten Teil der Zeremonie zu vollziehen. Firusz und Beq blieben mit den aufgeregten Schwestern zurück. Eine, das Haar unter einem straffen Seidentuch verborgen, ließ ihren kleinen Wallach an Firusz herantreten. „Das hast du dir anders vorgestellt, was?“
Firusz schluckte. „Was?“
„Sag ich doch. Hast du tatsächlich geglaubt, für einen Teufel gibt man einen Mann wie Mian auf? Frauen heiraten nicht nur mit dem Herzen.“
Firusz wendete sein Pferd. „Das ist ja alles sehr interessant, aber …“
Die Schminke, die an Teya so selbstverständlich gewirkt hatte, ließ diese Schwester wie eine Puppe aussehen. „Die Frauen unserer Familie altern schnell. Sieh mich an: In wenigen Jahren sehe ich aus wie eine Mumie. Das gleiche gilt für Teya. Hätte sie sich für dich entschieden, hättest du nicht lange was von ihrer Schönheit gehabt. Ein Teufel sollte überhaupt niemanden heiraten, der sowieso vor ihm stirbt.“
Firusz starrte sie mit offenem Mund an. „Was meinst du mit … wenn sie sich für mich entschieden hätte?“
Die Schwester lachte. „Glaubst du, wir hätten nicht mit ihr geredet? Sie mag dich gut leiden. Aber du wirst Jahrhunderte vergehen sehen, sie nicht einmal eines. An anderen Orten würde man über eure gemeinsamen Kinder spotten.“
„Willst … willst du mir damit sagen … hätte sie sich für mich entschieden, hätte sich alles ganz anders regeln lassen?“
„Du hältst uns für einen primitiven Volksstamm, richtig? Oder hat Zaēl mal wieder so getan, als hinge alles von dir ab? Das kann er gut. Nachher glaubt man immer, es sei die eigene Idee gewesen. Er ist aus einem bestimmten Grund zum Sippenhaupt gewählt worden: Er weiß ganz genau, was man hören möchte und wie er es so drehen kann, dass man seine Drahtzieherei übersieht.“
Firusz krampfte die Hände um die Zügel. Es hatte sich gut angefühlt, nobel zu sein und Mian Teya heiraten zu lassen. Dass Teya die Entscheidung selbst hatte fällen müssen … ihre Schwester beugte sich vor, nahm ihn am Arm. „Was hat er dir erzählt?“
Firusz schüttelte den Kopf. „Ach, nichts …“
Sie lachte bitter. „Ja, genau. Auch ich habe ihm eine Weile geglaubt. Er kommt immer heil davon. Ein beneidenswertes Talent, findest du nicht?“
Firusz kniff die Augen zusammen. „Wie heißt du?“
„Lup. Der Name ist alt, ehrwürdig und bedeutet ‚Wolke’, falls du dich wunderst.“
„Nein, nein, ich …“
„Ich bezweifle, dass du deinen eigenen Namen verstehst.“
Firusz brachte sein tänzelndes Pferd zum Stehen. „Du hast Recht: Ich weiß nicht, was er bedeutet. Ich wurde nach jemandem benannt, den meine Familie gekannt hat. Das ist einer unserer Bräuche. Wir eignen uns Namen an.“
Lup nickte langsam. „ ‚Firusz’ ist heute eher aus der Mode gekommen. Es ist nicht leicht zu übersetzen. Man könnte es mit ‚Der die Sonne vergisst’ versuchen.“
„Die Sonne vergessen?“
„‚Der im Selbstmitleid versinkt’ klingt nicht so schmeichelhaft.“
„Oh. Das … das heißt es tatsächlich?“
„Und vielleicht ist dieser Name ja ganz gut gewählt.“ Sie grinste.
„Was bedeutet ‚Griça’?“
„Das ist eine Verniedlichungsform. Der ursprüngliche Name ist so lang und kompliziert, dass sich niemand mehr an ihn erinnern kann. ‚Zaēl’ bedeutet ‚Stromschnelle’. Er bringt einen schon ziemlich durcheinander, nicht wahr? Ah – da kommen sie endlich.“
Teyas Vater näherte sich im Galopp, Zaēl und die Braut folgten nach. Mian kam mit einigen Augenblicken Verzögerung. Man saß ab, die Pferde wurden festgemacht, dann schlug Zaēl den Eingang seines Zeltes auf. Das Bettlager war beiseite geräumt, die Behausung für die Feier hergerichtet. Prall gefüllte Weinschläuche hingen von der Decke, diesmal bogen sich die Tische unter ihrer Last; Firusz zählte 38 Schüsseln. Beq nahm ihn am Ellenbogen und führte ihn in die Ecke, die den Freunden des Bräutigams gehörte. Zaēl ließ sich neben Firusz zur Erde plumpsen, machte klar, dass er heute nicht den Gastgeber spielen würde. Teyas Vater knöpfte seinen Reitrock auf und erhob ein erstes Mal die mit klarem Wurzelbrand gefüllten Trinkschalen. Teya stand noch, hörte sich die Segenssprüche ihres Vaters mit gesenktem Kopf an. Ihre Schwestern steckten Blumen in ihre Frisur, kleine weiße Blumen, lieblich gegen ihr dunkles Haar. Lup ordnete das Kleid, bevor Teya sich hinsetzen durfte. Die langen Seidenbahnen breiteten sich raschelnd über den Zeltboden. Firusz sah Mian an, während der Bräutigam den Segen empfing. Mian war rot im Gesicht und schwitzte. Er stürzte zwei Schalen Branntwein hinunter und schaffte es nur mit Mühe, nicht zu husten. Heute Nacht würde er Teya in sein Zelt führen, Griças Aufgabe erfüllen. Vielleicht würde es Söhne geben, vielleicht nicht. Firusz wandte den Blick ab. Mian, der beinahe Mönch geworden wäre, würde Söhne in die Welt setzen. Er hatte ab dieser Nacht das Recht und die Verpflichtung, Teyas Bett als sein eigenes zu betrachten. Lup reichte dem Bräutigam eine Schale Wein. Zaēl klopfte Mian auf die Schulter, brachte ebenfalls einen Trinkspruch aus. Firusz schmeckte die Bitterkeit des Getränks am Gaumen, das ganze Zahnfleisch zog sich zusammen, wie das eines sterbenden Pferdes. Mian würde sie im Dunkel des Zeltes an sie heranziehen dürfen, sich im Brautgewand verfangen, während die letzte Glut aus der Feuerschale wabernde Lichter auf ihr Haar warf … Firusz krallte sich in das Fell, auf dem er saß. Der die Sonne vergisst. Wie passend.

