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Die Schatten greifen an

Und auf einmal waren die Straßen, die sie so sehr liebte, die ihr normalerweise ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe vermittelten, erfüllt von Angst und Schatten. In jede Ritze im alten Gemäuer krochen sie, zogen sich von Fenstersims zu Fenstersims, füllten die Türrahmen und sprangen über die Dächer. Ihre Schreie übertönten den Verkehrslärm, die Sicherheit der mit Touristen gefüllten Straßen wurde unerreichbar. Sophie rannte obwohl sie wusste, dass sie ihnen nicht entkommen konnte. Sie waren überall, sperrten das Licht der Sonne aus bis es stockfinster wurde in den Straßen. Sophie schlug Haken, rannte um jede Ecke, die sie finden konnte, aber es half nichts. Die Gebäude schienen sich unter der Last der Schatten nach vorn zu neigen, drohten, die Straße und Sophie unter sich zu begraben. Die typisch helle Farbe der Pariser Gebäude war absoluter Schwärze gewichen. Sophie rannte, aber ihre Ohren schmerzten von den lauten Schreien der vielen Stimmen, ihre Augen flogen zu schnell hin und her in dem verzweifelten Versuch, in der Dunkelheit Einzelheiten zu erkennen, einen Ausweg. Es war zwecklos. Einen Moment später stolperte Sophie über den Rinnstein und fiel. Sie schürfte sich das Knie auf und blieb liegen. Einen Moment lang wurde es totenstill und Sophie glaubte fast, sie hätte sich die Schatten nur eingebildet. Aber als sie aufblickte, waren sie immer noch da. Sie hielten inne, nur für einen Moment. Lehnten sich von den Dächern und aus den Hauseingängen. Sie hatten keine Augen, aber Sophie spürte, wie sie sie ansahen. Dann ging das Geschrei von Neuem los, erfreut, triumphierend. Die Schatten sprangen aus ihren Verstecken, aus dem Gestein und sausten durch die Luft auf sie zu. Sophie schloss die Augen.

Sie spürte, wie etwas an ihren Klamotten zog, an ihren Haaren. Spürte, wie eine scharfe Klaue über ihren Arm fuhr. Spürte die Kälte, die die Schatten mit sich brachten. Dann eine sanfte, hauchzarte Berührung auf ihren Lippen. Sophie wusste nicht, ob sie real war. So wenig wie sie wusste, ob die Schatten real waren.

Plötzlich ertönte ein Fauchen, gebietend, befehlend. Weitere antworteten, manche enttäuscht, andere wütend, um ihre Mahlzeit beraubt. Aber sie wurden übertönt von einem scharfen Bellen. Und nach und nach wurde das Fauchen leiser, bis es schließlich ganz verschwand.

Sophie wagte es kaum, aber sie öffnete die Augen. Die Schatten waren verschwunden, die Sonne schien ihr auf den Rücken als wäre nichts passiert und ließ langsam ihre Gänsehaut verschwinden. Vielleicht war sie gestolpert und bewusstlos geworden, hatte nur schlecht geträumt. Nein, da waren noch Spuren von Frost, die sich über den Boden zogen und nur langsam schmolzen. Da war der blutige, verschmierte Kratzer auf ihrem Arm. Die feinen Risse in ihrer Jeans und ihrem Top. Da war die Tatsache, dass sie ihre Jacke auf einmal nicht mehr trug. Nein, sie hatte sich das alles nicht nur eingebildet. Die Schatten waren da gewesen. Und Sophie war sich sicher: sie waren verantwortlich für die vielen Verschwundenen und Toten der letzten Wochen und Monate. Aber wieso dann nicht auch sie? Wieso war sie noch hier? Wieso lebte sie noch?

