Anke Bergmann
Åsfrid
und
der Vollmondnebel
Zeitreise-Liebesroman
Vorwort
Åsfrid und der Vollmondnebel ist ein fiktives Werk, dessen sämtliche Charaktere und Handlungen von mir frei erfunden wurden. Dennoch hat mich die nordische Mythologie dabei beeinflusst und spielt auch eine wesentliche Rolle darin.
Es bleibt jedoch ein fiktives Werk, und so habe ich manche Mythen an meine Geschichte angepasst.
Wer sich mit der nordischen Mythologie auskennt, weiß, dass verschiedene Übersetzungen der Edda immer wieder anders interpretiert wurden, und wird mir den Ausbruch meiner Fantasie hoffentlich verzeihen.
Denn es ist, wie es ist: Åsfrid und der Vollmondnebel ist eine frei erfundene Geschichte.
Prolog
Dumpf ertönte das Signalhorn durch die Nebelschleier, die wabernd über das Wasser zogen. Nur das gleichmäßige Eintauchen der Riemenblätter in das Nass unterbrach die gespenstische Stille.
Eirik hob den Kopf gen Vollmond, während er mit einigen Männern das Langschiff rudernd Richtung Ufer vorantrieb. Es war nun seine fünfte Überfahrt und eine gewisse Routine hatte längst Einzug gehalten. Doch bei dieser Vikingfahrt war etwas anders - nicht nur die für diese Jahreszeit viel zu frühe Eiseskälte, die ihn auf dieser Überfahrt schüttelte, sondern noch etwas anderes. Nur konnte Eirik nicht sagen, was.
Sie steuerten das Schiff direkt auf den Strand zu. Um jedoch nicht auf Grund zu laufen, blieben sie im seichten Gewässer. Während die anderen Männer über die Reling ins kniehohe Wasser sprangen, um ans Ufer zu waten, blieben Eirik und Harald, der Steuermann, als Einzige an Bord zurück.
1
Der Minutenzeiger der Wanduhr im Büro rutschte gerade auf zehn Minuten vor zwölf. Kritisch ließ ich noch einmal einen Blick über die Daten auf dem Bildschirm wandern.
„Ok, alles klar, kann ich so speichern. Und Klick!“ Erleichtert ließ ich mich gegen die Rückenlehne meines Stuhls sinken.
Eine anstrengende Arbeitswoche lag hinter mir. Durch den erhöhten Krankenstand, den wir diesen Monat hatten, war durch die Vertretungen einiges an zusätzlichen Aufgaben auf mich zugekommen.
Doch heute war Freitag, endlich Wochenende! Punkt zwölf schnappte ich mir meine Tasche, schloss die Bürotür hinter mir ab und machte mich auf den Weg zur Stechuhr.
„Mach’s gut, Hans, und ein schönes Wochenende!“, grüßte ich winkend den Pförtner, ließ das Piep! der Stechuhr ertönen und verschwand Richtung Parkplatz.
Vor zwei Jahren wechselte ich von einer Stadtverwaltung im Ruhrpott an diese kleine Gemeindeverwaltung an der Nordsee. Es war pures Glück gewesen, dass ich damals während eines Urlaubs die Stellenausschreibung gesehen und mich spontan dazu entschieden hatte, eine Onlinebewerbung einzureichen. Dass es aber am Ende der zwei Wochen Urlaub tatsächlich noch zu einem Gespräch mit dem Personalleiter gekommen war, konnte ich bis heute kaum glauben.
Ein halbes Jahr später zog ich dann um und trat meine Stelle in meinem ursprünglichen Urlaubsort an. Damals war ich der Hektik und dem Stress der Großstadt überdrüssig gewesen und brauchte dringend die Entschleunigung. Eine gescheiterte Beziehung reihte sich auch noch an. Also alles in allem eine Flucht nach vorn.
Auf meinem Heimweg hielt ich wie jeden Freitag beim Skymarkt. Bis ich damals in diesem Ort Urlaub machte, wusste ich gar nicht, dass es noch Coop-Produkte gab. Die Coop-Märkte in meiner Heimat waren schon vor über fünfundzwanzig Jahren verschwunden. Bei dieser Zahl lief es mir eiskalt den Rücken runter. Ich jammerte rum wie eine alte Frau! Aber nun war ich zweiunddreißig und konnte mich kaum noch an diese Läden erinnern.
Ich flitzte mit dem Einkaufswagen durch den Skymarkt, der den Einheimischen und den Touristen gleichzeitig zum Einkaufen diente und daher immer gut besucht war – mit Ausnahme von heute. Die unerbittliche Erkältungswelle, die auch vor der Gemeindeverwaltung nicht Halt gemacht hatte, schien nun auch einige Touristen zum Urlaubsabbruch zu zwingen.
„Moin, Astrid“, grüßte mich die Kassiererin.
„Moin, Maren“, grüßte ich zurück. Ich sprach nach wie vor nicht das nordische Platt, aber an gewisse Floskeln wie das bekannte Moin gewöhnte man sich schnell.
„Du siehst aber nicht danach aus, als hätte es dich auch schon erwischt“, näselte die Kassiererin, neben deren Kasse ein Päckchen Taschentücher und Schnupfenspray lag.