Es stießen immer mehr Mitglieder der Sippe zu ihrem Fest – irgendwann ließ Zaēl die Außenwände des Zeltes nach oben rollen, öffnete den Raum in die Nacht. Er selbst hatte bereits Mühe, sich aufrecht zu halten. Zum Takt der Musik, die auf Trommeln und primitiven Fiedeln erklang, schwankte er von einer auf die andere Seite. Irgendwann sackte er gegen Firusz und schlief ein. Der Halbling sah Beq hilfesuchend an, doch der na Borr lachte nur und goss ihm mehr Branntwein ein. Auch die Frauen glänzten nicht gerade mit Zurückhaltung. Teyas Schwestern begannen, bei jedem Wort, das Mian von sich gab, ausgiebig zu giggeln – nur Lup hielt sich gerade, bewirtete die Männer um sich herum, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Hatte Zaēl sie nicht gewollt, weil sie so ernst war? Vermutlich war Zaēl morgens neben dieser Frau aufgewacht und hatte spontan entschieden, ledig zu bleiben. Jetzt begann das Sippenhaupt leise vor sich hin zu schnorcheln.
Lup stand auf, kam zu ihnen hinüber. „Roll ihn einfach zwischen die Kommode und den Hausaltar“, sagte sie. „Morgen wird er in seinem verwüsteten Zelt erwachen und sich an gar nichts mehr erinnern.“
Zaēl war schwer, aber Beq half schließlich mit. Gemeinsam legten sie den Sippenobersten ab. Firusz knetete seine tauben Oberschenkel, kippte kurz nacheinander drei Schalen Wein nach. Irgendwann begann Beq zu lachen, Firusz stimmte mit ein und fand sich außerstande, aufzuhören. Er machte die Augen zu, fest zu – hatte das Gefühl, als löse sich etwas aus seinem Körper, ein Funken vielleicht. Ihm war, als liefe Licht aus seinem Hals.