Vorsichtig setzte sie sich auf, sah sich um und entdeckte nichts besonderes. Sandsteinfarbene Gebäude, ein wenig verfallen, weil nicht direkt an einer Hauptstraße gelegen. An der nächsten Kreuzung fuhr ein Kleinwagen vorbei. Müllsäcke standen auf den Gehsteigen und warteten auf die Müllabfuhr, die mal wieder zu spät war. Dann sah sie ihn.

Er stand in einem der Hauseingänge und sah sie an. Er lächelte, aber sein Lächeln hatte nichts warmes an sich. Dann hob er die Hand, Sophie erkannte ihre Jacke darin. Sie sah, wie er daran roch, als wolle er ihren Geruch einsaugen. Er ließ die Hand wieder sinken, lächelte und winkte kurz mit der anderen. Dann machte er einen Schritt nach hinten und verschwand aus Sophies Blickfeld. Sie rappelte sich auf und rannte hin, aber da war niemand. Nicht einmal ihre Jacke lag dort. Da war nur der Schatten, den der Türrahmen selbst warf. Vielleicht war er hineingegangen? Sophie sah sich um, entdeckte drei Klingelschilder, alle mit breitem Klebeband überklebt. Das Haus stand leer. Sie versuchte es trotzdem, klingelte, aber niemand öffnete ihr. War er überhaupt da gewesen?

Sophie versuchte sich daran zu erinnern, wie er aussah, konnte aber nicht mal sagen, ob er hell- oder dunkelhäutig gewesen war. Nur seine Augen, die sah sie nach wie vor vor sich in der Luft schweben. Gelb, wie die eines Wolfes, eiskalt. Der Blick eines Killers, der sie gestreift hatte. Sophie fröstelte und schlang die Arme um den Körper. Sie musste dringend nach Hause und ein warmes Bad nehmen. Vielleicht war er gar nicht da gewesen.

Sophie trat aus dem Hauseingang heraus und dachte für einen Moment, sie hätte Finger gespürt, die ihr entblößtes Schulterblatt streichelten. Aber als sie sich umdrehte, war da noch immer niemand. Nicht einmal eine Spinnwebe, nur der Schatten. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Vielleicht hatte sie doch zu viele Stephen King Romane gelesen.

Ohne sich noch einmal umzublicken, machte sie sich auf den Weg zur nächsten Metro Station.

Die Party

Eigentlich hatte Sophie gar nicht kommen wollen. Sie war einfach nicht in der Stimmung für eine Party gewesen. Und sie wusste zu gut, dass Cléo ihr Versprechen nicht halten würde. Geschworen hatte sie, dass sie bei Sophie bleiben würde, für einen netten Mädelsabend. Ein letztes Mal warf Sophie einen Blick auf ihre Freundin, die in einer Ecke stand und mit ihrem Ex knutschte. Als der ungeniert die Hand unter Cléos Top wandern ließ, wandte Sophie sich wieder ab. Sie sah sich um und überlegte einen Moment lang, einfach abzuhauen. Aber sie hatte die Autoschlüssel und auch wenn Cléo vermutlich nicht mit ihr zurück fahren würde, wollte sie sie doch nicht allein lassen. Sophie seufzte. Dann schlängelte sie sich durch die zum Teil tanzenden, zum Teil einfach nur herumstehenden Leute auf dem Hochhausdach. Unter ihren Füßen schien das ganze Gebäude vom zu lauten Bass der Musik zu erzittern. Sie ging bis zum Rand, wo ein hoher Zaun verhinderte, dass jemand hinunter fiel. Sophie blickte durch die engen Maschen auf Paris, auf ihre Stadt.

Vor vier Jahren war sie zum ersten Mal hier gewesen, mit ihrer Schulklasse. Die Abschlussfahrt vom Collège. Damals hatte sie sich unsterblich in Frankreichs Hauptstadt verliebt und kaum hatte sie ihr Abi in der Tasche, war sie hergezogen um zu studieren. Ein halbes Jahr war das jetzt schon her und sie hatte noch immer das Gefühl nicht einmal einen Bruchteil der Stadt zu kennen. In Paris gab es immer etwas neues zu sehen. Irgendwo war immer etwas los – das liebte sie. Auch wenn sie eigentlich eher der Typ Mensch war, der gerne seine Ruhe hatte. Aber in Paris war das anders. In Paris war alles anders.