„Nein“, raunte ich ihr zwinkernd zu, „bislang zum Glück nicht. Aber besser nicht so laut sagen!“
Die Verkäuferin lachte und räusperte sich hüstelnd. Bevor ich ansetzen konnte, sprach Maren schon weiter. „Mein Kleiner hat es aus der Kita mit heimgebracht. Nun ist er wieder fit, aber dafür bin ich jetzt krank. Hoffentlich bleibt es bei der Erkältung. Mehr kann ich nicht gebrauchen.“
Ich wusste, dass Maren alleinerziehend und auf den Job an der Kasse angewiesen war. Zudem half sie oft an den Wochenenden in einem Restaurant als Spülhilfe aus. Maren wohnte in der gleichen Ferienhaussiedlung wie ich, nur ein paar Häuser entfernt, und manchmal brachte sie mir wochenends das Babyfone für ihren Junior vorbei. Dafür sah sie nach dem Rechten, wenn ich mal in die Heimat fuhr.
Ich packte meinen Einkauf in meinen Stoffbeutel und zahlte. Marens Augen waren schon gerötet – ich vermutete, dass sie spätestens am Abend umliegen würde.
„Ich wünsch dir gute Besserung, Maren!“
„Danke, Astrid!“ Ihr Lächeln war aufrichtig und voller Güte. Es tat mir wirklich leid, dass ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hatte.
Während ich den Skymarkt verließ und den Wagen Richtung Einkaufswagenhalle schob, nahm ich mir vor, am nächsten Tag bei Maren vorbeizuschauen. Sie arbeitete zwar auch samstags, aber so, wie sie ausgesehen hatte, würde sie es am nächsten Tag vielleicht nicht an die Kasse schaffen.
Daheim räumte ich meinen Einkauf in die kleine, halboffene Küche. Nein, heute wollte ich nichts mehr machen. Nur noch rumgammeln und nichts tun! Vielleicht eine Waschmaschine anschalten und aufhängen, aber definitiv nicht mehr, redete ich mir selbst ein.
Das Glück hatte es gut mit mir gemeint, denn das ältere Ehepaar, dem dieses Nurdach-Ferienhaus gehörte, fühlte sich nicht mehr dazu in der Lage, ständig Feriengäste und Haus zu betreuen. Eine Dauermieterin, die zudem auf der Gemeinde arbeitete, kam ihnen da gerade recht.
Man betrat zuerst einen kleinen Vorbau, der als Garderobe diente. Gerade bei Regen und im Winter war es ganz angenehm, sich dort der Jacken und Schuhe zu entledigen, schleppte man so doch nicht jeden Dreck ins Haus. Nach der Wohnungstür kam zur einen Seite die Küche, zur anderen das Bad. Der Flur war nicht wirklich groß und schon stand man im gemütlichen Wohn- und Esszimmer, welches sogar einen alten, gemauerten Kamin besaß. Von dort kam man auf die Terrasse und in den kleinen Garten, der zum Haus gehörte.
Da der Wind kräftig ums Haus pfiff, kontrollierte ich mit einem Blick schnell die Terrasse. Tisch und Stühle hatte ich schon vor einigen Tagen zusammengestellt und es schien alles windsicher zu sein.
Obwohl es erst Ende August war, dunkelte es heute recht früh beziehungsweise war den ganzen Tag nicht so recht hell geworden. Während ich das Rollo der Terrassentür herunterließ, betrachtete ich durch die große Wohnzimmerscheibe die beiden Nachbargrundstücke. Alles dunkel, auch dort waren die Touristen bereits abgereist. Eigentlich hatten sie bis Sonntag gebucht und heute war ja erst Freitag. Noch war zwar Saison, aber dass ich in den kühleren Monaten kaum Nachbarn hatte, war das Einzige, woran ich mich noch nicht so recht gewöhnen konnte. Es gab in dieser Ferienhaussiedlung am Meer zwar einige Bewohner, aber leider nicht in meiner direkten Nachbarschaft. Maren war die nächste – aber immer noch so weit weg, dass sie mich nicht hören würde, wenn ich schreien sollte.
Ich mochte dieses Haus, aber diese doch sehr enge und steile Treppe ins Dachgeschoss war nicht mein Ding. Oben gab es zwei kleinere Räume. Einen mit einem Doppelbett und Schrank und einen, in dem ursprünglich zwei Einzelbetten standen. Ich hatte nach meinem Einzug eines der Einzelbetten rausgeschafft und dort ein Näh- und Bastelzimmer eingerichtet. Und falls mal jemand zu Besuch kam, hatte ich dort noch das andere Bett als Gästebett. Zwischen den beiden Zimmern war ursprünglich ein großer Einbaukleiderschrank gewesen. Nachdem ich dann dort eingezogen war, hatte das ältere Ehepaar den Vorschlag gemacht, diesen dort aus- und dafür eine Minitoilette einzubauen. Ich war damals von dieser Idee begeistert gewesen und war es noch immer, denn wenn ich im Halbschlaf diese steile Treppe hinab müsste, würde ich jedes Mal hellwach werden.
Meine Lieblingsschlabberhose auf dem Stuhl neben meinem Bett lachte mich geradezu an, als ich ins Schlafzimmer kam, und so schlüpfte ich erst mal in meine Hausklamotten. Vom Schreibtisch schnappte ich mir meinen Laptop und machte es mir, nachdem ich mir noch schnell meinen Lieblingstee - Roibusch-Vanille - aufgegossen hatte, mit diesem und meiner Kuscheldecke auf der Couch gemütlich. Endlich Beine hochlegen! Es dauerte gar nicht lange und ich war vor dem laufenden Fernseher eingenickt.
