C.G. Eicke
Firusz de Liarette
Geschichten aus Seestadt
Band 1
Copyright @ C.G. Eicke 2011
Alle Rechte vorbehalten
Erstes Buch
Löwen und Einhörner
Prolog
Das Schiff wartete auf den Wind. Die Sonne von Majetar kreuzte seit Tagen vor der Küste Wittlands; sie hatte die Wogen des Wilden Meeres überstanden, der Wind schälte die Farbe vom Bug. Mehr als einmal in den vergangenen Wochen hatte das Schiff so schräg auf den Wellen gelegen, dass alles, was nicht angebunden gewesen war, auf einen Haufen zusammenschlitterte. Männer, deren Füße in die Luft staken, Netze, losgerissene Fässer. Unter denen, die es von den Beinen riss, waren auch die beiden jungen Männer gewesen, die nun an der Reling standen und verärgert zur Küste hinüberstarrten. Der eine trug ein dunkelblaues Wams, das eng an seinem schmalen Körper anlag und weite Hosen, nach Sitte der Kolonien in den Schaft seiner Stiefel gefaltet. Sein lockiges dunkles Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihm bis zum Gürtel fiel. Die rechte Hälfte des Gesichts war unter seinem zur Seite gekämmten Schopf verborgen. Das sichtbare Auge war von einem unnachgiebigen Blau. Der Zweite war größer, breiter in den Schultern und runder im Gesicht. Er hatte ein dreieckiges Grinsen und graue Augen. Die Sonne brannte sich in sein braunes Haar, das ihm in Strähnen um die Ellenbogen tanzte. Er war nicht so bescheiden gekleidet wie sein Begleiter: Er orientierte sich bereits an wittländischen Gepflogenheiten. Die Hose war bis zu den Knien gewickelt, alle Kanten seines Obergewandes mit bunten Borten benäht. Firusz de Liarette trug nicht nur wittländische Kleidung, sondern auch einen wittländischen Vornamen, so als hätten seine Eltern gewusst, dass er eines Tages diese Reise antreten würde. Von Majetar über das Wilde Meer nach Wittland, so weit von Zuhause fort wie nur möglich. Firusz sah noch das Gesicht seines Vaters vor sich, als er ihm das letzte Mal die Hand gab. Sein Vater umarmte nicht gern. Firusz wäre am liebsten ganz allein aufgebrochen, um sich sein neues Leben zu suchen, aber dafür war die Familie natürlich zu vorsichtig. Jahrzehnte unter der Herrschaft der Wittländer hatten den Adeligen in den Kolonien beigebracht, sich nicht nur auf die eigene Stärke zu verlassen. Sie mussten sich ihre Privilegien zurückerobern. Firusz’ Familie bestand aus verdienten Kämpfern, humpelnden Veteranen, die misstrauisch die Brauen hoben, sobald die Sprache auf Wittland kam. Die Familie hatte sich ihre Rechte zurückgeholt: die Ländereien, einen Platz im Regierungsrat. Rechte, die denen vom Teuflischen Volk, wie die Wittländer es nannten, so lange verwehrt geblieben waren. In Wittland hofften die zwei jungen Männer (beide von gemischtem Blut), nicht auf freundliche Behandlung. Selbst die Küstenlinie des Landes erschien ihnen hart und krustig – als habe man sie einst gewaltsam von einem zugehörigen Teil getrennt. Der Kapitän der Sonne von Majetar hatte die Überfahrt schon oft gemacht. Er wusste, wie man die Riffe passierte, welcher Wind einem die größten Chancen ließ, sich um die nördlichste Kante Wittlands herumzuarbeiten und zu überleben. Die beiden jungen Passagiere hielten sich auf der Reise von der Mannschaft fern, die meiste Zeit verbrachten sie lesend unter Deck, über einen Kübel gebeugt oder in ihre Kojen gestopft. Sie hätten die Hälfte ihrer Reisekasse gegeben, um endlich an Land gehen zu dürfen. Firusz starrte sehnsüchtig zum Festland hinüber. „Hast du jemals in einer großen Stadt gelebt?“, fragte er seinen Cousin.
Yanus von Tredorn, mit 34 Jahren immer noch blass und unausgewachsen, bewegte die Schultern als wolle er etwas abschütteln. „Nun ... die Königsstadt ist ziemlich groß.“
Firusz schielte nervös auf die Gischtfontänen, die an den Felsinseln emporspritzten. Silberweiße Vögel tauchten unter den Segeln des Schiffes hindurch. „Du bist schließlich der Graf de Liarette. Von dir wird Anwesenheit bei Hofe erwartet. Hin und wieder.“
Yanus zog eine Schnute. „Jedenfalls hätte ich lieber ein paar Monate in der Hauptstadt verbracht als kotzend auf einem Schiff. Südländische Süßigkeiten, Kringelbrot, die neusten Theaterstücke ... aber ich musste mich ja breitschlagen lassen.“
Firusz trommelte mit den flachen Händen auf die Reling. „Alle anderen sind viel zu glücklich verheiratet.“
„Danke“, knurrte sein Cousin. „Ich hatte es schon fast vergessen.“
„Betrachte es als Erweiterung deines Horizonts.“
„Mein Horizont hat sich tatsächlich erweitert. Jeden Tag. Wasser, Wasser und Wasser. Aufregend.“ Yanus von Tredorn drehte sich um, blickte in die Segel, die über seinem Kopf zitterten. Tatsächlich gab es da niemanden, der ihn in den Kolonien vermisste. Obgleich Graf de Liarette, hatte sich bisher noch kein sauberes, williges Mädchen gefunden, um den Platz an seiner Seite einzunehmen. Die Kolonien waren Yanus über die Jahre hinweg zu eng geworden. Er igelte sich ein und versteckte sich vor der Welt, bis Firusz’ Vater in die Kolonien schrieb und eine Reisebegleitung für seinen quengeligen Sohn suchte. Was für eine Chance. Yanus packte fünf Mal sein Bündel um, entschied sich acht Mal für ein anderes Pferd, bis seine Mutter ihn so böse ansah, dass er endlich die Reise antrat: in den Norden, nach Majetar, wo ihn ein junger, muffiger Mann erwartete, der schon zwei Monate von Tavernenkost lebte. Yanus und Firusz beäugten sich die ersten Tage eher misstrauisch, dann brachen sie zum Hafen auf, bestiegen das Schiff und schlossen sich sofort gegen das raue Volk zusammen, das das Gefährt mit ihnen teilte. Sie redeten über Bücher – in dieser Familie eines der wenigen unverfänglichen Themen. Alle de Liarettes liebten Bücher, ob sie nun aus dem Norden oder den mittleren Kolonien stammten. Gemeinsam sagten die jungen Männer der Küste ihres heimatlichen Kontinents Lebewohl, gemeinsam nahmen sie nun Wittland in Besitz – nur die Winde weigerten sich. Die Unnahbarkeit des zerklüfteten Horizonts sorgte langsam für gereizte Stimmung. Zum tausendsten Mal fragte Yanus: „Und du bist dir sicher, dass du erst ab dem ersten September anfängst?“
Sein Vetter seufzte, entfaltete dann zum tausendsten Mal das Antwortschreiben, das er in sein Hemd gesteckt bei sich trug. Der Briefkopf zeigte neben wuchtigen kapitalen Lettern den Stempel eines Einhorns: Die Gesellschaft des Einhorns, Seestadt.
„Erster September“, sagte Firusz anklagend. „Da steht es.“
Firusz’ Vater opferte viel Geld, um seinem einzigen Sohn die Möglichkeit zu geben, sich in Sicherheit und mit angemessenem Taschengeld die Hörner abzustoßen. Seestadt – die berühmte Hafenstadt mit ihren fünf großen Handelsgesellschaften – bot sich für solche Fälle an. Die jungen Männer, die in den Kontoren arbeiteten, bekamen einen Schlafplatz, ausreichend zu essen und lernten nebenbei die Risiken und Freuden des Handels kennen. In Seestadt gab es eine überschaubare Anzahl leichter Mädchen, die sich jedes Vierteljahr einem gesetzlich verordneten Besuch beim Arzt unterziehen mussten. Firusz’ Vater hatte sich höflich an die Vertreter der fünf Gesellschaften in den Kolonien gewandt – und nur von einer der Gesellschaften Antwort erhalten. Allein die Gesellschaft des Einhorns erklärte sich dazu bereit, einen Kontorsschüler von gemischtem Blut aufzunehmen – gegen ein entsprechendes Entgelt. Seestadt – ein Jahr lang schon träumte Firusz von dieser Stadt, weit fort von zu Hause, umgeben von Zwiebeltürmchen und bunten Kacheln, die Straßen überschattet von blühenden Linden ... er hatte den Hafen schon vor sich gesehen: Schiffsmasten wie kahlgefressene Blumen, die aufgerollten bunten Segel, die Menschen in goldenen Schuhen. Noch in den Kolonien bestellte er sich jedes Buch über Wittland, das lieferbar war, verglich Aussagen von berühmten Reisenden und Illustrationen, fieberhaft eine Tasse Kräutertee nach der anderen trinkend, bis er mit zusammengekniffenen Beinen Richtung Abort watscheln musste. Und jetzt? Jetzt schabten sie mit den Fingernägeln Späne aus der Reling.
Yanus zog ein ledernes Fläschchen aus dem Wams, nahm einen Schluck und reichte es an seinen Vetter weiter. „Du wirst schon sehen“, sagte er leise. „Spätestens in einer Woche sind wir an Land und lassen uns durch die berühmtesten Tavernen führen.“
Firusz bewegte unbehaglich die breiten Schultern. „Ja – vielleicht. Wenn es jemanden gibt, der uns führen möchte.“
Yanus nahm die Flasche zurück, steckte sie wieder ein. „Glaubst du, alle Wittländer haben so harsche Vorurteile gegen unser Volk?“
Firusz rieb sich die lange Nase. „Ich hoffe nicht.“
„Es sind viele Jahre vergangen, seitdem die Gesetze sich lockerten. Man wird dich zuerst ein wenig angaffen, damit solltest du rechnen. Aber – ohne dich jetzt beleidigen zu wollen – du siehst eigentlich nicht sehr elfisch aus.“
„Mein Familienname sagt ihnen sicher genug. Ich wünschte, unsere Sippe hätte sich bei den Unruhen damals nicht ganz so hervorgetan.“
Yanus, in jungen Jahren selbst ein Held der geglückten Aufstände in den Kolonien, zuckte die Achseln. „Immerhin hat dein Vater noch das Geld, dich nach Wittland zu schicken. Es hätte ganz anders kommen können. Dein Großvater musste sich als Dienstbote verdingen, um überhaupt in den Kolonien geduldet zu werden – soll es dir ebenso ergehen?“
„Du brauchst ja nicht gleich wütend zu werden.“
„Ich bin überhaupt nicht wütend. Wir beide sind die ersten de Liarettes, die nach Wittland reisen, hast du mal daran gedacht? Wir sind die Vorhut.“
„Ich wünschte, ich wäre zu etwas nütze. Was ist, wenn ich mich im Kontor wie ein Idiot anstelle?“
„Dann musst du dir eben etwas anderes suchen, mit dem du sie beeindrucken kannst. Werde ein Weiberheld.“
Firusz schnaufte genervt. „Ja, sicher.“
„Du bist ein Exot in Seestadt. Warum solltest du diesen Trumpf nicht ausspielen?“
„Warum spielst du ihn nicht aus?“
Yanus bekam ein ganz hartes Kinn. „Das weißt du sehr gut.“
Firusz grinste. „Du bist doch nicht immer noch in meine Tante verliebt? Elisa ist verheiratet und hat vier Kinder!“
Yanus sah aus, als habe man ihn getreten. „Ich weiß das.“
„Du hättest auch längst heiraten sollen.“
„Bist du meine Mutter? Was glaubst du, weshalb ich mich dir so bereitwillig angeschlossen habe? Ich will nichts mehr vom Heiraten hören. Ich will dir nur ein paar Ratschläge geben. Wenn du bei den Frauen von Seestadt gut ankommst, brauchst du dich kaum noch um etwas anderes zu bemühen. Mein Vater ist sein Leben lang bestens damit gefahren.“
Firusz errötete. „Ich glaube kaum, dass ich so ein Mann bin.“
Yanus biss sich auf die Unterlippe. In manchen Dingen war Firusz sehr wie sein Vater. Schnell beleidigt und mit altmodischen Moralvorstellungen ausgestattet. Yanus lächelte in sich hinein. „Tut mir Leid.“
Die Segel knatterten über ihren Köpfen, Regentropfen sprühten aufs Deck. Firusz wandte sich von der Reling ab. „Gehen wir hinunter“, sagte er. „Ich glaube, ich sollte jetzt unbedingt in der Nähe eines Kübels sein.“
Yanus erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Wie jeden Tag in den letzten Wochen hatte er keine Ahnung, zu welcher Tageszeit er die Augen aufschlug. Ein Öllicht, festgenagelt auf einer alten Teekiste, warf Licht auf Firusz’ stilles Gesicht. Yanus krempelte die miefige Decke zurück, tastete mit den Füßen nach seinen Schuhen. Er stand auf, wäre beinahe umgekippt. Das Schwanken des Schiffes, auf das sich sein Körper während der letzten Wochen eingestellt hatte, hatte aufgehört. Nicht ganz aufgehört. Es war sanft geworden, zärtlich. „Firusz!“
Yanus fiel vor der Koje seines Vetters auf die Knie. „Firusz – wir sind da! Wir sind endlich da!“
Firusz fuhr hoch, schlug sich die Stirn an einem niedrigen Balken an. „Au!“
„Wir sind in Wittland!“ Yanus zog ihm die Decke weg, drehte sich dann auf dem Boden um, um seine Stiefel anzuziehen.
Firusz musste sich am Bettgestell festhalten. Er machte sich nicht die Mühe mit Schuhen. In Tunika und Schlafhosen stürzte er zur Tür. Yanus holte ihn noch rechtzeitig ein, zog ihn am Zipfel der Tunika zurück. „Du gehst da nicht halbnackt raus!“
„Aber ...“
„Du ziehst dich ordentlich an! Du bist ein Halbling, Firusz – du wirst dir sofort deine beste Wollhose und die beste Tunika anziehen!“
„Aber ...“
„Das hier ist eine Hafenstadt! Wenn du in diesem Aufzug an Deck gehst, weiß das heute Abend auch die letzte Hure!“
Firusz sah seinen Vetter erschrocken an. Yanus nutzte den Moment und schob ihn in die Kajüte zurück.
Zehn Minuten später zeigten sich zwei elegante junge Herren an der Reling der am Kai von Seestadt vertäuten Sonne von Majetar. Firusz schwitzte in wollenen Hosen und der über und über mit Stickereien bedeckten Tunika. Um Yanus’ Hals hing eine schwere goldene Kette: die Amtskette der Grafen de Liarette. Er hatte sich das Haar mit Wasser aus dem Gesicht gekämmt – entblößte so, gegen seine Gewohnheit, die vernarbte Augenhöhle – die Matrosen wichen entsetzt vor ihm zurück. Seestadt breitete sich vor ihnen aus: enge Gassen, Fachwerkhäuser wie in den Kolonien, aber hier waren die Dächer flach und stießen über der Straße zusammen. Manche Häuser besaßen mehrere Stockwerke, jedes hatte ein eigenes Dach und eine Galerie, auf der Leintücher aufgespannt waren. Kleine Bäume in Holzkübeln standen an den Straßen. Über das Hafenviertel hinweg sah man marmorne Kuppelbauten, die Tempel der Stadt, Adelspaläste mit Säulenportikus und heroischen Friesen. Ein gelblicher Nebel lag über der Stadt.
„Da drüben.“ Yanus berührte Firusz sacht am Ellenbogen. Am anderen Ende des Hafenbeckens, halb verdeckt von den Masten der Fischerboote, spannte sich eine mit schmalen Häusern bebaute Brücke über den Fluss. An die Giebel der Häuser waren runde Wappen gemalt. Fünf Häuser. Fünf Wappen.
I
Ein pickliger Hausbursche hatte sie am Kai abgeholt – jetzt zog er keuchend ihr Gepäck hinter sich her. Er trug eine hellblaue Uniform und viel zu große Schuhe. Nieselregen ließ das Straßenpflaster rutschig werden. Yanus, der wusste, dass es übertrieben gewesen wäre, die paar Meter zur Blauen Brücke mit der Kutsche zu fahren, grämte sich um den verpassten Auftritt. Regentropfen setzten sich in Firusz’ pelzverbrämten Mantel, seine Wimpern, ließen ihn aussehen wie einen Prinzen, der es nicht ganz über sich brachte, inkognito zu reisen. Der Hausbursche schnaufte das ansteigende Ende der Brücke hinauf, immer wieder glitschte der Karren auf dem Pflaster zurück, bis Firusz sich erbarmte und anschob. Sie passierten die Häuser der Gesellschaft des Stiers und der Gesellschaft der Sonne. Das Haus des Stiers war in einem dunklen Rot getüncht, das der Sonne in königlichem Gelb. Die Farbe des Einhorns war das helle Rauchblau der Bedienstetenuniform. Die letzten beiden Häuser auf der Blauen Brücke waren sandbraun und weiß gestrichen, die dunklen Balken schnitten die Farben in übersichtliche Portionen. Firusz verschränkte die Hände in den Ärmeln, wartete, bis der Hausbursche am Hauptportal angeklopft hatte. Die schwere Tür war ebenfalls in Bereiche aufgeteilt. Mit schaurigem Quietschen öffnete sich das untere linke Segment. Ein alter Mann mit Samtmütze steckte den Kopf heraus. „Was?“
„Ein neuer Schüler“, presste der Hausbursche unter pfeifenden Atemzügen hervor.
Firusz machte Anstalten, sich zu verbeugen, Yanus trat ihm geschickt in den Weg. „Firusz de Liarette meldet seine Ankunft.“
Der Torhüter kniffelte Yanus an. „Wer?“
„Firusz de Liarette – ab September Kontorsschüler in dieser Gesellschaft.“
Der Hausbursche beugte sich zu dem alten Mann hinüber und flüsterte so laut, dass sich die Vorüberkommenden umdrehten: „Der Teufel.“
„Das hätte er gleich sagen können!“ Der alte Mann stieß die Tür so weit auf, dass auch der Gepäckkarren passieren konnte. Der Innenhof des Handelshauses erinnerte an jene, die sie bereits vom Schiff aus gesehen hatten: Wäschestücke, blühende Kübelpflanzen, in einer Ecke stand eine große Voliere, in der bunte Vögel auf kupfernen Stangen hockten. Der Hausbursche rief in die oberste Galerie hinauf – an einer Winde wurde ein Haken herabgelassen, an dem die Gepäckstücke der Neuankömmlinge befestigt und nach oben gezogen wurden.
„Praktisch“, murmelte Yanus.
Firusz starrte ihn düster an. Der alte Mann deutete nacheinander auf die drei Galerien. Oben fing er an. „Unterkünfte der Schüler und Gesellen. Unterkünfte der Altgesellen und Warenlager. Schulräume und Schreibzimmer des Ersten Einhorns. Im Erdgeschoss sind die Küche, der Speiseraum und die Kleiderkammer. Im Keller wird gewaschen. Das Hauptkontor befindet sich in der Halbemondstraße. Die Kapelle befindet sich in der Viertelmondstraße. Die Taverne, in der Familienangehörige untergebracht werden können, ist Das hungrige Einhorn in der Jammergartengasse.“
Yanus sah seiner Reisetruhe hinterher, die soeben in der obersten Galerie vom Haken genommen wurde. „Äh ... gut.“
Der Torwächter seufzte, gab den Hausburschen einen Wink – die Truhe schwebte wieder nach unten, setzte aber so hart auf dem Innenhof auf, dass etwas darin klirrte. Yanus schloss für einen Moment das Auge. „Kann mich jemand mit dem Karren in die Jammergartengasse bringen?“
Der alte Mann tippte sich an die Nase. „Natürlich. Auf Eure eigenen Kosten.“
Firusz stieg allein die zahlreichen Stufen zur ersten Galerie hinauf, über seiner Schulter baumelte das Leinenbündel mit seinen privaten Habseligkeiten. Der Mantel war so lang, dass er ihn raffen musste. Die zwei Hausburschen auf der oberen Galerie grinsten einander an, als der neue Schüler mit hochrotem Gesicht bei ihnen anlangte. „Man gewöhnt sich schnell an die Treppen“, meinte der eine. „Ich bringe Euch in die Schlafkammer. Dort könnt Ihr auspacken und Euch mit Eurem Schlafgenossen vertraut machen.“
Firusz nickte unglücklich. Er hatte bisher stets ein eigenes Zimmer zur Verfügung gehabt, von der Seereise einmal abgesehen. Als einziges Kind seiner Eltern bekam er all das, was er sich wünschte. Es gab immer noch eine Kammer auf der Burg, in der all seine Kinderspielsachen gestapelt lagen. Im Inneren des Hauses war es dunkel, es roch nach Lavendel und ungewaschenen Füßen. Der Fußboden bestand aus schwarzgebeizten Bohlen, alle paar Meter ging eine schmale Tür ab. „So viele Schüler?“, staunte Firusz.
Der Hausbursche schüttelte den Kopf. „Dieses Jahr sind es nur vier. Die unbewohnten Räume dienen als Lager für Stoffe, Tonwaren, Häute und Garne. Alles, was man essen kann, ist im ersten Geschoss hinter Schloss und Riegel.“
An zwei Türen waren mit Kreide Zeichen gemalt. Das eine war ein Kreis mit einem Kreuz darin, das andere ein Kreis mit zwei Kreuzen.
Der Hausbursche deutete auf das zweite Zeichen. „Das ist Eure Kammer. Euer Schlafgenosse ist Calmorran na Carran. Er hat sich bereiterklärt, das Bett mit einem Teufel zu teilen.“
„Das Bett?“, fragte Firusz bestürzt.
„Es gab Zeiten, da hatte die Gesellschaft fünfzig neue Schüler im Jahr. Es gibt pro Zimmer nur ein Bett.“
„Und man kann nicht ein paar Regeln ändern? Mit der Zeit gehen?“
Der Hausbursche sah ihn schockiert an. „Ihr seid in Wittland!“
Firusz nickte langsam. „Ja, natürlich. Entschuldigung.“
„Schüler na Carran ist schon seit zwei Wochen hier. Er wird Euch alles Nötige erklären. Die Waschräume sind am Ende des Ganges, gleich rechts.“
„Ist Schüler na Carran in seinem Zimmer?“
„Ist er eigentlich immer.“ Der Hausbursche klopfte an.
Stille.
Er klopfte noch einmal. Schließlich hörte man ein leises „Ja?“
„Der Schüler de Liarette ist angekommen.“
„Oh ... ich bin sofort da.“ Schieben und Schaben im Zimmer, dann wurde die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand ein magerer junger Mann mit sehr glattem Haar und hervorquellenden Augen. Er trug die Gewänder, die auch Firusz für mindestens zwei Jahre tragen würde: einen bodenlangen schwarzen Überwurf mit dem doppelten Kreuzkreis auf der Schulter, die Säume waren mit hellblauem Seidenband abgesetzt. Die Schuhe, die unter der Schulrobe hervorsahen, waren schmutzig und abgestoßen. „Guten Morgen“, sagte der Schüler und verfärbte sich hellrosa. „Ich hoffe, du hattest eine gute Reise.“
„Es war in Ordnung“, antwortete Firusz zögernd, dann trat er ein. Das Zimmer war getäfelt und in kreidigem Weiß gestrichen. In der Mitte des Raumes stand ein monströses Bettgestell mit Strohmatratze und ordentlich gefalteten Filzdecken. Es gab zwei Tische zu beiden Seiten des Bettes, zwei Stühle und einen eingebauten Schrank. Der Hausbursche wuchtete Firusz’ Truhe über die Schwelle, schleifte sie an die der Tür zugewandten Seite des Bettes. „Danke“, sagte der Halbling. Der Bursche schloss die Tür.
Calmorran na Carran atmete hörbar auf. „Die Hausburschen sind schlimmer als Waschweiber. Lass dich bloß nicht von der freundlichen Art übers Ohr hauen. Ich heiße Morrie.“
„Firusz.“
„Komisch, dass du so einen Namen hast, nicht? Ein Teufel sollte irgendwie anders heißen.“
„Irgendwie anders?“, fragte Firusz überfordert.
„Na, wie in den Büchern eben.“
Erst jetzt bemerkte Firusz den hohen Stapel Bücher auf einem der kleinen Schreibtische. „Ja, tut mir Leid ... meine Eltern müssen sich wohl was dabei gedacht haben.“
Morrie lächelte traurig. Seine Augenbrauen und Wimpern waren so hell, dass sie seine Augen einengten, als blicke er durch die Blütenkränze zweier Gänseblümchen. Firusz wandte sich irritiert ab. „Ist ... ist es nett hier?“
„Da kommt darauf an, wie man nett definiert. Ich glaube nicht, dass es in den anderen Gesellschaften besser ist, wenn du das meinst. Das Essen ist nicht so toll. Ich glaube, die Altgesellen, die uns unterrichten, sind sehr streng. Wenn man nicht bis Mitternacht zu Hause ist, muss man sich auf eigene Kosten eine Taverne suchen. Die Kleider sind merkwürdig. Man wird angesehen, wenn man durch die Stadt geht. Aber es muss schön sein, wenn ein Schiff wiederkommt. Wenn all die Kostbarkeiten ausgeladen und verstaut werden müssen.“ Morrie verschränkte die Arme im Nacken. „Seidenstoffe, Gewürze, Blumenzwiebeln, Edelsteine. Letztes Jahr hat die Gesellschaft nicht viel Glück gehabt. Fünf Schiffe sind gesunken.“
„Deshalb nur vier Schüler?“
Morrie hob die Achseln. „Vielleicht. Hier ist es eng, nicht? Und es riecht seltsam.“
„Ist mir auch schon aufgefallen, ja.“
„Es sollte irgendwie abenteuerlicher sein, nicht?“
Firusz hob die Achseln. „Kann sein.“
„Will deine Familie dich auch loswerden?“
„Nein ... ich wollte meine Familie loswerden. Aber sie haben mir einen Aufpasser mitgeschickt.“
Morrie sah aus dem Fenster, setzte sich dann aufs Bett. „Ich hätte gern einen Aufpasser dabeigehabt. Mich haben sie einfach in die Eilpostkutsche geschoben – mit Wechselhosen und einer Börse voll Gold.“
„Wir sollten Familien tauschen“, sagte Firusz bitter.
Morrie antwortete nicht.
Das hungrige Einhorn war staubig. Yanus hatte ein Einzelzimmer erbeten und sich direkt nach Eintreffen seines Gepäcks verbarrikadiert. Er musste Acht geben, dass er sich an der Decke nicht den Schädel stieß, das Wasser im Waschstand roch nach Mäusefell und das Bett war schmal. Yanus ließ sich mit dem Gesicht voran auf den Strohsack fallen. Jetzt konnte er immerhin sagen: Wittland ist anstrengend und ziemlich teuer. Er blieb ein paar Sekunden liegen, dann rollte er sich auf den Rücken und zerrte sein Reisebündel aufs Bett. Er hatte ein bisschen Ingwerkuchen, trocken, aber noch aus den Kolonien. Während er kaute, beobachtete er den Staub im Sonnenstahl, der durch das Fenster fiel. Wie lange wollte er in Wittland bleiben? Wie lange würde es dauern, bis Firusz ihn eigenhändig aus Seestadt warf? Immerhin konnte er sich die Tempel ansehen, den ein oder anderen Stadtpalast besichtigen, ein paar unliebsame Erfahrungen mit den hiesigen Spezialitäten machen – sich einfach nur von Zuhause erholen. Und von der Überfahrt. Von Firusz. Von seinen drückenden Stiefeln.
Es klopfte an der Tür. Yanus fuhr in die Höhe, schluckte die letzten hartnäckigen Kuchenkrümel. „Ja?“
Die Wirtin des Hungrigen Einhorns trat ein, eine junge Frau mit interessant großem Vorbau. „Es ist ein Brief für Euch gekommen.“
Yanus runzelte die Stirn. „Ein Brief?“
Sie übergab ihm ein Stück gefaltetes Papier. Es brachte den Duft von Zimtrinde mit, von Moschus. Mit dem Daumennagel löste er vorsichtig das Siegel, knickte den oberen Teil des Briefes hoch. In Wittland waren Wappen rund, soviel hatte er schon begriffen. Dieses zeigte einen Löwenkopf mit übertrieben gelockter Mähne, um den drei Raben saßen. Yanus las:
Mein geschätzter Graf de Liarette –
Eure Ankunft in unserer schönen Stadt ist durchaus nicht unbemerkt geblieben. Da sich nur selten Mitglieder des Neuen Kolonialrates in diese Gegend verirren, betrachte ich es als selbstverständlich, dass Ihr an diesem Abend in meinem Hause speist.
Anson na Anbar
Stadtherr
In den Kolonien waren die Städte schon immer frei gewesen – was bitte war der Status eines Stadtherrn? Aus wittländischen Familiennamen konnte man nicht herauslesen, ob ihr Träger von Adel war. Ein Stadtherr konnte einen Sitz im Stadtrat innehaben oder ... Yanus stöhnte entsetzt. Und er hielt Firusz Vorträge über Diskretion! Eine Hafenstadt, tatsächlich ... die Matrosen mussten sofort in die Kneipen gerannt sein ... er stand auf, quälte sich über die enge Treppe in den Schankraum hinunter. Die Schankfrau sah auf, sie stellte zwei Humpen süß riechendes Bier auf den Tisch. „Gibt es ein Problem?“
Yanus räusperte sich. „Wo finde ich das Haus des Anson na Anbar?“
Die Frau wurde blass. „Ich werde es Euch zeigen.“ Sie öffnete die Tür der Taverne und zeigte zum Horizont.
„Welches ist es denn?“, fragte Yanus ärgerlich.
„Na – das!“
„Die Säulenhalle auf dem Berg?“
Sie nickte.
Yanus bekam spontan Kopfschmerzen.
Firusz zupfte an seiner Schulrobe herum. Morrie schleppte ihn gerade auf einer Tour durch das gesamte Haus. Firusz hatte schon fast alles wieder vergessen, nur ein verschwommener Gesamteindruck war geblieben: dunkles poliertes Holz, Plaketten in angelaufenem Messing, schlierige Fußböden. Aber weit und breit waren keine Gesellen oder Altgesellen zu sehen, nur die Hausburschen flitzten durch die Korridore.
„Und das hier ist unser Schulraum.“ Morrie stieß eine niedrige Tür am Ende des Flurs auf. Der Fußboden war etwas abgesenkt, zehn Schreibpulte standen vor einer riesigen an der Wand befestigten Wachstafel. Die Schemel, auf denen die Kontorsschüler sitzen würden, sahen so aus, als ließen sie nur eine gekrümmte Körperhaltung zu. Stapel vergilbten Schreibpapiers lagen herum, angestaubte Federkiele, trockene Tintenhörner. Morrie sah sich mit kummervollem Gesicht um. „Es wird schrecklich“, prophezeite er.
Firusz bildete sich ein, seine Stimme nachhallen zu hören: „Schrecklich ... lich ... lich ... lich ...“
Yanus hing bis zum Nabel in seiner Reisetruhe, zog ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus. Hemden, Wämser, Hosen flogen auf das Bett, bildeten einen großen übelriechenden Haufen. Er hatte tatsächlich nichts anzuziehen. Er schnupperte an der dunkelroten Leinentunika, warf sie angeekelt von sich. Warum hatte er nicht an diese Möglichkeit gedacht? Gab es nicht auch in den Kolonien Edelleute, die Reisende zum Essen einluden?
Verschaffte sich Firusz’ Vater nicht auch einen genauen Überblick über die Adeligen, die in Majetar zu Gast waren? Warum hatte ihn niemand gewarnt? Er riss seine Börse auf. Er musste einkaufen gehen.
Die Wirtsfrau sah ihn diesmal schon mit jener gewissen Entnervtheit an, die Frauen ihm gegenüber so häufig an den Tag legten. „Es gibt sehr gute Geschäfte in der Grauekatzengasse.“
Yanus blinzelte beunruhigt. „Und wie komme ich dahin?“
„Soll ich Euch das auch noch zeigen?“
„Ja, bitte.“
„Ich muss nur kurz Bescheid geben, dass ich rausgehe.“
Yanus nickte ungeduldig. „Bitte tut das. Bitte bitte.“ Er brauchte ein frisches Hemd, eine typisch wittländische Hose, Beinwickel, er brauchte ganz sicher einen Hut, eine Tunika und ... er zwang sich, tief durchzuatmen. Warum gab es Adelige, die es sich herausnahmen, unwillige Reisende in ihr Haus zu bestellen? Hatte er sich jemals für die Reisenden in seinen Dörfern interessiert? Nein, natürlich nicht. Er hätte natürlich sofort geholfen, falls jemand in Not geraten wäre ... aber sich so aufzudrängen ... er blähte die Wangen auf. Wittland war teuer – aber wirklich.
Die Gasse der Tuchhändler und Schneider war ungepflastert und die Frau, die Yanus führte, sprang flink über Pfützen und Kotbrocken, er kam kaum hinterher. Gefleckte Katzen versteckten sich hinter jedem Mauervorsprung, räkelten sich auf jeder Türschwelle, drückten sich in die Schatten zwischen den Abfallkübeln. Yanus blieb für einen Augenblick stehen, legte den Kopf in den Nacken. Aus den oberen Fenstern hingen gelbliche Hemden, die Gesichter alter Frauen leuchteten fahl hinter verschmierten Scheiben. Yanus wurde schwindelig, als er den Blick senkte. Die Wirtsfrau stand mit auf die Hüfte gestützten Händen da. „Kommt Ihr jetzt endlich? Mein Mann hat es nicht gern, wenn ich lang ausbleibe. Vor allem nicht, wenn ich in Begleitung eines jüngeren Mannes weggegangen bin.“
Der Laden, zu dem sie ihn brachte, war eher unauffällig. Auf einem Tisch saßen vier bebrillte Schneider und nähten. Ein fünfter Zausel, ebenfalls mit Gläsern aus geschliffenem Beryl auf der Nase, empfing den nach Seewasser und ranziger Butter riechenden Gast.