Firusz erwachte, weil ihm ein Teil der Zeltplane ins Gesicht schlug. Er drehte sich um, blaue Flämmchen schienen sich über seinen Scheitel ins Rückgrat zu fressen. Er roch entsetzlich. Er brauchte einige Sekunden, bis er Teya im Brautkleid vor sich sehen konnte. Mian gekämmt und mit bestickten Stiefeln … die Hochzeit hatte stattgefunden, soviel war klar. Und wahrscheinlich erklärte das auch die öligen Flecken um ihn herum. Die Joghurtpfütze vor seiner Nase. Sein Kopf brummte. Irgendetwas bohrte sich in seinen Rücken. Firusz versuchte, sich umzudrehen, aber der umgestürzte Tisch keilte seine Kniekehle ein. Er tastete nach der Tischkante, rutschte ein Stück nach vorn. Was immer in seinem Rücken lag, rutschte nach. Und stieß ein dumpfes Ächzen aus. „Ich will sterben.“
Firusz atmete erleichtert auf. „Zaēl …“
„Warum hast du das zugelassen?“
Firusz hob das eingeklemmte Bein über den Tisch, kam auf dem Rücken zu liegen. Zaēl hatte ein Knie unter den Bauch gezogen. „Ist es vorbei?“
„Die Hochzeit ist vorbei, ja.“
„Danke, dass du hier geblieben bist.“
„Ich glaube, das war nicht ganz freiwillig.“ Firusz starrte an die Decke. „Woraus wird das Zeug gebrannt?“
„Aus den Beeren, die am Fluss wachsen. Eine hiesige Spezialität.“
„Ich glaube, ich habe rosa Hirsche gesehen.“
„Das ist eine bekannte Nebenwirkung.“ Zaēl stemmte sich auf die Ellenbogen hoch, ließ sich wieder fallen. „Griça hätte diese Feier sehr gefallen. Mein kleiner Bruder konnte ganz schön was wegschlucken. Wir hätten uns mal zusammen hinsetzen sollen. Du, ich, Griça. Gerade jetzt fehlt er, nicht wahr?“
„In Seestadt waren wir oft unterwegs. Morrie, Griça, Qarl und ich. Griça hat sich immer ganz manierlich aufgeführt, aber Qarl … Qarl hatte gar keinen Anstand. Er würde dir gefallen, Zaēl. Mit ihm könnten wir jetzt großartig jammern.“
„Du vermisst deine Freunde in Seestadt?“ Zaēl brachte es fertig, sich aufzurichten. Er war fahlgrün im Gesicht, die Reste des Kohlstiftes ließen an Blutergüsse denken. „Alle meine Freunde sind gestorben. All die Jungen, die im gleichen Jahr wie ich geboren wurden, sind krank geworden, vom Pferd gefallen … sechs Jungen: alle tot.“ Er lehnte sich an den umgekippten Tisch. „Teya sah wunderschön aus, nicht wahr?“
Firusz kniff die Augen zu. „Natürlich. Alle Bräute sehen wunderschön aus. Warum hast du nie geheiratet?“
„Und warum hast du nicht geheiratet?“
Firusz wurde wütend. Das vertrug sich nicht mit Kopfschmerzen. „Weil mich niemand heiraten würde.“
„Siehst du – bei mir ist es genauso.“
„Lup würde dich heiraten. Das hat sie mir selbst gesagt.“
Zaēl lachte. „Gott – ich stinke. Lup würde mich heiraten, sicher, sicher. Sie würde auch dich heiraten, du musst sie nur fragen.“
„Sie scheint doch eigentlich ganz nett zu sein.“
„Sie ist nur verzweifelt.“ Zaēl verrenkte sich, zog einen halbvollen Weinschlauch unter dem Teppich hervor. „Wie wir alle.“


VIII



Qarl fiel flach aufs Gesicht. „Danke, lieber Gott, danke. Ich werde nie wieder ein Schiff betreten!“
Morrie warf ihm das Bündel neben den Kopf. „Hör auf. Wenn du zuviel Sand schluckst, ist das nicht gut für dich.“
Qarl spuckte aus, zog das Bündel an die Brust. „Ach komm. Lass mir wenigstens ein bisschen Melodramatik. Ich habe überlebt!“
„Qarl – mein Cousin ist ein geübter Seemann. Er hat die Reise zu den Gewürzinseln schon ein paar Mal gemacht. Jetzt sind wir gerade mal in Westland.“
„Ich liebe Westland!“ Qarl umarmte ein Büschel Strandhafer. Morrie packte ihn beim Kragen. „Los jetzt. Wir brauchen eine Unterkunft für die Nacht.“
Das Beiboot, das sie am Strand abgesetzt hatte, wurde langsam zum Schiff zurückgerudert. Feiner Stippelregen setzte sich auf ihre Schultern. Qarl rappelte sich auf. „Kannst du irgendetwas sehen, das auf menschliches Leben hindeutet?“
Morrie zog sich eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel. „Nein. Ich sehe nur Himmel und Gras.“
Qarl schlug den Kragen seines Mantels hoch. „Es ist schön, nicht wahr?“
„Na ja – auf die kahle Art.“
Qarl strahlte ihn an. Er sah abgezehrt aus, der Mund aufgesprungen und mit Sand verklebt. „Wir buddeln uns ein Loch und schlafen unter freiem Himmel. Die erste Nacht an Land – seit drei Wochen!“