Es war noch keine zweiundzwanzig Uhr, als ich wach wurde. Der Fernseher hatte sich bereits von selbst abgeschaltet, auch der Laptop war im Standby. Gähnend rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, die ich noch gar nicht abgeschminkt hatte.
„Hat ja keinen Sinn mehr“, nuschelte ich vor mich hin und setzte mich auf. Während ich wartete, dass der Laptop runterfuhr, und den kalten Tee austrank, betrachtete ich von der Couch aus den Garten durch die große Wohnzimmerscheibe. Nicht nur das Heulen des Windes, auch die Büsche, die sich im Schein der Straßenlaterne stark zur Seite bogen, sagten mir, dass der Wind zugenommen hatte. Auf dem Weg zum Rollo, mit dem Laptop unterm Arm, fragte ich mich, was mich eigentlich geweckt hatte. Vermutlich irgendein Geräusch von draußen, das vom Wetter herrührte. Die Mülltonnendeckel klapperten schon mal schnell bei diesem starken Böen oder auch des Nachbars Gartentürchen. Dennoch ließ ich meinen Blick sorgsam durch die Nachbarschaft schweifen, während sich das Rollo der großen Scheibe senkte. Es war heute Nacht heller als sonst – der Vollmond prangte am wolkenlosen Himmel und erhellte somit jede kleine Ecke. Bevor ich hinaufging, um mich ins Bett zu legen, kontrollierte ich noch einmal Haus- und Wohnungstür und ging im Bad zur Toilette.
Während ich dort saß und mir von der Fußbodenheizung meine eiskalten Füße aufwärmen ließ, hörte ich das bekannte Klappern der Mülltonnendeckel und nickte. Angsthase, hieß ich mich selbst, riss das Klopapier ab und lauschte, bis ich die Klospülung zog. Nein, da waren keine weiteren Geräusche.
Nach und nach schaltete ich, bis auf die auf einer Anrichte im Wohnzimmer stehende batteriebetriebene Lampe, alle Lichter aus. Irgendwie war es mir trotz der zwei Jahre in diesem Haus noch nicht ganz geheuer, so allein in der dunklen Jahreszeit.
Oben auf dem Treppenabsatz ließ ich noch einmal meinen Blick durch das Fenster meines Büros schweifen. Dichter Nebel zog vom Meer her auf, was selten war, aber dennoch an diesem Küstenabschnitt schon mal vorkam. Müde tapste ich hinüber ins Schlafzimmer und mummelte mich in meine Bettdecke. Licht brauchte ich keines brennen lassen, da genau gegenüber eine der modernen LED-Straßenlampen stand, die mit ihrem hellen Licht direkt ins Schlafzimmer schien. Es beruhigte mich und bald hörte ich auch nicht mehr das Geklapper der Mülltonnendeckel.
Etwas weckte mich, ein leises Schaben und darauffolgendes Knarren war zu hören. Doch ich war so unendlich müde, und weil ich kein weiteres Geräusch hörte, drehte ich mich, ohne die Augen zu öffnen, auf den Rücken. Die Wärme der Decke störte mich und ich strampelte mich frei, weil ich noch die Jogginghose und ein altes, ausgeleiertes Top trug. Fast war ich wieder weggedämmert, als es erneut knarrte. Diesmal lauter und direkt neben mir.
Nun war ich hellwach. Mein Puls schoss sofort in die Höhe, mühsam hielt ich die Augen geschlossen. Das Blut schien lauter in meinen Ohren zu rauschen und ich hatte Angst, irgendetwas zu überhören.
Eine Berührung am oberen Stoffrand meines Oberteils hätte mich fast aufschreien lassen. Etwas Raues berührte mich, machte sich am Stoff zu schaffen. Nun hielt ich es gar nicht mehr aus, zuckte panisch zusammen, drehte meinen Kopf, zog scharf die Luft ein und starrte über mich ins Halbdunkel. Irgendein langhaariger Zottel beugte sich über mich, im Inbegriff, mir mein Oberteil unter die Brust zu ziehen. Für einen Moment schien er irritiert zu sein, denn er hielt inne und starrte mich verblüfft an. Unsere Blicke trafen sich - mein Gott, ich musste echt einen an der Klatsche haben, denn ich war wie hypnotisiert von einem solch tiefgründigen Blau, welches ich noch nie in einer Iris zuvor gesehen hatte. Ein warmer, aber stark alkoholisierter Atem streifte mich und riss mich aus meiner Starre.
„Lass die Finger von mir, du Penner!“, schrie ich den Kerl an und schlug seine Hände weg. Mit den Füßen versuchte ich seinen Unterleib zu treffen, was mir nach einigen Tritten auch gelang.
„Uffff...“, keuchte der Eindringling auf, beugte sich vornüber. Dabei starrte er zur offenen Tür, danach wieder zu mir. Gerade als ich Luft holen wollte, um zu schreien, stürzte er sich auf das Bett kniend über mich und presste mir seine Hand auf den Mund.