„Ich brauche ... eigentlich alles. Und das bis gleich.“
Das Männlein krauste die Nase. „Kein Problem. Ihr seht nicht besonders kompliziert aus. Wenn Ihr bezahlen könnt, heißt das.“
Die Wirtsfrau verdrehte die Augen. „Darf ich jetzt gehen?“
„Nein!“ Yanus hielt sie panisch am Arm fest. „Ich brauche eine objektive Meinung!“
„Ich fürchte, ich bin nicht mehr ganz so objektiv“, murmelte sie.
Der Schneidermeister grinste, schnippte den Maßfaden aus der Jackentasche und begann um Yanus herumzuwieseln. „Kein Problem“, wiederholte er. Er winkte dem jüngsten Schneidergesellen. „Wir haben ein paar Bestellungen im Regal, die noch nicht abgeholt wurden. Was ist der Anlass?“
„Ein Abendessen in der Cremetorte“, sagte die Wirtsfrau.
„In der was?“, fragte Yanus verwirrt.
„In der Cremetorte. So nennen die einfachen Leute das Haus des Anson na Anbar.“
Der Schneidermeister hatte einen Stapel Kleidungsstücke bringen lassen, wählte einige aus und drückte sie Yanus in die Arme. „Da hinten könnt Ihr Euch umziehen.“
Der Wirtsfrau gelang es, ein regungsloses Gesicht zu wahren. Yanus rieb am Stehkragen der seidenen Tunika herum. Der türkisblaue Stoff leuchtete, als hätte man ihn aus einem Edelstein herausgeschnitten und war mit Jasminblüten bestickt. Die Hose fühlte sich an, als stecke er mit dem Hintern in einem Sonnenschirm. Sie war aus dunkelblauem Wollstoff gefertigt. „Und?“, fragte Yanus.
„Genau richtig“, fand der Schneidermeister. „Anson na Anbars letzter Aufzug bei der Prachtparade war wesentlich schillernder. Und so schlimm sieht es nun wirklich nicht aus.“
Die Wirtsfrau zog die linke Augenbraue hoch. „Passt bloß auf, dass Euch auf dem Weg keine Pfauenhenne anfällt.“
„Lustig“, knurrte der Graf de Liarette. „Wie viel bin ich Euch schuldig?“
Der Schneidermeister nannte die Summe. Die Schneidergehilfen ließen die Nadeln sinken. Yanus winselte gequält. „Also gut. Es ist schließlich ein Notfall.“
„Die Beinwickel sind gratis.“
„Wenigstens etwas.“ Yanus zählte die Goldstücke aus der Börse.
Die Wirtsfrau sah ihm fassungslos dabei zu. „Dafür könnte ich fünfzig Fässer Bier kaufen!“
Der Schneidermeister steckte das Gold ein, zuckte die Achseln. „Geschmack ist eben teuer.“
„Für wen war die Tunika ursprünglich gedacht?“, fragte Yanus neugierig.
„Für Arkos na Anbar. Glaubt mir, Anson wird froh sein, seinem kleinen Bruder dieses Kleidungsstück nicht bezahlen zu müssen.“
Am Abend, als Firusz schon glaubte, mit knurrendem Magen eine der Kübelpflanzen anfallen zu müssen, stand Morrie plötzlich auf, zog seine Schulrobe zurecht und band sich das Haar zum Zopf. „Wir müssen zum Essen runter“, sagte er sanft.
Sie stiegen in den Innenhof herab und betraten den Speisesaal durch eine Seitentür. Die langen schmalen Tische waren bereits gedeckt: einfaches Geschirr aus Holz und tönerne Becher, Krüge mit Apfelsaft, Milch und Wasser standen zwischen den Gedecken. In der Mitte jedes Tisches thronte ein gusseiserner Topf, aus dem der Stiel einer Kelle ragte. Es waren noch nicht viele Männer anwesend, aber keiner von ihnen trug ein Gewand, das auch nur im Entferntesten so entwürdigend war wie die Schulrobe. Sie saßen über Streifen von Papier gebeugt, kauten an Bleistiften, einige unterhielten sich leise. Morrie zog seinen Schützling an einen Ecktisch, auf dem vier Gedecke lagen. Sie setzten sich, schoben die Füße unter den Tisch. „Was ist das?“, zischte Firusz. „Eintopf?“
Morrie nickte unglücklich. „Das Mittagessen dürfen wir in der Taverne einnehmen, die den Einhörnern gehört, zum Abendessen müssen wir im Haus sein.“
„Kommen unsere beiden Mitschüler auch?“
Morrie schüttelte den Kopf. „Sie sind noch nicht da. Die letzten zwei Wochen saß ich hier ganz allein mit dem Buch meiner Wahl.“
„Worauf warten wir dann?“
„Auf die Glocke.“
Sogleich ertönte ein blechernes DONK, dann griff man zu den Kellen. Der Eintopf, den Morrie in die Schalen flatschen ließ, hatte eine ungesund graugrüne Farbe. „Sind das Erbsen?“, fragte Firusz.
„Hoffen wir es einfach. Wie gesagt, es war kein gutes Jahr für uns Einhörner.“
Wider Erwarten schmeckte der Eintopf gar nicht so furchtbar. Firusz fand sogar ein Stück Trockenfleisch. „Was passiert nach dem Essen?“
„Wir gehen zur Kapelle. Danach haben wir frei.“
„Und was machen wir, wenn wir frei haben?“
Morrie mühte sich, einen besonders großen Brocken zu schlucken. „Also – ich lese, wenn man mich lässt. Und gehe früh zu Bett.“
Firusz starrte frustriert in seine Schale. Warum war Wittland so langweilig?
Yanus schloss den Mantel gegen die abendliche Kälte und trat mit wild klopfendem Herzen auf die Straße hinaus. Wenigstens war sein Ziel nicht zu übersehen. Angestrahlt von Fackeln erhob es sich über die flachen Dächer der umliegenden Viertel. Er hatte gerade vier Schritte getan, als eine Kutsche neben ihm zum Stehen kam. Ein livrierter Mann sprang auf die Straße. „Was soll das denn bitte?“, fragte er.
Yanus sah ihn verwirrt an. „Ich habe eine Verabredung.“
„Natürlich habt Ihr eine Verabredung. Aber Ihr wollt doch wohl nicht laufen?“
„Von einer Kutsche stand nichts in der Einladung.“
„Adelige laufen nicht“, stellte der Dienstbote fest.
„Meine Füße laufen sehr gut.“
„Vielleicht laufen sie in den Kolonien, mein Herr. In Wittland lässt man sich befördern.“
„Tut mir Leid, das wusste ich nicht.“
Der Diener hielt den Einstieg der Kutsche auf. „Macht schon, wir haben nicht ewig Zeit.“
„Ich finde, wir sind pünktlich.“
„Wir können nicht direkt zum Palast fahren. Die meisten Straßen sind viel zu eng.“ Der Diener wartete, bis Yanus eingestiegen war, sprang hinterher und donnerte die Tür zu. Die Kutsche fuhr sofort an. Der Diener beugte sich vor, zog Yanus’ Mantel auseinander und begutachtete die türkisblaue Tunika. „Sie ist tatsächlich sehr schön.“
Yanus sah ihn entsetzt an. „Weiß das etwa auch schon die gesamte Stadt?“
Der Dienstbote grinste unverschämt. „In Seestadt haben wir ein Sprichwort: Die Straßen sind mit Ohren gepflastert.“
„Sehr passend“, murmelte der Graf de Liarette.
„Es muss doch Vorteile haben, zum einfachen Volk zu gehören, oder nicht? Was ist mit Eurem Gesicht passiert?“
Yanus starrte ihn an. „Offenbar nehmen sich in Wittland Dienstboten mehr heraus als in den Kolonien.“
„Unsere Adeligen sind anstrengender.“
Yanus lächelte gegen seinen Willen. Im dunklen Passagierraum der Kutsche sah man von seinem Gegenüber nur ein blasses sommersprossiges Gesicht und eine Filzmütze in den Farben seines Herrn: Gelb, Rot und Braun. Der junge Mann hatte sehr helle Augen und einen breiten Mund – genauso hatte Yanus sich die Hofnarren in alten Geschichten vorgestellt. „Bist du schon lange im Dienst des Anson na Anbar?“
Der Dienstbote machte ein seltsames Geräusch – so, als wolle er eine Katze anlocken. „Oh – etwa eine Stunde.“
„Wie bitte?“
„Reingefallen.“ Er nahm die Filzmütze ab, schlug die Beine übereinander. „Ihr seid unbedarft. Glaubt Ihr, ein Dienstbote hätte sich zu Euch in die Kutsche gesetzt?“
Yanus knirschte mit den Zähnen. „Ich komme aus den Kolonien. Ich habe keine Ahnung, wie es hier zugeht.“
„Das haben wir doch schon festgestellt. Nehmt es mir nicht übel. Ich wollte nur mal sehen, wer mir die Tunika geklaut hat.“
„Ihr seid ...“
„Arkos na Anbar – nicht zu Euren Diensten.“ Arkos lachte.
Yanus wäre ihm gern böse gewesen, brachte es aber nicht ganz fertig.
Der junge Mann zog die Nase hoch. „Ihr lasst Euch wirklich viel gefallen. Ein sympathischer Zug.“
„Weiß Euer Bruder, dass Ihr hier seid?“
„Anson ist ein aufgeblasenes kleines Wiesel. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt um zu merken, dass es in dieser Welt jemanden gibt, der gerade nicht an ihn denkt. Natürlich glaubt er, ich säße in meinem Zimmer, demütig vertieft in die Chroniken unserer Familie. Also – was ist mit Eurem Gesicht passiert?“
„Ein Andenken an den Aufstand in den Kolonien.“
„Tapfer, tapfer. Und gewiss liegt Euch nun die Damenwelt zu Füßen.“
Yanus wurde rot. „Das nicht gerade, nein.“
„Warum lässt man sich denn sonst ein Auge ausschießen?“
„Also, ich ...“
Arkos winkte ab. „Ja ja. Nehmt mich nicht ernst. Mein Bruder nimmt mich auch nicht ernst. Eigentlich nimmt mich niemand ernst. Es ist ziemlich tragisch.“
„Und Ihr habt Euch noch nie bemüht, das zu ändern?“
„Wozu? Auf diese Weise bin ich frei.“ Arkos steckte den Kopf aus der Kutsche. „Ich glaube, wir sind bald da.“
„Was erwartet mich heute Abend?“
„Mein Bruder wird versuchen, Euch mit dem teuersten Essen und der prachtvollsten Tischdekoration zu beeindrucken. Er wird wie ein verkleideter Frosch dasitzen und die Backen aufblähen. Er hat bestimmt einen Lautenspieler gemietet.“
„Werden wir ganz allein essen?“, fragte Yanus entsetzt.
„Wenn Ihr Glück habt. Glaubt mir, meine Schwägerin ist ein Monster. Ich kann in ihrer Gegenwart keinen Bissen hinunterbringen.“
„Lädt Euer Bruder oft ahnungslose Adelige zu sich ein?“
„Nun ... er findet sich nun einmal wichtig. Aber wenn man erst mal in der Cremetorte ist, kommt man bestimmt an den Königshof.“
„Hat Euer Bruder einen so großen Einfluss?“
Arkos schniefte. „Leider ja. Ich finde mich selbst viel eindrucksvoller, aber angeblich muss man Ansons Kunstgeschmack bewundern. Kunst ist momentan sehr wichtig. Ich fände es erfreulicher, wenn wir endlich die Stadtmauer erhöhen würden. Anson sitzt lieber für drei neue Portraits im Stil der Kolonien.“
„Im Stil der Kolonien?“
„Was glaubt Ihr, weshalb Anson sofort nach seinem Sekretär schrie, als uns das Gerücht von Eurer Ankunft erreichte?“
„Die Kolonien sind in Mode?“
Arkos zuckte die Achseln. „Dies hier ist ein merkwürdiges Land. Seit Jahren spielen unsere Theater nur noch berühmte Stücke aus den Kolonien. Die Frauen studieren die alten Holzschnitte und bestellen sich Kleider, die aussehen, als seien sie Hunderte von Jahren alt. Ihr werdet meine Schwägerin zweifelsohne in einer sehr gewagten Kreation sehen.“ Arkos begann, mit der Fußspitze auf den Boden zu trommeln. „Ich wette, ich darf wieder nicht mitessen. Sie schämen sich für mich.“
„Gibt es einen Grund dafür?“ Yanus begann langsam sich zu entspannen.
„Ich rede immer mit vollem Mund.“
Yanus lachte. „Tröstet Euch – ich werde Euch vermutlich den ganzen Abend vermissen.“
„Dann könnt Ihr gleich damit anfangen. Wir sind da.“
Yanus sah die gepflasterte Einfahrt hinauf. Die Säulen des Hauses thronten hoch über ihnen. In Form geschnittene Gehölze, in Ornamenten gepflanzte Rabatten und Wasserfontänen umrahmten den Weg, der bis vor den Haupteingang führte. Die Pferde legten sich ins Geschirr, schnauften die letzten Meter auf den Stadthügel hinauf.
„Viel Spaß“, sagte Arkos düster.
Yanus war an prachtvolle Architektur gewöhnt, schließlich war er offizielles Mitglied des Neuen Rates der Kolonien; er bewohnte selbst ein mit Marmor verkleidetes Landhaus, in dem düstere Ölgemälde und verblasste Wandteppiche hingen, mit Rosenblüten bemaltes Porzellan auf den Kaminsimsen stand. Aber den Luxus zuhause hatte er stets als „vernünftigen Luxus“ empfunden, als gemütlich und ein bisschen angestaubt. Das hier war ... Yanus bemühte sich, nicht wie ein Fisch am Ufer nach Luft zu schnappen. Wenn er zu den Säulen aufsah, wurde ihm schwindelig. Die Eingangshalle war mit Rosenquarz und Achat getäfelt. Wagenradgroße Leuchter hingen bedrohlich über den Köpfen der Besucher, hin und wieder raschelten Wandbehänge in königlichem Gelb. Yanus verschränkte die Arme im Rücken und sah sich um, betont langsam. Von der Eingangshalle gingen vier Flügel ab, riesige Türen, durch deren Glaseinsätze buntes Licht über Yanus’ Füße fiel. Überall standen Bedienstete herum, steif wie Paddel, ihre Blicke wirkten leer. Am Ende der Halle führte eine Treppe mit niedrigen Stufen in den ersten Stock hinauf, gerade richtig für eine in Walbein eingeschnürte Frau, die die Füße nicht hochbekam. „Wo geht es denn hier zum Speisesaal?“, fragte Yanus. Einer der Bediensteten erwachte aus seiner Starre und zeigte in den Ostflügel. Als Yanus die Eingangshalle verließ, sah er hinter der Türschwelle einen weiteren Hausdiener stehen, offenbar von höherem Rang, denn er trug eine rote Seidenschärpe und verbeugte sich förmlich. „Hoher Herr: Willkommen im Haus der Familie na Anbar. Ich werde Euch nun in den Raum geleiten, in dem Herr Anson heute Abend das Essen einzunehmen wünscht.“
Yanus nickte unglücklich. „Vielen Dank.“ Er hörte, wie seine Schritte tief in die Mauern hallten, offenbar glaubte der Hausherr nicht so recht an Möbel. Der Ostflügel war mit Mosaiken aus Amethysten und Citrinen geschmückt, zauberische Blumen, die sich über die Wände schlängelten. Sie schritten auf eine weitere Flügeltür zu, vor der ein schmaler Läufer ausgelegt worden war. Der Teppich zeigte eine Jagdgesellschaft: ein klassisches Motiv aus den Kolonien.
„Der Graf de Liarette: Yanus von Tredorn!“
Ein Tisch war bereits aufgebaut, doch am Kamin standen noch einige hochlehnige Sessel. Ein Mann erhob sich, eine Frau erhob sich. Yanus hatte Mühe, sich an die vorgeschriebene Verbeugung zu erinnern. Die Kolonien waren in der Tat in Mode. Und leider hatte sich Anson na Anbar ausgerechnet für jene Epoche entschieden, in der Halskrausen der letzte Schrei gewesen waren. Halskrausen und gefältelter Satin, Schnallenschuhe, lächerlich breite Hüte und mit Wolle ausgestopfte Hosen. Yanus kam sich vor, als habe er ein Gemälde betreten.
„Es ist eine Freude, Euch hier empfangen zu dürfen.“ Frau na Anbar war ein sehr blondes, brauenloses Geschöpf, das sich die Haare auszupfte, um eine hohe Stirn vorzutäuschen. Sie steckte in einem über und über mit grauen Perlen bestickten Kleid, das sicher auch allein hätte stehen können.
Yanus verbeugte sich noch einmal. „Ich bin geehrt, heute Abend mit Euch speisen zu dürfen. Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, in solch hohe Kreise zu geraten, als ich heute Morgen vom Schiff ging.“
Ein Diener in einer blauen Schärpe reichte ihm ein aus Kristall geschliffenes Glas.
„Es ist nichts Besonderes“, sagte Anson in einer leisen, etwas nuschligen Stimme. „Nur ein kleines Essen – auch ich musste improvisieren. Glaubt mir, bei Eurem nächsten Besuch werdet Ihr ein volles Haus vorfinden.“
Yanus lächelte besorgt. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Setzt Euch. Wir werden sofort mit der Suppe beginnen.“
In der Zeit, die Frau na Anbar brauchte, um ihr Kleid in eine Form zu falten, die ihr das Sitzen erlaubte, musterte Yanus seinen Gastgeber über das Glas hinweg. Anson na Anbar war eher klein und hatte hängende Schultern. Das hellbraune Haar trug er zu Locken gebrannt, die am Hinterkopf von einem Lederband zusammengehalten wurden. Sein aus Seide gefertigtes Wams war wattiert und gesteppt, die Ärmel hatten Schlitze, die ein leuchtend gelbes Untergewand sehen ließen.
„Seid Ihr mit dem Königshaus verwandt?“, fragte Yanus.
Anson runzelte kurz die Stirn. „Nur entfernt. Weshalb?“
„Das Königliche Gelb springt mir von jeder Wand entgegen. Tut mir Leid, ich dachte ... ich wollte nicht unverschämt sein.“
Frau na Anbar lächelte gönnerhaft. „Ihr seid neugierig, das ist nur allzu verständlich. Ihr solltet nachfragen, wenn Ihr etwas nicht versteht. Das Banner unseres Königs ist gelb, das ist richtig. Aber auch die Gesellschaft des Löwen lässt an ihrem Gründungstag gelbe Banner über den Hafen wehen.“
„Die Gesellschaft des Löwen? Mein Vetter ist gerade in die Gesellschaft des Einhorns eingetreten.“
Anson legte die Fingerspitzen aneinander, eine Geste, die Yanus schon seit seiner Kindheit nervös machte. „Ja, das ist auch mir zu Ohren gekommen. Neuigkeiten sind in Seestadt schneller als das Feuer. Und, wie gefällt es Eurem Vetter?“
„Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn heute Abend zu sprechen.“
„Wie ich hörte, ist Euer Vetter ... nun ...“ Anson wechselte einen raschen Blick mit seiner Frau.
„Ein Halbling?“, bot Yanus an, während ein Diener ihm einen Teller Pilzsuppe vorsetzte.
„Nun ja, ein Halbling. Dieser Umstand ist tatsächlich bedauerlich. Ohne diesen Makel hätte er gewiss Aufnahme in eine der besseren Gesellschaften finden können.“
Yanus nahm den silbernen Löffel auf. „Sicher. Aber wer von uns ist schon ohne Makel?“
„In wenigen Jahren werden auch diese Vorurteile Vergangenheit sein“, prophezeite Frau na Anbar salbungsvoll.
„Dasselbe haben wir uns schon vor zwanzig Jahren gewünscht.“ Yanus lächelte seiner Pilzsuppe zu. „Aber da Ihr mich in diesem überwältigend prachtvollen Haus empfangt, bin auch ich zuversichtlich. Wir befinden uns auf dem Weg in eine bessere Zeit.“
„Die außergewöhnliche Geschichte Eurer Familie ist uns wohlvertraut.“ Anson zerbröckelte eine Brotscheibe. „Jeder, der sich mit der aufregenden Geschichte der Kolonien befasst, muss der Faszination für Eure Sippe erliegen.“
Yanus führte einen Löffel Suppe zum Mund. Sie schmeckte ausgezeichnet, nach Rahm, Kräutern und Wiesenpilzen. „Nun – für mich waren diese Dinge nie etwas, das man studiert. Immerhin sind auch die Männer und Frauen, deren Taten man heute den Kindern zur Nacht erzählt, noch unter uns. Vor zweihundert Jahren haben sie in Schlachten gekämpft, heute fressen sie einem beim Frühstück das Rührei weg. Alles hat seine Schattenseiten.“
Anson hatte sich mit gierigem Gesicht vorgebeugt. „Eine Familie von Helden.“
Yanus grinste. „Wir hoffen das Beste für die Zukunft. Auch Firusz wird uns sicher stolz machen.“
Frau na Anbar lehnte sich knirschend zurück. „Firusz?“
„Ja, Firusz de Liarette. Mein Vetter.“
„Ah. Für einen jungen Mann ist Seestadt sicher ein wundervolles Abenteuer.“
„Das hoffe ich. Die Überfahrt war jedenfalls sehr interessant.“
„Eines Tages werden sicher auch wir die Zeit finden, die Kolonien zu bereisen. Die Stadt des Neuen Rates zu sehen und die berühmte Universität.“ Anson bedeutete seinem Diener, die Teller abzutragen. Der nächste Gang bestand aus in Wein gekochten Muscheln und Zwiebelcreme. Yanus war bereits satt, trotzdem arbeitete er sich durch Rindfleisch mit Apfeltunke und gegrillten Fasan – beim Nachtisch (eingekochte Pflaumen mit süßer Sahne) wagte er die Frage zu stellen: „Wie ich hörte, habt Ihr einen jüngeren Bruder?“
Anson legte den Löffel nieder. „Man verspottet mich in der ganzen Stadt für dieses lästige Anhängsel. Als er sich weigerte, sich der Palastgarde anzuschließen, hat man sogar ein verleumderisches Theaterstück verfasst. Ich musste fünfzehn Männer ins Gefängnis werfen lassen, um die Aufführung zu unterbinden. Die ganze Stadt hat Wetten darüber abgeschlossen, wann ich ihn endlich verbanne. Ich wette, in Eurer Familie gibt es keinen solchen Schandfleck.“
„Oh, glaubt mir: Es sind mehrere.“
„Jemand, der eine großzügige Geste des Königs übergeht? Jemand, der sich in den dreckigsten Vierteln der Stadt herumtreibt? Arkos hat seine Finger in fast jedem schmutzigen Geschäft gehabt, das in den letzten Jahren in Seestadt zustande kam. Ich warte nur auf den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“
Yanus trank den letzten Schluck süßen Weines, der zum Nachtisch gereicht worden war. „Ich habe nur einen älteren Halbbruder.“
„Seid dankbar. Es ist wahrlich keine Freude, jemandem ständig auf die Finger gucken zu müssen. Ich musste schon vier äußerst unpassende Verbindungen vereiteln. Irgendwann ist alle Kraft aufgezehrt. Und ein Großteil des Vermögens.“
Frau na Anbar spitzte die Lippen. „Seid Ihr verheiratet?“
„Nein, ich … es hat sich noch nicht die Richtige gefunden.“
Die Augen der Hausherrin leuchteten wie Irrlichter. „Oh, ich könnte Euch auf Anhieb eine ganze Handvoll junger Damen nennen, die liebend gern in den Adel der Kolonien einheiraten würden. Wenn Ihr das nächste Mal kommt, habe ich eine parat, Ihr werdet sehen.“
Yanus wurde rot. „Nichts läge mir ferner, als etwas Derartiges zu verlangen!“
„Heiratswilligen eine gute Partie zu verschaffen ist so etwas wie ihr Steckenpferd“, sagte Anson. Yanus fand ihn etwas zu schadenfroh.
„Ich bin nicht heiratswillig!“
„Das hat sich aber eben noch ganz anders angehört. Glaubt mir, ich kenne mich aus.“
Für den Nachhauseweg hielt man wieder die Kutsche für ihn bereit. Yanus presste sich in die Polster, starrte in die dunkle Stadt. Die Begegnung mit dem reichsten Mann der Stadt hinterließ ein merkwürdiges Gefühl. Die Kutsche hielt an einer Straßenkreuzung, um einen verspäteten Gemüsekarren durchzulassen. Der Schlag wurde aufgerissen, Yanus fuhr entsetzt zurück. Arkos sprang zu ihm auf die Bank, nun nicht länger in Livree, sondern in den typisch wittländischen Hosen und einem wollenen Überwurf, auf dem der Regen in kleinen Tropfen stand. „Wie war’s?“
„Eure Schwägerin will mich verheiraten.“
Arkos warf die Hände hoch. „Große Überraschung! Macht Euch nichts draus – das war zu erwarten.“
„Und Euer Bruder hat sehr schlecht von Euch gesprochen.“
„Hat er das Wort ‚Schandfleck’ benutzt?“
„Ja, ich glaube schon.“
„Er sollte sich langsam etwas Neues einfallen lassen. Ich bin nicht mehr so leicht zu beeindrucken.“
„Und wenn Ihr Euch einfach besser benehmt?“
„Und so zu werden wie mein Bruder? Ich bitte Euch. Ich kann mir kaum etwas Bedrückenderes vorstellen. Hoffentlich bekommt er mal endlich Kinder, damit ich aus der Erbfolge ausscheide …“
Yanus gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund. „Wäre es denn so schrecklich, dieses Haus zu erben?“
„Das Haus und die Verpflichtungen? Oh ja, es wäre schrecklich. Als Bruder des Stadtherrn darf man sich herumtreiben, als Stadtherr muss man um Mitternacht im Bett liegen und an die nächste Ratsversammlung denken. Man muss heiraten. Man muss sich mit dem Rat der Stadt herumschlagen, dem König zu Füßen liegen, sich um all die wohltätigen Gesellschaften kümmern … als Stadtherr kann man nicht leben.“ Arkos verschränkte die Arme vor der Brust. „Es tut mir Leid – Ihr seid müde. Ihr habt einen anstrengenden Tag hinter Euch. Ich sollte Euch nicht weiter belästigen.“
„Glaubt es oder nicht: Ich habe Euch tatsächlich beim Essen vermisst.“
Arkos lächelte erleichtert. Die Schatten zwischen den Straßenfackeln flitzten über sein blasses Gesicht. „Dann lade ich Euch morgen zum Frühstück in den Faulen Kater ein.“
Yanus zog die Brauen hoch. „Ist das ein Gasthaus?“
„Nein, eher so etwas wie ein Theater – mit angeschlossener Wirtschaft. Sie haben das beste Bier in Seestadt. Kommt, wann immer Ihr wollt, sie fangen schon am frühen Vormittag mit den ersten Vorstellungen an.“ Arkos klopfte an die Tür. Das Gefährt schlingerte kurz auf dem feuchten Pflaster, kam dann zum Stehen.
„Also – bis morgen.“ Arkos schlug die Tür hinter sich zu. Yanus schloss die Augen, gähnte noch einmal. Obwohl er nun allein war, verdeckte er seinen Mund. Der faule Kater. Das hungrige Einhorn. Wittland war teuer und merkwürdig.
II
„Hab ich geschnarcht?“, fragte Morrie betroffen. „Oh. Tut mir Leid. Ich schnarche aber nur, wenn ich auf dem Rücken liege. Wenn du mich anstupst, drehte ich mich auf die Seite und bin leise.“
Firusz rieb sich die zugequollenen Augen. „Das werde ich mir merken“, sagte er. „Aber es lag nicht nur an dir. Ich schlafe die erste Nacht immer schlecht, wenn ich an einem fremden Ort bin.“
Morrie lächelte erleichtert. „Wenigstens haben wir nicht verschlafen. Wenn man das Frühstück verpasst, bekommt man bis zum Abendessen nichts mehr.“ Er band sich das Haar im Nacken zusammen, bückte sich dann, um die Stiefel zuzuschnüren. Firusz hatte Mühe, sich aus dem Bett zu bewegen. Es war seltsam gewesen, mit jemandem im selben Bett zu schlafen. Immer wenn Morrie sich umdrehte, war er aufgewacht – und Morrie schien niemals still zu liegen. Kurz vor dem Morgengrauen musste Firusz dann noch einen erbitterten Kampf um die Bettdecke ausfechten – gottseidank begann der Unterricht erst in vier Tagen – bis dahin gewöhnte er sich hoffentlich an die Schlafsituation.
Nach einer eher nachlässigen Wäsche ließ Firusz sich von seinem Mitbewohner in den Speisesaal geleiten. Im Innenhof hatten sich während der Nacht riesige Pfützen gesammelt, auf denen der Regen elegante Ringelmuster bildete.
„Ist das Wetter hier immer so schlecht?“
„Wir werden noch dankbar sein dafür. Wenn wir den ganzen Tag in der Schreibstube hocken müssen, wünsche ich mir keinen Sonnenschein.“ Morrie stieß die Tür zum Speisesaal auf und blieb stocksteif stehen. Am Tisch der Kontorsschüler saß jemand. Ein breitschultriger junger Mann, der unrasiert aussah und sich damit unterhielt, den Löffel aus der Gemeinschaftsschüssel zu ziehen und die Fadenbildung des Haferschleims zu begutachten. Er hatte den Kopf voll blauschwarzer Locken und eine Stupsnase.
„Ah“, sagte er zufrieden. „Leidensgenossen!“
„Calmorran na Carran“, stellte Morrie sich artig vor.
„Firusz de Liarette.“
„Ja, das sieht man“, sagte der Neue mit zuckender Unterlippe. „Qarl na Qes − schön, euch kennen zu lernen.“
„Seit wann bist du hier?“, fragte Morrie neugierig.
„Ich kam gestern nach Mitternacht an. Ich dachte schon, ich müsste meine erste Nacht auf der Blauen Brücke unter dem Regenablauf verbringen.“
„War die Postkutsche so spät?“ Morrie setzte sich an seinen Platz, faltete die Beine unter die Bank.
Firusz versuchte es mit der gleichen Lässigkeit. Er stieß mit dem Knie an die Tischkante und schloss mit leisem Wimmern die Augen.
„Das ist mir vorhin auch passiert“, sagte Qarl lächelnd. „Wahrscheinlich waren die Menschen früher doch kleiner.“
Firusz atmete auf. „Was sagst du zum Haferbrei?“
Qarl verzog den Mund. „Da fühlt man sich doch gleich heimisch.“
„Zuhause musste ich so was nie zum Frühstück essen“, sagte Firusz leise.
„Manche Leute haben eben ihr ganzes Leben lang Glück.“
Morrie griff nach dem Honigtopf. „Oder ihre Eltern sind fortschrittlich genug, um Haferbrei nicht mehr als das universelle Nahrungsmittel zu betrachten.“
Qarl klatschte sich eine Portion in die Schale. „Seltsam, dass die Kolonien uns in allem überlegen sind, nicht wahr? Da fragt man sich doch, wie es ein Land wie unseres so weit bringen konnte.“
Morrie sah aus, als sei ihm unwohl. „Ja ja“, sagte er und nahm Qarl den großen Löffel ab.
Yanus erwachte als die Wirtsfrau mit ihren Holzpantinen zum vierten Mal die Treppe hinaufkam um ihn zu wecken.
„Hattet Ihr einen schönen Abend?“, fragte sie und goss dampfendes Wasser in die Waschschüssel.
Yanus strampelte mit den Beinen, um sich aus seiner Decke zu befreien. „Es war anstrengend“, sagte er.
Sie verließ das Zimmer mit einem säuerlichen Lächeln auf den Lippen, das Yanus sehr bekannt vorkam. Hatten ihn die Dienstmädchen zuhause nicht auch so angesehen? Als seien sie ihm überlegen. Als bräuchte er sich wirklich keine Mühe zu geben, sie in irgendeiner Weise zu beeindrucken. Gut – die Mägde zuhause zerrissen sich auch seit Jahr und Tag die Mäuler über das Tagebuch ihres Herrn, das er eine Zeit lang offen hatte herumliegen lassen. In der Annahme, keine der im Landhaus beschäftigten Frauen könne lesen. Er hatte aufgehört, Tagebuch zu schreiben – das Ergebnis dieser Lektion. Aber diese Frau hier … was wusste sie von ihm? Vielleicht hatte man ihr erzählt, dass er in Gesellschaft des Arkos na Anbar gesehen worden war. Noch eine Chance im Eimer. Er wartete, bis das Waschwasser kühl genug war, dann tauchte er eines der großen Leinentücher ein und schrubbte sich Nacken, Gesicht und Unterarme. Die Seife, die bereitlag, war von zartem Grün und duftete nach Lindenblüten. Ein süßlich-herber Geruch, der sich sofort im Zimmer verteilte. Yanus schlüpfte aus dem Nachthemd, wusch den Oberkörper, auch die Narben, die noch immer zwickten, wenn er zu heftig mit dem zusammengerollten Tuch darüber rieb. Obwohl es nun schon so lange her war, dass er für die neuen Gesetze der Kolonien ins Feld geritten war, waren diese feinen oder breiten Linien noch nicht verblasst. Kein Wunder, dass kein weibliches Wesen von ihm begeistert war. Vielleicht sahen sie ihm diese Andenken schon in bekleidetem Zustand an. Er tastete über die rechte Gesichtshälfte. Die einst vernähten Lider taten noch weh, auch wenn er manchmal vergaß, dass nur eine Seite seines Gesichts funktionstüchtig war. Er tauchte die Hände ins Wasser, strich sich mit nassen Fingern das Haar aus der Stirn. Vielleicht hatte er einfach nie gelernt, mit Frauen umzugehen. Vielleicht war er in diesem entscheidenden Teil seines Lebens zu sehr mit Überleben beschäftigt gewesen. Oder mit Verzweifeln. Er drehte sich zu dem wackligen Stuhl um, auf dem die blaue Tunika lag. Er zog sich langsam an, als sei dieses merkwürdige Kleidungsstück Teil einer Rüstung, deren Schließen es sorgfältig zu überprüfen galt. Als er die Stiege herunterkam, sah er einen Mann neben der Tür stehen, der sofort seinen Bierkrug auf den Tisch stellte. „Ich soll Euch begleiten. Arkos hatte Angst, Ihr könntet Euch im Getümmel verirren.“
„Getümmel?“
„Heute ist Markttag.“
„Oh. Danke.“
„Ihr müsst Arkos wirklich am Herzen liegen.“ Der Mann grinste und stülpte sich einen breitkrempigen Hut auf. Yanus folgte ihm bereitwillig in die Straßen, die tatsächlich überfüllt waren mit Karren, Frauen, die Bauchläden vor sich hertrugen, kläffenden Hunden, monströs großen Schweinen und verängstigen Kälbern. Yanus konnte kaum folgen, ständig bog sein Begleiter in die eine oder andere Seitengasse ein. Die Feder, die an seinem Hut festgesteckt war, bewegte sich wie eine auf und nieder tanzende Schlange. Als sie vor einem kleinen Fachwerkhaus stehen blieben, sagte Yanus atemlos: „Jetzt bin ich wirklich verwirrt.“
„Wir sind da.“ Der Mann deutete auf die schmalen Banner, die zu beiden Seiten des Eingangs hingen. Auch hier war so etwas wie in Wappen aufgedruckt: eine stilisierte schlafende Katze. Yanus betrachtete das schäbige Haus erstaunt. „Das hier ist ein Theater?“
„Ja – ein sehr berühmtes Theater.“ Der Mann stieß die Tür auf. Es war dunkel, roch stark nach Räucherspeck und Hefe. Geschwärzte Balken zogen sich durch den Raum, sperrten Gänge und Nischen ab. Der Mann bog wieder ein paar Mal rechts ab, dann standen sie plötzlich im Bühnenraum. Kerzen flackerten auf dem Rand des Podestes, auf dem drei Männer in Röcken und Korsett standen und wild aufeinander einredeten. Schemel standen in schiefen Reihen vor der Bühne, es gab eine Galerie, die sich wie ein düsterer Streifen um den Raum zog. In der Mitte der Schemelreihen saß Arkos na Anbar mit einem riesigen Humpen Bier und knabberte geröstete Mandeln. „Setzt Euch, setzt Euch!“, rief er und wedelte Yanus zu sich. „Ein Bier für meinen Freund!“
Sofort kam ein Mädchen angelaufen, drückte Yanus einen neuen Humpen in die Hand. Er hatte kaum Zeit sich zu bedanken, Arkos bedeutete ihm still zu sein, wies auf die Bühne.