Sie dachte über ihre Klassenfahrt nach und wie sie sich in die Stadt verliebt hatte. Ihre Lehrer hatten ihnen einen Zeitrahmen von zwei Stunden gegeben um das Marais zu erkunden. Und während alle ihre Schulfreunde sich heimlich zurück zur Metrostation stahlen um zum nächsten Kaufhaus zu fahren, blieb Sophie alleine dort und lief ziellos umher. In einem Moment war sie noch mitten auf einer Hauptstraße, umgeben von Touristen und ein paar wenigen Einheimischen, die sich zwischendurch schlängelten. Dann war sie nur zwei Mal abgebogen und die Straßen waren wie leergefegt, der Verkehrslärm rückte in den Hintergrund. Sie kam an alten Läden vorbei, die grade groß genug waren um zu dritt darin zu stehen. Sie konnte durch alte Durchgänge in große Hinterhöfe blicken, die vor bunten Blumen nur so leuchteten. Alles um sie herum wurde ruhiger, der Rhythmus der Stadt veränderte sich. Sophie fühlte sich sofort wie Zuhause.

Sie ging weiter und irgendwann, zwischen Einbahnstraßen, Fußgängerzonen, Radwegen und mehrspurigen Straßen mit viel zu viel Verkehr, stand sie plötzlich im Grünen. Immer und immer wieder passierte ihr das. Mal war es nur eine kurze Allee, gesäumt mit ein paar dutzend zurechtgestutzen Bäumen, mal ein kleiner Platz, mit einer handvoll Cafés oder auch ein großer Park, in dem sich Touristen und Pariser gleichermaßen ausruhten und das gute Wetter genossen. Die große, dichte Stadt schien ihr an diesen Orten ganz weit weg. Und wenn sie sich dort umsah, sah sie nur lächelnde Gesichter.

Diese Plätze waren nach wie vor Sophies Lieblingsorte in Paris. Sie konnte Stunden im Parc de Luxembourg verbringen und die Fische im Teich beobachten, liebte es, auf dem Platz des Vosges zu lernen und abends in den Tuilerien zu lesen. Hier oben fühlte sie sich fast genau so. Die Stadt lag über hundert Meter unter ihr. Der Verkehrslärm, der sogar nachts die Straßen füllte, kam nicht bis zu ihr nach oben und die Lichter sahen aus wie Blumen, die vereinzelt auf einer Wiese erblühten. Aber da war der Bass, der unter ihren Füßen vibrierte, die Musik, die ihr in den Ohren dröhnte und der beißende Geruch von hochprozentigem Alkohol, den jemand neben ihr gerade aus Versehen verschüttet hatte. Sophie versuchte es auszublenden und hinaus in die Nacht zu sehen. Sie suchte die Geborgenheit, die die Dunkelheit ihr schon immer vermittelt hatte, das Gefühl klein und unbedeutend zu sein im Vergleich zu den Sternen und doch ganz da. Es gelang ihr nicht sonderlich gut. Die Stille fehlte und die wenigen Sterne, die man am Himmel über Paris manchmal sehen konnte, waren von dunklen Wolken verborgen. Die Stadt schien selbst mitten in der Nacht noch hell zu leuchten, nicht so wie ihr Heimatdorf, in dem man nachts eine Stecknadel fallen hören konnte. Trotz des allgegenwärtigen Lichtschimmers erinnerte die Nacht Sophie an die Schatten, die sie vor wenigen Tagen verfolgt hatten. Sie hatte niemandem davon erzählt, aus Angst, man würde sie für verrückt halten und wer weiß? Vielleicht war sie das auch. Der Kratzer an ihrem Arm war nur noch eine schmale dünne Linie, wer nicht wusste, dass er da war, würde ihn schnell übersehen. Aber Sophie wusste, dass er da war. Sie wusste, was sie erlebt hatte. Erinnerte sich an die Angst, an die Gewissheit, dass sie jetzt sterben würde. Trotzdem stand sie hier.

Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, wollte Sophie sich wieder abwenden. Sie wollte sich irgendwo einen Stuhl schnappen und einfach abwarten bis Cléo ihr sagte, ob sie nun mit ihr mitfahren wollte oder nicht. Da spürte sie, wie sich einen warme Hand auf ihren Rücken schob. Neben ihr tauchte ein junger Mann auf, den Sophie noch nie zuvor gesehen hatte. Im ersten Moment glaubte Sophie, er müsse sie mit irgendwem verwechselt haben, doch dann sah er sie an und lächelte.

„Bist du ganz allein hier?“, fragte er.

„Nein“, Sophie schüttelte schnell den Kopf. Dann blickte sie sich um und zeigte auf Cléo, die nach wie vor mit ihrem Ex beschäftigt war. „Mit einer Freundin.“

Der Mann neben ihr grinste. „Scheint, als hätte sie nicht besonders viel Zeit für dich. Darf ich dich vielleicht auf einen Drink einladen?“ Sophie musterte den Typen jetzt genauer. Er sah gar nicht mal schlecht aus. Er hatte dunkle Haut und schwarzes Haar, aber helle Augen. Wenn er lächelte, kam an seinem Kinn ein kleines Grübchen zum Vorschein. Er war groß und schien relativ durchtrainiert zu sein. Ein Typ wie der musste eigentlich eine Freundin haben. Und selbst wenn er Single war – Sophie passte bestimmt nicht in sein Beuteschema. Neben ihm wirkte sie noch blasser. Sie war schon immer schlank gewesen, hübsch, ja vielleicht, aber zu dürr für sexy. Sie hatte zwar lange Beine, aber so gut wie keine Kurven – weder Oberweite noch Arsch. Ihre Hände fand sie zu groß, ihre Finger zu lang, was nur beim Klavierspielen von Vorteil war. Ihre Augen waren so dunkelbraun, dass man bei schlechtem Licht kaum erkennen konnte, wo die Pupille aufhörte. Das hatte schon öfter dazu geführt, dass ein Polizist sie nach ihrem Drogenkonsum befragt hatte. Ihre Nase fand sie zu lang, ihre Wangen zu eingefallen. Allein wenn sie mal lächelte, fand sie sich hübsch. Aber das tat sie viel zu selten. Der Typ könnte eine viel bessere bekommen, dachte sie und überlegte, ob vielleicht ihr Outfit ihn dazu gebracht hatte, sie anzusprechen. Aber mit schwarzen T-Shirt und schwarzen Jeans war sie eigentlich mehr als underdressed für diese Party und auch nicht im Mindesten so freizügig wie der Großteil der anderen Mädchen.

Der Kerl missdeutete ihr Zögern und lachte kurz. „Keine Sorge. Wir können gemeinsam zur Bar gehen, du bestellst was immer du willst und ich zahle. Ich werde deinen Drink nicht anrühren und dem Barkeeper kannst du gern auf die Finger schauen, wenn er ihn zubereitet. Ich hab nicht vor dir K.O.-Tropfen unterzumischen.“ Sophie erwiderte aus Höflichkeit sein Lächeln. Dann nickte sie. Wenn sie schon warten musste, konnte sie genauso gut dabei etwas trinken.

„Du bist noch hübscher, wenn du lächelst“, sagte der Kerl gerade heraus, während sie nebeneinander zur Bar gingen. Sophie war zu überrascht um irgendetwas zu erwidern. Als sie an der Reihe war, bestellte sie einen alkoholfreien Cocktail.

„Kein Alkohol?“, fragte der Typ neben ihr.