Wild entschlossen zerrte ich an seinem Arm. Mir entging nicht, dass er immer wieder gehetzt zur offenen Schlafzimmertür blickte. Als ich eine weitere Männerstimme von unten rufen hörte und er wieder auf mich herabsah und fast unmerklich seinen Kopf schüttelte, hielt ich mit dem Zerren an seinem Arm inne und starrte ihn einfach nur an. Er öffnete seinen Mund, in dem auf den ersten Blick ordentliche Zähne erschienen, und rief etwas zurück. Die Sprache kam mir so bekannt vor und dennoch verstand ich sie nicht. Nur hin und wieder ein Wort. Und zudem stotterte dieser Kerl – kein Wunder, dass ich nichts verstand.
Kurz darauf hörte man, wie sich der andere Mann im Untergeschoss aus dem Haus machte. Der Kerl über mir nahm langsam seine Hand von meinem Mund, erhob sich ein Stück von mir und betrachtete mich unverhohlen grinsend. Ich nutzte die Chance und rutschte soweit es ging, von ihm weg. Trotz seines ungepflegt wirkenden, dunkelblonden Vollbartes, in dem auch Zöpfchen eingeflochten waren, erkannte ich im Zusammenspiel mit seinen so unglaublich leuchtend blauen Augen ein Lächeln. Ein ziemlich freches, einnehmendes sogar. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden, aus Wut und aus Verlegenheit zugleich und versuchte dem Eindringling nicht mehr in die Augen zu sehen.
In diesem Moment ertönte ein lang gezogenes Warnhorn und aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Zottel fast unmerklich die Schultern senkte. Und so schnell konnte ich gar nicht reagieren, als er sich im nächsten Moment erneut mit einem Bein neben mich aufs Bett kniete und mit seiner Hand neben meinem Kopf abstützte. Ängstlich drückte ich mich in das Kissen, doch seine freie Hand fuhr unter meinen Kopf in den Nacken, hob ihn ein Stück an. Ich war wie gelähmt, wehrte mich nicht, konnte nur gebannt in seine Augen sehen. Langsam näherte sich sein Gesicht dem meinen und seine Alkoholfahne wurde wieder stärker.
Ein zweites Mal ertönte ein Warnhorn, was dem Zottel ein leises Knurren entlockte. Im nächsten Moment spürte ich seinen warmen Atem über meine Lippen streichen, bevor sie sich berührten. Wie betäubt ließ ich es geschehen und starrte ihn an. Ich hatte weiß Gott was erwartet, aber keinen sanften Kuss, und ich erwischte mich, wie ich langsam die Augen schloss. Ein drittes, lang gezogenes Horn dröhnte durch die Nacht und sofort löste er seine Lippen von meinen. Während er sich erhob, strichen seine Finger sanft über meine Wange und sein Blick hing für einen Moment lang noch auf meinen Lippen. Ich sah ihm verdutzt nach, wie er durch das Fenster des gegenüberliegenden Zimmers, unter dem sich der Vorbau des Hauses befand, verschwand.
Kaum war er fort, löste sich meine Starre und ich sprang wie von der Tarantel gestochen auf und lief hinüber zum Fenster. Im Mondlicht sah ich, wie mehrere Männer aus verschiedenen Richtungen den Deich überquerten, über den die Nebelwand sanft herüberwaberte. Einer der Männer blieb oben stehen und drehte sich noch einmal um – er könnte es vielleicht gewesen sein. Dann wandte dieser Kerl sich ab und stürmte wie die anderen Männer auf der dem Meer zugewandten Seite des Deiches hinab.
Der Spuk war vorbei.
Ich lehnte mich gegen den Fensterrahmen und starrte noch eine Weile in diese Richtung. Mein Herz klopfte noch immer heftig. Als der Wind auffrischte und den Nebel über den Deich seewärts drückte, erwachte ich fröstelnd aus meiner Starre und wollte das Fenster schließen. Argwöhnisch beäugte ich es, aber hier waren keine Einbruchspuren zu erkennen. Sie mussten über das Erdgeschoss reingekommen sein.
Verwirrt fuhr ich mir durch die Haare, blickte immer wieder zum Deich. Ich konnte noch nicht ganz fassen, was da passiert war. Ein Einbruch und ... sollte man es sexuellen Übergriff nennen? Es war mir, als würde ich die Lippen des Fremden noch immer auf meinen spüren. Ich schalt mich eine Närrin und schob es auf dessen Alkoholkonsum zurück, den ich vermutlich als Rückstand auf meinen Lippen schmeckte.
Bevor ich nach unten ging, zog ich eine Strickjacke über und schnappte mir mein Handy. Ich schrieb Maren eine SMS, ob bei ihr alles ok war und dass man bei mir eingebrochen hatte. Details verschwieg ich absichtlich, weil sie sich sonst fürchterliche Sorgen machen würde. Dann fasste ich allen Mut zusammen und stieg die Treppe hinab.
Natürlich war niemand mehr da. Ich schaltete sämtliche Lichter an und betrachte das Chaos. Schubladen offen, Papiere lagen kreuz und quer. Von den Hightech-Sachen war noch alles da. Sogar das bisschen Bargeld, was ich im Haus in einer Kaffeedose aufbewahrte, war noch an seinem Ort. Jedoch war die Küche geplündert. Fast sämtliche Nahrungsmittel waren weg. Auch ausnahmslos alle Gewürze und Kräuter. Eine Tüte Mehl lag verstreut auf dem Boden, Fußspuren und Fingerdatschen waren hier und dort zu sehen. Und dann sah ich, wie sie hereingekommen waren: nasse Spuren führten hinein, mehlige hinaus. Durch das Badezimmerfenster. Vermutlich hatte ich es nicht richtig verriegelt.