„Was ist das für ein Stück?“, flüsterte Yanus.
„Gar keins. Sie streiten sich, wer die gute Perücke bekommt.“
Nach dem Frühstück bestand Qarl darauf, die Blaue Brücke zu erkunden. Morrie sah etwas gequält aus, wurde aber 2 : 1 überstimmt. Die Menschen, die sich zu dieser Tageszeit auf den Straßen aufhielten, drehten sich nach den drei hochgewachsenen jungen Männern um, die mit flatternden Schulumhängen über das Pflaster stürmten, die Köpfe in den Nacken gelegt. Seestadt zeigte sich von seiner besten Seite. Ein zarter Glastschleier lag über den Gassen, den Strohdächern – aber etwas fiel Firusz besonders auf: Noch nie hatte er ein so gelbes Licht gesehen. Die Gesichter der Bürger schienen weicher, aufgeschlossener, obwohl sie Firusz beunruhigte Blicke zuwarfen. Qarl lief schnell, Morrie hatte Schwierigkeiten, nachzukommen. Qarl blickte hinter jede Straßenecke, er schien kein bestimmtes Ziel im Kopf zu haben, irgendwann hielt Firusz ihn keuchend an der Robe fest. „Was soll das? Was genau willst du dir ansehen?“
„Oh … es soll hier ein berühmtes Etablissement geben – den Faulen Kater.“
Morrie schnappte nach Luft. „Der faule Kater ist für Kontorsschüler verboten!“
„Gut, dass der Unterricht erst in ein paar Tagen beginnt, nicht wahr?“
Firusz und Morrie wechselten einen verzweifelten Blick.
Die zukünftigen Kontorsschüler wuselten über den Marktplatz. Qarl schien keine Schwierigkeiten zu haben, sich zurechtzufinden. Die Bauern und Fischer machten ihm respektvoll Platz. Firusz packte Morrie am Ärmel und zog ihn hinterher, bevor sich die Lücken wieder schlossen. Qarl hielt vor einem Wagen mit aufgestapelten Rüben an, erkundigte sich. Der Bauer deutete mit dem Zeigefinger erst in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar waren sie nicht mehr weit entfernt. Firusz fühlte sich etwas schwindelig, folgte aber doch – in eine düstere, schmutzige Seitengasse. „Sind wir hier wirklich richtig?“, fragte er besorgt.
„Ich fürchte schon.“ Morrie war krebsrot im Gesicht. „Ich finde, wir sollten das nicht tun.“
„Wir müssen nur pünktlich wieder zurück sein“, sagte Qarl. „Keine Sorge – es wird euch gefallen.“
„Ist es ein Bordell?“, fragte Firusz entsetzt.
„Nein!“ Qarl lachte. „Es ist ein Theater.“
„Na – gottseidank!“
Qarl lachte wieder. Es war ein dreckiges Lachen, das Firusz auf merkwürdige Weise sympathisch war. „Wir werden unsere Unschuld schon auf andere Weise verlieren. Jetzt will ich Bier und vulgäre Dialoge.“
Yanus hatte die Füße auf einen Schemel gelegt und sich entspannt zurückgelehnt. Ihm war schwummerig vom süßen Bier. Zwischen ihm und Arkos stand eine Platte mit Honigfleisch. Auf der Bühne war man dazu übergegangen, sich mit Rougetiegeln und Seidenschläppchen zu bewerfen – der jüngste Schauspieler hatte vor wenigen Minuten einen hysterischen Anfall erlitten und war schluchzend von der Bühne gesprungen. Inzwischen füllte sich der Zuschauerraum; Schmatzen und unterdrücktes Rülpsen ließ den Geräuschpegel steigen. Im Faulen Kater trafen Adelige auf die Bauern, die gut verkauft hatten und nun den Gewinn in Bier und Unterhaltung anlegten. Kaufleute flüsterten miteinander, vielleicht wurden hier mehr Geschäfte getätigt als in den Kontoren. Arkos, als Bruder des Stadtherrn, saß hier ganz selbstverständlich, knackte Nussschalen und kicherte schadenfroh, als der Kampf um die Perücke handgreiflichere Formen annahm. Aber selbst die kreischenden Schauspieler hielten inne, als drei Männer im hinteren Teil des Zuschauerraumes auftauchten. Getuschel brandete auf. Yanus drehte sich um und erstarrte. Arkos reckte den Hals. „Was ist denn?“
Yanus machte sich ganz klein. „Mein Cousin … oh, neiiiiiiiiiiiiiiin. …“
Arkos grinste von Ohr zu Ohr. „Vielleicht hätte er sich hier nicht in seinen Kontorsroben blicken lassen sollen. Gut – die Klatschbasen haben jetzt Wochen lang was zu reden. Aha.“
„Was ist?“
„Ich glaube, er hat dich entdeckt.“
Yanus versuchte, unter die Schemel zu kriechen. Arkos packte ihn am Kragen der blauen Tunika und zog ihn wieder hoch. „Man stellt sich seinen Dämonen, Yanus von Tredorn.“
„Yanus!“ Firusz baute sich vor seinem Vetter auf. „Kaum lasse ich dich einen Tag aus den Augen, schleichst du dich ins Vergnügungsviertel!“
Um ihn herum grölten Publikum und Ensemble. „Firusz – könntest du bitte aufhören, mich zu blamieren?“
„Wozu hat man denn Familie?“, meinte Arkos.
„Was machst du überhaupt hier?“, blaffte Yanus seinen Cousin an.
Firusz wurde rot bis unter den Haaransatz. „Ich bin nur Qarl nachgelaufen.“
„Und ich bin Arkos nachgelaufen!“
Der Bruder des Stadtherrn stand auf, klemmte sich den Humpen unter den Arm. „Gehen wir nach draußen, Jungs. Bevor ihr noch in drei Monaten Stadtgespräch seid.“
Der Hinterhof des Faulen Katers stand voller Gemüsekisten. An der Rückwand war eine Kuh angebunden, die sich neugierig nach den Männern umdrehte. Yanus und Firusz stellten sich neben ein paar gestapelte Fässer und bissen sich verlegen auf die Unterlippen. „Das war wirklich peinlich“, sagte Yanus.
„Tut mir Leid – ich war nur so überrascht.“
Arkos lächelte. „So ist es gut.“ Er drehte sich zu Morrie und Qarl um, die an der Tür lehnten. „Hätten wir das auch erledigt. Ich glaube, wir sollten die Familienzusammenführung mit ein wenig Bier begießen.“
Qarl nickte anerkennend. „Wer bezahlt?“
Arkos klopfte Yanus auf die Schulter. „Das wird sich schon finden. Noch ein Ratschlag: Zieht die Kontorsroben aus. Ich glaube kaum, dass das Erste Einhorn sehr begeistert sein wird, wenn er erfährt, dass drei von seinen Jungs sich im Faulen Kater zum Gespött gemacht haben. Nicht wahr?“ Er sah Qarl eindringlich an.
Qarl räusperte sich. „Ich werde ihm schon die Stirn bieten.“
Yanus verschränkte die Arme vor der Brust. „Bist du mit dem Ersten Einhorn verwandt?“
Qarl breitete die Hände aus. „In Wittland sind alle miteinander verwandt.“
Morrie plusterte sich auf wie ein Spatz. „Du bringst uns in Schwierigkeiten und verlässt dich dabei ganz auf deinen persönlichen Einfluss?“
„Woher wusstest du davon?“, fragte Yanus den Bruder des Stadtherrn.
Arkos zuckte die Achseln. „Jeder weiß, dass das Erste Einhorn ein na Qes ist. Und der da sieht aus wie jeder na Qes, den ich kenne. Und wenn ich mir den anderen Kandidaten so ansehe, würde ich sagen, er ist ein na Carran. Es gibt nicht mehr viele Familien, die ihre Söhne in die Gesellschaft des Einhorns schicken. Die na Qes sind von jeher eher königskritisch eingestellt – und die na Carran können sich alles erlauben, seitdem einer der ihren in den Kolonien regiert.“ Arkos zog die Nase hoch. „Die Gesellschaften des Handels haben mehr mit wittländischer Politik zu tun als den meisten lieb ist. Davon werdet auch ihr beide bald genug verstehen. Aber bis dahin solltet ihr den Ball flach halten. Und du, Firusz de Liarette: Verlass dich lieber nicht ganz so sehr auf die Sippentreue unter den na Qes.“
Firusz sah Qarl verärgert an. „Mach das ja nie wieder.“
„Keine Sorge“, sagte Qarl trocken. „Wenn mein Bruder mitbekommt, dass wir mit Arkos na Anbar geredet haben, kriegen wir sowieso einen Monat Hausarrest.“
Fünf Stunden später wankten die drei Kontorsschüler in Richtung der Blauen Brücke. Sie machten notgedrungen vor dem Markt Halt. Jetzt, am späten Nachmittag, hatte das Getümmel seinen Höhepunkt erreicht. Da war kein Durchkommen möglich. In Morries Augen loderte Panik auf. „Wenn wir nicht zum Abendessen nach Hause kommen, bekommen wir erst zum Frühstück was zwischen die Zähne!“
„Wie viel vom Honigfleisch hast du gerade gehabt?“, fragte Firusz mit schwerer Zunge.
„Nicht genug“, fand Morrie.
„Wie bleibst du so dünn?“, fragte Qarl beleidigt. „Wenn ich nur an einem Marzipantörtchen rieche, passt mir am nächsten Tag überhaupt nichts mehr.“
„Es ist ein Fluch“, brummte Morrie. Er lehnte sich an eine bröcklige Hauswand und starrte auf die Menschenmassen. „Ich wünschte, der Unterricht hätte schon begonnen.“
Firusz schnaubte. „Was?“
„Ich brauche ein geordnetes Leben“, jammerte Morrie. „Bier ist nicht gut für mich und von Honigfleisch bekomme ich Blähungen.“
„Na, herzlichen Glückwunsch“, meinte Qarl. „Hat jemand noch ein paar Kupfermünzen? Dann können wir ein Anisbrot kaufen. Oder Marzipantörtchen.“
Morrie reichte ihm eine grün angelaufene Münze. „Gute Idee.“
„Wenn dein Vetter so weiter macht, geht er noch in die Annalen der Stadtgeschichte ein.“ Arkos hatte einen Mantel aus dunklem Filz um sich geschlungen – mittlerweile bezog sich der Himmel und Stippelregen bildete einen kühlen Film auf Yanus’ Wangen. „Firusz’ gesamte Familie ist berühmt. Warum sollte er nicht in die Fußstapfen seiner Ahnen treten?“
„Weil wir Wittländer von Natur aus gehässig sind. Die Gesellschaft des Einhorns ist erstaunlich progressiv – die Gesellschaft des Löwen verbietet per Dekret die Aufnahme einer der königskritischen Familien – und die na Qes werden sogar namentlich genannt. Wenn Firusz sich mit einem na Qes anfreundet, macht er sich verdächtig. Es ist schon ein Risiko, einen Halbling in eine wittländische Handelsgesellschaft aufzunehmen – aber einem na Qes nicht nur zu unterstehen, sondern ihn sympathisch zu finden, ist nicht ganz ungefährlich. Wenn mein Bruder erfährt, dass dein Vetter einen so engen Umgang mit Qarl na Qes hat, verschluckt er vor Angst seine Zunge. Sei nicht überrascht, wenn er dir plötzlich die Freundschaft kündigt.“
„Das klingt alles … ein wenig übertrieben.“
„Wittländer sind auch von Natur aus hysterisch. Ich sage nicht, dass die na Qes eine verfemte Sippe sind – sie werden nur als schlechter Umgang eingestuft. Firusz wird es schwer in dieser Stadt haben.“
„Je nachdem, in welcher Gesellschaftsschicht er sich herumtreibt.“ Yanus wischte sich mit dem Ärmel das Wasser von der Stirn. „Muss ich jetzt wirklich sein Kindermädchen spielen?“
„Das ist die Aufgabe, die dir deine Familie zugedacht hat, oder nicht?“ Arkos stemmte die Arme in die Seiten und blickte zu den erleuchteten Säulen der Cremetorte hoch. „Er wird seinen Weg schon machen. Und du auch – wenn mein Bruder seinen Plan, dich bei Hofe einzuführen, noch nicht aufgegeben hat.“
„Eigentlich würde ich in ein paar Wochen ganz gern nach Hause fahren.“
„Abwarten.“
III
Am nächsten Morgen erwachte Firusz mit Kopfschmerzen. Er wälzte sich auf die andere Seite. Morrie saß im Schneidersitz auf dem Bett und sah ihn an. „Ich hasse Bier“, sagte er.
„Wie spät ist es?“
„Ich bringe Qarl um. Ganz bestimmt.“
„Morrie – wie spät ist es?!“
„Keine Ahnung – ich habe noch keine Glocken gehört.“
„Gottseidank.“ Firusz stemmte sich hoch und blickte auf den Haufen schmutziger Wäsche, der auf dem Fußboden lag. „Haben wir noch Abendessen bekommen?“
Morrie deutete auf die angebissene Scheibe Anisbrot auf dem Schreibtisch. „Ich glaube nicht.“
„Werden wir vor das Erste Einhorn zitiert?“
„Kann sein … am besten lassen wir das Qarl regeln – findest du nicht?“
„Morrie …“ Firusz stützte den Kopf in die Hände. „Zieh dich an, bitte. Abends versacken ist eine Sache – morgens nicht aus dem Bett kommen dagegen … wie wird man hier bestraft?“
„Ich weiß nicht … ich hoffe, sie haben keine Rute mehr im Lehrerpult.“
„Wir sind alle erwachsen, oder?“
Morrie sah ihn zweifelnd an. „Wir werden sehen.“
Die Strafe sah anders aus, als sie es sich vorgestellt hatten. Der Haferschleim, der auf dem Schülertisch stand, war angebrannt und wirklich ungenießbar. Firusz spuckte einen mit schwarzen Stippen bedeckten Brocken zurück in seine Schale. „Oh, mein Gott – dann doch lieber die Rute.“
Qarl beugte sich über den Tisch. „Habt ihr noch Brot von gestern übrig?“
„Nur noch ein paar Krümel“, raunte Morrie zurück.
„Verdammt.“
Firusz schnüffelte an der Milch, entschied sich dafür, einen Schluck zu versuchen. Die Milch britzelte auf der Zunge.
„Denkst du, wir bekommen überhaupt so etwas wie Mittagessen?“, ächzte Qarl.
Firusz schob Becher und Schale von sich. „Hoffentlich nicht.“
Die Wirtsfrau polterte so laut ins Zimmer, dass Yanus senkrecht in die Höhe schoss. „Was, was, was?“
„Es ist neun Uhr morgens. Ich dachte, ich sollte Euch wecken.“
„Ja, schon, aber …“ Yanus ließ sich wieder ins Bett sinken.
„Ihr wolltet geweckt werden. ‚Egal, was ist’ – das waren Eure Worte. Wenn Ihr Euch im Faulen Kater abschießt, ist das wirklich nicht mein Problem.“
„Ich habe plötzlich das Gefühl, verheiratet zu sein.“
„Wenn Wünsche fliegen könnten. Steht endlich auf!“
Yanus quälte sich aus den Federn, versuchte etwas hinter dem schmierigen Fenster zu erkennen. Regen. Natürlich. Ein Pferd stand im Hinterhof angebunden, offenbar war gerade jemand angekommen. Yanus warf sich etwas Wasser ins Gesicht und schnupperte an der blauen Tunika. Noch tragbar. Er ging hinunter in die Gaststube. Am Schanktisch stand ein junger Mann in tropfnassem Mantel. Er hatte über der Nasenwurzel zusammengewachsene Brauen und gebräunte Haut, seltsam unpassend für eine Stadt mit so wechselhaftem Wetter. Als der Fremde sich die Kapuze vom Kopf zog, rutschte ihm das Haar auf die Schultern. Es war zum Teil in fingerdicke Zöpfe geflochten und auf Glasperlen gezogen. Seine Kleider waren aus schwerem Wollstoff und genau das, was sich Yanus unter ‚traditionell wittländisch’ vorstellte. Jeder Saum war mit einer Wollborte benäht, selbst die Stiefelschäfte. Die Schließen des Mantels waren aus Bronze und hatten die Form von Hirschköpfen. Er trug eine blasse Narbe an der linken Seite des Halses und starrte konzentriert in seinen Krug. Yanus glaubte zu wissen, was für eine Art Mensch da vor ihm stand. Er hatte von den Sippen im Westen Wittlands gehört – Menschen, die es sich nicht hatten nehmen lassen, ihre Traditionen fortzuführen. Schon vor Jahrhunderten hatten sie die Unabhängigkeit ihrer Provinz erstritten und bis zum heutigen Tage behalten: die Stämme von Westland. Yanus starrte den Mann fasziniert an. „Äh … ein Bier, glaube ich.“
Die Wirtsfrau sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Jetzt schon?“
Yanus zischte: „Wie Ihr schon ganz richtig bemerktet: Wir sind nicht verheiratet!“
„Aber Ihr braucht anscheinend jemanden, der auf Euch achtet.“
„Diesen Jemand suche ich mir aber selbst aus!“
Der Westländer stieß ein leises kehliges Lachen aus.
„Was ist so witzig?“, fuhr Yanus ihn an.
„Ihr seid nicht von hier, richtig?“
„Ihr jawohl auch nicht.“
„Aber im Gegensatz zu Euch verfüge ich über Erfahrung mit wittländischen Frauen. Am besten zieht man den Kopf ein und lässt sich bemuttern. Am leichtesten kommt man in Demutshaltung aus der Gefahrenzone, wenn Ihr versteht, was ich meine.“
„Ja, ich glaube schon.“
„Schön. Dann lasst Euch von ihr einen Apfelsaft einschenken und wir trinken gemeinsam auf einen sehr nassen Morgen.“
„Einverstanden.“
„Wie lange seid Ihr schon in Wittland?“
„Drei Tage.“
„Dann habt Ihr noch viel Zeit, um zu lernen.“
Yanus kratzte sich im Nacken. „Ich gebe mir Mühe, ein gelehriger Schüler zu sein.“
Der Westländer zog plötzlich ein düsteres Gesicht. „Oh – ich auch.“
Yanus nahm seinen Becher Apfelsaft entgegen. „Seid Ihr aus einem bestimmten Grund im Hungrigen Einhorn abgestiegen?“
„Ich werde bald meine Lehrzeit antreten.“
„Lehrzeit? Aber seid Ihr dafür nicht schon etwas zu … alt?“
„Ich bin siebzehn Winter alt.“
„Siebzehn? Verzeiht, aber … aber Ihr seht wirklich älter aus.“
Der Westländer seufzte. „Das sagt man mir oft.“
„Ihr werdet meinen Vetter kennen lernen. Er ist ebenfalls Kontorsschüler.“
Der Westländer sah Yanus verwundert an. „Die Gesellschaft des Einhorns nimmt einen Teufel?“
Yanus spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
Sein Gegenüber lachte. „Ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“
„Schon gut – die meisten sehen es einfach nicht sofort.“
„Ich bin ein guter Beobachter. Gestattet: Griça na Sian.“
„Yanus von Tredorn.“
Sie schüttelten einander die Hände. Yanus lächelte verlegen. „Ihr könntet mir einen Gefallen tun und in Zukunft ein bisschen auf meinen jungen Vetter Acht geben. Ich fürchte, unter den anderen Schülern ist niemand mit genügend Verantwortungsbewusstsein.“
Griça zuckte die Achseln. „Meinetwegen.“
„Wie seid Ihr auf die Gesellschaft des Einhorns gekommen?“
„Es ist die einzige Gesellschaft, die Westländer aufnimmt.“
Yanus stöhnte. „Ein Westländer, ein na Qes, ein na Carran und ein Teufel. Seestadt wird nicht wissen, was es getroffen hat.“
Griça grinste. Einer seiner Eckzähne war abgebrochen. „Das klingt nach einer guten Mischung.“
Yanus stürzte seinen Apfelsaft hinunter. „Ich brauche Bier“, sagte er. „Sofort.“
Die Wirtsfrau sah ihn kurz von der Seite an, dann nahm sie einen frischen Krug aus dem Regal.
Für die Kontorsschüler bestand das Mittagessen aus einem Kanten verkohltem Fleisch und matschigem Kohl, der nach lange getragenen Fußlappen roch. Und schmeckte. Firusz zwang ein paar Bissen hinunter, dann wurde der Ekel übermächtig. „Lass uns nachher Brot kaufen gehen.“
Qarl, den Mund voller Kohl, nickte schwach. Morrie, grün im Gesicht, hielt sich an der Sitzbank fest. „Es wird wohl etwas dauern, bis ich mich wieder in die Nähe des Faulen Katers wage.“
„Erziehung durch kreative Bestrafung“, meinte Qarl, noch immer mit vollem Mund. „Ich hätte nicht gedacht, dass man in Seestadt so fortschrittlich ist. Andererseits hätte ich es mir denken können. Mein Bruder hat seinen Willen schon immer mit sanfter Gewalt durchzusetzen gewusst. Er wird sich kaum dem Vorwurf aussetzen, seine Verwandtschaft bevorzugt zu behandeln. Verdammt.“ Er schluckte. „Ich hätte mir doch einen anderen Lehrberuf suchen sollen.“
Morrie ließ die Bank los. „Was glaubt ihr, wie lange die Strafe dauert?“
Qarl grinste schief. „Mein Bruder ist der hartnäckige, gründliche Typ.“
Gegen Mittag begleitete Yanus den Westländer zur Blauen Brücke. Es klarte auf und Fetzen blauen Himmels zeigten sich zwischen den Wolken. Es war, als hebe sich ein muffiges Wolltuch von der Stadt. Sie gingen am Hafenbecken entlang. Griça zog sein Pferd hinter sich her. Der Westländer sah über das Wasser. „Eines Tages segle ich in die Kolonien“, prophezeite er.
Yanus verschränkte die Arme vor der Brust. „In die wilden Kolonien? Es scheint, als habe ganz Wittland Sehnsucht nach einem anderen Kontinent.“
„Wittland wird sich selbst zu langweilig. Ewig die gleichen Konflikte, dieselben Interessensgruppen, dasselbe Königshaus. In den Kolonien gibt es Veränderungen, Herausforderungen. So hat man es mir jedenfalls berichtet.“
„Ihr werdet es vielleicht nicht glauben – aber sogar der Herr der Stadt hegt diese Gefühle. Ihr seid in höchster Gesellschaft.“
„Nicht schmeichelhaft für einen Westländer. Aber das Meer ist wenigstens schön.“
„Hmhm“, machte Yanus. „Ich habe jeden Tag gekotzt.“
Griça strich sich das Haar aus dem Gesicht – die bunten Glasperlen klimperten aneinander. „Wenn Ihr über das Meer seht, habt Ihr dann Heimweh?“
„Ich weiß nicht … vielleicht. Ich habe noch nicht genug von Wittland gesehen, um Heimweh rechtfertigen zu können. Aber das Haus, in dem ich in den Kolonien wohne, ist sehr schön. Es ist aus Marmor und von einem großen Garten umgeben. Meine Familie züchtet Pferde und Schweine. Die Stallungen sind groß und hell getüncht. Blühende Ranken sind um die Gebäude gewachsen. Der Duft ist im Sommer betäubend süß, man kommt kaum zum Denken.“
Griça strich seinem Pferd über den Nasenrücken. „Ihr habt Heimweh. Ihr könnt es ruhig zugeben. Es ist völlig verständlich.“
Yanus seufzte. „Ja, vielleicht. Ich vermisse die Arbeit auf den Weiden.“
„Ich dachte, Ihr seid der Graf de Liarette.“
„Und? Meine Familie glaubt an körperliche Arbeit. Und ich auch. Es gibt nichts Besseres, um die Gedanken von unerfreulichen Tatsachen fernzuhalten.“
„Wie habt Ihr Euer Auge verloren?“
„Während der Unruhen in den Kolonien.“
„Ein Pfeil?“
„Nein. Ein Pferd hat mir seinen Schweif ins Gesicht geschlagen.“
„Ich an Eurer Stelle würde das nicht so bereitwillig zugeben.“
Yanus wurde rot. „Ich bin nicht sehr glamourös, nicht wahr?“
„Dann werdet ganz schnell glamourös – damit sich der königliche Hof für Euch interessiert.“
Yanus starrte die Quallen an, die sich im Hafenbecken auf und ab bewegten. „Es ist komisch. Man kommt in dieses Land und plötzlich wird man von einem Ort zum anderen geschleudert. Man weiß kaum noch, wo einem der Kopf steht.“
„Wittländer sind nun einmal neugierig. Und modebewusst. Eure Schuld, wenn Ihr unter richtigem Namen einreist. Andererseits … wäre es schöner gewesen, sich ein paar Wochen im Hungrigen Einhorn zu langweilen?“
„Ich hätte Spaß gehabt. Die Wirtsfrau ist ziemlich aufmerksam.“
„Und ziemlich verheiratet.“ Griça zog das Pferd vorwärts. „Es sieht alles so friedlich aus.“
Die Blaue Brücke lag verlassen da, nur ein paar gefleckte Schweine räkelten sich auf dem Pflaster. Die Häuser der Gesellschaften wirkten wie Spielzeugbauten. Yanus klopfte an die Tür des Einhornhauses. Der Torwächter öffnete und nickte beim Anblick des Westländers. „Nun … wir sind vollständig. Und was macht Ihr schon wieder hier?“
Yanus zuckte die Achseln. „Es wird langsam zur Gewohnheit. Ist mein Vetter im Haus?“
„Ich glaube kaum, dass er sich heute schon wieder in den Faulen Kater abseilt.“
„Yanus – was machst du hier?“
„Ich wollte dich besuchen, Firusz. Und ich dachte, du freust dich.“
„Hast du was zu Essen dabei?“
„Nein, ich fürchte nicht.“
„Dann kannst du leider nicht viel Freude erwarten.“
„Ich bin mit eurem vierten Mann gekommen.“
„Und? Ist er nett?“
„Er ist ein Westländer. Und dafür erstaunlich vernünftig.“
„Ein Westländer? Wie aufregend. Hat er vergoldete Zähne?“
„Nein. Und auch keine Augenklappe. Ich hoffe, er ist in der Lage, euren lieben Qarl ein wenig zu zügeln.“
„Wenn er Marzipantörtchen mitgebracht hat bestimmt.“
Beim Abendessen saß Griça das erste Mal mit am Tisch. Er beschwerte sich nicht über das altbackene Brot und den versalzenen Heringsstipp. Er aß schweigend und gelegentlich vor sich hinklimpernd. Er war der einzige der vier, an dem die Schulrobe nicht lächerlich aussah. Unter dem schwarzen Saum sah man die mit Borte besetzten Stiefel, an denen noch Dreck klebte. Morrie schien die Gegenwart des Westländers etwas zu beunruhigen. Hin und wieder zuckte er zusammen.
Qarl lehnte sich zu Firusz herüber. „Hoffentlich bekommt Morrie nicht das Schreibpult neben ihm. Sonst hört er vermutlich gar nicht mehr auf zu wackeln.“
Firusz brachte ein hungriges Lächeln zustande. „Hmhm.“
„Was ist eigentlich mit deinem komischen einäugigen Cousin? Ist er so eine Art Anstandsdame?“
„Er ist ein bisschen unfähig, aber eigentlich ganz nett.“
„Er sieht nicht besonders glücklich aus.“
„Wie viele Einäugige kennst du, die glücklich aussehen?“
Qarl zuckte die breiten Schultern. „Nun – die meisten haben jedenfalls einen ziemlichen Schlag bei Frauen.“
„Yanus nicht.“
„War er der einzige, der mitkommen wollte?“
„Der einzige, dessen Lebenssituation eine so lange Reise erlaubte.“
„Also ist er nicht freiwillig hier.“
„Nein – aber er scheint ganz gut zurechtzukommen. Immerhin hat er sich neu eingekleidet. Und Bekanntschaften geschlossen.“
„Sie werden ihn in den Palast der Königlichen Familie schleifen“, orakelte Qarl. „Und ehe du dich versiehst, ist er eine eingebildete Hofschranze. Das ist ein paar Mal in meiner Familie passiert.“
„Ich denke, ihr na Qes seid königskritisch.“
„Das heißt nicht, dass es keine Sippenvertreter bei Hofe gibt. In Wittland ist das etwas komplizierter als in den Kolonien.“
Firusz rieb sich die Stirn. „Vielleicht finde mich eines Tages in diesem Labyrinth zurecht.“
„Deine Lehrzeit hat noch nicht einmal begonnen. Stell dir vor, vielleicht besteigen wir in ein paar Monaten ein Schiff zu den Gewürzinseln!“
Firusz biss sich auf die Lippen. „Die Gewürzinseln …“
„Grüne Hügel, exotische Früchte, weiße Strände – das klingt doch gut, oder nicht?“
„Hunderte von wütenden Inselbewohnern, die uns Speere nachschleudern und uns in siebzehn lokalen Dialekten verfluchen. Das nenne ich Abenteuer.“
„Man kann es doch mal versuchen.“ Qarl tastete sich vorsichtig an den Apfelsaft heran. „Ah – trinkbar. Vielleicht werden wir eines Tages die anderen Gesellschaften der Blauen Brücke überflügeln. Ein Monopol auf Zimtrinde erringen oder etwas ähnlich Heroisches.“
„Morrie sieht schon wieder ganz fahl aus.“
„Auch er wird sich an die Umstände gewöhnen“, sagte Qarl. „Wenn er erst lang genug auf Zahlenreihen gestarrt hat. Gott, wir werden uns die nächsten zwei Jahre schrecklich langweilen.“
Am nächsten Morgen versammelten sich die vier jungen Männer im Schulzimmer. Griça saß am Fenster, Morrie daneben. Qarl und Firusz dahinter. Während sie auf den Lehrer warteten, schob Qarl einen Zettel zu seinem Nachbarn hinüber.
Denk immer schön an die Gewürzinseln.
Firusz nickte halbherzig und deckte schon einmal sein Tintenhorn ab. Schritte näherten sich der Tür, die Schüler lehnten sich angespannt nach hinten, versuchten, in den Flur zu spähen. Ein Mann in einer knielangen, leuchtend blauen Tunika und schwerem pelzverbrämten Überwurf kam ins Zimmer, unter dem Arm trug er einen Stapel Bücher. Er hatte weiße Haare und einen kurz geschnittenen Bart, auf der Nase balancierten geschliffene Gläser aus Beryl. „Guten Morgen, Schüler. Ich bin Meister Jalian. Und heute wollen wir die Grundrechenarten wiederholen. Ich werde euch im Rechnen unterrichten, Meister na Qes übernimmt die Geschichtsstunden.“
Firusz sah zu Qarl hinüber, der ihn plötzlich an einen eingeschüchterten Stier erinnerte.
„Was ist los?“, flüsterte Firusz.
Qarl schob einen zweiten Zettel hinüber.
Mein Bruder ist ein Mistkerl.
Meister Jalian erwies sich als geduldig, freundlich und nachsichtig. Der perfekte Lehrer für Rechnen, Rechtschreibung und Handelsrecht. Er gab anschauliche Beispiele und nette Anekdoten zum Besten. Außerdem malte er ein großes Schaubild an die Tafel, das die Vernetzungen innerhalb der Gesellschaft darstellte.
Qarl maulte gelangweilt, aber Firusz setzte sich gleich aufrechter hin. „Wer genau investiert in die Gesellschaft?“, fragte er.
Meister Jalian räusperte sich. „Die Sippen der Mitglieder, Adelige, die sich mit der Politik der Gesellschaft identifizieren, wohlwollende Stadtherren, Schiffbesitzer …“
„Stadtherren? Ist Anson na Anbar ein Investor der Gesellschaft des Einhorns?“
Meister Jalian warf einen nervösen Blick auf die Tür. „Nein. Er investiert in die Gesellschaft des Löwen.“
Auch Qarl sah peinlich berührt aus.
„War das eine dumme Frage?“, fragte Firusz erstaunt.
„Eine berechtigte Frage“, flüsterte Qarl. „Nur hört sie keiner gern.“
Master Jalian wand sich wie eine Eidechse. „Das Haus der na Anbar hat traditionell ein eher kühles Verhältnis zur Gesellschaft des Einhorns. Es ist klar, dass du solche Fragen stellen musst, Firusz. In den Kolonien weiß man selbstverständlich nichts von den komplizierten wittländischen Verhältnissen.“
„Habe ich das jetzt richtig verstanden? Jede Familie mit Vermögen unterstützt seit Generationen ein und dieselbe Gesellschaft?“
„So in etwa, ja.“
„Und wer unterstützt jetzt die Gesellschaft des Einhorns? Abgesehen von den na Qes und den na Carran?“
„Niemand“, sagte Morrie.