„Muss noch fahrn“, antwortete Sophie kurz angebunden. Er zuckte mit den Schultern und zahlte. Sophie hatte gedacht, dass ihn das vielleicht abschrecken könnte, aber das tat es nicht. Er griff sogar nach ihrer freien Hand und zog sie wieder von der Bar weg.

„Wohin gehen wir?“, fragte Sophie misstrauisch.

„Ein bisschen weiter weg, damit wir uns besser unterhalten können“, antwortete der Kerl. Sophie traute ihm immer noch nicht, aber gleichzeitig hatte sie ja auch nichts zu verlieren. Sollte er versuchen sie von der Party wegzulocken, konnte sie immer noch Nein sagen. Aber er führte sie nur auf die andere Seite des Daches, wo die Musik nicht ganz so laut und das Gedränge nicht ganz so stark war. Ein paar vereinzelte Grüppchen und Pärchen standen herum, mehr nicht. Der Typ setzte sich einfach auf den Boden und lehnte sich gegen den Zaun, der das Dach umgab. Dann klopfte er einladend neben sich. Sophie folgte der Aufforderung und nahm einen Schluck von ihrem Drink.

„Warum hast du mich angesprochen?“, fragte sie geradeheraus.

Der Typ schien kurz erstaunt über ihre Frage, setzte dann aber sein Lächeln wieder auf und antwortete ihr. „Du standest so alleine da. Auf so einer Party sind die wenigsten allein. Und wenn, dann nur für ein paar Minuten und in der Zeit sehen sie aus, als wollten sie am liebsten im Erdboden versinken oder starren aus ihr Smartphone um beschäftigt zu wirken. Du standest einfach nur da und hast hinaus in die Nacht geschaut. Das gefiel mir.“ Sophie nickte erst, weil sie diese Beobachtungen auch schon gemacht hatte. Dann stutzte sie. Und wenn, dann nur für ein paar Minuten. Wie lange war sie so dagestanden? Wie lange hatte er sie schon beobachtet? Sie begann, sich wieder ein paar Gedanken über seine Absichten zu machen.

„Ich bin übrigens Ambrose“, sagte der Typ dann.

„Sophie.“

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Achtzehn.“

„Pariserin?“

Sophie schüttelte den Kopf. „Zum Studium hergezogen.“

„Geht mir auch so. Was studierst du?“

„Geschichte auf Lehramt.“ Er musste ja nicht wissen, dass sie nebenher auch noch Kunst studierte. Das war etwas, dass sie lieber für sich behielt. Der Kerl verzog ein wenig das Gesicht.

„War nie so wirklich mein Lieblingsfach.“

„Und du?“, fragte Sophie, bevor er sie mit noch mehr Fragen löchern konnte.

„Hab Physik studiert.“ Sophie bemerkte die Vergangenheitsform in seinem Satz und fragte sich zum ersten Mal, wie alt er wohl sein mochte. Zwischen 24 und 28 konnte alles möglich sein, fand sie.

„Ich find deine Haare cool“, sagte er da und streckte die Hand aus. Ganz vorsichtig fuhr er durch ihre Haare und die Spitzen kitzelten sie im Nacken. „Sind die gefärbt?“

„Nö. Die waren immer schon so schwarz. Kann da gar nix dran machen“, antwortete sie. Es war nicht das erste Mal, dass jemand ihr diese Frage stellte. Jemand, der so helle Haut hatte wie sie, hatte in den seltensten Fällen so dunkle Haare. Und Sophies Haare waren nicht nur extrem dunkelbraun, sondern wirklich schwarz wie die Nacht. Sie hatte mal versucht sie aufzuhellen, aber das hatte nichts gebracht.

„Cool. Und seit wann trägst du sie so kurz?“ Komische Frage, dachte Sophie kurz, antwortete dann aber doch wahrheitsgemäß.

