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Die Eltern meines Vaters sind unter einem Baum begraben. Es ist eine Buche, noch nicht übermäßig alt, aber man kann sie von all den anderen Bäumen im Friedwald unterscheiden: Der Stamm teilt sich, hoch, sehr hoch über unseren Köpfen, und wächst dann wieder zusammen. Die Buche, unter der meine Großeltern liegen, hat ein Nadelöhr. Es ist nicht breit genug für einen Menschen, aber ich stelle mir vor, dass Vögel hindurchfliegen und natürlich Schmetterlinge und Käfer, vielleicht schafft es eines Tages eine Hummel so weit hinauf. Es ist nicht erlaubt, im Friedwald Blumen niederzulegen, deshalb hat meine Mutter illegal kleine Waldalpenveilchen neben den Baum gepflanzt. Sie sind schon längst alle eingegangen, aber es war ein aufregender Moment:
„Pass mal auf, dass keiner kommt!“
Ich fand es interessanter, meine Mutter zwischen den Wurzeln knien zu sehen, den Rucksack halb offen, um die Schmuggelware zwischen den trockenen Blättern auszubreiten. Die Veilchen waren zartrosa, die dunklen herzförmigen Blätter hell geädert.
Durch den Wald fließt ein Bach und obwohl es sicher Gewässer gibt, die näher an unserem Haus liegen, kommen wir hierher, wenn wir das Osterwasser holen. ‚Osterwasser’ gibt es in anderen Familien eher nicht. Ich habe neulich versucht, es einer Engländerin zu erklären, dass wir die Idee hatten, nachdem wir uns eines Tages an ‚Krabat’ erinnerten und die Mädchen, die an Ostern still zum Brunnen gehen. Wir fahren am Ostersonntag noch vor Sonnenaufgang los und stellen das Auto am Friedwald ab. Einer von uns bringt eine große silberne Suppenkelle mit, ein anderer ein angemessen zeremonielles Gefäß. Wir passieren die Buche mit dem Nadelöhr. Die Stelle, an der wir trockenen Fußes zum Bach hinunterkommen, ist nicht direkt am Baum, wir müssen noch ein paar Minuten gehen. Wir ziehen stumm durch den Wald, denn das Ganze funktioniert angeblich nur, wenn unser Schweigen erst nach der Waschung gebrochen wird. Wir steigen, einer nach dem anderen, zum Bach hinunter. Wir schöpfen Wasser und reiben uns die Gesichter, es ist kalt und neblig, aber alle, auch die mit Rheumatismus, tun es. Wir stehen mit nassen Gesichtern im Wald, von unseren Wangen tropft Wasser auf unsere Jacken. Ich glaube, Osterwasser soll uns zu Schönheit verhelfen, aber wirklich ernst nimmt das niemand. Wir kommen hierher für den Nebel zwischen den Bäumen und den Sonnenaufgang im Friedwald, für den stumm verbrachten Morgen und das Gelächter, wenn wir uns nach und nach dazu überwinden, aus der silbernen Kelle das eisige Wasser in die Hände laufen zu lassen. Zum Schluss füllen wir unser Gefäß, meist eine Vase aus Zinn mit praktischem Henkel, für die, die noch nicht aus dem Bett gekommen sind oder erst später, zum Essen, erwartet werden.
„So in etwa“, sagte ich zu Catherine, „funktioniert Osterwasser.“
„Wir machen was anderes“, sagte sie. „Nicht direkt an Ostern, aber etwa um die Zeit. Wir sammeln Alpenveilchen im Wald und ich kenne da einen ganz besonderen Ort.“

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Texte: Copyright by C.G. Eicke Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2011

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