Meister Jalian sah verletzt aus. „Die Gesellschaft des Einhorns ist das jüngste der Handelshäuser. Es wurde von Familien begründet, die …“
„ … traditionell königskritisch sind“, beendete Qarl den Satz. „Das ist uns allen bekannt, ja. Was weniger bekannt ist: Die Gesellschaft des Einhorns stand schon mehrmals kurz vor dem Aus. Man vermutet alle fünfzehn Jahre aufrührerische Tendenzen, praktischerweise immer dann, wenn gerade ein na Qes zu bescheidenem Einfluss gelangt ist. Man benutzt die Gesellschaft, um meine Familie zu gängeln. Und natürlich sind mittlerweile alle Familien vom Boot gesprungen, die noch irgendwie Geld in den Handel buttern könnten. Firusz’ Aufnahme hat die Säckel ein wenig gefüllt und Morries Anwesenheit wird auch nicht gänzlich ohne Folgen bleiben. Aber deshalb gibt es nur vier Schüler – alle anderen Sippen haben den Glauben in das Einhorn verloren.“
Griça räusperte sich sanft. Meister Jalian war feuerrot geworden. Firusz tat es Leid, so penetrant gefragt zu haben. „Ich wollte nicht unverschämt sein.“
Meister Jalian winkte ab. „Schüler, die Fragen stellen, sind besser als Schüler, die sich gar nicht für die Welt um sie herum interessieren.“
Die erste Geschichtsstunde hatten sie vor dem Mittagessen. Qarl jammerte schon, bevor die Schulglocke läutete. Firusz hatte während des Rechenunterrichtes festgestellt, dass seine Eltern ihm wirklich eine gründliche Bildung verpasst hatten. Die meisten Rechentechniken beherrschte er noch. Vom Geschichtsunterricht versprach er sich offensichtlich mehr als seine Mitschüler. Auch Morrie zog sein leidendes Gesicht. Griça sah aus dem Fenster in den Innenhof hinunter. Eine merkwürdig kreidige Stille breitete sich im Zimmer aus. Dann läutete die Glocke. Eine Sekunde später trat ein Mann in den Raum, vom Kopf bis Fuß in leuchtendes Blau gekleidet, eine Robe, die Firusz an die eines Mönchs erinnerte. Das Erste Einhorn war etwa zehn Jahre älter als sein kleiner Bruder und hatte helleres Haar als Qarl. Als habe er sich zu lange im salzigen Küstenwind herumgetrieben. Es war mit einer Silberspange zwischen den Schulterblättern zusammengefasst und nur wenig gewellt, aber er hatte Qarls Stupsnase, die Sommersprossen und eigentümliche Augen. Firusz fiel erst einige Minuten später auf, dass das rechte Auge blau war, das linke braun. Augen wie die eines gefleckten Pferdes.
„Jetzt kann ich endlich die Gelegenheit ergreifen und euch alle zusammen begrüßen“, sagte das Erste Einhorn mit ernstem Gesicht. „Wie Meister Jalian im Vorbeilaufen erwähnte, habt ihr ihn schon gründlich über die gegenwärtige Situation der Einhörner ausgequetscht.“ Er sah Firusz an. „Sehr gut. Wir schicken die ausgebildeten Schüler in unsere Kontore, damit sie den dortigen Händlern ordentlich auf den Zahn fühlen. Uns kommt die Aufgabe zu, diese Gesellschaft aus dem Dreck zu ziehen. Der König mag uns nicht, die Familie na Anbar mag uns nicht; wir müssen beweisen, dass wir auch ohne solch hohe Anerkennung Erfolge verbuchen können. Wir müssen penibel sein, aufdringlich und einschüchternd. Wir sind vielleicht nicht die Löwen der Steppe – aber wir sind die Erdhörnchen, die den Boden beherrschen.“
Qarl kicherte leise. Sein Bruder fuhr herum. „Oh ja – natürlich findest du das lustig. Aber behaupte du dich zehn Jahre lang in dieser Wildnis.“
Qarl ließ sich nicht beeindrucken. „Ich fürchte, ich werde keine zehn Jahre in der Wildnis bleiben dürfen. Das ranghöchste Erdhörnchen schickt seine Konkurrenten gewohnheitsmäßig in die Wüste.“
Sein Bruder verdrehte die Augen. „Ich weiß, was euch Schüler hierher gebracht hat. Die Aussicht auf schnelles Geld und Abenteuer. Ich wünsche euch beides – und mir auch. Aber jetzt wollen wir doch mit dem Unterricht beginnen. Also: Ich bin Qasimir na Qes, geschult in den unerfreulichen Verwicklungen wittländischer Politik. Und da wir jemanden bei uns haben, für den die wittländische Geschichte ein unbeschriebenes Blatt ist, muss ich wohl ganz von vorn anfangen.“
Morrie, Qarl und Griça stöhnten synchron auf. Firusz beugte sich interessiert vor. Qasimir lächelte, als habe er soeben einen Krug Sahne getrunken. Firusz spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Qasimir setzte sich auf den Schreibtisch, ließ die Füße baumeln. „Also … was ist das älteste uns bekannte Schriftstück, das uns entscheidende Details über die Besiedlung unseres Kontinents liefert? Morrie?“
„Die Scherbe von Japra“, piepste Morrie.
„Und was genau ist die Scherbe von Japra? Qarl?“
„Eine Tontafel. Die berichtet, wie die Menschen gegen die Invasion der Teufel kämpften.“
Firusz hatte nie erwartet, dass wittländische Mythen sympathische Vertreter seines Volkes für ihn bereithielten. Trotzdem wurde er rot. Zwischen seinen Schulterblättern begann es zu jucken. Er sah die schrägen Blicke seiner Mitschüler und rutschte auf seinem Stuhl herum.
„Sehr richtig.“ Qasimir räusperte sich. „Wir wurden auf unserem eigenen Kontinent angegriffen, in die Enge getrieben und schließlich versklavt. Und welches berühmte Dokument erzählt uns von dieser dunklen Episode unserer Geschichte? Griça?“
„Die Schriftrollen von Afor.“
„Sehr richtig. Und was genau berichten die Schriftrollen?“
„Sie erzählen von einem jungen Mann, der als Sklave im Schloss des Königs der Teufel aufwuchs, dem die Flucht gelang und der in den dunklen Wäldern Aussätzige und Flüchtige um sich scharte. Er lieferte sich einen beeindruckenden Kampf mit dem Heer des Königs, aber er wurde geschlagen und starb als Verräter. Er stammte aus dem Westen Wittlands.“
Qasimir trat sich die weichen Lederschuhe von den Füßen. Auch seine Socken waren von strahlendem Blau. Am linken großen Zeh leuchtete die Haut durch. „In Wittland haben wir viele solche Legenden. Und warum? Weil die Teufel unser Land sehr lange in ihrem Besitz hatten. Sie haben fantastische Straßen gebaut, Brücken, die wir heute noch benutzen. Die Blaue Brücke ist älter als alle andern in Seestadt. Wir haben das Haus der Einhörner auf einer Brücke gebaut, die teuer erkauft wurde. Blut, Schweiß, Tränen – um die wichtigsten Körperflüssigkeiten zu nennen. Wir profitieren noch heute vom Kanalnetz der Teufel. Nach und nach begannen sie wieder abzuwandern. Wittland war langweilig geworden, sie zogen sich auf andere Inseln zurück, beuteten andere Völker aus. Die Wahrheit ist, wir wissen nicht, weshalb die Teufel gingen. Ich persönlich nehme es ihnen ein wenig übel. Ganz Wittland einfach wegzuwerfen … unfair, nicht wahr? Sie haben uns ausbluten lassen und beiseite geschoben. Wir waren wohl nicht mehr viel wert. Wir waren ein verwirrtes Volk, das spontan alle Annehmlichkeiten der Zivilisation vergaß und meinte, wieder ganz von vorn anfangen zu müssen. Plötzlich gab es viele kleine Königreiche und viele kleinmütige Territorialfürsten: Fehden, Mutproben, Viehdiebstahl in großem Stil, alles, was das Herz des Wittländers begehrt. Wir haben uns auf das besonnen, was uns auch zu Zeiten der Sklaverei Trost gespendet hat: die Familie. Wir haben das Sippensystem aufgebaut, sind langsam stark geworden. Plötzlich gab es die na Carran und die na Qes. Wir verließen uns nur auf die Menschen, zu denen wir Vertrauen hatten und am Feuer erzählten wir uns noch immer Geschichten von den bösen Teufeln. Sie waren es, denen wir die Schuld in die Schuhe schieben konnten, sehr praktisch, sehr bequem.“ Er legte den Kopf schief. „Soweit die Zusammenfassung. Bis morgen solltet ihr den übersetzten Text der Scherbe von Japra lesen und Notizen dazu machen.“ Qasimir rutschte vom Tisch, hob die Schuhe auf und ging auf Socken aus dem Schulzimmer.
IV
„Mach dir nichts draus. Mein Bruder ist schon immer so gewesen.“ Qarl legte Firusz den Arm um die Schultern. „Mann, er hätte auch gleich mit dem Finger auf dich zeigen und deine Familie verfluchen können.“
„Ich bin an so etwas gewöhnt.“ Firusz schüttelte Qarls Hand ab. „Glaub mir, die meiste Zeit ist es in den Kolonien nicht anders.“
Morrie sah betroffen aus. „Sollen wir was trinken gehen?“
„Ich weiß nicht … wir müssen einen ganzen Stapel Rechenaufgaben durchgehen und diesen Scherbentext lesen.“ Firusz drehte sich Hilfe suchend nach Griça um. Der Westländer hob die Schultern. „Bier ist hin und wieder die beste Lösung.“
Morrie sah erleichtert aus. „Gehen wir ins Hungrige Einhorn und besuchen deinen Cousin.“
Sie fanden Yanus am Schanktisch. Er hatte eine wittländische Seidentunika an – teichgrün und fein gesteppt – auf den Stehkragen waren goldene Pfingstrosen gestickt; er trug Pluderhosen aus gestärktem Leinen und sah auf, als die vier Schüler durch die Tür kamen. „Wie war der erste Tag?“
Firusz ließ sich neben seinen Cousin fallen. „Aufschlussreich.“
Qarl winkte die Wirtsfrau heran. „Die größten Humpen, die ihr habt – auf die Rechnung dieses großzügigen Herrn.“
Yanus ächzte. „Ihr wollt mich ruinieren, richtig?“
„Wer sich so teuer kleidet, kann auch ein paar arme Kontorsschüler durchfüttern“, fand Qarl. „Wir sind pflegeleicht. Wir müssen bis zum Abendessen im Haus sein.“
„Also gut – auf meine Rechnung.“
Firusz verzog das Gesicht. „Du musst sie nicht aushalten, nur weil du ein Teufel bist. Ich glaube, wir müssen uns das schlechte Gewissen abgewöhnen.“
Sie bekamen ihr Bier – Firusz wurde schon nach dem ersten Schluck schwindelig. Er setzte den Humpen ab. „Wo hast du die Kleider gekauft?“
„Ich habe da einen guten Schneider zur Hand. Wieso? Brauchst du irgendetwas?“
„Ich habe mich nur gewundert, dass du plötzlich so wittländisch aussiehst.“
„Mir gefällt der Stil.“ Yanus sah zu Griça hinüber. Der Westländer lächelte in seinen Humpen. Yanus räusperte sich. „Ich bin leicht zu beeinflussen.“
„Vielleicht solltest du dir einen anderen besten Freund suchen“, sagte Firusz spöttisch. „Arkos na Anbar wird dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen.“
Griça sah auf. „Arkos na Anbar.“
Firusz grinste. „Ein de Liarette rutscht immer in die exklusiven Kreise. Auch gegen seinen Willen.“
Griça runzelte die Stirn. „Aber die na Anbars gehören zur Gesellschaft des Löwen.“
„Muss man das so streng sehen?“, fragte Yanus erstaunt.
Griça nickte langsam. „Ihr solltet auf Euch Acht geben. Und das sage ich jetzt nicht nur, weil Ihr zufällig mein Bier bezahlt.“
„Sehr beruhigend“, murmelte Yanus.
Firusz seufzte. „Ich finde, du solltest das ernst nehmen. Woher willst du wissen, dass die na Anbars dich nicht über die Einhörner aushorchen wollen?“
„Arkos kann seinen großen Bruder nicht ausstehen!“ Yanus hob abwehrend die Hände.
Qarl lachte. „Komisch, ich hätte nie gedacht, dass ich etwas mit einem na Anbar gemeinsam haben könnte!“
„War es wirklich so schlimm?“ Morries Augen schillerten.
Qarl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, eine Pose, die Firusz von professionellen Märchenerzählern kannte. „Stell dir vor, dein ältester Bruder führt sich seit dem Tag seiner Geburt auf wie das Erste Einhorn. Sie haben ihn für diesen Posten erzogen. Und sie haben ihn ermutigt, sich möglichst rücksichtslos zu verhalten. Er sollte lernen, sich durchzusetzen. Und das hat er auch getan. Er ist zwölf Jahre älter als ich und bekam immer die größten Portionen. Wir waren erleichtert, als er in die Gesellschaft gegeben wurde – auch meine Eltern. Wir haben vier Lämmer geschlachtet und zwei Nächte lang durchgefeiert. Ich habe meinen Vater noch nie so betrunken erlebt.“
„Weiß dein Bruder davon?“, fragte Yanus leise.
„Nein, ich glaube nicht.“ Qarl stellte den leeren Humpen vor sich.
„Dann tut mir dein Bruder Leid.“
Qarl zog eine Schnute. „Ja, natürlich. Seid ihr Teufel alle so weichherzig?“
„Vielleicht solltet ihr beide euch einmal lange unterhalten“, sagte Yanus.
„Noch mehr solche Ratschläge?“ Qarl stand auf.
Firusz kratzte sich zwischen den Augenbrauen. „Nun – vielleicht könnt Ihr Arkos na Anbar und deinen Bruder mal an einen Tisch bringen.“
Morrie kicherte. „Das würde tatsächlich Schwung in die Stadt bringen.“
Yanus schnalzte mit der Zunge. „Nun … Schwung ist doch gut.“
„In Seestadt?“ Qarl schnaubte. „Noch mehr Schwung und die Stadt hebt vom Boden ab.“
„Wir werden sehen.“ Yanus schnippte die Wirtsfrau an. „Noch eine Runde. Auf meine Rechnung.“
„Oh, mein Gott – wie spät ist es?“
Griça sah auf. „Keine Ahnung. Weshalb?“
„Weil es gleich Abendessen gibt – ihr Idioten!“ Qarl sprang so panisch auf, dass er gleich zwei Stühle umriss. Morrie konnte sich gerade noch am Schanktisch festhalten. „Oh neiiiiiiiiiin – nicht schon wieder verbrannter Haferschleim!“
Yanus lachte. „Verbrannter Haferschleim?“
„Wenn es nur das ist.“ Firusz zog sich hastig die Robe gerade. „Wer weiß, was sie sich beim zweiten Verstoß gegen die Regeln ausdenken! Tut mir Leid, Yanus, aber wir müssen jetzt wirklich gehen.“
„War schön, dass ihr vorbei gesehen habt!“, rief Yanus den vier jungen Männern hinterher, die aus der Wirtsstube stoben. Die Wirtsfrau lachte laut, schlug sich dann die Hand vor den Mund. Yanus grinste sie an. „Was war das denn?“
„Ich wünschte, wir hätten noch mehr Schüler. Sie sind immer so besorgt und so flatterig. Wie Küken.“
„Habt Ihr noch ein Bier für mich?“
Sie zuckte die Achseln. „Meinetwegen. Werdet Ihr versuchen, Arkos na Anbar und Qasimir na Qes an einen Tisch zu setzen?“
„Bin ich lebensmüde?“
„Es würde die Einhörner wieder mehr ins Gespräch bringen.“
„Sie haben einen Teufel und einen Westländer. Das ist für meine Begriffe Gespräch genug.“
Am nächsten Morgen gab es keinen Haferbrei, sondern eine Art Mehlgrütze, die so widerlich war, dass keiner der Schüler mehr als einen Bissen über sich brachte. „Wir brauchen so etwas wie eine tragbare Uhr“, stöhnte Qarl und rieb sich die Augen. Qarl neigte zu Tränensäcken, Morrie eher zu Augenringen. Griça sah aus, als habe er eine ganze Nacht im Sturm verbracht.
„Habt ihr den Text gelesen?“, fragte Qarl.
„Ich habe es versucht“, sagte Firusz. „Es war verwirrend.“
„Ich weiß jetzt schon, was Qasimir sagt“, behauptete der na Qes. „Dass die Scherbe von Japra ein wesentlicher Bestandteil der wittländischen Identität ist … blah blah blah. Dass nur ein Wittländer die Geschichte verstehen kann – so in etwas.“
„Ich habe es auch nicht verstanden“, meinte Griça.
„Hm … du bist ja auch ein Barbar.“
„Ich habe auch nichts verstanden.“ Morrie zog bekümmert die Brauen hoch.
„Wir sind eine viel versprechende Truppe“, fand Qarl.
Sie tauschten verschwörerische Blicke über den Grütztopf – und Firusz wusste, dass er endlich irgendwo angekommen war.
Qasimir na Qes trug heute wittländische Kleidung, von einem dunkleren Blau als die Farbe der Einhörner. Obwohl es im Schulzimmer recht warm war, schien Qasimir unentwegt zu frösteln, sein Überwurf war mit Seidenschlaufen bestickt und mit Fuchspelz gefüttert. Er knotete zwei Schlaufen vor der Brust zusammen und setzte sich auf den Schreibtisch. „Also – niemandem von euch hat die Geschichte irgendetwas gesagt?“
Seine Schüler erröteten und versuchten, sich hinter den Pulten klein zu machen. „Es gibt da ein altes Sprichwort“, sagte das Erste Einhorn spöttisch. „Die Straßen in Seestadt haben Ohren. Der Speisesaal übrigens auch. Überall kleine Ohren. An den Türen, an den Wänden. Merkt euch das. Also gut.“ Er setzte sich auf seine Handflächen. „Der Text wurde aus dem Altwittländischen übersetzt. Im Original hat er die Form eines Gedichts, ist Teil eines sehr viel längeren Werks. Hätte ich das dazu sagen sollen? Nun gut, man kann ja nicht an alles denken. Versetzt euch in die Situation der Menschen. Eines Tages legen seltsame Schiffe an. Auf ihre Segel sind blühende Zweige gestickt. Pferde werden über Rampen an den Strand geführt, ihre Zäume sind mit bronzenen und silbernen Münzen benäht. In Wittland gab es bis zu diesem Zeitpunkt zwar auch Pferde, aber sie waren klein, krummbeinig und zottig. Niemand war bisher auf den Gedanken gekommen, sich auf einen Pferderücken zu setzen. Die Pferde, die vom Schiff in die Gischt trabten, waren gewaltig und mit Panzerdecken geschützt. Ihre Hufe waren beschlagen und sprühten Funken auf dem Steinstrand. Die Krieger, die sich auf ihre Rücken schwangen, trugen furchteinflößende Masken aus geschwärztem Leder. Um ihre Oberkörper waren riesige Bögen geschlungen, sie trugen Stiefel, die bis über die Knie reichten. Die Zöpfe, die ihnen über den Rücken fielen, waren mit Öl gesalbt. Die Krieger stanken nach der Vernichtung, die sie über das Land bringen sollten. Sie ritten in Achtergruppen ins Land hinein, sie erschlugen die wittländischen Fischer, die aus Neugier zu den fremden Booten gelaufen waren. Manche Krieger führten blau schimmernde Schwerter, die Klingen waren gemasert wie poliertes Holz. Es war, als kämen Götter an unseren Strand. Zornige Götter. Unser Volk lebte in Filzhütten. Die Krieger steckten alles in Brand. Sie schlachteten unsere Herden ab. Wir beteten – oh, ja – wir beteten. Es kamen noch mehr Teufel. Das ist die Geschichte der Scherbe von Japra.“ Qasimir stupste sich an die Nase. „Was gibt es da groß zu verstehen?“ Er sprang vom Schreibtisch. „Bis morgen lest ihr den Text noch einmal.“ Er verließ das Schulzimmer.
Morrie drehte sich verwirrt zu Qarl um. „Was sollen wir denn jetzt machen?“
Qarl schob seine Hefte zusammen. „Was schon? Ich gehe was essen. Wer kommt mit?“
Morrie sprang sofort auf, Griça folgte etwas langsamer. Firusz blieb wie in Trance sitzen. „Firusz.“ Griça legte ihm die Hand auf den Schulter. „Komm. Du kannst dich später noch ausgiebig schuldig fühlen.“
„Hat es dich etwa nicht gefangen genommen? Ich wünschte, ich bekäme die alten Chroniken meines Volkes zu lesen. Ich wünschte, ich wüsste, wie sie selbst all das sahen … die Krieger auf den Pferden …“
Griça strich ihm kurz über den Kopf, seine Zöpfe gaben ein helles Geräusch von sich. So hatten sich die Münzen an den Zäumen der Pferde angehört … Firusz sah zu dem Westländer auf. Griça lächelte und ging Morrie und Qarl nach. Firusz klappte sein Schulbuch auf, legte einen Zeigefinger auf das erste Wort der Übersetzung.
‚Da kamen Pferde’ lautete der erst Satz. ‚Da war das Meer und es spuckte Pferde aufs Land.’
Die anderen schafften es an diesem Tag zum Abendessen nach Hause. Sie saßen um ihn herum und tauschten Blicke ohne ihn. Schließlich schob Firusz sich das letzte Stück Brot zwischen die Zähne. „Wo wart ihr?“, fragte er.
„Wir sind nur ein bisschen rumgelaufen“, sagte Morrie.
Qarl hob seinen Milchbecher. „Es ist nicht so lustig wie mit dir. Griça ist nur für halb so viele komische Bemerkungen gut.“
Griça hob entschuldigend die Hände. Qarl stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „War nicht so gemeint. Aber du musst zugeben, Firusz schockiert einfach besser. Obwohl … sein Vetter ist auch nicht zu verachten. Ein einäugiger Teufel. Bestimmt landet er eines Tages auf der Bühne im Faulen Kater.“
„Yanus könnte sich nie den ganzen Text merken“, grinste Firusz. „Morgen komme ich wieder mit.“
Arkos na Anbar kam später als verabredet, dafür schon halb betrunken. Er schnippte einen Brief aus dem Wams und warf ihn vor Yanus auf den Tisch. „Mein Bruder lässt dir dies überbringen.“
Yanus schob den Humpen Schwarzbier zur Seite. „Er hat dich doch nicht etwa als Boten abgestellt?“
„Natürlich nicht. Ich dachte nur, da ich dich sowieso sehe, streiche ich den Botenlohn ein und lege ihn in Honigfleisch an.“
Yanus brach das Siegel auf.
Arkos beugte sich neugierig über seine Schulter. „Und? Lädt er dich schon wieder zum Essen ein?“
„Sag bloß, du hast den Brief noch nicht gelesen?“
Arkos heuchelte Empörung. „Für wen hältst du mich?“
„Für einen klugen Mann.“ Yanus seufzte. „Ja, er lädt mich wieder ein. Morgen Abend. Bezahlst du mir eine neue Tunika?“
„Die hier ist doch ganz schön.“
Yanus zog den Stoff über der Brust glatt. „Da sind schon hundert Flecken drauf!“
„Ich habe überhaupt kein eigenes Geld. Anson bezahlt meine … oh. Ja, natürlich. Gleich morgen früh, in Ordnung? Du musst schließlich hübsch sein, wenn meine Schwägerin dir eröffnet, dass sie einen Termin bei Hofe für dich arrangiert hat.“
Yanus klammerte sich an seinen Humpen. „Wirklich?“
Arkos gab der Bedienung einen Wink. „Schneller als du dich versiehst, sitzt du in einer Kutsche zum Königlichen Tal.“
Yanus schnalzte leise. „Ich sorge dafür, dass du mitkommst.“
„Oh nein. Ich bin der Familienschandfleck. Ich komme nirgendwo hin.“
„Bei uns in den Kolonien gibt es ein Sprichwort: Abwarten und Tee trinken.“
Irgendwann in dieser Nacht schlug Firusz die Augen auf. Morrie schnorchelte vor sich hin, stieß in unregelmäßigen Abständen ein schwaches Wimmern aus. Firusz schwang die Füße aus dem Bett, zog das Buch vom Schreibtisch. Es drang genug Mondlicht durch das kleine Fenster, um zu lesen. Firusz strich sich das Haar hinter die Ohren. ‚Da waren Pferde. Da war das Meer und es spuckte Pferde aufs Land. Da waren Teufel. Teufel, auf denen die Sonne blinkte. Da kamen die Wolken, schlangen sich um die Schiffe. Die Münzen führten Fischer ans Meer, färbten die Gischt. Feuer kam an den Strand, fraß sich um die Klippen ins Fell. Da waren Pferde und Teufel. Teufel hoben die Füße vom Boden, banden die Pferde an ihre Hände, ihre Zähne an ihre Daumen. Zwischen den Schultern trugen sie leuchtendes Haar. Ihre Stöcke waren Eisenzähne. Da waren Pferde. Pferde traten die Fischer in den Strand.’
Firusz fuhr zusammen. Morrie hatte sich aufgesetzt. „Es muss doch furchtbar spät sein.“
„Ich kann nicht schlafen.“
„Hab ich so laut geschnarcht?“
„Nein, nicht doch. Ich …“
„Du liest den Text der Scherbe, nicht wahr?“
Firusz nickte.
„Du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen. Und Qasimir spielt es gegen dich aus. Komm ins Bett. Leg das Buch weg.“
„Ich kann nicht. Ich möchte wissen, ob jemand aus meiner Familie dabei gewesen ist. Ob jemand von meinen Leuten damals am Strand stand.“
Morrie gähnte. „Na gut. Aber du weißt, dass das nicht gut für deine Augen ist. Du wirst Linsen aus Beryl tragen müssen, und du weißt ja, wie das aussieht.“
Firusz klappte das Buch zu.
V
Am nächsten Tag war es so warm, dass sie die Erlaubnis bekamen, die Schulroben über die Schultern zurückzuschlagen. Jetzt saßen sie alle in weißen Hemden da und wischten sich hin und wieder Schweißperlen von der Stirn. Firusz war so aufgeregt, dass er kaum durch die Rechenstunde kam. Als er nach einer kurzen Pause endlich die Schulglocke hörte, verschränkte er seine Arme auf dem Pult, versuchte, seine zitternden Knie unter Kontrolle zu halten. Qarl sah ihn irritiert an.
Sein älterer Bruder betrat das Schulzimmer in einem leichten Seidengewand und feinen bestickten Schlappen. Das Haar hatte er am Hinterkopf zu einem wuscheligen Knoten aufgebunden. „Wie mir scheint, sehen Einige meinem Unterricht mit Ungeduld entgegen. Ich bin geschmeichelt.“ Qasimir nahm seinen Platz auf dem Schreibtisch ein, rieb sich mit dem Zeigefinger über die Schneidezähne. „Also gut – ich denke, nun wisst ihr alle, welche Szenerie wir uns vorzustellen haben. Vielleicht sollte ich euch erzählen, dass die Scherbe von Japra erst vor vierzig Jahren entdeckt wurde – ganz hier in der Nähe. Wir vermuten also, dass sich die Geschichte, die sie erzählt, an einem unserer Strände abgespielt hat. Die Scherbe ist Teil eines Gedichtes, das auch mündlich in der Gegend um Seestadt überliefert wurde. Wir haben unsere Kinder Jahrhunderte lang mit diesem Gedicht gequält. Keine Sorge – ich werde es euch nicht auswendig lernen lassen.“ Qasimir rutschte vom Tisch, angelte mit den Zehen nach den Schlappen. „Da ich heute Besseres zu tun habe als mich um Schüler zu kümmern, die mich anstarren wie die Ölgötzen, sucht ihr euch jetzt den gesamten Text aus der Bibliothek heraus. Das dürfte euch bis zum Abend beschäftigen.“ Er knallte die Tür des Schulzimmers hinter sich zu.
Firusz, Morrie und Griça drehten sich zu Qarl um, sahen ihn anklagend an.
„Er war schon immer so!“, grinste Qarl mit abwehrend erhobenen Händen.
Yanus stand früh auf und traf sich mit Arkos im Faulen Kater. Die Bühne bog sich unter den Requisiten; ein Junge saß auf einem Schemel und putzte Stiefel. Arkos war noch nicht gekommen, Yanus orderte ein reichhaltiges Frühstück und machte es sich bequem. Es war angenehm warm, er zog sich die Obertunika über die Schultern zurück. Arkos kam gleichzeitig mit den knusprigen Hähnchenflügeln, dem ersten Teil der Menüfolge. Der Bruder des Stadtherrn griff sofort zu. Yanus fand, dass er insgesamt etwas mager aussah. „Hast du dich mit Anson gestritten?“, fragte er.
Arkos winkte mit vollem Mund ab. „Halb so wild. Er hat mich mal wieder aus dem Haus geworfen.“
„Was?“
„Alle drei Wochen bekommt er den Koller und meint, seinen Ruf durch verantwortungslosen Umgang mit seiner engsten Familie verbessern zu müssen. Keine Sorge – das haben wir schon ein paar Mal durch.“
„Ist es wegen … wegen gestern?“
Arkos schüttelte den Kopf, nahm noch zwei weitere Flügel. „Es hat sich schon seit Tagen abgezeichnet. Meist weiß ich, wann es wieder soweit ist.“
„Willst du bei mir wohnen?“
„Im Hungrigen Einhorn? Anson würde der Schlag treffen.“ Arkos’ Gesicht hellte sich auf. „Gute Idee. Du gehst zum Abendessen in die Cremetorte und ich reiße deine Wirtsfrau auf.“
Yanus drohte ihm mit einem abgenagten Knochen. „Dass mir bloß keine Klagen kommen.“
Arkos zog die rechte Braue hoch. „Sie wird schon wissen, was sie an mir hat. Der Bruder des einflussreichsten Löwen steigt bei den Einhörnern ab. Das gibt einen feinen Skandal.“
Qasimir na Qes kam aus seiner Schreibstube, einen Stapel versiegelter Briefe unter dem Arm. Er schob sich die Seidenkappe aus dem Gesicht und sah den wartenden Schüler erstaunt an. „Was ist los, Firusz?“
„Ich muss Euch was fragen.“
„Dann mal los.“
„Können wir das nicht … ähm … unter vier Augen besprechen?“
Qasimir seufzte, dann hielt er die Tür zur Schreibstube auf. „Bitte sehr.“
Das persönliche Schreibzimmer des Ersten Einhorns war geräumiger, als Firusz vermutet hatte. In offenen Schauschränken staubten verschiedenste Exponate vor sich hin: Tierschädel aller Größen, Lederbeutel, aufgebrochene Amethystknollen, Vogelnester, gefaltete Tücher, kostbar bestickt. Auf dem Schreibtisch herrschte peinliche Ordnung, mindestens zehn einzelne, mit bunten Steinen beschwerte Papierstapel, ein abgedecktes Tintenfass und makellos weiße Gänsekiele, ein Federmesser mit Horngriff und ein mehrarmiger Kerzenleuchter bildeten ein scheinbar genau abgemessenes Bild. Qasimir setzte sich auf den Stuhl, deutete auf einen Schemel. „Setz dich und rede. Eigentlich werde ich im Zwergmauskontor erwartet.“ Er ignorierte Firusz’ verwirrten Blick. „Was ist so wichtig?“
„Es ist wegen … wegen der Invasion.“
„Aber natürlich. Du machst dir Sorgen, dass ich den Unterrichtsstoff auf deinem Rücken austrage.“
„Nein – oder … ich glaube, das ist mir ziemlich egal. Aber … gibt es Bücher, die Ihr mir empfehlen könnt? Ich möchte mehr wissen.“
„Du willst wissen, wofür du dich schuldig fühlst?“ Qasimir verschränkte die Arme auf der Tischplatte. „Natürlich gibt es viele Bücher, die sich mit der Invasion und ihren Folgen beschäftigen. Ich kann dir gern eine ausführliche Liste schreiben. Hör mal zu, Firusz – du bist jung. Auch deine Eltern waren wohl nicht mehr an den Kämpfen um Wittland beteiligt. Es gibt keinen Grund, sich ein schlechtes Gewissen zu machen.“
„Ich habe kein schlechtes Gewissen“, sagte Firusz leise. „Obwohl ich mich vermutlich wohler fühlte, wenn ich eins hätte. Wenn ich über die Invasion lese, erfahre ich auch etwas darüber, wie mein Volk damals war. Welche Kleidung sie trugen. Ihre Wertvorstellungen … in den Kolonien gibt es nicht viel Literatur über Elfen, äh … Teufel. Auch mein Vater kann mir nichts erzählen. Nehmt es mir nicht übel, aber die wittländische Annexion hat viel wertvolles Wissen vernichtet. Ich empfinde es als sehr merkwürdig, dass es so alte wittländische Dokumente gibt, die sich mit meinem Volk befassen. Ich möchte diese Chance nutzen, um auch mehr über mich herauszufinden. Und weshalb mich die Menschen hier mit scheelen Augen ansehen.“
„Das ist ja wirklich lobenswert.“ Qasimir stand auf. „Tut mir Leid, ich habe keine Zeit mehr. Wir reden ein anderes Mal weiter, dann gebe ich dir die Liste. Bis dahin empfehle ich dir, dich an deinen Mitschüler Griça zu halten. Sein Volksstamm pflegt viele der alten wittländischen Traditionen. Es würde mich nicht wundern, wenn er noch Teufelslieder auswendig kann.“
Die Bibliothek des Hauses war eher klein und es dauerte nicht lange, bis Qarl die richtige Schriftrolle aus ihrem Fach zog. Er entrollte sie langsam, stieß einen leisen Fluch aus. „Sollen wir das etwa alles kopieren?“
Die vier Schüler hatten sich um den runden Tisch versammelt, der in der Mitte des Raumes stand. Sie schlugen die Hefte auf. „Besser, wir fangen gleich damit an“, fand Morrie und nahm die Schreibfeder hinterm Ohr weg.
Firusz reckte den Hals. „Oh“, machte er desillusioniert. „Das sind doch bestimmt dreißig Strophen.“
Griça schrieb schon.