Ich schaute auf mein Handy. Von Maren keine Antwort. Seufzend wählte ich die 110 und meldete den Einbruch mit dem Hinweis, dass mir nichts passiert sei und die Obdachlosen nur Lebensmittel gestohlen hätten. Der Beamte versprach, baldmöglichst einen Wagen vorbeizuschicken. Brav bedankte ich mich, beendete das Gespräch und überlegte, wie lange die Beamten wohl bräuchten. Nachdenklich schloss ich das Fenster, stieg wieder hinauf und legte mich in mein Bett. Aber an Schlaf war vorerst nicht zu denken. Im Geiste ging ich wieder und wieder den Vorfall durch.
Der Kerl hatte wie ein Obdachloser ausgesehen. Seine müffelnde Kleidung, sein alkoholisierter Atem, der Schmutz. Der ungepflegte Bart. Dann fiel mir wieder ein Detail ein, ein eigentlich sehr auffälliges Detail. Er hatte eine Kopfbedeckung getragen. Erst beim Umdrehen hatte ich sehen können, dass es keine Mütze war, sondern eine Art Helm. Und Stück für Stück fiel mir mehr ein. Ein wollener Umhang, mit Fell am Kragen. Und ein Kurzschwert?
Ich hatte definitiv zu viele Wikingerromane gelesen, ermahnte ich mich selbst und nahm mir vor, diese Details nicht der Polizei gegenüber zu erwähnen. Auch die Szene in meinem Schlafzimmer würde ich geflissentlich verschweigen.
Bis die Polizei kam, dauerte es noch eine Weile. Sie schrieben alles auf, machten Bilder und nahmen an Haustür und Badfenster Fingerabdrücke und Vergleichsabdrücke von mir.
Kurz nachdem sie fortwaren, klingelte auch schon Maren an meiner Tür.
„Moin, Astrid, alles ok bei dir? Das ist so fürchterlich! Ich wäre ja tausend Tode gestorben, wenn mir und Nils sowas passiert wäre!“
Ich versuchte die aufgeregte Freundin zu beruhigen. „Komm erst mal rein“, bat ich sie mit einer einladenden Handbewegung ins Haus. „Soweit ist alles ok, Maren. Sie haben nichts Wertvolles mitgehen lassen, es ging ihnen wohl nur um die Nahrungsmittel.“
„Aber es hätte dir weiß Gott was passieren können ...“, murmelte sie kleinlaut, während sie ihre Nase schnäuzte.
Besorgt reichte ich ihr meine Papiertuchbox. „Wie geht es dir denn? Du siehst ziemlich schlecht aus“, versuchte ich vom Thema abzulenken, was meine Freundin sehr mitzunehmen schien.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht. Und wenn es dir nichts ausmacht, würde ich wieder heimgehen und mich hinlegen. Wir können ja später nochmal telefonieren?“
„Natürlich, Maren. Und wenn du was brauchst, sag mir bitte Bescheid. Ich werde jetzt erst einmal einkaufen fahren und mich wohl komplett neu ausstatten.“ Seufzend ließ ich meinen Blick durch die verwüstete Küche schweifen.
Maren schleppte sich zur Haustür. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie trotz ihrer Erkrankung vorbeigekommen war. Nachdem ich die Haustür hinter ihr verschlossen hatte, öffnete ich die Fenster in Küche und Bad sowie die Terrassentür, um frische Luft ins Haus hinein- und hoffentlich Marens Viren hinauszulassen.
2
Die nächsten Wochen vergingen und der Vorfall verlor sich bald im Alltag. Doch nachts konnte ich oft nicht einschlafen oder schreckte aus dem Schlaf auf, sodass ich mir irgendwann von meinem Hausarzt ein leichtes Schlafmittel verschreiben ließ.
Die Krankheitswelle in der Gemeindeverwaltung ebbte langsam ab und bald hatte mich auch der normale Alltag im Büro wieder fest im Griff. Maren hatte ihre Erkrankung, die sich als Sommergrippe herausgestellt hatte, gut überstanden und an mir war der Kelch – bis auf einen leichten Schnupfen – zum Glück vorbeigegangen.
Ich hatte das Wochenende mit meinem freitäglichen Einkauf im Skymarkt beginnen lassen und die Herbstdeko daheim hervorgeholt. In wenigen Tagen würde der Oktober beginnen, der hoffentlich noch ein paar warme Tage bieten konnte.
Es war bereits nach acht Uhr abends, als ich die Rollos im Erdgeschoss nach und nach herunterließ. Mein Blick fiel auf den Vollmond, der sich am dunkel werdenden Himmel zeigte. Ich wusste nicht warum, aber plötzlich kam mir die Frage in den Sinn, ob am Tag des Einbruches nicht auch Vollmond gewesen war. Also zog ich mein Handy aus der Gesäßtasche und suchte nach den Daten im Internet.