„Seit dem Abi. Ich hab einfach 'ne Veränderung gebraucht.“ Ambrose spielte nach wie vor mir ihren Haaren. Dabei strichen seine Finger immer wieder über ihre Genick, fuhren kurz unter den Kragen ihres T-Shirts. Schnell nahm Sophie noch einen Schluck von ihrem Cocktail. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand sie so ungeniert berührte und fragte sich, ob es ihr nicht eigentlich unangenehmer sein sollte.

„Kenn ich. Haben voll viele von meinen Freunden nach dem Abi auch gemacht. Ist halt irgendwie ein wichtiger Einschnitt im Leben. Das will man dann auch sehen können.“ Sophie nickte ohne es richtig zu bemerken. „Ich war da etwas radikaler“, sagte Ambrose und zog mit seiner freien Hand sein T-Shirt ein Stück hoch. Die andere ließ er nach wie vor in Sophies Nacken liegen. An seiner Hüfte kam ein kleiner tätowierter Schriftzug zum Vorschein. Sophie erkannte, dass es Latein war, hatte aber nicht den Kopf es gleich zu übersetzen weil sie von Ambroses deutlich definierten Bauchmuskeln zu abgelenkt war. Er ließ das T-Shirt wieder sinken.

„Was heißt das?“, fragte Sophie sofort.

„Eine Geschichtsstudentin, die kein Latein spricht?“, fragte Ambrose mit hochgezogener Augenbraue zurück. Aber bevor Sophie sich eine Ausrede einfallen lassen musste, redete er auch schon weiter. „Quidquid agis prudenter agas et respice finem - Alles was Du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“

„Hat das 'ne Bedeutung?“

„Hab's mir nach dem Abschluss stechen lassen, kurz bevor ich hergekommen bin. Ein guter Freund von mir war kurz vor dem Abi an 'ner Überdosis gestorben. Dachte, dass könnte mich dran erinnern, dass ich nicht genau so ende.“

„Oh.“ Sophie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit so viel Ehrlichkeit hatte sie nicht gerechnet. Verlegen schaute sie auf ihre Fingerspitzen, die sie auf ihren angewinkelten Knien liegen hatte.

„Eh. Ist zwar scheiße, kann ich aber nicht mehr ändern. Aber das is kein gutes Thema für 'ne Party.“ Er griff nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. „Was machst du so, wenn du nicht im Hörsaal hockst? Ich bin sicher es gibt irgendwas, was du total gut kannst.“

Sophie zögerte. Das erzählte sie eigentlich nicht gerne herum. Aber er hatte ihr grade erzählt, dass er sich ein Tattoo hat stechen lassen, weil sein Freund an einer Überdosis gestorben war. „Ich male.“

„Du malst? Und was?“

„Naja, ich zeichne auch, je nach dem. Ich mal am liebsten Architektur oder Studien von Menschen. Ich finde es interessant, wie allein ein Unterschied von Licht- und Schatteneinfall den Ausdruck eines gesamtes Bildes verändern kann.“ Sophie biss sich auf die Lippe. So ehrlich war sie selten über ihre Bilder gewesen. Und dass sie seit den Vorkommnissen mit dem Überfall der Schatten nicht einen einzigen Pinselstrich getan hatte, verunsicherte sie.

„Ganz ehrlich, da habe ich noch nie drüber nachgedacht. Hast du vielleicht was von dir dabei?“ Automatisch wanderte Sophies Hand zu ihrer Tasche, in der wie immer auch ihr Skizzenblock steckte.

„Nein, grade nicht. Ist ja schließlich 'ne Party und keine Vernissage“, log sie dann. Ambrose musterte sie und die Hand, die auf ihrer Tasche lag. Aber er beließ es dabei.

„Hey, hast du was dagegen, wenn wir zusammen ein Foto machen? Als Erinnerung?“

Sophie war skeptisch. „Wieso?“

„Einfach so.“
„Und was willst du dann mit dem Foto machen?“ Das ihr Gesicht überall im Internet auftauchte, dass brauchte sie nun wirklich nicht.