Eine Stunde später rieben sich alle die Handgelenke. Qarl packte die Rolle wieder weg. „Ich hab’ Hunger.“
Morrie kaute an seiner Feder herum. „Gehen wir in die Stadt?“
Griça wartete, bis die Tinte trocknete, pustete in sein Heft.
„Kann ich dich was fragen?“ Firusz rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Hast du … ähm … kannst du …?“
Griça sah irritiert auf. „Was denn?“
„Was haben dir die alten Leute deiner Familie erzählt? Über mein Volk?“
Griça schlug sein Heft zu. „Hat Qasimir dich dazu angestiftet?“
Firusz machte Dackelaugen. „Nun ja …“
„Keine Angst – du kannst mir ein, zwei Bier bezahlen … und dann kann ich ja mal was erzählen.“
„Lasst uns endlich gehen!“ Qarl quetschte die Kerzen aus, die in der Mitte des Tisches standen.
Qarl und Morrie schlugen vor, heute nicht das Hungrige Einhorn aufzusuchen. Sie fanden eine Taverne in unmittelbarer Nähe zur Blauen Brücke. Die Bänke und Tische waren unangenehm schmierig, die Binsen auf dem Boden quatschten unter ihren Schuhen.
„Wozu brauchen wir Luxus?“, fragte Qarl. „Wir sind Schüler. Na los, Griça – erzähl.“
„Erst, wenn das Bier vor mir auf dem Tisch steht. Auch ein Westländer hat Grundsätze.“
Ein Mädchen mit seltsam schlaffem Mund nahm ihre Bestellung auf und kehrte nach wenigen Minuten mit vier schäumenden Krügen zurück.
Firusz zahlte für zwei und sah Griça auffordernd an. „Jetzt aber.“
Griça nahm einen langen Zug. „Es stimmt – wir Westländer erzählen uns Geschichten über das Schreckliche Volk. In unseren Mythen sind sie sehr schön, aber nie wirklich interessant. Sie sind böse, das ist alles. Sie haben keine Geheimnisse. Keine Ängste. Nichts Menschliches. Die Helden ziehen in den Kampf, viele scheitern, manche gewinnen, aber der Schwarze König bleibt im Dunkel. Die Sagen sind auf Dauer recht ermüdend. Aber wenn ich dir einen Tipp geben darf: Wenn du dich nicht allzu sehr an den alten Geschichten festhältst, sondern dir die neuen Bearbeitungen vornimmst … im Westland hat es in den letzten Jahrzehnten ein paar neue Bücher gegeben, in denen dein Volk nicht mehr so oberflächlich dargestellt wird. Ein Romanzyklus spielt in den Kolonien, stammt aber von einem Westländer. Es sind interessante Bücher – wenn du dich nicht an ein bisschen Trümmerkitsch störst.“
„Danke.“ Firusz strahlte ihn an. „Ich werde mir gleich morgen ein paar Buchhändler vornehmen. Du kommst doch mit, Morrie, oder? Morrie?“
Aber Morrie und Qarl hatten sich umgedreht und starrten eine Gruppe von jungen Männern an, die es sich in einer anderen Ecke der Taverne gemütlich gemacht hatten. Sie trugen rote Wämser und Stulpenstiefel, sahen aus wie reiche junge Herren, komplett mit Feder am Hut. Qarl wandte sich wieder seinem Humpen zu. „Und wir müssen rumlaufen wie die Affen.“
„Sind das … Kontorsschüler?“, fragte Firusz erstaunt.
„Es sind Stiere“, zischte Morrie. „Unfair, findet ihr nicht?“
„Morrie – glotz nicht so – das ist peinlich“, fand Qarl.
„Es ist trotzdem unfair.“
Qarl nahm ihn an der Schulter, drehte ihn gewaltsam um. „Sie werden sich provoziert fühlen.“
„Na und?“ Morrie verschränkte die Arme auf dem klebrigen Tisch und schob die Unterlippe vor. „Ich plädiere für blaue Wämser. Warum sieht Qasimir aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann und wir wie Idioten?“
„Weil wir Schüler sind.“ Firusz lehnte sich zurück.
Morrie strich sich mit beiden Händen das Haar hinter die Ohren. „Also, ich gehe jetzt rüber und …“
„Nein, du bleibst hier.“
Morrie stand auf, Qarl zerrte ihn auf den Stuhl zurück. Morrie stand wieder auf, diesmal reagierte Qarl nicht schnell genug.
Die Stiere sahen den blonden jungen Mann auf sich zukommen. Nach ihren Gesichtern zu urteilen wussten sie genau, wer Morrie war. Einer von ihnen stand auf. Er überragte Morrie um einen halben Kopf.
„Hallo … ich wollte mal wissen, wen ihr bestochen habt, um an so feine Kleider zu kommen.“
Sein Gegenüber stemmte die Arme in die Hüften. „Wir haben Geld genug“, sagte er spöttisch. „Im letzten Jahr kamen sechs Schiffe von den Gewürzinseln zurück.“
Qarl kam Morrie nach. „Entschuldigt“, sagte er. „Er verträgt nicht sehr viel Bier.“
Die Stiere lachten. Morrie lief leuchtend rot an. „Vielen Dank auch.“
„Ich wollte ja nur verhindern, dass du dich total lächerlich machst.“
Die Stiere lachten noch lauter. Der Stier, der immer noch vor Morrie stand, sagte: „Wie mir scheint, haben die Einhörner in diesem Jahr jeden Schüler genommen, der vor ihrer Tür stand. Vier Schüler, richtig?“
Qarl atmete tief durch. „Ihr seid auch nur zu sechst.“
„Wir sind nur ein Drittel der Schülerschaft“, grinste der Stier. Er war blondgelockt und sah so aus wie der Typ Mann, der in Mythen den Drachen schlachtet. „Wir passen gar nicht alle hier in den Schnaufenden Stier.“
„Schön für euch. Morrie, komm jetzt.“
„Habt ihr genug Geld, oder sollen wir eure Zeche übernehmen?“, lästerte der Stier.
„Wir kommen schon klar“, sagte Qarl kalt.
Ein zweiter Stier, mit einem merkwürdigen bestickten Käppchen auf dem Kopf, deutete plötzlich auf Griça. „Ist das euer Teufel?“
Qarl fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. „Nein, das ist unser Barbar.“
Die sechs Stiere sahen enttäuscht aus. „Es hieß, es gäbe einen Teufel bei den Einhörnern.“
„Firusz ist unser Teufel. Der andere.“
Die Stiere wechselten Blicke. „Warum sieht er so normal aus? Ist er krank?“
„Er ist nicht krank.“ Qarls Augenbrauen waren ein einziger Strich. „Er ist ein Mischling. Würdet ihr uns jetzt bitte entschuldigen?“
„Augenblick noch.“ Der blonde Stier nahm einen Schluck Bier. „Hol ihn mal rüber.“
„Wen?“
„Den Teufel.“
Qarl seufzte und winkte Firusz heran. „Was ist denn?“, fragte der Halbling.
„Da will dich jemand kennen lernen.“
Der Stier musterte ihn von oben bis unten. „Ah, ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Firusz de Liarette.“
„Rhonna na Parik.“
Sie gaben einander nicht die Hand.
„Ich muss schon sagen, einen Teufel habe ich mir immer anders vorgestellt. Rothaarig, grünäugig, viel größer. Kannst du Bogenschießen?“
„Ein bisschen.“
Die Stiere stöhnten enttäuscht auf. Der Käppchenträger piekste Firusz in die Schulter. „Was bist du denn für ein Teufel?“
Firusz wurde rot. „Ich bin ein Kontorsschüler. Genauso wie ihr.“
„Kannst du dir nicht die Haare färben? Dich bunter anziehen? Hast du ein Pferd?“
Rhonna gebot Schweigen. „Ganz ruhig. Er kann doch nichts dafür, dass seine Eltern versucht haben, einen Menschen aus ihm zu machen.“
Firusz biss die Zähne zusammen. „Sie haben keinen Menschen aus mir gemacht. Wo ich aufgewachsen bin, werden Elfen gern gesehen.“
Kollektives Stirnrunzeln.
„Er meint Teufel“, erklärte Qarl.
Rhonna winkte ab. „Ja, ja. Natürlich. Ich hatte geglaubt, die Einhörner hätten sich etwas Spektakuläreres gekauft.“
Qarl knirschte mit den Zähnen und schob Firusz und Morrie zum Tisch zurück. „Nicht aufregen. War nett, mit euch zu sprechen, Jungs.“
„Stiere sind komisch“, fand Griça leise.
Morrie beugte sich über den Tisch. „Nun ja … Stiere sind nicht gerade dafür berühmt, allzu viel zwischen den Ohren zu haben.“
„Pscht!“ Qarl sah ihn böse an. „Dafür sind sie kräftig und definitiv in der Überzahl.“
„Vielleicht sollten wir das nächste Mal einfach nicht in eine gesellschaftsfremde Kneipe gehen.“ Qarl hielt sich eine Hand vor den Mund, um sein Gähnen zu verstecken.
„Ich fand’s lustig“, sagte Morrie.
„Du bist ein kleiner Stänkerer“, meinte Griça. „Du siehst ganz harmlos aus, aber in Wirklichkeit bist du es, auf den wir in Zukunft aufpassen müssen.“
Morrie runzelte beleidigt die Nase. „Ich fand die Stiere eben unangenehm.“
Sie schlenderten durch die Straßen, alle mit leichter Schlagseite.
„Sind sie alle so?“, wollte Firusz frustriert wissen.
Qarl grinste. „Warte erst mal ab, bis wir zum ersten Mal den Löwen über den Weg laufen.“
An diesem Abend hatte Anson na Anbar auch weitere Gäste eingeladen. Vier Paare erhoben sich, als Yanus von Tredorn den Empfangsraum der Cremetorte betrat. Sie sahen sich alle so ähnlich, dass Yanus für einen Moment nicht wusste, vor wem er sich zuerst verbeugen sollte. Anson glänzte mit einer so großen Halskrause, dass er gewiss extra lange Löffel für das heutige Mahl hatte anfertigen lassen. Alle im Raum waren in edelstem Schwarz gekleidet, völlig staub- und fusselfrei – die Frauen waren so eng geschnürt, dass sie aussahen wie aufrecht schwankende Hornissen. Yanus zupfte gequält an seinem lindgrünen Seidenkragen. „Ähm …“
Anson stellte ihn vor, rasselte ein paar ununterscheidbare Namen herunter. „Heute habe ich Euch zu Ehren ein besonderes Essen zubereiten lassen“, kündete der Hausherr an.
Yanus leckte sich nervös über die Lippen. Man begab sich ins Speisezimmer, führte die Damen vorsichtig über die polierten Böden. Für Yanus gab es keine Partnerin – offenbar hatte er den einsamen Platz am Ende der Tafel. Er setzte sich langsam. Auch neben seinem Teller lag ein absurd langer Löffel. Die Bediensteten trugen Zwiebelsuppe und locker gebackenes Brot auf, mit Pfeffer und Zimt gemischte Butter stand zwischen dem ausladenden Blumenschmuck. Yanus kaute stumm vor sich hin, während sich rund um den Tisch muntere Gespräche entspannen. Hatte Anson so rasch erfahren, dass er seinen jüngeren Bruder aufgenommen hatte? Yanus schnüffelte misstrauisch an der Suppe. Wahrscheinlich überdeckte der Zwiebelgeruch jedes Gift … er seufzte und aß weiter. Sowieso schon zu spät. Wahrscheinlich war man hier der Meinung, dass Teufel sich nicht mit hübschen wittländischen Mädchen zu unterhalten hatten. Andererseits war das vermutlich besser so. Sonst fing er womöglich noch an, sich vor Nervosität mit Zwiebelsuppe und aufgelöster Zimtbutter zu beschmieren.
Der zweite Gang war eine Art Fischkuchen, in Weintunke. Yanus versuchte, die Blumen zu bestimmen, die ihn so effektiv von den anderen Gästen abschirmten. Warum war er hier? Er fühlte sich wie auf Hochglanz poliertes Obst in einer dekorativen Schale. Oder wie der Zuckerkranz auf der Torte, den ja doch niemand isst. Er kaute halbherzig den Fischkuchen herunter – aber immerhin bemerkte er, dass die anwesenden Damen ihm hin und wieder neugierige Blicke zuwarfen. Der junge Mann am Ende ihres Tisches, der im Licht der dicken Bienenwachskerzen gleichzeitig so blass und so bunt aussah, sprach einen merkwürdigen Instinkt in den vier Frauen an. Wie ein abgemagerter Hund, der eines Tages vor der Tür sitzt und sehr verletzlich und sehr, sehr hungrig auszusehen gelernt hat. Yanus trug das Haar über das fehlende Auge gekämmt, strich es aber hin und wieder nervös zur Seite. Die Frauen reckten jedes Mal den Hals, ließen die langen Löffel sinken. Der Hauptgang war eine riesige Geflügelpastete, vollgestopft mit Wurzelgemüse, das wohl aus den Kolonien importiert worden war. Es war völlig kaputtgekocht, Yanus heuchelte dennoch Begeisterung. Das Huhn in der Pastete war trocken und die Tunke zu salzig. Ein typisches Gericht aus den Kolonien, natürlich. Yanus hoffte, den Nachtisch zu überleben.
Nach dem Essen begab man sich in einen geringfügig gemütlicher eingerichteten Salon. Die Damen bekamen Teetässchen, Zuckergebäck und kandierte Früchte. Yanus schob sich eine klebrige Kirsche in den Mund und brauchte zehn Minuten, bis er sie hinuntergewürgt hatte. Die Dame des Hauses beugte sich über ihn. „Ich hoffe, Ihr werdet Euch bald einleben. Alle hier sind ganz begierig darauf zu erfahren, wie Ihr Euch mit den hiesigen Sitten arrangiert.“
„Es fällt mir schwer, das muss ich zugeben.“
„Jedenfalls habt ihr einen akzeptablen Ehrengast abgegeben. All diese Damen sind fasziniert von Euch.“
„Ihr habt nicht vor, mich zu verheiraten, oder?“
Sie lachte. „Ihr werdet in Zukunft einige Einladungen erhalten. Und natürlich werdet Ihr umziehen.“
„Ach ja?“
„Man hat da einen hübschen Stadtpalast für Euch aufgetan.“
„Was?!“
VI
Firusz legte den Kopf in den Nacken. „Das ist nun aber wirklich …“
Yanus warf die Hände hoch. „Etwas übertrieben? Oh ja – selbstverständlich.“
„Und sie bezahlen diesen ganzen Haufen?“
„Offensichtlich bin ich ein Schützling. Anson na Anbar hat mich unter seine Fittiche genommen.“
Firusz drehte sich um seine Achse. Das Haus hatte zwanzig Zimmer, alle komplett eingerichtet, einheitlich in Gold und Ochsenblutrot. Da stand Porzellan, mit Löwen bemalt, die Betten waren frisch bezogen. Ein Koch und fünfundzwanzig Dienstboten standen zur Verfügung, keiner von ihnen sah so aus, als freue er sich darauf, einen Teufel zu bedienen. Es gab einen Garten mit Laube, einen ganzen Schrank voll Kleider und einen Abort mit Wasserleitung. Yanus seufzte.
„Arkos sagt, bis vor kurzem hat es irgendein Minister bewohnt.“
„Und er ist nicht zufällig vergiftet worden?“
„Nein, ich glaube, man hat ihn bloß eingesperrt. Umso besser, hm?“
Firusz sah seinen Cousin entsetzt an. „Du bist ein Blutegel!“
„Nun … und vielleicht bald am Königlichen Hof von Wittland!“
„Lässt du dich so schnell kaufen?“
„Das Hungrige Einhorn ist wohl kaum standesgemäß.“
Firusz hatte für diesen Morgen frei bekommen, um seinem Cousin ein wenig zur Hand zur gehen. Qasimir ließ ihn mit einem wissenden Lächeln ziehen, wahrscheinlich hatte er sich gerade die obligatorische Ladung Klatsch abgeholt. Das Stadthaus lag ganz in der Nähe der Cremetorte, heimste noch etwas von ihrem Glanz ein. Es sah aus wie ein aus Sandstein erbautes Butterklümpchen, die Fenster mandelförmig und mit hölzernen Läden; Steintröge, mit leuchtend roten Blumen bepflanzt, zogen sich um die Mauern. Es gab einen kleinen Stall, das Haus war durch einen eisernen Zaun vom Nobelviertel getrennt. Yanus’ privates Gehege. Die staubigen Reisetruhen nahmen sich im plüschigen Salon sehr merkwürdig aus. Firusz stieß eine mit den Zehen an. „Wenigstens weiß ich jetzt immer, wo ich dich finde. Als Besitzer dieses Hauses kannst du schlecht im Faulen Kater versumpfen.“
Yanus hob die Achseln. „Arkos wird sehr enttäuscht sein.“
„Wahrscheinlich war genau das Ansons Absicht.“
Yanus zupfte sich an der Nasenspitze. „Meinst du?“
„Anson na Anbar ist ein erfahrener Mann der Politik. Und mittlerweile müsste er seinen Bruder ganz gut kennen.“
Firusz ließ sich auf das rote Sofa fallen. „Du könntest Arkos doch das ein oder andere Zimmer zur Verfügung stellen.“
Yanus setzte sich auf die Lehne. „Hmhm. Ich werde Arkos fragen, was er davon hält. Oder ob er lieber der Wirtsfrau schöne Augen machen möchte.“ Yanus kratzte sich im Nacken. „Du kannst dir auch ein Zimmer aussuchen.“
„Ich fürchte, ich werde kaum Zeit haben, dich oft zu besuchen.“
„Ist der Unterricht so … intensiv?“
Firusz wurde rot. „Na ja … das Problem ist … ich kann nicht ständig fehlen. Nicht so viel verpassen.“
In Yanus’ Auge schlich sich ein eifersüchtiges Funkeln. „Ah. Ja, vermutlich ist das so, wenn man in einer Schülergruppe lebt. Ich wünschte, ich hätte das auch.“
„Dafür hast du jetzt ein schönes Haus und Angestellte. Standesgemäß.“ Firusz angelte nach dem Glas, das auf dem Beistelltisch stand, trank vom leichten Wein.
„Und ich muss alle paar Tage am Tisch der na Anbars den zivilisierten Teufel mimen.“ Yanus stand auf und ging zu einem der ovalen Fenster hinüber. „Das ist wirklich sehr anstrengend.“
Firusz zog die Nase hoch. „Ich weiß. Vor ein paar Tagen hatten wir eine unschöne Begegnung mit den Stieren.“
Yanus drehte sich besorgt zu seinem jungen Cousin um. „Ich hoffe, du hast den Kopf eingezogen.“
„Ich habe mir jedenfalls Mühe gegeben.“
„Sehr gut. Und solltest du mal in die Löwen hineinrasseln …“
„Yanus! Ich weiß sehr wohl, was auf dem Spiel steht!“ Firusz setzte verärgert das Glas ab.
„Gottseidank.“ Yanus lächelte schief. „Die Löwen scheinen besonders stur zu sein.“
„Kein Wunder, mit Anson na Anbar als Gönner.“ Firusz zupfte sich an der Nase. „Qarl hat erzählt, bald ist es Zeit für die Vollversammlung der Gesellschaften.“
„Das hört sich doch interessant an. Noch Wein?“
Firusz schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich glaube nicht, dass die Versammlung viel dazu beitragen wird, die Laune des Ersten Einhorns zu heben. Die Aussicht auf Monate in Anwesenheit eines grummligen Geschichtslehrers treibt mir nicht gerade die Freudentränen in die Augen.“
Yanus lächelte, schenkte sich selbst Wein nach. „Eines Tages musst du mir Qarls großen Bruder vorstellen. Er ist bestimmt ein sehr interessanter Mann.“
„Er ist vor allen Dingen ein sehr launischer Mann.“ Firusz massierte sich die Kniescheiben. „Ich befürchte, auch er hat sich über unsere Familie informiert.“
„Das sollte er auch, wenn er sich einen de Liarette in die Gesellschaft holt.“
Firusz schnalzte nervös. „Ich stehe unter Beobachtung. Und wenn ich mich auf der Versammlung auch nur im falschen Moment räuspere, werde ich bis ans Ende meiner Lehrzeit historische Getreidepreise recherchieren.“
Yanus grinste. „Es braucht schon jemanden von besonderen Talenten, um einen de Liarette im Zaum zu halten. Vergiss nicht, mir Bescheid zu geben, wenn die Versammlung stattfindet.“
Als Firusz an diesem Abend in das Haus der Einhörner zurückkehrte, erwarteten ihn seine Mitschüler schon im Aufenthaltsraum. Ihre Schreibhefte lagen auf dem dunklen Tisch ausgebreitet, ein fleckiges Papierknäuel deutete darauf hin, dass Morrie wenigstens einmal im Verlaufe dieser Studieneinheit das Tintenhorn umgestoßen hatte. „Ist das Haus schön?“, fragte der na Carran.
Firusz kramte ein Paket Kekse aus der Schultertasche, warf es auf den Tisch. Sofort stürzten sich Qarl und Morrie auf die Leckereien. Griça zeigte sich zurückhaltender, nahm sich schließlich zwei Kekse.
Qarl stöhnte entzückt. „Gott, sind die gut. Deinen Cousin musst du dir warm halten, Firusz.“
Firusz warf ihm einen muffigen Blick zu. „Pass du lieber auf deine Hüften auf, Qarl na Qes.“
„Was ist los?“, fragte Griça. „Hast du dich mit Yanus gestritten?“
Firusz sackte in den vierten Stuhl am Tisch. „Anson na Anbar hat Yanus ganz fest am Wickel. Ich wünschte, Yanus hätte das Haus nicht angenommen.“
Morrie schluckte mit Mühe. „So funktioniert wittländische Politik. Adelige haben sich schon immer von reichen Bürgerlichen aushalten lassen, mehrten Ansehen und die Stilsicherheit ihrer Gönner.“ Er bunkerte noch vier Kekse. „Meine Familie hat sich auf diese Weise auch nach oben gebracht.“
Qarl leckte sich die Krümel von den Fingen. „Auch darüber ließe sich diskutieren. Mach dir keine Sorgen, Firusz. Solche Dinge sind in Wittland völlig normal. Yanus darf nur nicht zu gierig oder zu unvorsichtig werden, wenn der Stadtherr ihn an den Hof schickt. Ein Adeliger aus den Kolonien ist schon eine kleine Sensation in Seestadt – im Palast könnte sich Yanus schnell in ungeahnte Höhen schwingen.“ Qarl schob Firusz den Text hinüber, über den die heutige Hausaufgabe zu verfassen war. „Und wenn Yanus erst mal einen Platz im Königlichen Palast hat, nimmst du uns alle auf Besuch mit, richtig?“
Firusz sah seine Mitschüler an. Morrie kaute immer noch. Griça kratzte sich mit der Feder im Nacken. „Mal sehen“, sagte er schließlich.
Arkos schien sich nicht wirklich für das Haus zu interessieren. Er ließ sich auf das Sofa plumpsen, ganz wie Firusz es getan hatte und streckte dem Diener auffordernd das Glas hin.
Yanus, aufgeputzt in maigrünen Hosen und einer Tunika in strahlendem Pfirsichgelb, wippte genervt mit dem Fuß. „Was sagst du dazu?“
Arkos kniff sich in die Haut zwischen den Augenbrauen. „Es ist ganz hübsch.“
„Aber?“
„Aber du solltest dich nicht zu schnell an den Luxus gewöhnen. Anson ist berühmt für seine Launenhaftigkeit. Wenn er hört, dass du mich in diesem Haus empfängst, streicht er dir bestimmt ein paar Weinfässer.“
„Das heißt, du willst kein Zimmer haben?“
Arkos sah auf. „Ein Zimmer?“
„Nun … es ist ein ziemlich großes Haus.“
Arkos lachte. „Such dir lieber ein hübsches Mädchen aus dem oberen Tausend dieser Stadt.“
Yanus wurde rot. „Das klingt einfacher als es ist.“
„Warum? Es scheint, als hätten schon einige Damen aus gutem Hause Erkundigungen über dich eingezogen. Jede möchte einen langen komplizierten Titel für ihre Tochter. Und Ländereien in den Kolonien sind immer noch sehr begehrt.“
„Ich möchte mich aber nicht verschachern lassen.“
Arkos zuckte die Achseln. „Entweder, oder. Es gibt bestimmt noch die ein oder andere willige Bedienung aus dem Faulen Kater.“ Arkos wedelte wieder mit dem leeren Glas. „Aber das ist vermutlich nicht so ganz dein Niveau.“
„Ich sollte mich jetzt an ein paar Spielregeln halten.“
Arkos lächelte plötzlich. „Ich glaube, ich bleibe im Hungrigen Einhorn. Mein Bruder soll sich Sorgen machen. Wann hast du deinen nächsten Auftritt?“
„Morgen veranstaltet Anson ein großes Mittagessen.“
Arkos nickte langsam. „Du musst mir unbedingt erzählen, mit welchen Schabracken sie dich verkuppeln wollen.“
An diesem Abend ging Yanus die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Einer der Hausdiener trug die Öllampe hinter ihm her. Die Schritte der beiden Männer hallten tief in die Eingangshalle hinein. Yanus sah durch das Treppenhaus in die Halle hinunter. Kein Angestellter war zu sehen. Das Haus war leer. Entsetzlich leer. Er, der sein ganzes Leben unter Verwandten verbracht hatte, die letzten Wochen im Hungrigen Einhorn in gemütlicher Enge und in unmittelbarer Nähe zur Wirtsfrau … Yanus’ neues Schlafgemach erstreckte sich fast über die Hälfte des Obergeschosses. Der Hausdiener öffnete die schwere, weiß gestrichene Tür. Das Licht der kleinen Lampe warf einen erstaunlich hellen Schein durch das Gemach, vermischte sich schließlich mit dem Glosen der Asche im Kamin. Der Diener, ein junger Bursche in schwarzem Anzug, entzündete die Lampen, die auf Kaminsims, Tische und Wandborden standen, legte dann Holz nach. Sofort brachen Flammen aus der Glut, wickelten sich um die frischen Scheite. Yanus hörte, wie der Bursche den Raum verließ und begann, langsam die Kleider vom Leib zu schälen. Auf dem Bett lagen ein Hemd aus feinem Leinen und eine Art Mantel aus hauchdünner Seide. Yanus schlüpfte in die Nachtgewänder, setzte sich in den hell lasierten Sessel am Kamin. Der Hausdiener kam zurück, trug ein Tablett mit Kräutertee und gewürztem Kuchen hinein. Er verbeugte sich und wollte gerade wieder gehen. Yanus räusperte sich. „Einen Moment noch. Setz dich.“
Der Diener sah ihn erstaunt an, ließ sich dann langsam in den zweiten Sessel sinken.
„Wie heißt du?“, fragte der neue Hausherr.
Der junge Mann gab ein leises Schnalzen von sich. „Seçil, Herr.“
„Seçil – ah. Bist du schon lange im Dienst der na Anbar?“
„Nein, Herr.“
Yanus schob ihm das Tablett mit Kuchen und Tee hin. „Bedien dich. Gefällt es dir im Dienst der na Anbar?“
„Das … das kann ich noch nicht sagen, Herr.“
„Es muss merkwürdig sein, in einem so großen Haus zu leben – mal sehen, wie rasch ich mich wieder daran gewöhne.“
Seçil sah ihn misstrauisch an. „Das wird sehr schnell gehen, Herr.“
„Sind viele deiner Verwandten im Dienst?“
„Ja, Herr. Fast alle.“
„Was hältst du von Hunden?“
Plötzlich leuchtete das Gesicht des Dieners. Er strich sich das schwarze Käppchen, das zu seiner Uniform gehörte, zurecht. „Ich mag Hunde, Herr.“
„Verstehst du etwas von Pferden?“
Seçil nickte langsam. „Ein bisschen. Mein Stiefonkel ist Pferdemeister in einem der hiesigen Adelspaläste.“
Yanus lächelte. „Ich denke, wir werden uns demnächst ein wenig auf den Märkten der Stadt tummeln.“
Seçil räusperte sich. „Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Herr: Ich weiß, dass die na Pariks ein Vierergespann Goldfüchse zu verkaufen haben.“
VII
Qasimir na Qes hatte die Hausaufgaben gelesen und betrat nun mit drei kleinen Zornesfalten auf der Stirn das Schulzimmer. Seine Schüler versuchten sich hinter den Pulten zu verstecken.
„Also – ich will es kurz und schmerzlos über die Bühne bringen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich bei der großen Versammlung der Gesellschaften fühlen soll, wenn ich vier junge Männer unterrichte, die alle hemmungslos voneinander abschreiben!“ Er sprang mit einem besonders schwungvollen Satz auf den Schreibtisch. „Von einem Mitglied meiner eigenen Familie habe ich nicht allzu viel erwartet – die na Qes haben sich nicht oft mit akademischem Ruhm bekleckert – und vielleicht hätte ich einem na Carran auch nicht allzu viel Gewandtheit auf dem Papier abverlangen sollen – aber ein de Liarette … Firusz, ich dachte, deine Familie sei in den Kolonien bekannt für ihr Interesse an zeitgenössischer Literatur und den neusten Ergebnissen naturwissenschaftlicher Studien. Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Griça die beste aller Ausarbeitungen abgeliefert hat. Die Westländer sind nicht eben berühmt für Kopfarbeit. Herzlichen Glückwunsch, Griça. Du wirst heute keine Aufgaben bekommen. Alle anderen … tut mir Leid, Jungs, aber die Qualität eurer Arbeiten muss eindeutig steigen … sonst ….“ Das letzte Wort hallte durchs Zimmer. Qarl sah betreten zur Seite. Morrie war grün im Gesicht. Firusz zwang sich, tief und ruhig durchzuatmen.
Qasimir donnerte die Bücher auf den Tisch. „Ihr werdet so hart arbeiten, dass uns das Papier ausgeht“, prophezeite er düster.
Nach Unterrichtschluss schlichen die Kontorsschüler in die Bibliothek. Auch Griça schloss sich ihnen an. Sie präparierten den Tisch mit Lichtern und den notwendigen Büchern, Schriftrollen und Wachstafeln. Firusz schlug das dickste der Bücher auf, eine Chronik, die an die vierhundert Jahre alt war. Die Seiten waren trocken und brüchig an den Rändern, die Schrift verschlungen und gestochen scharf. Qarl stieß ein lang gezogenes Seufzen aus. „Und jetzt haben wir die ganze Arbeit – nur weil Qasimir es nicht mit seinem Ego vereinbaren kann, eine Klasse zu unterrichten, die besser im Rechnen als in historischen Studien ist. Wer soll denn schon davon erfahren?“
Firusz schnitt seine Federn zu. „Er möchte doch nur, dass wir mit uns selbst zufrieden sind.“
„Sei dir da mal nicht ganz so sicher.“ Qarl schniefte. „Er will nur vor den anderen Gesellschaften mit unseren Leistungen angeben. Also gut. Hast du die Chronik bereit, Firusz?“
„Bereit.“
Es war schon fast dunkel auf der Blauen Brücke, als das Erste Einhorn Firusz zu sich rufen ließ. Firusz, gähnend und mit rotgeränderten Augen, stieg zu seinem Zimmer hinauf. Qasimir na Qes empfing ihn mit zwei Gläsern gekühlter Milch und einem Teller Ölgebäck. „Du musst erschöpft sein. Jedenfalls siehst du so aus. Es tut mir Leid, Firusz. Es ist zu eurem Besten.“
„Ich verstehe das.“
„Ich hoffe, Qarl hat sich ein bisschen beschwert. Ich wünschte mir, dass er bei der Versammlung in richtig schlechter Stimmung ist.“
Firusz sah seinen Meister erstaunt an.
Qasimir fuhr fort: „Qarl ist wesentlich eindrucksvoller, wenn eine Rauchwolke über seinem Kopf schwebt. Darum habe ich ihn schon immer beneidet. Also … Qarl wünsche ich mir möglichst muffig. Dich wünsche ich mir still, zurückhaltend und sehr gut angezogen.“
„Heißt das, wir müssen nicht in unseren Schulroben zur Versammlung?“, fragte Firusz hoffnungsvoll.
„Das ist einer der wenigen Vorteile, wenn man nur vier Schüler hat. Man kann es sich leisten, sie aufzurüschen.“ Qasimir steckte sich ein Stück glasiertes Gebäck in den Mund. „Ich habe dich hergerufen, weil ich mir in deinem Fall sicher bin, dass du den anderen vermitteln kannst, was ihnen bevorsteht. Die Versammlung wird im Großen Saal der Löwen stattfinden, das ist Tradition. Wir Gesellschaftsersten werden entsetzlich pathetische Reden halten, um dem Vertreter des Königshauses zu zeigen, dass wir noch nötig sind. Und wichtig. Eigentlich müsst ihr nur stillhalten und nicht allzu gelangweilt aussehen. Ich rechne damit, dass wir aufgrund der eher fragwürdigen Zusammenstellung unserer Schülerschaft angegriffen werden. Wir müssen also dafür sorgen, dass Griça ein sauberes Gesicht hat, Morrie sich die Haare wäscht und Qarl ein wenig Respekt einflößt. Kannst du irgendwas anstellen, um spektakulärer auszusehen?“
Firusz ließ sein Milchglas sinken. „Was?“
„Ich stelle dir ein Paket Haarschleifen, Schminke und Silberdraht zur Verfügung. Von Teufeln erwartet man etwas Aufsehenerregendes.“
„Wisst Ihr, dass man meinem Großvater vor über dreihundert Jahren genau das Gleiche gesagt hat? Erstaunlich, dass sich in diesem Punkt gar nichts verändert“, sagte Firusz bitter.
„Wir sind eben noch nicht so weit wie die Kolonien.“ Qasimir leckte sich gelassen den Zucker von den Fingern. „Sieh es uns nach, Firusz. Wir brauchen ein bisschen Exotik. Teufel sind das Aufregendste, das Wittland passieren kann. Was glaubst du, weshalb sich dein Cousin so großer Beliebtheit erfreut?“
Unter Yanus’ Stiefeln knirschte der Kies. Er stand in der Mitte des Vorführvierecks, in polierten Schaftstiefeln und Lederwams. Neben ihm waren sowohl Arkos na Anbar als auch sein Diener Seçil und prüften mit kritischem Blick die Bewegungen des Pferdes, das gerade von einem Stallburschen der Familie na Parik im Trab vorgestellt wurde.