„Hmmm, tatsächlich ...“, murmelte ich vor mich hin und steckte das Handy wieder weg, um mir die Dekokartons zu schnappen und in dem kleinen Abstellraum unterzubringen. Da ich Maren zum Mädelsessen eingeladen hatte, kochte ich wie versprochen Pasta für uns zwei. Als alles schon fertig war und ich den Tisch gerade eindeckte, piepte mein Handy.
SORRY, ASTRID. NILS IST KRANK UND ICH KANN IHN UNMÖGLICH ALLEIN LASSEN. VERSCHIEBEN WIR DEN MÄDELSABEND? MAREN
JA, KEIN PROBLEM. GUTE BESSERUNG FÜR DEN KLEINEN MANN! LG ASTRID
“Klasse. Und was mache ich mit dem Berg Spaghetti?” Seufzend ließ ich mich auf einem der Esszimmerstühle nieder. Ich war enttäuscht, aber andererseits konnte ich Maren ja verstehen. Ihr Sohn brauchte sie. Daher packte ich mir eine gute Portion Spaghetti auf den Teller und aß sie in meine Gedanken versunken. Ich grübelte wieder über die Tatsache des Mondstandes und des Wetters. Hatte man nicht für heute wieder dichten Herbstnebel gemeldet? Die Herdplatten waren bereits abgekühlt und so stellte ich die Töpfe darauf ab. Ich war nun so müde und vollgefressen, dass ich keine Lust mehr auf Aufräumen hatte. Bevor ich ins Bett ging, setzte ich mich mit einer Tasse Tee vor den Fernseher, ließ den Kluntje, den nordischen Zucker, klirrend hineinfallen, um auf dem Dritten Programm einen Krimi anzuschauen. Freitags war einfach kein Tag, an dem ich lang wach bleiben konnte.
Wie so häufig in der letzten Zeit schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Wie auch die anderen Male horchte ich. Gerade als ich mich wieder hinlegen wollte, klapperte es im Erdgeschoss. Augenblicklich schoss mein Puls in die Höhe, überlegte und war mir Hundertprozent sicher, dass ich diesmal alle Fenster verschlossen hatte!
Jegliches Geräusch vermeidend setzte ich mich auf, zog mir eine Strickjacke über den Kurzpyjama und tapste zur Tür, darauf erpicht, den knarrenden Dielen auszuweichen. Langsam öffnete ich die Schlafzimmertür einen Spalt und wusste sofort, wie der Eindringling diesmal hereingekommen war: durch das Fenster des gegenüberliegenden Zimmers!
„SCHEISSE!“ Fluchend wandte ich mich Richtung Treppe. Von oben sah ich den Schein der batteriebetriebenen Leuchte, und obwohl ich Angst hatte, was mich erwartete, stieg ich die ersten Stufen hinab. Was machte mich so sicher, dass mir nichts passierte? Ich wusste es nicht.
Unten angekommen versteckte ich mich mit klopfendem Herzen hinter der Ecke zum Flur. Aber von dort konnte ich die Küche nicht einsehen, aus der eindeutig die Geräusche kamen. Jemand schnaufte schmatzend vor sich her und kratzte in irgendeinem Topf herum. Vorsichtig wagte ich mich einen Schritt vor, damit ich um die Ecke sehen konnte.
Ich sah einen Mann – zwar nur von hinten, aber es konnte möglicherweise der gleiche wie vor ein paar Wochen sein, der mich im Bett überrascht hatte. Bei genauerem Betrachten sah ich, dass es kein einfacher, wollener Mantel war, den er trug. Er war reich mit Stickereien verziert.
Mit dem Soßenlöffel kratzte der Fremde die Tomatensoße aus dem Topf und setzte diesen an. Mit den Fingern stopfte er sich die kalten Spaghetti aus dem anderen Topf in den Mund. Als ich die Möglichkeit hatte, einen Blick von der Seite auf ihn zu erhaschen, war mir endgültig klar, dass es der gleiche Mann war.
Fieberhaft überlegte ich, was ich tun sollte. Er hatte mir zwar nichts getan, aber das musste jetzt nicht wieder so sein. Mein Blick fiel auf den Besen, der auf der gegenüberliegenden Flurseite in der Nische lehnte. Noch einmal blickte ich zu dem Fremden, der wieder mit dem Rücken zu mir stand, machte einen großen Schritt und griff nach dem Besen. Wie einen Schatz presste ich ihn an mich und versteckte mich wieder hinter der Ecke.
Da er weiter vor sich hin schmatzte, schien er mich nicht bemerkt zu haben. Noch einmal überlegte ich, ob es nicht einfacher wäre, mich im Schlafzimmer zu verschanzen und die Polizei zu rufen. Aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Verdammte Neugier!
Mit dem Besenstiel bewaffnet schielte ich erneut um die Ecke. Das durch das Küchenfenster fallende Mondlicht gab mir genügend Details. Zwar lag sein Helm auf dem Boden neben ihm, aber sein Schwert trug er. Gegen dieses konnte mein Besenstiel nichts ausrichten. Aber es vielleicht abwehren?
Meine Hand wanderte an der Wand entlang und ertastete den Lichtschalter. Klick!