„Du siehst geschafft aus.“
Mian sah ihn unglücklich an. „Es tut mir Leid, Firusz. Hätte ich gewusst, dass …“
Firusz zog den Sattel vom Rücken des Pferdes. „Es ist alles in Ordnung. Ich hoffe nur, du hast Teya gegenüber deine Pflicht erfüllt.“
„Ja. Mehrmals.“
„Ihr werdet sehr hübsche Kinder haben.“
Mian biss ein Stück von seinem rechten Daumennagel ab. „Soll ich dir eine Tochter versprechen, Firusz?“
Der Halbling sah ihn entsetzt an. „Das ist ein sehr archaisches Angebot, Mian.“
„Hier hält man es doch mit der Tradition.“ Mian lehnte sich über den Anbindebalken. „Ich würde es tun. Wie in den alten Geschichten. Das erste Kind für den Zauberer. Ich vertraue dir – und das weißt du.“
„Ich möchte, dass du Teya zufrieden stellst, das ist alles. Dafür werde ich dir den Rücken freihalten. Ich werde hier mit den Pferden helfen und dich im Auge behalten. Das kann ich für sehr lange Zeit tun.“
Mian wurde blass. „Ich weiß.“
„Ich werde mit Beq na Borr einen netten Junggesellenhaushalt führen und abwarten.“
Mian räusperte sich. „Wenn es dich tröstet: Ich finde auch, dass ich zu leicht davon gekommen bin. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, müsste ich entweder tot sein, oder genauso schrecklich aussehen wie du. Du kannst ganz schön was wegstecken.“
Firusz lachte bitter. „Ich bin heute Morgen in sehr viel Joghurt aufgewacht. Und dann haben Zaēl und ich gleich weiter getrunken. Wahrscheinlich ist es nicht gesund für mich, wenn ich bei den na Sian bleibe. Aber ich bin bereit, das Risiko einzugehen.“
Mian atmete tief durch. „Ich bin dir dankbar. So seltsam es ist: Du scheinst das einzige zu sein, das mir von meinem alten Leben geblieben ist. Ein Teufel, der die wittländische Zivilisation verkörpert …“