„Ich will ehrlich sein“, sagte Yanus. „Ich suche eigentlich nicht so sehr nach Kutschpferden. Ich bin mehr an einem Reithengst interessiert. Was haben sie hier in dieser Richtung im Stall?“
Der Stallbursche, kirschrot im Gesicht, führte den Goldfuchs zum Stall zurück.
Seçil faltete die Liste auf, die man ihm gegeben hatte. „Mal sehen, wen sie jetzt bringen. Hier stehen drei Junghengste. Der eine ist noch nicht angeritten.“
„Kein Problem. Meine Familie züchtet Pferde. Ich habe schon ein paar Dreijährige zugeritten.“
Seçil nickte langsam. „Die na Pariks sind schon seit Generationen eine der berühmtesten Züchterfamilien Wittlands. Sie haben sich vor allem auf Jagdpferde spezialisiert, aber hin und wieder sind schon ganz passable Schmuckpferde aus ihrem Stall gekommen.“
„Schmuckpferde?“, fragte Yanus verwirrt.
„Nun … repräsentative Tiere, die … tanzen.“
„Tanzen?“
„Dressurübungen. Schmuckpferde sind teuer, sehr teuer. Sie sind auf Feinste ausgebildet …“
„Ich glaube kaum, dass ich mir so etwas leisten kann“, sagte Yanus leise.
Arkos legte den Kopf schief. „Wer sagt denn, dass du dir ein voll ausgebildetes Tier anschaffen sollst? Pferde, die lediglich das Potential erkennen lassen, sind für etwas weniger Gold zu haben.“
In diesem Augenblick öffnete sich das Tor zum Viereck. Ein anderer, ausgeruhter Stallbursche kam mit einem der jungen Hengste auf Seçils Liste, einem Apfelschimmel mit beeindruckend langer Mähne.
„Hm … ganz nett“, sagte Yanus.
Ein zweiter Knecht brachte den nächsten Hengst. Yanus starrte das Tier an. „Ist das der Dreijährige?“
Seçil nickte. Das rohe Pferd war recht klein, hatte aber einen Hals, so prall gestopft wie ein Sofakissen. Ein Hengst von tiefem Rot, dessen Kopf aussah, als habe man ihn in einen Eimer Sahne geschubst. Seine Augen waren von einem unangenehm durchdringenden Blau, Mähne und Schweif schwarz und wild gelockt. „Oh mein Gott … wie viel kostet der?“
Seçil und Arkos tauschten einen belustigten Blick. „Ich glaube kaum, dass Ihr auf diesem Papagei durch die Gegend reiten wollt, Herr. Vermutlich wollen sie ihn nur loswerden.“ Seçil zeigte ihm die Liste. „Ihr solltet Euch lieber nicht auf ihn fixieren, Herr.“
„Wie viel kostet er?“
Arkos stöhnte. „Sie wollen ihn für 200 Goldstücke abgeben. Das ist viel zu wenig, Yanus. Irgendetwas ist da faul. Pferde mit blauen Augen bringen Unglück.“
„Das klingt doch gut, oder?“ Yanus grinste. „Sagt ihm, er soll ihn rüberbringen. Ich möchte ihn selbst führen.“
Das Familienoberhaupt der na Parik nahm die Goldstücke entgegen, strich sich das blonde Haar aus der Stirn. „Ich habe mir schon gedacht, dass Ihr ihn mögt. Er kann ein wenig stur sein, aber er zeigt gute Gänge. Aus ihm könnte etwas werden.“ Rhonna na Parik Senior schob das kleine Buch über den Tisch, in dem der Stammbaum des Hengstes aufgezeichnet war. „Viel Spaß. Er könnte am Anfang etwas schwierig sein. Sein Vater war auch so.“
Yanus nickte, presste das kleine Buch an die Brust. „Danke.“
Sie beauftragten einen der Burschen, Yanus’ Neuerwerbung in das Stadthaus hinüberzubringen. Während sie mit der Kutsche zurückfuhren, fragte Arkos: „Was hast du dir dabei gedacht? Du hast gar nicht gedacht, richtig? Sie haben dir ein faules Ei untergeschoben. Ein kleines komisches Pferd.“
„Na Parik hat sich noch 45 Goldstücke runterhandeln lassen“, sagte Yanus stolz.
„Das heißt: Das Pferd ist komplett verrückt. Die na Pariks machen keine Geschäfte zu ihrem Nachteil. Na, egal. Dann hast du eben nicht so viel Geld für deinen ersten großen Fehler rausgeschmissen.“
„Ich glaube nicht, dass er ein Fehler ist.“ Yanus verschränkte die Arme vor der Brust.
Arkos lehnte sich zurück. „Ich denke, sie haben bereits versucht, ihn anzureiten. Vermutlich ist völlig bekloppt im Kopf.“
Yanus lächelte. „Mal sehen.“
„Also ehrlich: Ich würde mich lieber durch einen Haufen Hausarbeiten wühlen, als das hier über mich ergehen zu lassen …“, beschwerte sich Firusz.
Griça legte ihm die Hand auf den Kopf. „Halt still, verdammt.“
„Ich sehe aus wie …“
„Wie ein Schmuckpferd“, vollendete Griça.
„Was?“
„Du sollst stillhalten. Wenn ich dir wirklich böse wollte, würde ich dir Glöckchen ins Haar flechten, nicht nur Seidenbänder!“
„Es ziept!“
„Es soll ziepen! Stillhalten. Wenigstens wirst du später nicht wie ein verfettetes Erdhörnchen aussehen.“ Griça schloss gequält die Augen. „Es ist unfair.“
„Nicht wahr? Warum soll ich aussehen wie ein Westländer und du nur wie ein frisch gewaschener junger Mann?“ Firusz spürte, wie seine Kopfhaut kribbelte. „Wie lange dauert das denn noch?“
„Es ist eine traditionelle Frisur“, schnaufte Griça. „Es soll lange dauern.“
Qasimir na Qes hatte für seine Schüler keine Kosten gescheut. Griça, Qarl und Morrie waren in teuren leuchtendblauen Stoff gewandet, die Überwürfe mit so viel Pelz benäht, dass die jungen Männer tatsächlich aussahen wie übergewichtige Erdhörnchen. Nur Firusz hatte Qasimir in ein bodenlanges Gewand gekleidet, einen Farbton heller und somit noch teurer als die Wappenfarbe der Einhörner. Die feine Seide fühlte sich kühl auf Firusz’ Schultern an, raschelte bei jeder seiner Bewegungen. Firusz trug weite Hosen und eine lange, um den Leib geknöpfte Weste mit floralem Muster, der Kragen nach wittländischer Art aufgestellt und leuchtend grün gefüttert. Griças traditionelle Barbarenfrisur hatte Firusz mit einer Vielzahl von klimpernden Zöpfen ausgestattet, während der Westländer selbst, mit glattgekämmten Haaren und Samtbarett, erschreckend zivilisiert aussah: frisch rasiert und mit jenem unterdrückten Zornesfunkeln in den Augen, das ihn attraktiver machte, als er in Wirklichkeit war. Die Schüler versammelten sich im Speiseraum, man wartete auf die anderen Einhörner. Qasimir ordnete die Reihe der Teilnehmer, er selbst ging als Letzter. „Nicht drängeln“, zischte er in Firusz’ Nacken.
Der Große Saal der Löwen lag nicht etwa im Haus der Gesellschaft, sondern im unteren Stockwerk ihres monströsen Kontors. Es waren schon viele Männer anwesend, feierlich herausgeputzt. Und fast alle mit einem Haufen zusammengefalteter Blätter unter dem Arm. Sie hatten Bärte und sahen aus, als hätten sie mit Essig versetzten Brei gefrühstückt, als sie der merkwürdigen Truppe ansichtig wurden, die auf sie zukam. Qasimir schubste seine Schützlinge an den Wasserspeiern vorbei. „Ganz ruhig. Geht einfach weiter.“
Der Große Saal der Löwen war unglaublich voll, lediglich ein schmales Segment war noch frei, auf den hölzernen Bänken lagen blaue Kissen.
Alle anderen renkten sich fast die Hälse aus, Firusz meinte ein paar Stierschüler wiederzuerkennen, straffte die Schultern und rutschte mit auf die erste Bank des Einhornsegments. Das Rednerpult stand vor einer holzgetäfelten Wand, dahinter waren die Wappen aller Gesellschaften aufgespannt. Das Einhorn war ganz links am Rand und ein wenig fühlte Firusz sich durch diesen Umstand beleidigt. Qasimir setzte sich neben den Teufel, kniff ihn so lange in den Oberschenkel, bis Firusz so aufrecht saß, als hätte er etwas sehr Scharfkantiges verschluckt. Qarl gab Zeichen hinter vorgehaltener Hand. Firusz sah hinter dem höchsten Punkt der Balustrade einen Mann mit riesigem Schlapphut sitzen, um dessen Krempe feinste Spitze genäht war- als trüge das Mitglied der Königlichen Familie einen Imkerhut. Ganz in Schwarz gekleidet war er sicher die eleganteste Erscheinung dieser Veranstaltung – selbst die Halskrause war aus glänzendem schwarzen Leinen und erinnerte Firusz an Gemälde, die er in den Kolonien gesehen hatte – nüchtern und geschäftstüchtig aussehende Männer mit gepflegten Schnurrbärten und spitzenbesetzten Taschentüchern. Der Kopf des Königlichen Gastes ruckte herum. Firusz spürte, wie ihm ein Schauder zwischen den Schulterblättern entlanglief. Er stand unter Beobachtung. Griça legte ihm beruhigend eine Hand aufs Knie. In diesem Augenblick wusste Firusz, dass die Stiere, Sturmvögel, Löwen und Sonnen starren konnten, soviel sie wollten. Selbst der verhüllte Blick des Königlichen Gastes machte ihm nichts aus. Morrie zog langsam eine in Wachspapier geschlagene Rolle Kekse aus dem Umhang. Firusz unterdrückte sein Lächeln. Er hatte seine eigenen Gefährten, was brauchte er den Rest der Welt?
Ganz wie Qasimir vorausgesagt hatte, waren die Reden hauptsächlich an den Ehrengast gerichtet und sehr langweilig. Die Vertreter der verschiedenen Gesellschaften hatten sich offenbar keine zeitliche Grenze gesetzt. Firusz bildete sich ein, den hohen Gast auf seinem Stuhl herumrutschen zu sehen. Qasimir war der vorletzte Redner. Als er sich mit seinem Manuskript von der Bank erhob, spürte Firusz die Anspannung, die durch die Reihe lief. Morrie, Griça und Qarl sahen aus, als wollten sie die Kanten aus der Sitzfläche reißen. Firusz spürte wieder dieses seltsam süße Gefühl. „Mach uns bloß keine Schande“, flüsterte Qarl.
Qasimir sah sich in der Runde um, bedachte die vorhergehenden Redner mit einem langen mitleidigen Blick. „Ich warne nur“, sagte er schließlich. „Meine Rede wird sicher nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen. Man stelle sich auf Sätze mit wenigen Adjektiven ein. Es wird ein wichtiges Jahr für unsere Gesellschaft werden, das ist uns bereits jetzt allen klar. Man hat uns signalisiert, dass unsere Lizenzen in Gefahr sind, sollten unsere diesjährigen Gewinne wieder so weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die Gesellschaft des Einhorns hat sich entschlossen, diesem Druck von Seiten der anderen Gesellschaften auf besondere Weise zu begegnen. Wir haben nur wenige Schüler in diesem Jahr aufgenommen und wie jeder sieht, sind es außergewöhnliche Schüler. Sie zeigen sich lernwillig, opferbereit und lebensfroh – die ideale Mischung, die den Erfolg kommender Generationen von Einhörnern garantieren wird. Sie werden auf der nächsten Vollversammlung beweisen, dass wir unser Vertrauen nicht umsonst in sie setzen. Und wir werden auch beweisen, dass wir in der Lage sind, das hohe Niveau zu halten. Mir ist bewusst, dass diese vier jungen Männer hart arbeiten müssen, um all diese Versprechen zu erfüllen. Die ganze Gesellschaft wird sich anstrengen müssen. Wir werden unser Bestes tun.“ Qasimir verbeugte sich und verließ das Rednerpult. Zögerlicher Applaus folgte. Der Königliche Gast saß bewegungslos da.
„Wer kommt jetzt?“, flüsterte Morrie so laut, dass man ihn sicher noch in der letzten Ecke des Saales hören konnte.
Ein Mann in sandbraunem Mantel erhob sich. „Der Erste Löwe“, zischte Griça – überflüssigerweise. Der Erste Löwe war groß, um die dreißig Jahre und unglaublich gutaussehend – das bemerkte sogar Firusz. Er sah Qasimirs betont gleichmütigen Gesichtsausdruck. Das Erste Einhorn hasste den Ersten Löwen – das konnte man förmlich riechen. Firusz nahm sich vor, Vorurteile beiseite zu lassen. Der Mann hinter dem Rednerpult hatte welliges blondes Haar, für das jede Frau getötet hätte. Er war leicht gebräunt, als habe er den vergangenen Sommer an Bord eines Schiffes zugebracht, das in wärmere Gefilde gesegelt war – vielleicht zu den Gewürzinseln.
„Es freut uns, dass unsere Brüder von der Gesellschaft des Einhorns wissen, was wir von ihnen erwarten“, sagte er mit falscher Gelassenheit. „Und da dies eine Versammlung ist, auf der auch von Erfolgen die Rede sein soll, werde ich nun Bericht ablegen von den Unternehmungen der Löwen.“
Es folgten zwanzig quälende Minuten, in denen selbst den Löwenschülern langweilig zu werden begann. Getuschel brandete aus den Reihen der Stiere auf, Sonnen und Sturmvögel wurden ebenfalls unruhig. Der Erste Löwe lächelte selbstgefällig und schloss den Kassenbericht. Auf der Galerie atmete der Königliche Gast auf. Sobald der Löwe das Pult verlassen hatte, erhob sich der verschleierte Mann und verschwand durch eine Seitentür. Firusz, Morrie und Qarl sahen ihnen Geschichtslehrer hilfesuchend an. Qasimir bedeutete ihnen zu warten, bis die anderen Gesellschaftsersten ihren Schülern das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatten. Firusz sah auf, bemerkte Rhonna na Pariks Blick. Der Stier grinste. ‚Verlierer’, sagte sein verächtlich schief gezogener Mund. ‚Eine ganze Gesellschaft von Verlierern.’
Yanus hatte andere Probleme. Offenbar hatte sich in der ganzen Stadt herumgesprochen, dass die na Pariks es geschafft hatten, ihm einen Gaul anzudrehen, den sie schon zwei Jahre lang loszuwerden versucht hatten. Anson na Anbar fand sich mit leicht angesäuertem Gesichtsausdruck in Yanus’ neuem Domizil ein und las ihm die Leviten.
„Selbst ein Teufel muss einen gewissen Grad an Verhandlungsgeschick mitbringen. Die Leute in Seestadt wissen, wie man solche Schwächen ausnützt. Sie werden versuchen, Euch alles Mögliche aufzuschwatzen. Und auch die Kosten für die Haushaltsführung werden steigen, Ihr werdet sehen.“
Es kostete Yanus viel Geduld, diesen Besuch zu überstehen. Nicht zuletzt deshalb, weil Ansons Gattin einen ganzen Schwung Stoffmuster mitgebracht hatte; schließlich musste auch das Haus eines Teufels repräsentativ genug sein, um Empfänge zu geben. Als Yanus jetzt vom Schlafgemach in die Eingangshalle hinunterschritt, läutete es an der Tür. Seçil hetzte über den spiegelblanken Marmorfußboden, Yanus beeilte sich, die letzten Treppenstufen zu nehmen.
Arkos kam in die Empfangshalle, in einem völlig durchnässten Mantel und quatschigen Stiefeln. „Ich wollte dir gleich Bescheid sagen, Yanus: Ein Mitglied der Königlichen Familie hält sich ein paar Tage in der Stadt auf. Er ist zur heutigen Versammlung der Handelsgesellschaften erschienen und befindet sich zur Zeit im Stadthaus der Königlichen Familie. Ich glaube, Anson hat geplant, dich ihm vorzustellen. Zieh was Passendes an und kämm dir die Haare. Vielleicht steht mein Bruder schon in fünf Minuten vor der Tür.“
„Das wäre auch nichts Neues. In letzter Zeit liebt er Überraschungsbesuche.“
„Verstehst du, was ich dir sage? Los, Seçil, bringen wir ihn ins Ankleidezimmer. Wir können reden, während du dich schick machst.“
„Ich verstehe nicht, was die Panik soll.“ Yanus stand auf einem Schemel in der Mitte des Raumes, während sein Leibdiener um ihn herumturnte. Arkos hatte es sich in einem der Lesesessel bequem gemacht, die das Gemach schmückten.
„Die Panik? Yanus – mein Bruder lebt dafür, sich der Königlichen Familie anzubiedern. Deshalb hat er dir dieses Haus zur Verfügung gestellt. Deshalb übernimmt er so großzügig all deine Rechnungen. Ach ja – hast du eigentlich schon auf deinem Wunderpferd gesessen?“
„Er soll sich erst ein paar Tage an die neue Umgebung gewöhnen.“
Arkos sah den Halbling spöttisch an. „Du hast doch nicht etwa Angst, dich diesmal richtig zu blamieren?“
Yanus wurde rot. „Ich will ihn nur nicht überfordern.“
„Ja, ja. Also – wenn mein Bruder dich abholt, wird es so laufen: Du steigst in seine Kutsche und lässt dich von ihm zum Königshaus fahren. Falls der Hohe Herr dich empfängt, wirst du Anson reden lassen und möglichst servil und pflegeleicht wirken. Wenn du direkt angesprochen wirst, versuche, klug und selbstironisch zu antworten.“
„Arkos – warum tust du das alles?“
„Yanus, wenn du dich bei dieser Gelegenheit gut verkaufst, steht dir vielleicht eine Karriere bei Hofe offen. Weißt du, wie viele liebeshungrige, zu Tode gelangweilte Damen es bei Hofe gibt?“
Drei Stunden später saßen sie immer noch im Ankleidezimmer.
„Warum um alles in der Welt habe ich auf dich gehört?“ Yanus sah mittlerweile nicht mehr ganz so präsentabel aus: die Frisur war dahin, ein paar Knöpfe standen offen, so dass man unter der rainfarngrünen Seidentunika das leuchtend gelbe Untergewand sah.
Arkos, dessen Haar in wilden Kringeln getrocknet war, zuckte die Achseln. „Es hätte ja sein können. Seltsam, dass mein Bruder sich eine solche Gelegenheit entgehen lässt.“
„Vielleicht hat er mir das Pferd noch nicht verziehen und will mich ein wenig bestrafen.“
Für einen Augenblick sah Arkos unsicher aus, dann winkte er ab. „Naaaah“, machte er. „Bestimmt nicht.“
Yanus zog unglücklich die Schultern hoch. „Und das alles nur wegen eines günstig gekauften Pferdes?“
„Seestadt geht manchmal seltsame Wege.“
Yanus sah seinen Gast irritiert an. „Was?“
„Manchmal entwickelt diese Stadt eine merkwürdige Art von Eigendynamik.“
Yanus hatte gerade die Hand ausgestreckt, um Seçil heranzubimmeln, als die Hausglocke ertönte. Yanus und Arkos fuhren in die Höhe, tasteten in Panik um sich – bis Arkos auf die Idee kam, Yanus beim Wickel zu packen und ihn bis zum Kinn zuzuknöpfen. Dann galoppierten beide ins Erdgeschoss.
Seçil hatte gerade die Haustür geöffnet. Auf der Schwelle stand ein in schlichtes Leder gekleideter Mann. Er trat beiseite und ließ einen zweiten Mann an sich vorbei, der den merkwürdigsten Hut trug, den Yanus je gesehen hatte. Der erste Mann, offensichtlich ein hochrangiger Diener, verbeugte sich. „Hramonn na Mondon.“
Arkos brachte es fertig, sich noch schnell zu Yanus hinüberzubeugen und zu flüstern: „Mitglieder der Königlichen Familie werden hier mit dem Namen des Vaters angesprochen.“
Yanus verbeugte sich, so tief er vermochte. „Ihr überrascht mich, äh … Eure Hoheit. Verzeiht – wie soll ich Euch anreden?“
Behandschuhte Fingerspitzen tippten gegeneinander. „Befolgt den Ratschlag Eures Freundes. ‚Mondon’ ist völlig ausreichend.“
„Verzeiht – aus meiner Heimat ist mir anderes vertraut. Kommt herein, setzt Euch – man wird Euch sofort etwas zu Essen anbieten. Ich bin noch nicht gänzlich eingerichtet, es ist noch ein bisschen chaotisch.“
„Ich mag Chaos.“ Der Hohe Gast hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Yanus und Arkos brachten Mondon ins Empfangszimmer – Seçil stand schon mit Wein, gewürztem Kuchen und kaltem Fleisch bereit. Mondons Diener nickte ihm zu. Der Hohe Gast nahm mit einer anmutigen Bewegung Platz. „Es ist ein schönes, kleines Haus – ganz im Gegensatz zum Stadthaus meiner Familie.“
Yanus prostete ihm zu. „Wenn Ihr wollt, trete ich es Euch gern für die Dauer Eures Aufenthaltes ab, Mondon. Ich bin einfaches Quartier gewöhnt und werde mir ein Zimmer mit meinem Diener teilen.“
„Sehr großzügig von Euch, und ich schätze, es bleibt Euch nicht viel übrig – zumal es unüblich ist, dass der Jüngste Bruder des Kronprinzen einem Teufel den Vorzug gibt. Ich werde Euch nicht lange zur Last fallen, Yanus von Tredorn. Aber ein Bett für die Nacht wäre wünschenswert.“
„Natürlich – Seçil hier wird für Euch mein Schlafzimmer vorbereiten.“
„Mein Leibdiener wird ihm zur Hand gehen.“
Kaum waren die Angestellten draußen, schlug Mondon den Schleier hoch, der um die Krempe seines Hutes genäht worden war. Zum Vorschein kamen ein schmales, etwas blässliches Gesicht, ein fein ausrasierter Bart und halblanges dunkles Haar. Der Jüngste Bruder des Kronprinzen sah gut aus, auf eine Weise, die ihn für jede Schurkenrolle im Faulen Kater prädestiniert hätte. Sein schwarzes Wams lag eng am Oberkörper an und war mit grünen Steinen bestickt. „Ich gestehe, ich war neugierig auf einen Teufel – eine echte Rarität in diesem Land.“
„Entspreche ich Eurer Vorstellung, Mondon?“
„Was ist mit Eurem Auge passiert?“
„Ich habe es vor vielen Jahren verloren. Ich war noch sehr jung.“
„Vermisst Ihr es?“
Yanus presste die Lippen zusammen. „Nein.“
„Ich glaube, ich würde mein Auge vermissen“, seufzte der Jüngste Prinz. „Es muss doch lästig sein.“
„Man … man merkt es eigentlich gar nicht.“ Yanus sah seinen Gast gequält an.
Mondon weigerte sich, diesen Wink zu verstehen. „Ich würde mich morgens nicht gern im Spiegel ansehen“, fuhr er fort. „Seid Ihr wetterfühlig?“
„Nein“, sagte Yanus leise.
Mondon sah enttäuscht aus. „Habt Ihr irgendeine besondere Gabe?“
„Nein. Man sagt mir nach, gut mit Pferden umgehen zu können. Aber das trifft auf alle Mitglieder meiner Familie zu. Na ja – fast alle. Mein Urgroßvater weigert sich mittlerweile, in den Sattel zu steigen, aber …“ Er bemerkte Mondons Blick. „Nein, ich glaube, ich habe überhaupt keine besondere Gabe. Nicht alle Teufel sind gesegnet. Und ich bin von gemischtem Blut.“
„Ich habe Euren Vetter bei der Vollversammlung gesehen“, sagte Mondon und plieserte an der Armlehne seines Sessels herum. „Ich habe ihn mir beeindruckender vorgestellt – und nicht ganz so gut frisiert. Liegt es daran, dass auch er nur ein Halbling ist?“
„Das kann schon sein.“
„Gibt es überhaupt noch Teufel von reinem Blut?“
„Doch. Meinen Urgroßvater zum Beispiel.“
Mondon stützte das Kinn in die Hand. „Wie ist er so?“
„Er ist ein missmutiger, humpelnder alter Mann. Er hat viel erlebt. Man sieht ihm die vielen Jahre nicht an, aber er hat Könige auf den Thron gebracht, die vor dreihundert Jahren starben. Er hat eine große Familie begründet, diese verloren, wieder gewonnen und sich einen Sitz im Neuen Regierungsrat der Kolonien erkämpft.“
„Und hat er eine Gabe?“
„Nun … vielleicht eine kleine.“
Mondon sah ihn auffordernd an.
Yanus seufzte. „Er hat ein spezielles Verhältnis zu Wassergeistern.“
Der Jüngste Prinz blinzelte. „Zu Meerjungfrauen?“
Yanus lachte etwas gepresst. „Nein. In den Kolonien werden Quellen, Flüsse und manche Areale der See von Lebewesen bewohnt, die an eine Mischung von Pferd und Seehund erinnern. Ein ungeübtes Auge verwechselt sie leicht mit gewöhnlichen Pferden.“
Mondons dünne Augenbrauen waren bis auf die Mitte seiner Stirn gewandert. „Ihr meint Seepferdchen?“
„Heißen sie hier in Wittland so?“, fragte Yanus verwundert.
„Die alten Frauen erzählen, sie hätten einst in den Quellseen im Wald gehaust. Die meisten von ihnen seien eher übelgelaunte Kreaturen gewesen, stets gewillt, Menschen Böses zu tun. In manchen Gegenden unseres Landes warnt man Kinder immer noch davor, sich nicht auf schwarze Pferde zu setzen, die in der Nähe von Gewässern herumstreunen.“
„In den Kolonien heißen sie anders. Mein Urgroßvater ist in der Lage, sie herbeizurufen. Er kann sie reiten, ohne von ihnen in einen See oder in einen Fluss verschleppt zu werden. Ist das eine Gabe?“
„Vielleicht. Wenn ich an Seepferdchen glaubte. Aber wir leben in aufgeklärten Zeiten. Meine Familie bemüht sich, gegen den Aberglauben vorzugehen, der immer noch große Teile der Bevölkerung zu Sklaven ihrer absonderlichen Bräuche macht.“
„Und Ihr seid nie auf die Idee gekommen, dass diese Bräuche berechtigten Grund haben könnten? Wesen, die halb Pferd, halb Mensch sind … Völker kleiner pelziger Gestalten, die unter der Erde Burgen und ganze Städte bauen … das alles tut Ihr als Aberglauben ab?“
„Ich habe die Berichte natürlich gelesen“, sagte Mondon – gefährlich leise. „Aber Wittland will sich nicht durch Rückständigkeit einen Namen machen. Wir erklären uns die mysteriösen Dinge anders. Wir wollen nicht mehr an Erdmännchen, Seepferdchen und anderes Gelichter glauben. Die Entdeckung, dass es in den Kolonien noch Teufel gibt, hat damals für genug Wirbel gesorgt. Ihr könnt Euch das nicht vorstellen: Plötzlich errichteten die Menschen Altäre, opferten böswilligen Geistern wieder Früchte, Blumen und Hirsebrei. Die Befreiung unseres Landes ist mit viel Blutvergießen einhergegangen. Jede Familie hat den einen oder anderen Teufel auf dem Gewissen. Meine Familie versucht seit Jahrhunderten, gegen diese perverse Art der Verehrung anzugehen.“
„Das tut mir Leid“, sagte Yanus.
Der Jüngste Prinz sah ihn mit säuerlichem Lächeln an. „Ihr profitiert von der Angst der Menschen. Oder jedenfalls von der Faszination, die nach all den Jahren immer noch vorhanden ist. Anson na Anbar ist so fest davon überzeugt, mit Euch einen unglaublich interessanten Mann zu besitzen, dass er sich mit Begeisterung in die Ausgaben stürzt. Wie lange musstet Ihr ihn belatschern?“
„Es war nicht meine Idee, Mondon. Ich wollte nur ein paar ruhige Tage in Seestadt verbringen. Und plötzlich war ich der Günstling des Stadtherrn, stand in diesem voll möblierten Haus und musste mich um repräsentative Maßnahmen kümmern.“
„Repräsentative Maßnahmen“, wiederholte Mondon verträumt. „Ach ja, der Pferdekauf. Rhonna na Parik brüstet sich immer noch mit seinem guten Geschäft und der Dummheit des Teufels.“
Yanus hatte einen bitteren Geschmack im Mund. „Rhonna na Parik wird es hoffentlich noch bereuen, dieses Pferd zu einem solchen Schleuderpreis verkauft zu haben.“
Mondon zog wieder die Brauen hoch. „Die na Parik können jederzeit einen Dämpfer gebrauchen“, sagte er dann. „Sie haben sich schon seit Jahrzehnten zu viel aus sich selbst gemacht.“
„Gehören sie zu den Sippen, die sich gegen die Monarchie stark machen – wie die na Qes?“
Mondon sah ihn erstaunt an. „Ihr habt offenbar die Bestrebung, Euch mit wittländischer Politik vertraut zu machen. Gratulation. Aber die na Qes und die na Parik stehen auf verschiedenen Ufern. Die na Parik schleusen immerhin noch Teile ihres Vermögens in die Schatzkammern meines Vaters, um meine Familie gütig zu stimmen. Die na Qes waren sich dafür stets zu fein.“ Er wandte sich dem stumm dasitzenden Arkos zu, dessen Ohren in den letzten Minuten scheinbar immer größer geworden waren. „Und die Familie na Anbar hat ihre Zahlungen in letzter Zeit auch ein wenig vernachlässigt.“
„Das solltet Ihr meinem Bruder vorwerfen, Mondon. Er hat die völlige Kontrolle über die Geldkatzen des Hauses na Anbar.“
Mondon lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Zeiten können sich ändern. Die Familie na Anbar wird von unseren Leuten genauestens beobachtet. Ich vermute, zur Zeit sehen sie es eher als Vorteil, ihr Geld in der Gesellschaft des Löwen anzulegen. Und in Stadthäuser für emporsteigende Teufel.“
Arkos zog die Achseln hoch. „Nicht meine Schuld – wie ich bereits sagte.“
„Aber Ihr könntet die ein oder andere Andeutung fallen lassen, nicht wahr?“
„Mein Bruder zeigt sich nicht sehr oft von mir beeindruckt, Mondon.“
„Er wird schon beeindruckt sein, wenn er hört, wen ihr heute Abend zufällig getroffen habt.“
Yanus und Arkos wechselten einen Blick. „Ja, vielleicht“, sagte Arkos gedehnt.
Mondon ächzte leise. „Jetzt sagt bloß nicht, Anson wüsste nichts von Eurem Aufenthalt in der Teufelshütte?“
„Teufelshütte?“
„Habt Ihr auch das nicht gewusst? Euer Haus hat bereits einen Namen bekommen. In Seestadt gehen solche Dinge sehr schnell. Ich glaube kaum, dass Anson sich darüber wundert, das sein ungehorsamer kleiner Bruder, dem er das Taschengeld verweigert, hier untergekrochen ist.“
„Ähm … zur Zeit bewohne ich Yanus’ altes Zimmer im Hungrigen Einhorn.“
Mondon schien für einen Moment zu erstarren. „Und ich bemühe mich, einen Skandal zu provozieren? Ihr beide seid tatsächlich talentiert.“
Yanus schoss das Blut ins Gesicht. „Ist es ein Skandal, wenn die Teufelshütte einen Königlichen Gast hat?“
Mondon grinste schief. „Halb Seestadt hat mich vorfahren sehen. Die Fischertavernen werden schon brodeln. Und natürlich wird auch mein Vater von meinem ungebührlichen Verhalten erfahren.“
Plötzlich nahm Yanus ein seltsames Gefühl im Raum wahr. Als hätten sie sich zu einer Verschwörung zusammengefunden: Teufel, Mensch und Jüngster Prinz.
Am nächsten Morgen sah Firusz aus, als habe man ihn bei Gewitter in die Spitze der höchsten Tanne gehängt.
„Ich lasse es nie wieder zu, dass du mir Zöpfchen machst!“, wetterte er Griça an.
Der Westländer lächelte schadenfroh in seine Hafergrütze. Von draußen quoll gelbes Licht durch die Fenster, krabbelte über die zerstochenen, vom Scheuern aufgerauten Tische.
„Es steht dir aber ganz gut“, sagte Morrie mit einem Anflug von Neid in der Stimme. „Ich wette, du kannst auch jede Art Hut tragen.“
Firusz zog eine Schnute. „Das habe ich noch nicht festgestellt. Und überhaupt: Wer will schon jede Art Hut tragen?“
Yanus fühlte sich wie einer dieser Krebse, die sich verlassene Seeschneckenhäuser suchen, um ihr ungepanzertes Hinterteil zu schützen. Ein Krebs, dem man das ohnehin nur geborgte Haus geklaut hatte. Mondon nistete sich ein – und plötzlich schien sich ganz Seestadt um diese wenigen Meter zu bewegen. Fast alle zehn Minuten klingelten katzbuckelnde Männer, die irgendein Begehr vorbrachten. Yanus stand mit tiefblauen Augenringen daneben. Mondon trug bei jeder dieser kleinen „Audienzen“ den merkwürdigen Hut. Yanus verstand, dass der Jüngste Prinz hinter dem Schleier Schutz suchte – eine zart geklöppelte Wand zwischen ihm und den herausgeputzten Bittstellern. Auch Anson na Anbar ließ sich von Zeit zu Zeit sehen, steckte mit Mondon die Köpfe zusammen. Yanus gewöhnte sich an, bei diesen Treffen das Haupthaus zu verlassen und in den Stall zu gehen, wo der fischäugige Hengst zwischen den Kutschpferden stand und so aussah, als könne er nie ein feuriges Reitpferd werden. Eines Tages, als Anson ihn praktisch aus dem Salon geschickt hatte, war Yanus so geladen, dass er sich das Zaumzeug aus der Sattelkammer schnappte und das Tier, das er unter so viel Gelächter erworben hatte, sah ihn erstaunt an. „Keine Widerrede“, zischte Yanus.
Der Hengst ließ sich zäumen und aus dem Stall führen. Yanus legte den Kopf schief – der Hengst legte den Kopf schief. In diesem Augenblick wallte eine wilde Art von Zuversicht in Yanus auf. Er konnte nicht viel. Aber manche Fähigkeiten waren eben angeboren.