Es schepperte, der Soßentopf landete auf dem Cerankochfeld, und die Spaghettisoße spritzte herum, als auch der Löffel fiel. Lautstark fluchte der Fremde, sein Stottern war nicht zu hören. Aber verstehen konnte ich ihn trotzdem nicht. Mit zittrigen Beinen und dem Besenstiel in der Hand trat ich aus meinem Versteck, darauf gefasst, dass er mich gleich angreifen würde. Der Fremde fuhr zu mir herum und langte reflexartig nach seinem Schwertgriff. Als er mich erblickte, hatte er die Klinge bereits zur Hälfte aus der Scheide gezogen, doch dann stockte er.
Er sah mich an und ich ihn. Sein Schwert langsam zurückschiebend musterte er mich. Sein zuerst wütendes Gesicht entspannte sich, als er mich erkannte. Und während ich ihn ebenfalls betrachtete, konnte ich nicht anders, als zu kichern. Er trug einen dicken Klecks Soße im Gesicht und sein Bart war nicht mehr Dunkelblond, sondern tropfte in Tomatenrot. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Gegenüber ein ziemlich breit gebauter Hüne war.
Mein Kichern unterdrückend machte ich einen Schritt in seine Richtung, griff umständlich nach den Geschirrtüchern um die Ecke und warf ihm eines zu. Mir war klar, dass das nicht viel brachte, aber irgendwas musste ich einfach tun. So blieb ich im Flur vor der kleinen Küche stehen. Ein Grinsen überzog nun auch sein Gesicht, nachdem er sich die Soße notdürftig abgewischt hatte. Plötzlich kam er einen Schritt auf mich zu und mir wurde mit einem Mal die Gefahr wieder bewusst. Er war riesig, viel, viel größer als ich. Noch immer grinsend beugte er sich zu mir herab, visierte erst meine Lippen, dann meinen Ausschnitt an, bevor er mir mit einem verächtlichen Schnauben den Besenstiel wegnehmen wollte.
„Nein, geh weg!“ Drohend wich ich ihm aus und hielt ihm den Stiel entgegen.
Mein Gegenüber blieb stehen, beäugte mich und meine Waffe. Doch ehe ich begriff, hatte er den Besenstiel ergriffen, weggeschleudert und mich mit der anderen Hand im Nacken gepackt. Wie ein Kaninchen, welches im Genick festgehalten wurde, begann ich mich unter seinem Griff zu winden. Sein Blick ruhte auf mir, viel zu lange. Eine Träne wich aus meinem Augenwinkel, und als er sie entdeckte, berührten seine Fingerkuppen meine Wange und er strich sie fort.
Im nächsten Moment zog er mich dichter an sich, doch ich wehrte mich, in dem ich meine Füße auf den Boden und meine Hände gegen seine Brust stemmte. Er schüttelte ungeduldig seinen Kopf, während er mein Gesicht zwischen seinen Händen gefangen hielt und wieder meine Lippen anvisierte. Doch erneut verhielt ich mich wie ein verängstigtes Häschen.
Dann berührten seine Lippen meine mit einer solchen Sanftheit, dass ich nach einem Moment die Gegenwehr fallen und mich in seine Arme ziehen ließ.
Aber es war nur ein kurzer, verwirrender Kuss. Er ließ mich los und unsicher wich ich zurück. Ein schelmisches Lächeln huschte über sein Gesicht, erreichte seine blauen Augen und doch verschwand es sofort wieder.
Der Fremde strich sich über seinen Bart und sein Hemd, was beides noch immer von Tomatensoße getränkt war, und betrachtete seine davon rötlich schimmernde Hand.
„Warte.“ Aus einem Gefühl heraus, nahm ich ein weiteres Geschirrtuch, trat an die Spüle und tränkte es unter dem Wasserhahn. Neugierig trat er zu mir ans Spülbecken und bestaunte das Schauspiel. Noch immer unsicher hielt ich ihm das nasse Tuch hin, welches er entgegennahm und staunend zusammenpresste, sodass sich Tropfen auf dem Fußboden verteilten. Erst dann begann er sich damit den Bart sauber zu waschen. Mit dem nun rot verfärbten Tuch stand er da und sah mich fragend an. Mit den Fingern zog ich am Hebel, sodass das Wasser erneut begann, langsam zu laufen. Vorsichtig griff auch er nach dem Hebel, drückte und zog daran. Als er es verstanden hatte, hantierte er plötzlich herum. Zog seinen Umhang ab, legte den Schwertgürtel neben das Spülbecken und zog sich das Hemd über den Kopf. Ein nicht unansehnlicher Oberkörper kam zum Vorschein, und obwohl es ja nichts Verwerfliches war, sah ich peinlich berührt zur Seite.
Der Fremde begann sich im Spülbecken bei laufendem Wasser zu waschen, und schon bald hatte er das warme Wasser entdeckt und jauchzte leise auf.
Mit dem Kopf unter dem Wasserhahn sah er mich von der Seite an. Schalk stand in seinem Gesicht geschrieben und so schnippte er Wasser in meine Richtung. Lachend brabbelte er mir etwas entgegen, doch ich verstand ihn nach wie vor nicht.
„Es tut mir leid, aber ich verstehe dich nicht“, wandte ich meine Dänischkenntnisse an. „Es ist kein Dänisch, das habe ich mittlerweile gelernt. Aber Schwedisch oder Norwegisch spreche ich nicht.“ Hinter seiner Stirn begann es sichtlich zu arbeiten.