Die Nachwehen der Hochzeitsfeier verfolgten den Halbling mehrere Wochen. Die na Sian warfen ihm Blicke zu, die deutlich sagten, was sie davon hielten, dass ihr Sippenhaupt sich einen neuen Trinkkumpan auserkoren hatte. Dennoch sehnte Firusz sich nach den Abenden, die er in Zaēls Zelt verbringen durfte, Beqs ewigen Fragen nach der Stadt entging und sich ein leichtes Gefühl antrank, in dem er Teya nicht vergessen, aber doch akzeptieren konnte, weshalb sie sich gegen ihn entschieden hatte. „Ich bin eben nichts“, sagte er an diesem Abend, nach einem halben Schlauch Wein. „Sie ist die erste, die es so deutlich sieht wie ich selbst. Abgesehen davon, dass ich ein Teufel bin, habe ich nichts zu bieten. Ich bin nicht so wissenshungrig wie Morrie, ich bin nicht so lebenslustig wie Qarl.“
Zaēl ließ das abgenagte Hühnerbein sinken.
Firusz seufzte. „Sie haben Griça sehr geliebt. Als er starb, brach auch für sie eine Welt zusammen.“
Zaēl zupfte ein Stück knusprige Haut vom Fleisch. „Ich hatte nie solche Freunde. Man hat mich mein ganzes Leben lang als etwas Besonderes behandelt. Alle hätten ihr Leben für mich gegeben, aber nur aus Pflichtgründen, niemand, weil er tatsächlich sein Leben für mich geben wollte. Es sind schon viele meinetwegen ums Leben gekommen. Das ist der Nachteil, wenn man über eine Leibwache verfügt: Man muss sie sterben sehen. Und man muss sie beschäftigen. Glaub mir, das ist fast noch schlimmer.“
Firusz lächelte bitter. „Aber du kannst keine Freunde verlieren, die du nicht hast.“
„Ich kann Brüder verlieren. Das ist genug.“ Zaēl stemmte sich hoch, schlug eine Zeltwand nach oben. Wind rauschte in Firusz’ Haar, ließ ihn sofort leichter atmen. „Du bist der Herrscher dieses Landstrichs. Tröstet das nicht über Vieles hinweg?“
„Es tröstet nicht über meinen Bruder hinweg. Und nicht über den Umstand, dass ich mich mit dem Gedanken tragen muss, auf Brautschau zu gehen.“
„Ich dachte, Mians Hochzeit hätte ausgereicht“, sagte Firusz leise.
„Man macht seine Rechnung so oft ohne die Sippenältesten“, murmelte Zaēl düster. „Sie vertreten ihre Ansichten sehr unnachgiebig.“ Er stieß ein kurzes Lachen aus und widmete sich seinem Essen. „Bald werde ich mir von einer Frau vorschreiben lassen, wie ich mein Leben zu leben habe. Ich fand Frauen für diesen Dienst schon immer ziemlich ungeeignet.“
„Teya würde dir in diesem Punkt sicher widersprechen. Was ist mit ihrer Schwester?“
„Du meinst Lup, richtig? Genauso gut könnte ich mich im Fluss ertränken.“
„Sie scheint dich zu mögen.“
Zaēl zog die Stirn kraus. „Ich gebe sie dir, wenn du willst.“
„Untersteh dich! Du sollst sie heiraten!“
Zaēl lachte wieder. „Ich würde dich gern als Freund betrachten, Firusz – aber ein Freund, der solche Ratschläge gibt, ist wohl kaum ein Freund.“
Firusz wurde rot. „Ich nehme die Freundschaft an, wenn du dir darum Sorgen machst.“
„Dann vergessen wir Lup ganz schnell, ja?“ Zaēl hob die silberne Weinschale. „Auf die Freundschaft. Auf das Gras um uns herum.“ Er setzte zu einem tiefen Zug an.
„Willst du nicht heiraten, weil du dich in Männer verliebst?“
Zaēl atmete den Inhalt der Schale ein, fing an zu prusten.
„Tut mir Leid“, sagte Firusz.
„Nein, schon gut.“ Zaēl wischte sich den Wein vom Kinn. „Diese Frage kann wohl nicht zartfühlender gestellt werden.“
„Ich wollte nur sagen, dass ich … nicht so bin.“
„Ich weiß, Firusz.“
„In Seestadt habe ich über Widernatürlichkeit gelesen. Für eine Hausarbeit, die man mir aufgebrummt hatte.“
„Schon klar. Nun – vielleicht ist das eine gute Erklärung dafür, dass ich einst tatsächlich mit dem Gedanken gespielt habe, Lup zu heiraten. Sie ist vermutlich die männlichste Frau in diesem Lager.“ Er grinste von Ohr zu Ohr. „Nein – im Ernst. Westländer verlieben sich nicht in Männer. In den Kolonien scheint der Fall anders zu liegen.“
Firusz räusperte sich. „Auch, wenn du mich jetzt offiziell als deinen Freund betrachtest, finde ich, du solltest Lup heiraten. Man enttäuscht keine Frauen.“
„Niemand erwartet von mir, dass ich charmant bin.“
„Ich erwarte es.“
„Firusz – deine Unerfahrenheit in Ehren – aber das geht zu weit. Vielleicht können wir Lup an Beq na Borr loswerden. Seine Sippe campiert schön weit weg.“
„Beq steht in der Annahme, mir dienen zu müssen. Lup wäre Mitglied meines eigenen Haushalts.“
„Pech gehabt“, knurrte Zaēl und warf den Hühnerknochen nach ihm.

Als Firusz an diesem Abend nach Hause kam, erwartete Beq na Borr ihn mit aufgeschlagenem Bett und einer Schale Tee. „Ihr habt Euch heute Abend sehr laut unterhalten, Herr.“
„Oh nein. Ich habe Zaēl doch nicht etwa in Schwierigkeiten gebracht?“
Beq lachte. „Ich denke, Ihr habt der Lagergemeinschaft einen großen Gefallen getan. Die na Sian fragen sich schon lange, welche Interessen ihr Sippenhaupt umtreiben. Sicher ist Lup na Sian nicht sehr begeistert über das, was Zaēl über sie gesagt hat … es ist nicht nett, mir jemanden wie sie andrehen zu wollen.“
„Das war ein Scherz.“
„Wer’s glaubt.“ Beq kratzte sich unter den geflochtenen Haaren. „Ich hoffe, Ihr überlegt Euch genau, was ihr in Zaēls Gegenwart von Euch gebt. Es heißt, er vergäße nie etwas.“
„Beq … ich bin dir wirklich dankbar, dass du so auf mich Acht gibst.“ Firusz setzte sich auf sein Schlaflager. „Aber das kann ich auch allein.“
„Sicher? Passt in Zukunft gut auf Eure Füße auf. Sonst steht Ihr plötzlich neben einem blau angemalten Pferd.“
„Von wegen. Gehen wir ins Bett, Beq. Morgen können wir weiterreden. Wenn ich wieder nüchtern bin.“

Firusz erwachte, weil Beq ihn an der Schulter gepackt hielt und kräftig schüttelte. „Herr! Herr! Da steht ein Pferd vor dem Zelt!“
„Ist es blau?“
Beq lachte. „Nein. Aber jemand scheint Pläne mit Euch zu haben, Herr.“
Firusz rappelte sich auf, warf sich in Reithosen, Hemd und Weste.
„Guten Morgen.“ Lup saß auf einer cremefarbenen Stute. Am Zügel hielt sie einen Goldfuchs. „Ich dachte, wir könnten ausreiten.“
„Lup – hör mal … vielleicht hast du da was gehört, das … so nicht stimmt.“
„Wir reiten aus“, sagte sie streng.