VIII
Die Halbjahresklausuren fielen eher mittelmäßig aus. Qasimirs missmutiges Gesicht verfolgte die Einhornschüler wochenlang. Die Zensurlisten der anderen Gesellschaften, die das Erste Einhorn im Geschichtsunterricht vorlas, trugen ihren Teil zur gedrückten Stimmung bei. Sie alle merkten, wie zufrieden Qasimir die schamroten Gesichter seiner Schüler betrachtete. Die Einhörner lagen an zweitletzter Stelle.
„Findet ihr es fair, dass die Listen einer solch breiten Öffentlichkeit zugänglich sind?“, fragte Qarl verärgert. „Sie sollten die Regeln ändern.“
Griça, der die beste Klausur abgeliefert hatte, lächelte nachgiebig. Wie immer wunderte Firusz sich darüber, dass der Barbar das sanfteste Wesen in diesem Haus besaß.
Es war Frühling geworden, ganz langsam und unerwartet – plötzlich gab es auf dem Markt der Blauen Brücke Blumen zu kaufen. Qarl kaufte einen Strauß teure Zwiebelblumen, honigduftend, mit riesigen tiefrosa Blüten. Er stopfte sie in einen Milchkrug und stellte ihn auf den Lehrertisch. Wenig später betrat Qasimir den Raum. Alles in seinem Gesicht wurde weich. „Frühling“, seufzte Qarls großer Bruder. „Alles singt und brütet. Denkt daran: Ihr quält euch in diesem Haus, um später Familien ernähren zu können. Ihr werdet Frauen finden und Kinder in die Welt setzen. Das sollte euch Ansporn genug sein, fleißiger zu arbeiten, unserer Gesellschaft Ehre zu machen.“
Die Schüler wechselten Blicke.
„Reagiert er immer so sentimental auf frische Blumen?“, fragte Firusz beim Mittagessen.
Qarl zuckte die Achseln. „Sie sind eine seiner Schwächen. Ich dachte, er würde uns danken und keinen Vortrag über Familienplanung halten.“
Morrie häufte sich schon die zweite Portion Fleisch und Erbsen auf. „Wir müssen uns eben wirklich mehr anstrengen.“
„Ich glaube, er setzt unmöglich strenge Maßstäbe an“, murrte Qarl. „Ich habe mir die Zensurlisten aus Qasimirs Schülerzeit angesehen.“
„Und?“
„Er war ein Streber“, sagte Qarl mit vollem Mund. „Und wahrscheinlich hat ihn schon damals die ganze Klasse gehasst. Manche Menschen sind eben einfach für den Schuldienst geboren.“
Firusz senkte den Kopf. Als er seinen Cousin vor wenigen Tagen in der Teufelshütte besuchte, hatte er Yanus mit Schweiß und Dreck verklebt auf dem kleinen Reitplatz angetroffen, wo er ein blitzblankes Pferd um sich herumtraben ließ, gesattelt und gezäumt und offensichtlich hochzufrieden. Yanus hatte hin und wieder die Peitsche schnacken lassen und seinen jüngeren Cousin flüsternd davon in Kenntnis gesetzt, dass Anson und Mondon sich erst vor wenigen Stunden intensiv über die Zukunft der Einhörner ausgetauscht hatten. Beide hielten Qasimir na Qes für einen Querulanten, für entschieden zu hoch gebildet und mit viel zu modernen Ansichten. Teufel und Barbaren waren sicher ganz amüsant, aber sollten sich doch bitte durch besondere Leistungen auszeichnen, um ihre Mitgliedschaft in einer Handelsgesellschaft zu rechtfertigen. Firusz erinnerte sich daran, dass er bleich vor Wut geworden war. Und sich fragte, warum eigentlich. Mochte er Qasimir na Qes überhaupt? Er mochte Qarl, so viel war klar. Deshalb fühlte er sich wohl für den guten Ruf der na Qes verantwortlich. Er hatte auf den Boden gestarrt und Yanus nach den Fortschritten des Hengstes gefragt. Yanus senkte wortlos die Peitsche. Sofort war das Pferd stehen geblieben und hatte ihn erwartungsfroh angesehen. „Gestern habe ich ihn zum ersten Mal geritten“, hatte Yanus gesagt.
Inzwischen hatte Yanus einen Namen in die Papiere eintragen lassen. Rhonna na Parik Senior sah den Grafen de Liarette erstaunt an. „Wie kommt Ihr ausgerechnet auf diesen Namen?“, hatte er gefragt.
„Einer meiner Vorfahren hieß so“, hatte Yanus geantwortet.
„Nun … das Wort elaya bezieht sich auf einen uralten Mythos. Die Geschichte der Entstehung dieser Welt. Elaya bezeichnet den ersten Sonnenaufgang der Schöpfung. Wollt Ihr einen so bedeutsamen Namen an ein Pferd verschwenden?“
Yanus verschwendete den Namen plangemäß. Der Hengst dankte ihm die Großzügigkeit mit Arbeitseifer. Unter den Augen des Jüngsten Prinzen ritt Yanus eine leichte Trainingseinheit.
„Ihr habt dem Ruf der Teufel Ehre bereitet“, sagte Mondon schließlich. „Erstaunlich.“
„Ich habe meiner Familie schon früh bei der Zucht geholfen“, sagte Yanus.
Mondon hatte den Schleier zurückgeschlagen, um besser sehen zu können. „Er gefällt mir“, sagte er. „Ich werde veranlassen, dass Euch gute Stuten zugeführt werden.“ Der Jüngste Prinz wandte sich ab und ging ins Haus zurück.
Yanus klopfte den Hals des jungen Pferdes, der sich in den letzten Wochen zu einer perfekt geformten Welle ausgebildet hatte. „Na also.“
Die wenigen Bäume, die Seestadts Straßen begrünten, begannen zu blühen und streuten ihren aufwühlenden Duft in die Stadt. Wenn die Einhornschüler abends noch aus dem Haus gingen, um sich ein wenig Bier und Privatsphäre zuzuführen, spürte Firusz dieses merkwürdige Prickeln, das seinen Körper überlief. Seine Nächte begannen unruhig zu werden. Ein Glück, dass Morrie so tief schlief. Firusz bemerkte, dass er anfing, die Mädchen anzustieren – manchmal erwischte er sich dabei, dass er scheinbar schon minutenlang auf die Kehrseite der Wirtsfrau starrte. Wenigstens erging es Qarl ähnlich. Obwohl er größeres Interesse an den vorderseitigen Auswölbungen bekundete. Dass Morrie völlig unbewegt schien, fand Firusz nicht weiter seltsam, aber Griças abgebrühte Art fand er irgendwie beleidigend.
„Du könntest auch ruhig ein bisschen sabbern“, sagte er eines lauschigen Abends.
Griça sah ihn gelassen an. „Wozu? Ich werde dieses Mädchen nie in meinem Bett haben.“
„Darum geht es doch gar nicht“, regte Firusz sich auf. „Kannst du es dir nicht wenigstens vorstellen …“
Plötzlich huschte ein Grinsen über das blasse Gesicht des Westländers. „Im Gegensatz zu euch anderen bin ich nicht frei, Firusz.“
Der Halbling zog die Stirn kraus. „Nicht frei?“
„Im Lager meiner Sippe gibt es ein Mädchen, dem ich versprochen bin.“
„Du bist verlobt?“
„Ja, ich glaube, so nennt man das“, sagte Griça mit sanfter Ironie.
„Seit wann?“
„Seitdem ich zwei Jahre alt bin.“
Firusz starrte ihn entgeistert an. „Was?“
„Westländer verloben sich traditionsgemäß recht früh. Für alle Fälle, falls die Väter sterben, bevor sie alles Nötige in die Wege leiten können. In Westland legt man noch Wert auf die gute alte arrangierte Ehe.“
„Das ist ja furchtbar!“
„So, findest du?“ Griça hob die breiten Schultern. „Es entbindet mich von so mancher Pflicht – und es schützt mich vor Versuchungen. Eine Hürde habe ich bereits genommen. Ich weiß, mit welcher Frau ich meine Söhne zeugen werde. Würdest du das nicht auch gern von dir behaupten?“
„Nein“, sagte Firusz fest und dachte im gleichen Moment: Aber es wäre schön, ein Mädchen zu haben, das sich freiwillig küssen lässt. Und welches ehrbare Mädchen tut das ohne Verlobung? „Ist sie wenigstens nett?“
„Manchmal“, sagte Griça spöttisch. „Wenn sie ihren Willen bekommt. Aber sie ist sehr hübsch. Und stark.“
„Stark?“, fragte Firusz verwundert.
„Die Frauen der Westländer sind für das Lager zuständig, wenn die Männer auf Jagd sind. Sie müssen Pferde hüten, Handel treiben, Felle gerben, Schafe scheren und das Lager verteidigen. Westländer haben eine Schwäche für wehrhafte Geschöpfe.“
„Du auch?“
Griça lachte. „Vielleicht wirst du sie eines Tages kennen lernen. Dann kannst du mir sagen, ob sie es wert ist.“
Qarl wurde blass. „Unmöglich. Griça verlobt. Gott, der Glückspilz.“
„Du bist neidisch?“
„Natürlich bin ich neidisch, Firusz. Sieh uns doch an. Welches Mädchen lässt sich mit Männern ein, die Schülerroben tragen? Hässliche, entwürdigende Schülerroben? Nein, ich fürchte, wir haben nur eine Wahl. Geld sparen und in die Gelbe Gasse gehen.“
„Die was?“
„Man kann alles bekommen, wenn man bezahlt, Firusz. In Seestadt liegen die einschlägigen Häuser in der Gelben Gasse. Und die Apothekerläden, die sich auf Geschlechtskrankheiten spezialisiert haben, ebenfalls.“
„Ich werde mir kein Mädchen kaufen“, protestierte Firusz. „Und überhaupt hätte ich nie das Geld dazu.“
„Das kommt ganz drauf an. Wenn man Glück hat, freuen sie sich über einen jungen Mann mit ausgeprägtem Spieltrieb und gewähren Preisnachlass.“
Firusz wurde rot. „Hast du … ich meine … ähm … hast du?“
Qarl zog die Nase hoch. „Ein paar Mal. Wenn es gar zu schlimm war.“
„Gehört das in Wittland zum guten Ton?“, flüsterte Firusz aufgeregt.
„Nein.“ Qarl lachte. „Aber es hilft, Verbrechen vorzubeugen. Wenn du willst, können wir mal einen Ausflug wagen.“
Firusz sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Das ist eklig.“
„Du musst es wissen“, sage Qarl. „Aber ganz unter uns: Ich glaube kaum, dass es viele Mädchen in Wittland gibt, die sich ohne Bezahlung unter einen Teufel legen.“
Morrie erstarrte, als Firusz die Gelbe Gasse erwähnte.
„Keine sehr vornehme Gegend“, sagte er schließlich. „Du musst es nötig haben.“
Firusz sah ihn verärgert an. „Soll man denn gar keine Erfahrungen machen?“
„Nicht als Kontorsschüler.“ Plötzlich sah Morrie unfreundlich aus. „Aber du weißt wohl selbst, was gut für dich ist.“
„Qarl dachte, du würdest vielleicht mitkommen wollen.“
„Warum fragst du nicht Griça?“
„Griça kann nicht – er ist verlobt.“
„Das hält nur wenige Leute ab“, sagte Morrie zynisch. „Am besten geht ihr ohne mich. Ich wäre euch nur im Wege.“
„Bist du denn gar nicht neugierig?“
„Doch. Aber nicht verzweifelt genug.“
Dass Morrie so zurückhaltend reagiert hatte, schien Qarl nicht sehr zu verwundern. „Er ist eben noch nicht so weit. Eines Tages wird er es schon verstehen.“
Firusz nahm einen langen Zug schwarzen Bieres. „Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass Morrie sich nichts aus Frauen machen könnte? Vielleicht mag er Männer.“
Qarl bekam eine weiße Nasenspitze. „Musst du das so durch den Raum brüllen? Ich weiß ja nicht, wie das bei euch in den Kolonien gehandhabt wird, aber hier in Wittland gibt es Gesetze gegen Widernatürlichkeit.“
„Widernatürlichkeit …“ Firusz schnippte gegen seinen Bierkrug. „Nun … in den Kolonien ist das nicht ganz so streng. Ich kenne ein paar Leute, die …“
„Firusz!“ Qarl knirschte mit den Zähnen. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Über diese Dinge zu reden, ist gefährlich. Sehr gefährlich.“
„Aber über die Gelbe Gasse darf man einfach so sprechen?“
„Die Gelbe Gasse hat nichts mit Widernatürlichkeit zu tun. Tust du nur so, oder bist du so blöd? Entschuldige, Firusz. Wir sollten unser Bier trinken und verschwinden. Ich glaube, man guckt uns schon komisch an.“
Firusz lehnte sich gegen den Weidezaun. „Hast du gewusst, dass das hier so schlimm ist?“
Yanus, das Gesicht mit Dreck verschmiert, bückte sich unter den Bauch des Hengstes, um die Hufe zu inspizieren. „Es ist eben ein ganz anderes Land.“
Firusz wischte sich das Haar aus dem Gesicht. „Ich mache mir Sorgen um Morrie.“
Yanus richtete sich auf. „Du machst dir keine Sorgen, weil du mit ihm in einem Bett schläfst?“
Firusz sah ihn kalt an. „Morrie ist nicht so. Selbst wenn …“
„Dann solltest du mit ihm reden.“
„Sag mal, hast du eigentlich … je dafür bezahlt?“
Yanus ordnete die Mähne des Hengstes. „Wofür?“
„Na, dafür.“
Yanus sah plötzlich wütend aus. „Nein. Das könnte ich Elisa nicht antun.“
Firusz kratzte sich an der Nasenspitze. „Tante Elisa hat sich nie für dich interessiert. Sie ist glücklich verheiratet und hat vier Kinder.“
Yanus zog sich in den Sattel. Der Hengst kaute jetzt schon auf dem Gebiss. „Das tut nichts zur Sache. Wenn man liebt, dann liebt man eben. Auch wenn … die Frau nichts von einem wissen will.“
„Du hattest Angst, nicht wahr?“
Yanus antwortete nicht, er begann sein Pferd aufzuwärmen. Firusz sah, wie geübt sein Cousin mit den Bewegungen des Tieres mitging. Firusz ahnte, dass Yanus in den Fragen, die ihn gerade am meisten beschäftigten, keine große Hilfe sein würde. Ein Stallknecht brachte ein zweites Pferd.
Sie trabten unter den blühenden Bäumen entlang. Die Pferde gingen fleißig vorwärts, Firusz sah sich bewundernd die Häuser der Kaufmannsfamilien an: hohe Giebel, reich beschnitzte Türen mit Griffen in der Form von Fabelwesen. Die Gärten waren voll mit geschnittenen Buchsbaumhecken und kegelförmigen Eiben. Pfauen staksten über Kieswege, Windhunde lümmelten in der Frühlingssonne herum. „Eigentlich ist es doch ganz schön in Seestadt“, sagte Firusz zufrieden.
Yanus sah verkniffen aus. Er fühlte sich auch verkniffen. Die Erinnerung an Elisa tat so weh, dass er glaubte, man habe ihn in ein Korsett gestopft und die Schnüre so fest gezogen, dass die Rippen im Begriff waren zu brechen. Elisa … der Abend, an dem er vor ihrem Zimmer gestanden hatte, betrunken und mit aufgebissenen Lippen. Er wusste, dass sie ablehnen würde, aber das Wichtigste war, zu fragen. Es von der Seele zu haben, damit sie wusste, wie es um ihn stand. Elisa hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er dachte, sterben zu müssen. Gleich da auf der Türschwelle. Dass Firusz seiner Tante manchmal ähnlich sah, ließ Yanus’ Kehle eng werden. Neben ihm durch die Stadt zu reiten war nicht so angenehm, wie er geglaubt hatte. Aber Firusz ging ganz darin auf, die Nachbarschaft anzugaffen – und die Dienstboten gafften zurück. Zwei Teufel auf eleganten Pferden. Jetzt hatte man auf Tage etwas zu reden.
„Ihr seid vergnatzt“, stellte Mondon beim Abendessen fest.
Yanus, noch immer nicht ganz sauber im Gesicht, legte den Suppenlöffel nieder. „Ich hasse Verwandtschaft.“
„Euer Vetter hat sich daneben benommen?“, fragte der Jüngste Prinz.
„Ich fürchte, er plant, sich daneben zu benehmen. Es ist furchtbar, wenn man vorgewarnt ist.“
Der Jüngste Prinz gähnte. „Das gilt auch für die Königliche Familie. Ihr würdet nicht glauben, was für Summen der Königliche Schatzmeister Jahr für Jahr locker machen muss, um Außenstände zu begleichen.“
Yanus knirschte mit den Zähnen. „Wenn er mir das antut, schicke ich ihn heim, egal wie sehr er zappelt.“
„Junge Männer müssen eben ihre Erfahrungen sammeln.“ Mondon lächelte breit.
Yanus stocherte in seiner Suppeneinlage herum. „Ja, ich vermute mal.“
Mondon beugte sich über den Tisch. „Am Hof werdet auch Ihr eine Dame finden, die Euch zusagt.“
„Sei froh, dass Qasimir dich überhaupt noch in die Teufelshütte gehen lässt“, sagte Qarl.
„Ich glaube, im Augenblick könnte ich gut darauf verzichten. Er wird komisch, sobald man meine Tante erwähnt und bleibt den ganzen Tag muffig.“
„Nun … eines Tages benimmst du dich vielleicht ähnlich. Hoffentlich.“ Qarl füllte seine Milchschale. „Ich möchte mich verlieben. Vorzugsweise glücklich. Stell dir vor: Eine Frau, für die man alles geben will.“ Er fuhr sich durch das abstehende Haar. „Man müsste auch kein Taschengeld sparen.“
Firusz zog die Brauen hoch. „Wer weiß, welche geldgierige kleine Katze du erwählst?“
Qarl grinste ihn an. „Nun … der Kopf hat ja immer noch ein bisschen mitzureden.“
„Jedenfalls anfangs.“ Sie prosteten sich mit Milch zu.
Morrie saß länger als sonst an der Hausaufgabe. Die Kerzen waren schon ganz heruntergebrannt und ließen einen warmen Schein ins Zimmer schwirren. Firusz, satt vom Abendessen und schon schläfrig, drehte sich noch einmal um. Morrie hatte von der Tinte schwarze Finger. Das Papier raschelte auf dem Schreibtisch.
„Morrie …“
„Was denn?“
„Darf ich dich was fragen?“
Morrie strich sich mit beiden Händen das Haar hinter die Ohren. „Na los.“
„Es ist eine ziemlich peinliche Frage.“
Morrie stöhnte auf. „Ach, ja. Die Antwort ist ‚nein’, Firusz. Ich halte es nur für falsch, sich einer Neigung wegen schmutzig zu machen.“
„Schmutzig?“
„Qarl hat dir da einen Floh ins Ohr gesetzt.“
„Ich weiß.“ Firusz zog sich die Bettdecke bis zum Kinn. „Aber es ist ein hartnäckiger Floh. Ich bin neugierig geworden, verstehst du das nicht?“
„Glaubst du, ich bin nicht neugierig? Aber es hat noch ein bisschen Zeit.“
„Ich bin alt genug.“
Morrie schnippte an seine Schreibfeder. „Und alt genug, um zur Verantwortung gezogen zu werden, falls etwas schief geht.“
„Warum bin ich so dumm?“, beklagte sich Morrie zwei Abende später.
Sie waren alle in Zivil, mit dunklen Kappen und ein paar Münzen im Stiefel. Qarl – verwegen und überhaupt nicht nervös – bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth von leergekauften Bauernkarren und zerbrochenen Fässern. Morrie hatte recht gehabt. Es war keine sehr vornehme Gegend. Langsam fiel die Dämmerung über die Stadt; Firusz bekam das Gefühl, einer Zivilisation beim Zerfall zusehen zu müssen. Um die Blaue Brücke herum war Seestadt sauber und respektabel. Die Gelbe Gasse stank und war nur sehr schummerig von Laternen beleuchtet, denen man gelbes Wachspapier umgeklebt hatte. Alle Menschen sahen kränklich aus, als seien sie Teil der Schatten. Einen Vorteil gab es: Firusz war gut getarnt. Niemand schien sich über die jungen Männer zu wundern. Vermutlich erhielten hier alle Jünglinge von Seestadt ihre ersten Einweisungen in die körperlichen Freuden. Firusz hämmerte das Herz bis in die Nasenspitze. Der Geruch von Schweiß, beanspruchtem Leder und Käsefüßen war überwältigend.
„Warum bin ich hier?“, fragte Morrie.
„Weil du ein guter Freund bist. Wir brauchen jemanden, der Schmiere steht.“ Qarl sah sich um. „Es ist nicht mehr weit.“
„Solange du deinem Bruder erklärst, was wir hier gesucht haben“, zischte Morrie.
Firusz biss sich auf die Lippen. „Wenn Yanus das rauskriegt, schickt er mich bestimmt gleich nach Hause.“
Qarl klopfte ihm auf die Schulter. „Wozu bereist man ein fremdes Land?“, fragte er.
Das Etablissement, das Qarl im Sinn hatte, sah unauffälliger aus als die meisten Häuser der Gelben Gasse. Es gab keine Schilder, keine Fahnen. Das einzige, was es von den umliegenden Häusern unterschied, war das Wandbild unter dem Erkerfenster. Firusz starrte es fasziniert an. Es zeigte einen Hirsch, der von dem Baum fraß, der ihm aus dem Hintern wuchs.
Morrie ächzte. „Der dumme Hirsch?“
Firusz schluckte. „Was ist mit dem Dummen Hirsch?“
„Dieses Haus ist ziemlich berüchtigt. Die Mädchen hier sind sich für nichts zu schade.“
Qarl grinste, schob sich die Kappe in den Nacken. „Und nach den letzten veröffentlichten Statistiken ist es das gesündeste der ganzen Stadt.“
Morrie schniefte. „Die Statistiken sind gefälscht. Das weiß doch jeder.“
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, setzte Qarl ihm entgegen. „Los – wir gehen rein.“
Firusz hatte sich einen solchen Ort immer sehr rot und plüschig vorgestellt. Statt dessen erwartete sie eine in Minzgrün gestrichene Eingangshalle. Exotische Pflanzen in Töpfen standen überall herum. Der breit gebaute Mann, der den Eingang bewachte, wies sie auf die Tür zur Rechten hin. Gelächter quoll ihnen entgegen.
Sie betraten das Kaminzimmer des Hauses. Auf den niedrigen Sitzmöbeln saßen junge Männer mit Weingläsern und Kuchenstücken in den Händen. Es waren auch Frauen anwesend, aber keine einzige war auch nur annähernd nackt. Eine von ihnen, zugeknöpft bis zum Hals, geleitete sie zu einem freien Sofa. Abgesehen vom Kamin wurde das Zimmer durch viele teure, nach Honig duftende Kerzen erhellt. Porzellanstelen mit Blumengestecken schnitten den Raum in viele kleine Zimmer.
„Das ist ja enttäuschend zahm“, fand Morrie.
„Es ist ja auch noch früh.“ Qarl nahm die Kappe ab. „Die Mädchen sind bestimmt noch im Ersten Stock.“
Firusz versteckte seine kaltschweißigen Hände zwischen den Knien. „Und das alles nur, weil Frühling ist.“
Aus der Eingangshalle hörte man Männerstimmen. Jemand schwatzte mit dem Türwächter. Qarl drückte interessiert ein paar Hyazinthen beiseite. Der Mann, der durch die Tür kam, war Arkos na Anbar, komplett mit riesigem Federhut.
Firusz stieß ein kleines Wimmern aus. „Es ist vorbei …“
Qarl knuffte ihn in die Seite. „Glaubst du, Arkos ist hier, um uns zu suchen? Ganz sicher nicht. Er will auch seinen Spaß haben.“
Arkos hatte die drei Kontorsschüler sofort entdeckt. Das Grinsen reichte ihm fast bis zu den Ohren. „Sieh einer an. Das erste Mal im Hirsch?“
„Ja“, sagte Firusz unglücklich.
Arkos ließ sich neben ihn fallen und zog sich die Handschuhe von den Fingern. „Dein Cousin ist für solche Unternehmungen ja leider gar nicht zu haben“, klagte er. „Es wird dir gefallen. Die Mädchen hier sind an ungeschickte junge Herren gewöhnt. Die meisten fangen im Hirsch an und arbeiten sich dann nach oben. Oder nach unten, ganz nach Geschmack.“
„Wann kommen die Mädchen?“, fragte Morrie skeptisch.
„Trinken wir doch erst eine oder zwei Flaschen Wein“, sagte Arkos.
„Dafür reicht unser Geld nicht“, gab Qarl zu.
„Ich gebe die erste Flasche aus“, versprach Arkos und winkte eines der angezogenen Mädchen heran. Sie bekamen sofort Gläser und eine Platte mit Kuchen.
„Dafür hat es sich dann doch gelohnt“, sagte Morrie mit vollem Mund.
Arkos prostete ihnen zu, dann nahm er den Hut ab. „Wie ich sehe, bist du durchaus traditionsbewusst“, sagte er zu Qarl. „Soweit ich weiß, haben die na Qes all ihre Sprösslinge in den Hirsch geschickt, um ihnen weltmännische Sicherheit zu verleihen. Dein Bruder hat sich allerdings ziemlich angestellt, wenn ich mich recht erinnere.“
Qarl runzelte die Stirn. „Mein Bruder?“
Arkos tippte sich an die Nasenspitze. „Qasimir hatte wahrscheinlich zu viel getrunken. Er hat es nicht mal mehr auf eines der Zimmer geschafft. Am nächsten Morgen fand man ihn in der Gelben Gasse, mit dem Gesicht im Schlamm. Gott weiß, was er am Tag zuvor gegessen hatte, jedenfalls hatte er die halbe Gasse zugekotzt. Ich weiß nicht, ob es jemals eine zweite Initiation für ihn gab.“
„Initiation?“, fragte Firusz neugierig.
Qarl hatte rote Flecken im Gesicht. „Die Sippenobersten geben das erste Mal aus.“
„Oh. Wirklich?“
Arkos stellte das leere Glas ab. „Die na Qes vertreten die Ansicht, es sei besser, ihre Mitglieder kontrolliert ins Erwachsenleben zu entlassen.“
Firusz sah Qarl neidisch an. „Mein Vater wird entsetzt sein, wenn ich ihm von diesen Sitten erzähle. Und? Gab es eine zweite Initiation für deinen Bruder?“
Qarl schüttelte den Kopf. „Nicht, soweit ich weiß.“
„Vielleicht ist er deshalb so anstrengend“, mutmaßte Morrie.
„Ich glaube, das ist wohl eher sein persönlicher Charakter“, sagte Qarl düster.
In diesem Augenblick schwebten die Mädchen ins Kaminzimmer. Firusz ließ vor Schreck sein Glas fallen – Qarl fing es gerade noch auf.
Die Mädchen waren nicht ganz nackt – aber viel fehlte nicht.
Morrie sah aus, als wolle er Qasimir na Qes’ leuchtendem Beispiel folgen. „Es sollte verboten werden, so wenig anzuhaben“, fand er.
Firusz war nicht seiner Meinung.
Zwei der Mädchen kamen auf sie zu, offenbar mit der Absicht, sich zu ihnen zu setzen. Eine hatte schwarze, die andere rote Haare. Beide trugen hauchdünne Kleider, durch die tatsächlich alles sichtbar war.
„Heute ist unser Glückstag“, schnurrte die Rote. „Nur hübsche junge Kerle.“ Sie langte hinüber und strich Morrie eine Strähne hinters Ohr. Der na Carran fuhr zurück, als habe ihn eine Echse angespuckt.
„Und schüchtern“, sagte die Dunkle. „Das mag ich besonders gern.“
Die Mädchen lächelten einladend. Die Männer auf der Couch lächelten zurück. Dann schrie die Rote auf. „Ein Teufel – ein Teufel!“
Sofort herrschte Totenstille. Blumengestecke wurden beiseite geschoben. Ein Wächter stürzte aus der Ersten Etage hinunter. Die Mädchen wichen zurück, alles starrte Firusz an.
„Das war wohl doch keine so gute Idee“, flüsterte Qarl.
Aus einer Seitentür betrat eine Frau mit streng zurückgekämmtem Haar den Raum. Sie war alt und rappeldürr. Ihr graues Kleid war aus Seide und rauschte wie das Wilde Meer. „Im Dummen Hirsch werden keine Teufel bedient“, sagte sie kalt. „Dies ist erwiesenermaßen das gesündeste Haus der ganzen Stadt. Ich werde diesen Ruf nicht aufs Spiel setzen.“
Arkos sah sie wütend an. „Der Junge möchte doch nur ein bisschen Spaß haben.“
„Soll ich von meinen Mädchen verlangen, dass sie sich von einem Teufel anfassen lassen? Sie wären für immer ruiniert.“
Arkos stand auf. „Ich verbürge mich für ihn.“
„Darum geht es nicht“, sagte die Alte. „Fragt die Mädchen doch selbst.“
Arkos sah die Mädchen auffordernd an. Sie standen alle in der gleichen Haltung da: die Arme schützend vor den Brüsten verschränkt. Eine nach der anderen schüttelte den Kopf.
Qarl zog Firusz auf die Füße. „Euch entgeht das Geld dreier Männer“, zischte er.
„Vierer Männer“, setzte Arkos hinzu. „Komm Firusz, wir holen uns im Faulen Kater was Ordentliches zu essen.“
„Es tut mir Leid“, sagte Arkos, als sie draußen auf der Gelben Gasse standen. „Ich wusste nicht, dass Huren sich Hochnäsigkeit leisten können.“
Qarl kochte vor Zorn. „Ich werde jedenfalls nie wieder in den Hirsch gehen“, sagte er leise.
Morrie wirkte eher erleichtert. „Nimm es nicht so schwer, Firusz. Du solltest dich sowieso erstmal verlieben. Die traditionelle Reihenfolge einhalten.“
„Wohl eher die ideale Reihenfolge“, sagte Arkos düster.
Wenigstens war das Stück, das an diesem Abend im Faulen Kater gegeben wurde, nach ihrem Geschmack. Sie saßen mit hochgelegten Füßen da und stopften sich Brathuhn mit Anisbrot in die Kehlen. Während sich auf der Bühne Frauen prügelten, versuchte Firusz das bittere Gefühl hinunterzuwürgen. Selbst Huren ließen sich nicht anfassen … in ganz Wittland gab es sicher kein Mädchen, das ihn an sich heran ließ. Er würde als Jungfrau sterben, wenn er nicht in die Kolonien zurückging, wo Halblinge als attraktiv galten. Attraktiv und haltbar, dachte er enttäuscht. Mit fünfzig Jahren werde ich nicht anders aussehen als jetzt und immer noch so weit sein. Ich ende wie Yanus – Gott bewahre.
Qarl sah ihn besorgt von der Seite an. „Wenigstens bekommst du jetzt keinen Ärger von deinem Vetter.“
„Ich hätte ein wenig Schimpfe schon auf mich genommen“, sagte Firusz. „Stell dir vor – sie hatten sogar mit Morrie keine Probleme!“
„Sie hatten Angst, das hast du doch gesehen.“
„Dachten sie, sie müssten sterben, wenn sie mich berühren?“
„Ich weiß nicht. Frauen sind komisch.“
Zwei Tage nach dem Desaster im Dummen Hirsch rief Qasimir na Qes seinen teuflischen Schüler zu sich. „Ich habe da eine kleine Extrahausaufgabe für dich. Hier ist eine Liste mit Literatur. Ich möchte, dass du die große Geschichtsarbeit über die Klischees schreibst, die Frauen Jahrhunderte lang an ihre Töchter weitergaben. Du wirst verstehen, wenn du dich eingehender mit diesen Dingen befasst hast und weißt, woher die Vorurteile stammen.“
„Hat Qarl gepetzt?“, wollte Firusz bestürzt wissen.
Qasimir lächelte eigenartig. „Wie immer unterschätzt Ihr Seestadts Interesse an faszinierenden Gesprächsthemen. Die Vögel singen es von den Bäumen, Firusz. Eines Tages wirst du dankbar sein.“
„Mal sehen“, sagte der Halbling böse.
IX
Yanus hatte wochenlang auf diesen Moment gewartet. Und dann war er doch so schnell vorbei. Yanus ritt im versammelten Galopp die Allee zur Oberstadt hinauf. Der Gegenwind blies ihm die Mähne des Pferdes über die Fingerknöchel, eine Kutsche kam ihm entgegen; er ließ den Hengst auf dem weichen Grasstreifen weitergaloppieren. Die Kutsche kam schlitternd zum Stehen, Rhonna na Parik Senior und sein Junior streckten die Köpfe so weit aus dem Fenster, dass das Gefährt in Gefahr war zu kippen. Yanus hob grüßend die Hand an die Stirn und ritt weiter. Erst wenige Minuten später spürte er die prickelnde Woge, die über ihn hinwegging. Mondon wohnte bei ihm im Haus, hatte seinem Hengst Stuten zuführen lassen: Ein Schlag ins Gesicht der na Parik. Yanus würde Zeichnungen anfertigen lassen und in die Kolonien schicken – von Fohlen, seinen eigenen Stuten, den Hengsten, die er dazukaufen würde. Vielleicht konnte er sich eines Tages ein Haus auf dem Lande leisten … bereits jetzt hatte er vier schriftliche Anfragen auf seinem Schreibtisch. Der Tagesablauf seines Hengstes war verplant, die außergewöhnliche Farbe des Tieres sagte den neureichen Herren von Seestadt zu. Yanus konnte die Blicke der na Parik noch immer im Nacken spüren. War es seine Schuld, dass der Jüngste Prinz Engagement und Optimismus zu schätzen wusste? Dass er täglich Abgesandte von anderen reichen Familien empfing, die den Graf aus den Kolonien, das neuste Wunder der Stadt, auf dem Reitplatz sahen, in ihre Häuser zurückkehrten und Bericht erstatteten? Seestadt arbeitete für diesen Teufel. Wenn Yanus abends Einladungen annahm, prügelten sich die Stallburschen darum, ihm das Pferd abnehmen zu dürfen. Kein Wunder, dass die na Parik brodelten. Kein Wunder, dass es bereits Gerüchte gab, die ihm eine Zukunft als Königlicher Gestütsmeister malten. Yanus parierte durch, ließ den Hengst das letzte Stück zum Stall im Schritt abkühlen.