„Mei...n Name i...st Úlfur.“
Als er bemerkte, dass ich ihn verstanden hatte, leuchteten seine Augen und ein Schmunzeln überzog erneut sein Gesicht. Sein Lächeln und seine Augen verwirrten mich aufs Neue. Musste er so gucken?
„Ich heiße Astrid“, gab ich schüchtern preis.
Nachdenklich grub ich in der Kopfkiste mit dem Dänisch. Doch bevor ich dazu ansetzen konnte, etwas zu sagen, kam Úlfur mir zuvor: „Das i...st Zau...berei!“ Er wies auf den Wasserhahn.
„Nicht für mich. Das ist normal, es ist Technik.“
Wieder begann Úlfur den Wasserhahn auf und zuzumachen, bevor er sich aufrichtete und die Lampe betrachtete.
„Wi...r sind wei...t gereis...t.“
„Woher kommst du?“
„No...rdö...stlich von hi...er, au...s Skåne.“
Skåne. Ich musste überlegen, es gehörte zu Schweden, aber wenn ich mich recht an meinen Abendschulkurs in Dänisch erinnerte, gehörte diese historische Provinz mit deutschem Namen Schonen im Süden Schwedens, also direkt neben Dänemark, einst zu eben diesem Land.
„Woher kannst du Dänisch?“
Úlfur zuckte mit den Schultern. „Die Ä...lteren spre...chen beide Spra...chen. Und ich ha...be sie gele...rnt.“
*
Úlfur betrachtete das fremde Weib, das so ganz anders als die Frauen in seiner Heimat war. Sie war ängstlich und doch mutig zugleich und zudem wissbegierig. Ihre vor Angst bebenden Lippen betörten ihn. Er konnte nicht anders, er musste sie erneut küssen. Aber er sah die Angst in ihren Augen, während sie versuchte, sich in diesem für ihn fremd aussehenden Haus Abstand zu ihm zu wahren.
Es war eine völlig andere Welt, in der sie lebte, und ihm war klar, dass sein Auftauchen und Verhalten sie verängstigte. Die bisherigen Orte, die sie auf ihren Vikingfahrten geplündert hatten, waren nie so fremd gewesen. Anders als seine Heimat, aber nicht so. Dieses Mal hatte der Zauberer sie weiter als je zuvor in die Zeit vorausgeschickt. Und so war auch für ihn alles neu und fremd.
Ein Gefühl sagte ihm, dass er sich bemühen musste, das Vertrauen von Åsfrid zu gewinnen. Nur die Götter wussten, warum. Aus diesem Grund hatte ihn sein Weg diesmal allein und direkt zu ihr geführt.
Er hatte beinahe die ganze Nacht Zeit, ihr Vertrauen zu gewinnen, bevor das Warnhorn die Schiffsbesatzung vor dem Morgengrauen zurückrufen würde.
*
Ich ließ den Fremden namens Úlfur nicht aus den Augen, während er versuchte, die Tomatensoße aus seinem Hemd herauszuwaschen.
Immer wieder wanderte sein neugieriger Blick zu mir herüber. Ich hatte mich in die andere Ecke der Küche zurückgezogen - so hatte ich genügend Abstand, um ihm gegebenenfalls zu entkommen. Gerade als er fertig zu sein schien, ertönte kurz hintereinander zweimal ein Warnhorn.
Der Fremde fluchte, sah sich um und ergriff seinen Umhang und Helm.
„Gibt Pro...obleme, ich mu...uss gehen.“
Mit einem großen Schritt überbrückte er die Distanz, zog mich mit der Hand im Nacken harsch an sich und küsste mich noch einmal, beinahe lieblos. Ein tiefer Blick in meine Augen, und im nächsten Moment drehte er sich schon um, lief ins Bad und kletterte durch das Fenster hinaus.
Fassungslos stand ich in der Küche, starrte zur Badezimmertür. Was zum Teufel war das denn? Mit noch wackeligen Beinen von seiner Kuss-Aktion ging ich zum Bad hinüber.
Erneut hörte ich das Horn zweimal hintereinander. Nachdenklich schloss ich das Fenster und verließ das Bad wieder. Mein Blick fiel sofort auf das Kurzschwert neben dem Spülbecken. Das Schwert schnappend lief ihm so schnell ich konnte durch die Haustür hinterher.
„Warte!“, rief ich, als ich meinte, ihn im Schein einer Straßenlaterne vor mir zu entdecken. Doch es war ein anderer Mann, der ähnliche Kleidung trug und der mich beim Weiterlaufen verwirrt ansah. Erschrocken blieb ich stehen, sah mich suchend um. Dann entdeckte ich ihn oben auf dem Deich, immer wieder zwischen mir und etwas hinter dem Deich hin und her blickend. Ich raffte die dünne Strickjacke fester zusammen und sprintete los, soweit es meine Wackelpuddingbeine zuließen, und erklomm die Stufen hinauf auf den Deich.
Er hatte den Grund meines Kommens erkannt und griff sich sofort das Kurzschwert, als ich ihn erreichte. Mit
Verlag: Elaria
Texte: Anke Bergmann
Bildmaterialien: Jasmin Whiscy // www.whiscy.de
Cover: Jasmin Whiscy // www.whiscy.de
Lektorat: Melanie Morawietz
Satz: Anke Bergmann (eBook)
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2018
ISBN: 978-3-96465-016-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Weitere Mitwirkende:
Volker Grosser und Sarah-Marie Müller