„Es tut mir Leid“, sagte Firusz, als sie weit draußen am Fluss angelangt waren. „Wahrscheinlich darf man gar nicht so über Frauen reden, wie wir das getan haben …“
„Hör auf zu jäbbeln.“ Unter Lups Kopftuch hatten sich Strähnen gelöst, klebten ihr nun im Gesicht. Die Stute tänzelte zwischen ihren Beinen. „Es ist nicht das erste Mal, dass Zaēl so über mich redet.“
„Und das lässt du dir gefallen?“
„Was bleibt mir übrig?“ Lup ließ das Pferd auf der Stelle galoppieren. „Ich habe Zaēl nicht gut behandelt.“
Firusz runzelte die Stirn. „Ich dachte …“
„Die Sippe weiß nicht alles. Zaēl hätte mich geheiratet, wenn ich die Daumenschrauben angezogen hätte.“
„Hast du mich deshalb so weit rausgeschleppt?“
„Du hast selbst gemerkt, wie schnell man bei uns abgetan wird. Zaēl und ich dürfen nicht heiraten. Wir bringen einander eines Tages um. Ich habe lange gebraucht, bis ich ihm das klar machen konnte.“
„Aber er redet so schlecht über dich, Lup.“
„Das tun Männer, wenn man sie verletzt hat.“
Firusz ließ seinen Wallach trinken. „Tut mir Leid.“
„Muss es nicht. Ich bin froh, dass Teya es besser getroffen hat. Aber auch sie musste eine schwere Wahl treffen. Sie hat dich nicht genommen, obwohl ich mir sicher war, dass sie es tun würde. Sie hat eine mutige Entscheidung gefällt. Ich hoffe, dass du das respektierst.“
Firusz’ Ohren glühten. „Natürlich respektiere ich das.“
„Ich weiß nicht, was Zaēl dir in den letzten Tagen noch alles erzählt hat – aber rechne nicht damit, die Wahrheit von ihm zu erfahren.“
Der Wind frischte über der Steppe auf, der Wallach zog das tropfende Maul aus dem Wasser. Die Haut auf Firusz’ Wangen begann zu spannen – der Wind war kalt, schmeckte metallisch auf der Zunge.
„Es wird schneien“, sagte Lup.
„Ich dachte, es ist Sommer!“
„Das hier ist ein Land mit eigenen Gesetzen.“ Lups Röcke wirbelten um die Steigbügel, für einen Moment blitzte ein Unterkleid aus blauer Seide auf, passend zur Farbe des Himmels. Firusz lenkte den Wallach an die Stute heran. „Warum wolltest du Zaēl nicht haben?“
Lup grinste ihn an. „Zaēl ist ein Weichei.“ Sie nahm die Zügel in eine Hand. „Er hat noch nicht herausgefunden, was er eigentlich will. Er hat nie im Leben um etwas kämpfen müssen.“ Sie griff Firusz in den Nacken, zog ihn an sich. Sein erster Kuss schmeckte wie der Wind, der an seinen Kleidern zerrte. Lups Knie stieß in seines. Firusz stemmte sich aus dem Sattel, Lup drückte ihn wieder hinein. „Das hier heißt gar nichts“, sagte sie.
Firusz schoss das Blut ins Gesicht. „Aber …“
Lup kniff die Augen zusammen. „Was ‚aber’?“
„Du kannst das nicht mir machen, Lup. Nicht mit mir.“
„Wie sonst soll sich ein Mädchen das beschaffen, was es will?“ Sie ließ die Zügel fahren, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. „Das Leben hier ist entsetzlich.“
„Und deshalb …“
„Ich mag dich, Firusz.“
Er biss sich auf die Unterlippe. „Das habe ich gehofft.“
„Aber das heißt nicht, dass du einen Anspruch auf mich hast. Teya würde sich umbringen, wenn sie von diesem Kuss erführe, das ist dir hoffentlich klar?“
Firusz spürte sich mit dem Wind schwanken. Hatte er genickt?
Lup zog ihn noch einmal an sich, diesmal pressten sich ihre Zähne fest in seinen Mund. „Und Zaēl tötet dich, wenn du ihm davon erzählst.“
Firusz bekam langsam wieder Luft. „Na, da hast du dich aber nach allen Seiten abgesichert.“
„Eine kluge Frau tut das.“ Lup schob die Hand in seinen Nacken zurück. „Wir treffen uns hier am Fluss – im Lager haben wir nichts miteinander zu tun, ist das klar?“
„Ich soll dich ignorieren?“
„Die Frage ist, ob du mich ignorieren kannst.“
Firusz sah zu ihr auf. Der Wind hatte ihr Gesicht rotgerieben. Ihre Augen sahen aus wie Knöpfe, der Mund wurde von zwei tiefen Linien eingerahmt. Nein – er würde ihr nie wieder mit Gleichmut begegnen. Sie sah Teya ähnlich. Was hatte Griça einst gesagt? Die Westländer mochten wehrhafte Geschöpfe. Teya hatte sich in Gegenwart der Männer zurückhaltend gezeigt, aber sicher war auch sie in dem Teil des Lagers, der den Frauen vorbehalten war, ganz anders. „Was erzählen die Frauen der Sippe über mich?“, wollte er wissen.
Lup ließ ihn los. „Du willst wissen, was meine Schwester über dich denkt?“
Firusz nickte.
„Nun … sie hätte etwas dagegen, uns hier beisammen zu sehen.“ Sie legte den Kopf schief. „Ich werde dich ebenso wenig heiraten können wie Zaēl. Ich werde bald sterben.“
„Lup – vielleicht will ich dich gar nicht heiraten.“ Aber in diesem Augenblick hätte er alles versprochen, nur um sie wieder anfassen zu dürfen.
„Hör mir zu: Ich werde bald sterben. Ich habe Träume gehabt. Ich habe die Vorzeichen gesehen: Mich haben die Adler begleitet, als ich über die Ebene ritt. Ich weiß, was das heißt.“
„Lup – du musst mich nicht heiraten.“
„Liebst du meine Schwester?“
„Nein. Ich dachte, ich würde es tun.“
„Weil sie dich nicht zurückgestoßen hat? Ist das der einzige Grund?“
Firusz wich ihrem Blick aus. „Du weißt nicht, was mir in Seestadt passiert ist.“
„Ich finde, Männer brauchen ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein.“
„Dann hilf mir dabei, Lup.“
„Ich mag direkte Aufforderungen, weißt du?“
„Ist ‚hilf mir’ in irgendeiner Weise missverständlich? Gott – du irritierst mich.“
Sie stützte sich mit dem Unterarm auf den Sattelknauf. „Was willst du dagegen tun?“
Firusz rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lider. „Hör zu, Lup: Ich bin mir wohl bewusst, was du hier auf dich nimmst. Du hast sogar noch mehr Mut unter Beweis gestellt als Teya. Du hast mich geküsst, und was Wunder: Dein Mund fällt nicht ab! Ich bin nicht in der Verfassung, mit mir spielen zu lassen. In Wittland bist du wohl meine einzige Chance, aber …“
„… aber es hängt zuviel daran“, vollendete sie seinen Satz.
Firusz sah zu den fernen Bergen, die auf ihn zu lauern schienen, auf seinen Fehler. Das Gras rauschte um sie herum, die Pferde schnoberten beunruhigt.
„Du machst es absichtlich schwierig“, warf er ihr vor. „Wir werden nicht heiraten, soviel ist sicher. Wir müssen es geheim halten, das habe ich auch verstanden. Warum …“
Lup schloss für einen Moment die Augen. Sie sah müde aus. „Teya wollte nie woanders sein als hier. Ich bin wie Zaēl: Ich will weg. Er kann Westland nicht verlassen, er ist das Sippenhaupt. Du bist übers Meer gekommen. Du kannst mir von den Kolonien erzählen, von dem Leben, das du vor Wittland hattest. Wenn ich dich ansehe, erinnere ich mich daran, dass es Wege aus der Steppe gibt.“
Diesmal wartete Firusz nicht auf eine Einladung. Er rutschte aus dem Sattel, umklammerte Lups Knie. Sie beugte sich über ihn, das Gesicht überschattet von aufziehenden Wolken. Sie hatte den gewebten Gürtel gelöst, der ihr Kleid zusammenhielt. Sie glitt in seine Hände, gegen seine Wangen. Firusz presste den Mund in ihre Brust und in diesem Moment, der doch ganz von ihr hätte ausgefüllt sein sollen, hatte er nur einen Gedanken: Erlaubt sie mir mehr, als sie Zaēl erlaubte?