Zuhause erwarteten ihn Arkos na Anbar und Mondon vor einer mächtigen Fleischpastete. Seçil nahm seinem Herrn den Reitmantel ab. „Neuigkeiten?“, fragte er.
Mondon hob seine Teetasse. „Es sieht so aus, als sei Qarl na Qes kein guter Umgang für deinen jungen Vetter.“
Yanus setzte sich. „Was haben sie angestellt?“, wollte er wissen.
Arkos hob die Schultern. „Gar nichts. Aber ich rate dir, nicht selbst auf Streifzug durch die Gelbe Gasse zu gehen. Wenn dort so schnell ein zweiter Teufel auftaucht, gibt es sicher Mord und Totschlag.“
Seçil reichte seinem Herrn ein Stück Pastete. Yanus nickte ihm dankbar zu. „Etwas Ähnliches zeichnete sich schon ab.“
„Seestadt hat ihn zur Enthaltsamkeit verdammt“, sagte Mondon.
„Geschieht ihm ganz recht. Kontorsschüler sollten andere Steckenpferde haben. Ihr meint, Qarl na Qes sei daran schuld?“
Arkos schüttelte den Kopf. „Es ist Frühling. Ich denke, es liegt an dem Duft, der durch die Straßen weht – Seestadt ist nun einmal eine Hafenstadt und leider gibt es verschiedene Gerüchte über Hafenstädte, die nur allzu wahr sind. Er hat nur das tun wollen, was alle Männer in seinem Alter tun wollen.“ Arkos kratzte sich unter dem rechten Auge. „Ich fürchte, dieses Erlebnis hat ihn ganz schön mitgenommen. Und wie ich Qasimir na Qes kenne, wird er nicht viel unternehmen, damit der Junge sich besser fühlt.“
Mondon lehnte sich bequem zurück. „Eines Tages wird er verstehen, weshalb er hier solche Probleme hat. Du wirst es bei Hofe leichter haben.“
Yanus lächelte. „Ich möchte es gar nicht so leicht haben. Die Männer meiner Familie sind stets an Widerstand gewachsen.“
Arkos und Mondon wechselten einen Blick, dann gab Arkos dem wartenden Seçil einen Wink. Dieser legte einen gesiegelten Brief vor seinen Herrn hin. Das Papier war gelblich und hatte einen edlen seidigen Glanz.
„Was ist das?“ Yanus wischte sich die von der Pastete fettigen Finger auf den Oberschenkeln ab, nahm den Brief vorsichtig auf.
„Mein Vater lädt dich für den Sommer in seinen Palast ein“, sagte der Jüngste Prinz. „Das widerfährt nur Wenigen. Arkos’ Bruder hatte erst einmal das Vergnügen, obwohl er meine Familie jedes Jahr großzügig beschenkt.“
Yanus schluckte. „Was heißt das genau?“, würgte er schließlich hervor.
„Im Wesentlichen heißt das: Du erhältst für einen Sommer ein Haus in der Palastanlage. Du wirst bei Hofe unterhalten und verköstigt. Es kann durchaus anstrengend werden, aber für gewöhnlich wagt niemand, sich zu beklagen.“ Mondon prostete ihm mit Kräutertee zu „Es sieht so aus, als hättest du es in diesem Land zu etwas gebracht.“
Es in diesem Land zu etwas gebracht zu haben, hatte unübersehbare Nachteile. Die Gerüchteküche wusste schon bald, wie viel Yanus dem Seneschall des Königs gezahlt hatte, um sich sein Privileg zu erkaufen, wusste von den teuflischen Versprechungen, die er dem Jüngsten Prinzen gemacht hatte. Es gab sogar vereinzelte Stimmen, die von widernatürlichen Vorkommnissen sprachen. Die Gerüchte verbreiteten sich mit solcher Vehemenz, dass selbst der in der Bibliothek vergrabene Firusz Kenntnis davon bekam. Morrie erzählte es ihm hinter vorgehaltener Hand.
„Yanus hat ganz sicher kein Verhältnis mit dem Jüngsten Prinzen!“, regte sich Firusz auf.
„Ja, aber man wundert sich, dass man ihn noch nicht in der Gelben Gasse erwischt hat.“
„Yanus ist einfach nur ein anständiger Mensch. Äh, Teufel. Zur Zeit sind ihm Pferde wichtiger als Frauen.“
Morrie tippte sich mit der Schreibfeder ans Ohr. „Ganz wie du meinst.“
Firusz brauchte einige Minuten, bis er die Ruhe fand, sich wieder auf seine Notizen zu konzentrieren. In den Büchern, die Qasimir ihm überlassen hatte, war viel von der verdorbenen Seele der Teufel die Rede. Man hatte sie sich wie eine unsichtbare verdorbene Frucht vorgestellt – mit einem Gestank behaftet, der auf jeden überging, der sich mit Teufeln abgab. Um Töchter vor der Liebe zu einem Teufel zu bewahren, hatten sich ihre Mütter hübsche Details ausgedacht. Firusz hatte den Huren im Dummen Hirsch noch nicht ganz vergeben – aber wie Qasimir prophezeit hatte, begann er zu verstehen. Er hatte eine Liste angefertigt. Das warfen wittländische Mütter Teufeln vor:
a) Unpünktlichkeit
b) Hang zur Untreue
c) Verschwendungssucht
d) Hoffart
e) Prahlsucht
f) Jähzorn
g) saurer Atem
h) schwach giftiger Schweiß
i) Stinkefüße
j) Teufel zeugen verkrüppelte, oder glatzköpfig bleibende Kinder
k) zeugen überhaupt zu viele Kinder
l) scheuen das Licht
m) haben keinen Sinn für Sauberkeit und Ordnung
n) lieben den Geschmack von Blut
o) prügeln ihre Frauen/ Kinder/ sonstigen Anverwandten
p) vertragen zu wenig Alkohol
q) vererben schlechte Zähne
r) werden von Musik betrunken und blutrünstig
s) haben einen tief verwurzelten Hang zur Widernatürlichkeit
Und er hatte noch nicht einmal alle Quellen durchgesehen. Nach der Besetzung Wittlands durch das Teuflische Volk holten sich viele Eroberer menschliche Sklavinnen ins Bett, zeugten Kinder, die in den Augen der Menschen fremdartig und abstoßend waren: arrogante Wesen, die sich selbst nicht einzuordnen wussten, die ihre scheinbar minderwertigen Mütter hassten. Firusz hatte Verständnis für die Frauen, die ihren verliebten Töchtern böse Dinge ins Ohr flüsterten, um sie davon abzuhalten ihre Familien ins Unglück zu stürzen. Irgendwann konnte kein Mädchen einem Teufel begegnen, ohne dass sie gleich ein Dutzend Warntafeln im Kopf gehabt hätte. Aber wie konnte es sein, dass sich diese Falschheiten so hartnäckig hielten? Morrie hatte viel schlimmere Käsefüße als er selbst und dass Teufel nun wirklich keine Kinder zeugten, die glatzköpfig blieben, musste doch irgendwann offensichtlich geworden sein! In den Kolonien redete man nicht schlecht über Männer mit ein paar Tropfen Elfenblut. Man beneidete sie, weil sie ihr ganzes Leben lang frischer aussahen als Menschen gleichen Alters. Zugegeben, die Punkte a), k), m), p) und s) waren diskutierbar. Aber Firusz’ eigener Vater stand immer mindestens eine halbe Stunde früher als verabredet am Treffpunkt, sein Großvater kam dagegen immer zu spät. Sein Großvater, der gleichzeitig Yanus’ Urgroßvater war, hatte auch viele Kinder von unterschiedlichen Frauen gehabt, war dafür aber einigermaßen trinkfest. Die Burg war nie besonders aufgeräumt gewesen und in den Ecken fand man schon mal Staubmäuse … und dann die Widernatürlichkeit. Firusz war in der toleranten Geisteshaltung seiner Familie erzogen worden Der beste Freund seines Großvaters war vermutlich der widernatürlichste Mann der gesamten Kolonien und auch in Firusz’ eigener Sippe gab es Fälle, die nicht wegzureden waren. Vor ein paar Jahrhunderten hatte eine Wittländerin gesehen, wie ein Teufel einem Mann zu lange hinterhergesehen hatte und seitdem durften sich auch die Söhne das Geschrei anhören. Hatte Qasimir davon gewusst? Er musste es wissen, schließlich waren es seine eigenen Bücher. Und trotzdem ließ er Firusz mit Morrie in einem Bett schlafen. Mit Morrie, nicht mit seinem eigenen Bruder. Oder Griça. Wer wusste, was man Barbaren so alles nachsagte?
Firusz und Yanus waren sicher die ersten Teufel seit 300 Jahren, die den wittländischen Kontinent betreten hatten … wie um Gotteswillen hätte Qasimir ihn einschätzen können? Gar nicht. Er verließ sich voll und ganz auf bestehende Vorurteile. Firusz ließ den Kodex zuschnappen. Und dann kam er auch noch mit seinen speziellen Hausaufgaben!
Der Regen drückte den Duft der Bäume zu Boden. Die jungen Männer fühlten sich nicht länger zu Abenteuern aufgelegt. Sie löffelten morgens brav ihre Milchgrütze, die sehr an den Nebel erinnerte, der zwischen den Häusern der Blauen Brücke hing. Sie rutschten die Unterrichtsstunden ab, schrieben demütig ihre Aufgaben. Jetzt, da sich die Stürme legten, setzten sich bald die Handelsschiffe in Bewegung. Von Seestadt fuhren Schiffe zu den Gewürzinseln, kamen von den Inseln zurück, bis unters Deck vollgestopft mit Säcken: getrocknete Beeren, Samenkörner, Blätter, zu Pulver gemahlene Wurzeln. Vielleicht gab es sogar Zucker. Vielleicht kunstvoll verschnürte Ballen von Seide – in den leuchtenden Farben der Inseln, feinste Stickgarne, Perlen, Glasschmuck … selbst Qasimir wurde langsam zappelig, hatte kaum noch Geduld für seine Schüler. Eines Morgens wies er sie an, die Bücher beiseite zu legen. „Heute sehen wir uns die Schiffe an“, verkündete er. „Zieht euch Mäntel an, es regnet immer noch.“
Firusz atmete tief durch. In einer Handelsgesellschaft zu sein, war also doch aufregend.
Für das Erste Einhorn legte man eine breite Planke auf den Kai. Die Schüler trabten hinter Qasimir her wie junge Gänse, keiner traute sich, den Mund aufzumachen. Das Deck war sauber geschrubbt, alles war ordentlich verstaut und festgezurrt. Aus Weidenruten geflochtene Käfige waren das neue Heim für Enten und Hühner, zwischen den Wasser- und Branntweinfässern standen die, in denen Rindfleisch und Kohl eingelegt worden waren. Der Kapitän der Trotzigen Kuh war noch relativ jung, mit einem langen blonden Zopf und hervorquellenden Augen. Man sah sofort, mit wem er verwandt war.
Qasimir stellte seine Schüler vor. „Sie können sich ein bisschen umsehen, während wir die interessanten Dinge besprechen.“
Der Kapitän nickte nervös.
Die sachte Bewegung des vertäuten Schiffes erinnerte Firusz an das Schaukeln einer großen Wiege, Griça verband es offenbar mit weniger positiven Assoziationen. Der sonst so standfeste Westländer war grün im Gesicht und hielt sich stets in der Mitte des Schiffes, so als versuche er, die Bewegung auszugleichen.
„Du warst noch nie auf einem Schiff?“, fragte Qarl erstaunt.
„Mein Volk steigt nur aufs Schiff, wenn es muss. Zuviel Wasser erschreckt uns.“
Qarl warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Du solltest trotzdem mal wieder baden.“
Morrie hatte Mitleid. „Du sollst ihn nicht ärgern, Qarl. Er ist dir dafür in anderer Hinsicht voraus. Du möchtest dich auch nicht auslachen lassen, nur weil du nicht reiten kannst.“
Qarl wurde rot. Firusz und Griça sahen sich erstaunt an. „Du kannst nicht reiten?“
„Toll. Vielen Dank auch, Morrie.“
„Hast du es nie versucht?“, fragte Griça leise.
„Pferde hassen mich“, sagte Qarl düster. „Aber dafür kann ich ganz ausgezeichnet schwimmen.“
Firusz legte eine Hand an den Mast, sah sich um. Das Wasser roch ein wenig brackig, Quallen schwebten unter ihnen auf und ab, als hingen sie an Fäden. Die Segel strömten ebenfalls einen muffigen Geruch aus. Am Horizont lag ein zarter Schleier, aber Firusz wusste, dass dort nichts weiter war als Wasser. Eines Tages würde auch er wieder über diese Linie segeln, auf dem Weg zu den Gewürzinseln oder auf dem Weg zurück in die Kolonien. Vielleicht reiste er dann sogar an Bord der Trotzigen Kuh … Griça würde vermutlich nicht mitkommen. Aber Morrie, oder Qarl. Firusz schloss für einen Moment die Augen.
Qarl lächelte ihn an. „Du siehst uns, richtig? Wir werden der Gesellschaft viel Geld einbringen. Eines Tages.“ Er legte Firusz einen Arm um die Schultern. Qarl roch verschwitzt, die Nackenhaare des Halblings stellten sich auf. „Ich vermute, wir werden die Gesellschaft eher viel Geld kosten“, sagte er mit einem Blick auf Griça, der sich verzweifelt an einem Fass festhielt.
„Wir haben jetzt schon Geschichte geschrieben“, fand Qarl.
„Würdest du mich jetzt bitte loslassen? Die Leute am Kai werden schon kribbelig.“
„Schon gut, schon gut.“ Qarl rückte von ihm ab, wieder mit einem merkwürdigen Lächeln. Morrie stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen an der Reling. Unter seiner mit Regentropfen besetzten Kappe hing das blonde Haar wie ein Vorhang herab. Morrie sah dem Kapitän so ähnlich, dass Qarl bemerkte: „Morrie hat sicher eine glänzende Karriere vor sich.“
Firusz zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich geht er gleich mit dem ersten Schiff baden.“
Qarl gab ihm einen Klaps auf die Brust. „Musst du eine so dunkle Zukunft malen?“
Firusz rang nach Luft. „Ich versuche nur, realistisch zu bleiben!“
Qarl piekte ihn mit dem Zeigefinger in die Schulter. „Du könntest uns ruhig mal was zutrauen.“
„Wir haben die zweitschlechteste Halbjahresklausur geschrieben. Dabei sagt man den Stieren nach, sie seien dumm.“
„Schon mal auf die Idee gekommen, dass wir nicht alle die gleichen Klausuren geschrieben haben?“
Firusz blinzelte. „Was?“
„Ich wette mit dir um einen Krug Bier: Unsere Arbeit war bestimmt doppelt so anspruchsvoll. Qasimir ist ein kleines Ekel.“
„Und stolz darauf.“ Qasimir stand plötzlich neben Morrie. In der feuchten Luft ringelte sich sein Haar stärker als sonst. Er sah aus, als sei er einem alten Portrait entstiegen: sein Kragen aus seidigem Pelz, die tief in die Stirn gezogene Mütze. Die verschiedenfarbigen Augen des Ersten Einhorns sahen plötzlich aus wie kompliziert geschliffene Edelsteine. „Eines Tages wirst du mir doch noch dankbar sein, kleiner Bruder. Der Kapitän dieses wunderbaren Schiffes hat sich soeben dazu bereit erklärt, auf der übernächsten Reise ein paar Schüler mitzunehmen.“
Der Kapitän sah allerdings eher unglücklich aus. Firusz konnte sich vorstellen, warum. Sicher fuhr niemand gern auf einem Schiff, auf dem ein Teufel umging …
Qarl strahlte. „Ich hab’s dir gesagt, Firusz: Die Gewürzinseln gehören schon uns.“
X
„Ich habe es sehr genossen, diese ungewöhnliche Arbeit zu beurteilen.“
Langsam wurde es wärmer in der Stadt und Firusz schwitzte in seiner Robe.
Qasimir legte die Fingerspitzen aneinander. „Ich freue mich, in dir einen Schüler zu haben, der wissenschaftliche Arbeit wenigstens ansatzweise ernst nimmt. Die Gegenüberstellung wittländischer Klischees mit Mythen der Kolonien ist tatsächlich interessant. Ich hoffe, dass dir die Recherche für diese Hausarbeit das Leben in Seestadt leichter macht.“
„Sie hat mich jedenfalls wütend gemacht“, sagte Firusz leise.
„Ich habe die Arbeit eingereicht“, sagte Qasimir.
„Wie bitte?“
„Nun … da gibt es diesen Wettbewerb. Von jeder Gesellschaft wird ein Beitrag bewertet. Bevor du mich jetzt anspringst: Du wirst nicht gewinnen. Ich wollte nur ein bisschen provozieren.“
„Warum müsst Ihr das immer auf meine Kosten tun?“, regte sich der Halbling auf.
Qasimir hob beschwichtigend die Hände. „Du eignest dich einfach gut dazu. Griça ist zu langweilig für einen Barbaren, findest du nicht?“
„Nein. Er ist nett und vernünftig. Und ganz sicher hätte seine Arbeit mehr Ehre für die Einhörner eingelegt.“
„Vielleicht, ja. Aber sie würde mich um das Vergnügen bringen, dabei zuzusehen, wie dem Ersten Löwen die Augen aus dem Kopf treten.“
Firusz ließ sich auf den Sitzplatz beim Erker fallen. „Ich bin schon jetzt nicht sonderlich beliebt in der Stadt. Ich will mir gar nicht vorstellen, was man sich bald über mich erzählt.“
„Keine Sorge.“ Qasimirs Schritte hallten durch das getäfelte Arbeitszimmer, als er auf seinen Schüler zukam. „Die Gesellschaft des Einhorns steht hinter dir.“ Er legte ihm eine Hand auf den Scheitel.
Firusz hatte einen Kloß im Hals. „Die Gesellschaft des Einhorns ist Eure Familie.“
Das Erste Einhorn seufzte. „Und ich möchte, dass du mich beim Wort nimmst.“
Firusz nickte. „Ist gut.“
„Und jetzt kannst du zurück zu den anderen gehen und dich ausführlich beklagen.“
Bei schönem Wetter hatten die Schüler es sich angewöhnt, ihre Schreibaufgaben im Innenhof zu erledigen, im Schatten der Kübelpflanzen, umgeben vom Geruch sauberer Wäsche. Qarl und Griça hatten zwei Tische unter die hölzernen Galerien getragen, Klappstühle und eine Schale mit frischem Obst vervollkommneten das Bild. Als Firusz zum Arbeitsplatz hinunter kam, hob Qarl die Hand. „Wie war’s?“
„Er hat die Arbeit zum Wettbewerb eingereicht.“
Morrie zog eine Schnute. „Auweija.“
Firusz ließ sich in seinen Klappstuhl sinken, zog sofort ein paar Blatt Papier an sich heran.
Griça räusperte sich. „Du solltest froh sein, dass sich das Erste Einhorn so sehr bemüht, deinen Namen bekannt zu machen.“
„Ich wünsche mir, in Frieden leben zu können, nichts weiter. Und vielleicht hin und wieder den Dummen Hirsch zu besuchen.“ Firusz hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er Griça so reden hörte. In jedem anderen Jahr wäre dem Westländer die Exotenrolle sicher gewesen, hätte Griça sich hervortun können.
„Wir haben dir ein bisschen Früchtebrot übriggelassen“, sagte Morrie und reichte ihm ein Scheibchen. Firusz nahm es vorsichtig an. „Danke. Seid ihr schon weitergekommen?“
Qarl schüttelte den Kopf. „Ich hasse meinen Bruder.“
Firusz kaute sein Früchtebrot. So langsam teilte er Qarls Widerwillen.
Der bebrillte Schneider breitete die ersten Versionen aus. Wie immer hatte der alte Mann erstaunlich leuchtende Stoffe besorgt, so üppig bestickt, dass Yanus sich vorkam wie eine Krustenechse. Weit geöffnete Rosen prangten auf sonnengelber Seide, Wickenranken auf violettem Batist. Für seine Saison am Königlichen Hof erwartete man von Yanus von Tredorn, sich mit höfischer Kleidung anzufreunden. Typisch war eine Reihe von Schichten dünner Tuniken, die unterste knielang, die oberste endete knapp unter der Hüfte – fünf verschiedenfarbige Säume waren untereinander sichtbar. Die Hosen ähnelten jenen, die Yanus sich zu Beginn seines Aufenthaltes zugelegt hatten, aus glänzendem Stoff und an der Oberschenkelinnenseite wattiert.
„Ich sehe fett aus“, stellte Yanus fest.
„Fett und traditionell“, sagte Mondon.
Der alte Schneider war in der Nähe des Jüngsten Prinzen sichtbar nervös. Yanus betete, dass nichts abgesteckt werden musste. „Warum fett und traditionell?“, wollte Yanus wissen.
„Du wirst verstehen, sobald du den Palast siehst. Es kann dort kalt werden.“
„Es ist Sommer!“
„Noch nicht ganz. Der Palast liegt zwischen den Bergen. Wir werden zwei Wochen unterwegs sein. Das Wetter ist etwas anders im Tal der Könige.“
Die Vorbereitungen für die Reise zum Palast nahmen Zeit und Geld in Anspruch. Yanus ritt den neuen Sattel ein, überwachte die Ausstattung des Gepäckwagens und legte mit Arkos’ Hilfe fest, wie viel Proviant gekauft werden musste. Mondon schickte Befehl an die Garnison der Königlichen Garde, um eine Abordnung für die Reise zusammenzustellen. Yanus lud seinen Vetter zu einem Abschiedsessen ein, erlaubte ihm, auch die anderen Schüler mitzubringen. Neben den Ställen ließ der Graf einen Tisch aufstellen, Wein und Bier in Krügen standen bereit. Dass alle gegenwärtigen Schüler der Einhörner nun im Garten der Teufelshütte saßen und sich mit Anissoße gewürzten Braten schmecken ließen, verschaffte auch dem Hausherrn ein merkwürdiges Gefühl von Zufriedenheit. Er spürte den Zusammenhalt unter den jungen Männern. Er selbst aß kaum etwas, begnügte sich damit, an den kostbaren Weinen zu nippen und mit hochgelegten Füßen in den Garten zu blicken, der das Gelände umgab. Die „kleinen Einhörner“ hatten kaum Gelegenheit zu reden, dafür war der Tisch nach einer Dreiviertelstunde leergefegt. Qarl tätschelte sich den Bauch. „Das werde ich wochenlang bereuen“, prophezeite er zufrieden. „Qasimir sollte seine Köche nach den gleichen Kriterien auswählen wie Ihr und nicht danach, wie oft sie ein Gericht aufwärmen können.“
Griça lächelte zufrieden. „Dann könnten sie uns bald ins Kontor rollen.“
„Oder einen Vertrag mit dem Dummen Hirsch abschließen, damit wir uns das Fett wieder abarbeiten“, grinste Qarl, erinnerte sich schlagartig, in wessen Haus er gerade so vorzüglich gespeist hatte und wurde blutrot im Gesicht.
Yanus krauste nachsichtig die Nase. „Es tut gut, mal wieder etwas junges Blut im Haus zu haben. Und da wir uns alle eine Weile nicht sehen werden …“ Er sah Firusz mit sanftem Vorwurf an. „Bitte passt gut auf euch auf. Bis jetzt war ich als Anstandsdame ja nicht besonders erfolgreich. Trotzdem: Bitte sorgt dafür, dass wir uns im Winter alle wohlbehalten wieder sehen können.“
Qarl nickte langsam. „Kein Problem. Wir sitzen den ganzen Sommer im Schulzimmer oder im Kontor.“
Yanus leerte sein aus Kristall geschliffenes Glas, drehte es zwischen den Fingern. „Ich werde mir dennoch Sorgen machen. Meine Familie wird mich zur Verantwortung ziehen, wenn Firusz etwas zustößt. Dazu rechne ich übrigens auch uneheliche Kinder.“
Firusz sah peinlich berührt zu Boden. „Musst du mir in aller Öffentlichkeit predigen?“, fragte er.
Yanus zuckte die Achseln. „Jetzt habe ich immerhin Augenzeugen.“
„Du vergibst mir sicher, wenn ich das sage: Dein Vetter hat wirklich was an der Waffel.“
Firusz sah Morrie bekümmert an. „Ich weiß.“
Qarl legte dem Teufel einen Arm um die Schultern, eine Geste, die er in letzter Zeit öfter für angebracht zu halten schien. „Wir werden einen ganz fabelhaft langweiligen Sommer haben, das verspreche ich dir.“
Firusz hob den Kopf, sah zu den aneinander gepressten Giebeln der Stadt hoch. Ein sachtes blaues Licht schwebte am Himmel, faserige Wolken zogen sich über ihre Köpfe. Firusz wurde plötzlich kalt. „Ja. Fabelhaft langweilig …“
Obwohl Yanus am nächsten Morgen die Stadt verließ, war Arkos na Anbar im Hungrigen Einhorn geblieben. Firusz sah ihn mehrmals am Tag über die Blaue Brücke tigern, stets in einen leuchtend grünen Mantel gewickelt. Ein paar Mal konnte man auch Ansons prächtige Kutsche am Haus vorbeirappeln sehen. Die roten Wallache trabten in perfekt synchronisierten Bewegungen in Richtung Cremetorte. Abends waren die Schüler meist noch im Hungrigen Einhorn, was nie große Aufregung versprach – doch etwa eine Woche nach Yanus’ Abreise rannten sie auf der Blauen Brücke in eine kleine Gruppe Löwen hinein. Die Löwenschüler hatten eine spezielle Ausgehkluft aus gelbbrauner Wolle, an allen Säumen mit goldrotem Pelz verbrämt, mit schmucken Samtkappen, auf die mit Goldfaden ein aufgerichteter Löwe gestickt worden war. Qarl, in einfachen Hosen und langärmliger Tunika, sah ihnen nach. „Verdammte Angeber“, fauchte er.
Sofort strahlte in Firusz’ Kopf das Wort ‚Fehler’ auf. In Großbuchstaben. Die Löwen drehten sich um wie ein Mann, ließen ihre Blicke an der armseligen Vierergruppe herunterrutschen. Der Größte von ihnen, der Firusz im Gebaren sehr an Rhonna na Parik von den Stieren erinnerte, stützte die Hände in die Hüften. Auch er war blond, doch sein Gesicht war schön. So schön, dass Firusz im ersten Augenblick glaubte, ein verkleidetes Mädchen vor sich zu haben und im zweiten Augenblick von irrationaler Eifersucht überwältigt wurde. Dieser Löwe hätte im Dummen Hirsch sicher nie Schwierigkeiten bekommen.
„An Eurer Stelle würde ich den Ball wirklich ganz flach halten“, sagte der Löwe. „Da können sich die Einhörner nur vier Schüler leisten und dann sind es auch noch solche Schüler. Teuflisch, barbarisch, dumm und verdorben. Schöne Mischung.“
Morrie und Qarl sahen einander an. „Wer ist dumm und wer verdorben?“, wollte Morrie mit kaum unterdrücktem Zorn wissen.
Der Anführer der Löwen grinste. „Das kannst du dir aussuchen. Wie dem auch sei – das Glück wird nicht lange währen. Der König wird die Einhörner noch in diesem Jahr dichtmachen!“
Qarl lächelte herausfordernd. „Kannst du mir Beweise vorlegen? Jeder weiß doch, dass bei den Halbjahresklausuren geschummelt wird, was die Taschen des Königlichen Inspektors aushalten!“
Der Schönling ballte die Fäuste, zuckte aber die Achseln. „Beim Wettbewerb habt ihr eine ketzerische Arbeit eingereicht.“
Qarl runzelte die Stirn. „Eine ketzerische Arbeit?“
„Die Inspektoren waren empört. Sie haben es sich zum Ziel gemacht, euch auszumerzen.“
„Lass mich raten“, zischte Morrie. „Du kommst aus einer Inspektorenfamilie.“
„Was ist daran falsch, aus einer geachteten Sippe zu stammen?“, fragte der schöne Löwe. „Ach ja – ich vergaß – als na Carran weißt du wohl kaum, wie das ist.“
Morrie stürzte sich mit gezückten Fingernägeln auf das Großmaul. Qarl erwischte ihn gerade noch am Zipfel der Tunika, versuchte, ihn vom Inspektorenzögling herunterzuziehen. Griça seufzte, packte Morrie im Nacken und hob ihn hoch. Morrie trat um sich wie ein Kaninchen – der Löwe kam wieder auf die Beine – das Gesicht zerkratzt und blutend – er holte aus, schlug auf den immer noch in der Luft hängenden Morrie ein. Griça blockte die Faust ab und trat den vor Wut spuckenden Schönling in die Brust. Ein Aufschrei ging durch die anderen Löwen. Sofort drängten sie sich um die vier Einhörner. Firusz’ Schulterblätter stießen in Qarls Rücken. Beide hoben gleichzeitig die Fäuste. Morrie, die Finger rot vom Blut seines ersten Opfers, wirbelte herum, teilte weitere Tritte aus.
Die Tür des Hauses der Stiere flog auf – eine Woge rot gewandeter Schüler brandete auf die Brücke – allen voran Rhonna na Parik. Griça stieg über den keuchend am Boden liegenden Schönling und streckte Rhonna mit einem einzigen Schlag nieder. In diesem Moment kam der zerkratzte Löwe wieder auf die Füße. Firusz hörte den Aufprall. Dann brach Griça in die Knie. Aus seinem Mund quoll dunkles Blut. Sofort standen alle Schüler auf der Blauen Brücke still. Griça fiel auf Rhonna na Parik, das Blut, das ihm aus dem Rachen schoss, traf den Stier im Nacken. Griças Körper begann zu zucken. Qarl stürzte mit einem markerschütternden Kreischen auf den Westländer zu. Der schöne Löwe starrte auf die Klinge in seiner eigenen Hand, ließ sie zu Boden fallen – einen Wimpernschlag, bevor Morrie ihm in den Rücken sprang. Firusz fiel neben Qarl aufs Pflaster, seine Robe riss bis zum Gürtel auf. Griça war bereits tot.
Der Garde des Königs, die wenige Minuten später eintraf, bot sich ein bemerkenswertes Bild. Stier- und Löwenschüler blockierten den Verkehr. In der Mitte des gelb-roten Kreises lag ein lebloser Mann mit seltsamer Frisur, halb auf die Schöße seiner Mitschüler gezogen. Der schöne Löwe stand stocksteif daneben, wurde vom vierten Einhorn schluchzend mit den Fäusten bearbeitet. Der Löwe gab das Messer ab, ließ sich in Fesseln legen. Griças Körper bettete man auf einen großrädrigen Karren, bedeckte ihn mit grobem Tuch, das sich sofort mit Blut vollsog. Niemand sprach – nur Morrie heulte noch, gelegentlich unterbrochen von Firusz’ Versuchen, ihn zu beruhigen. „Qarl, wir müssen deinem Bruder Bescheid geben“, sagte der Teufel leise.
Qarl war nicht fähig, zu antworten.
Qasimir na Qes hatte sich einen Mantel über das Nachthemd geworfen. „Was ist geschehen?“, fragte er scharf.
Ein Mitglied der Garde, das die jungen Männer ins Haus begleitet hatte, machte sich daran, dem Ersten Einhorn die Situation zu erläutern. Qasimir na Qes wurde bleich – und unglaublich zornig. „Wer von ihnen hat ihn getötet?“
„Mian na Mar“, gab der in Gelb gekleidete Garderist zur Antwort.
„Mian na Mar“, spuckte Qasimir. „Sie werden ihn laufen lassen.“
„Es war ein Unfall“, versuchte der Garderist ihn zu besänftigen.
„Lasst Mian na Mar ausrichten: Wenn er auch nur ein Klümpchen Anstand im Leib hat, wird er hier vorstellig. Es gibt da ein paar Dinge, die ich ihm zu sagen habe.“
Qasimir lud die drei Schüler ins Arbeitszimmer ein. „Setzt euch – bitte.“
Drei Häufchen Elend verteilten sich auf den Stühlen.
„Was genau ist passiert?“
Firusz erzählte. Qasimir verschränkte die Arme vor der Brust. „Solche Dinge geschehen hin und wieder“, sagte er erstaunlich kalt. „Obwohl ich bezweifle, dass Mian na Mars Informationen über unseren Beitrag zum Wettbewerb korrekt waren. Calmorran: du musst ein wenig an deiner Selbstbeherrschung arbeiten, wie mir scheint. Griça hätte nie ohne guten Grund eingegriffen. Qarl – was ist?“
Von Qarls Kinn tropften Tränen. Qasimir verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Das ist nicht die richtige Zeit, Qarl.“
„Wann denn dann?!“, brüllte ihn sein Bruder an. „Ich weiß: Griça hat dir nicht mehr bedeutet als ein weiteres Kuriosum in deiner Sammlung – aber ich habe Tag und Nacht mit ihm verbracht! Wie kannst du mir vorhalten, dass ich um meinen Freund weine?“
„Wirklich sehr rührend – aber ich wünsche mir jetzt einen Bruder, der klar denkt! Wir alle wissen, Mian na Mar ist aus guter Familie. Er wird die Strafe, die ihn von Rechts wegen erwartet, wohl kaum erhalten. Wenn er den Mut besitzt, hier um Entschuldigung zu bitten, müssen wir alle kühlen Kopf bewahren. Um Schlimmeres zu verhindern.“
„Was habt Ihr vor?“, fragte Firusz erschrocken.
„Ich werde Mian na Mar unter einen hirit stellen.“
„Einen was?“
„Einen Bann. Einen Bann, der ihn verpflichtet, die Familie seines Opfers aufzusuchen und sich der Strafe der Sippe zu stellen, die er beraubt hat. Aber Mian na Mar wird nicht allein reisen können.“
„Ich reise mit“, sagte Morrie sofort.
Qasimir schüttelte langsam den Kopf. „Firusz wird Mian na Mar begleiten. Du hast deine Unbeherrschtheit zur Genüge demonstriert, Calmorran. Und Qarl traue ich nicht zu, Mian na Mar zu begleiten, ohne ihn unterwegs umzubringen. Firusz: Bist du bereit, Griça diesen Dienst zu erweisen?“
Firusz schluckte, nickte. Das war ganz sicher nicht das, was Yanus unter einem ‚fabelhaft langweiligen’ Sommer verstand.
ENDE DES ERSTEN BUCHES
DAS ZWEITE BUCH DES ERSTEN BANDES DER GESCHICHTEN AUS SEESTADT, HERZ UND WAAGE, FOLGT IN KÜRZE
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2011
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