Beq sah ihn nur einmal schief an. „Ihr glüht ja.“
Firusz betastete seine Ohrenspitzen. „Ach?“
„Es strahlt aus jedem Knopfloch.“ Beq reichte ihm einen Becher Wasser. „Hat Lup Euch rangelassen?“
Firusz ließ den Becher sinken. „Ich glaube, das sollte ich geheim halten.“
Beq zuckte die Achseln. „Wir na Borr sind gute Beobachter. Zaēl war hier. Er hat Euch heute Abend zu sich geladen.“
„Schon wieder?“
Der na Borr schnalzte leise. „Vielleicht will er Euch im Auge behalten, Herr. Auch das Sippenhaupt der na Sian hat es nicht gern, wenn man ihm sein Mädchen wegnimmt.“
Firusz knirschte mit den Zähnen. „Ich habe einen Fehler gemacht, nicht wahr?“
„Es ist nie klug, sich in die Beziehungen anderer Leute einzumischen, Herr.“
„Sollte ich gehen?“ Firusz massierte sich die Wangenknochen. „Sollte ich mein Bündel schnüren und nach Seestadt zurückkehren?“
Beq lächelte schadenfroh. „Ihr habt Euch mit Lup na Sian eingelassen, Herr. So schnell kommt Ihr nicht mehr davon.“

Morrie stellte Verhandlungsgeschick unter Beweis. Schon nach einer halben Stunde hatte er dem weißbärtigen Westländer, in dessen Zelt sie zu Mittag gegessen hatten, drei Pferde abgekauft, Proviant und zusätzliche Decken. „Stell dich nicht so an, Qarl.“
Der na Qes saß völlig verkrampft im Sattel. „Ich dachte, es könnte nicht schlimmer kommen.“
„Immerhin wird man zu Pferd nicht seekrank. Sieh es ein, Qarl: anders geht es nicht.“
„Wo wollen wir überhaupt hin?“, maulte Qarl. „Hast du irgendwen nach der Richtung gefragt?“
Morrie verdrehte die Augen. „Du wolltest auf diese Reise gehen, wenn ich mich recht erinnere. Halt dich am Sattel fest und sei still.“

Zaēl tat unbeteiligt. „Wie ich hörte, bist du heute mit Lup ausgeritten.“
„Ja, sie … sie wollte mir was erklären.“
Das Sippenhaupt der na Sian machte schmale Augen. „Schön – dann bist du ja jetzt über alles im Bilde.“ Firusz hatte plötzlich das Gefühl, von einer Raubkatze beobachtet zu werden. „Ich dachte, dir vertrauen zu können, Firusz.“
„Weil du gedacht hast, dass mich sowieso niemand ranlässt, deshalb.“ Firusz hatte einen bitteren Geschmack im Mund. „Ich habe dich nicht hintergangen, Zaēl. Du hast mir Lup selbst angeboten.“
„Ich habe dir nichts verboten, oder? Ich finde es nur bestürzend, dass du die Frauen der na Sian als Freiwild betrachtest.“
„Die Frauen der na Sian betrachten mich als Freiwild!“, beschwerte sich Firusz.
Zaēl sah aus, als wolle er ihm an die Gurgel springen. „Denk dran: Es muss noch ein Mädchen übrig bleiben, das ich heiraten kann. Wenn wir im nächsten Jahr zehn Teufelsbälger im Lager haben, wählt man mich ohne Zweifel ab.“
„Ich dachte, Sippenhaupt wäre man auf Lebenszeit.“
„Willst du mein Amt auch noch übernehmen? Du hast schon die Frau abgegriffen, die ich wollte, da kannst du das ja auch noch haben.“
„Zaēl!“ Firusz wurde kalt. „Du hast mir deine Freundschaft angeboten – willst du so schnell alles zurücknehmen? Tut mir Leid, das verstehe ich nicht …“
„Was gibt es groß zu verstehen? Lup hat es abgelehnt, meine Frau zu werden – öffentlich abgelehnt, noch dazu!“
„Das hättest du mir sagen müssen!“ Firusz atmete tief durch.
Zaēl erhob sich. „Ich werde dich aus dem Lager werfen.“
„Zaēl, nimm mir das bitte nicht übel, aber: Du bist der nutzloseste Freund, den ich jemals hatte. Wie kannst du mich für etwas bestrafen, das ich unwissentlich tat?“ Du lügst, sagte er sich selbst. Du wusstest, was du ihm antust. Du warst dir selbst der nächste, Firusz. Du hast gehandelt wie ein Teufel.

ENDE DES ZWEITEN BUCHES
DAS DRITTE BUCH, DAS TAL DER KÖNIGE, FOLGT IN KÜRZE


Impressum

Texte: Copyright by C.G. Eicke 2011 Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

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