„Nur behalten. Keine Sorge, ich will dich nicht verhökern oder so. Du bist ganz schön misstrauisch, hat dir das mal jemand gesagt?“ Sophie blieb stumm. Das war wirklich nichts neues. „Ist aber ja wahrscheinlich auch besser, in 'ner Stadt wie der hier. Man weiß ja nie. Aber ich schwöre, ich habe nichts Übles vor.“ Ambrose hob grinsend beide Hände, als würde er sich ergeben wollen. Sophie wandte für einen Moment den Blick ab. Sie suchte nach Cléo und entdeckte ihre Freundin auf der Tanzfläche. Sie tanzte mit ihrem Ex und schien sich nicht im Mindesten daran zu stören, dass der grade eine Hand in ihre Hose schob. Manchmal wünschte sich Sophie, sie könnte das auch. Einfach mal alles passieren lassen. Wieso eigentlich nicht? Sophie griff nach ihrem Glas und nahm einen großen Schluck. Sie bereute es fast, dass kein Alkohol darin war.

„Okay, klar. Lass uns ein Foto machen.“ Sie rückte näher an Ambrose heran, während der sein Handy aus der Hosentasche kramte. Dann legte er den Arm um sie und hob das Smartphone. Sophie sah lächelnd in die Kamera und zuckte leicht zusammen, als es blitzte.

„Oh, fuck. Sorry. Ich mach den Blitz aus, warte.“ Ambrose hob nochmal das Handy an und schoss noch ein Bild. Dann zeigte er es Sophie. Ihre Gesichter lagen zwar im Dunkeln, aber man konnte sie beide trotzdem gut erkennen. Im Hintergrund konnte man die vielen Lichter der Stadt durch den Zaun blitzen sehen.

„Irgendwie romantisch, findest du nicht?“, fragte Ambrose. Sophie nickte nur und dachte aber im gleichen Moment noch, wie es wohl wäre, wenn sie noch mehr auf Ambroses Flirten eingehen würde. Wer weiß, vielleicht könnte sie die Schatten und ihr restliches beschissenes Leben dann einfach mal vergessen?

„Lass uns noch ein Bild machen. Eines à la Parisienne.“
„Und was heißt das?“, fragte Sophie.

„Ich zeig's dir. Mach die Augen zu.“ Sophie schaute wohl ziemlich skeptisch drein. „Vertrau mir, dir passiert nichts. Mach einfach die Augen zu.“ Sophie drehte den Kopf zu dem erhobenen Handy und schloss gehorsam die Augen. Der Drang zu spickeln, war fast zu groß. Du musst nicht immer alles unter Kontrolle haben, sagte sie sich und widerstand. Im nächsten Moment spürte sie den Druck von Ambroses Fingern an ihrem Kinn und fast automatisch wandte sie den Kopf. Noch bevor sie irritiert die Augen öffnen konnte, küsste er sie.

Es war nicht Sophies erster Kuss, trotzdem war sie überrascht. Einen Moment lang fragte sie sich, was sie jetzt tun sollte. Den Kuss erwidern? Ihm eine knallen? Doch da löste sich Ambrose schon wieder von ihr und sah auf sein Handy. „Verdammt, ich hab vergessen abzudrücken. Noch eins?“ Und Sophie beschloss, dass es ihr heute Abend Scheiß egal war. Sie hatte es satt ständig zu viel über alles nachzudenken. Und so schnell würde sie von einem Typen wie Ambrose bestimmt keinen Kuss mehr bekommen. Also nickte sie. Dieses Mal konnte sie sehen, wie Ambrose sich zu ihr nach vorne beugte und dann seine Lippen auf ihre presste. Sophie schloss die Augen, als könne sie ihre Gedanken damit ausblenden. Ambroses Lippen waren irgendwie zu weich fand sie, der Kuss insgesamt zu feucht. Dafür, dass er so gut aussah, war er ein echt mieser Küsser. Ambrose löste sich von ihr und zeigte ihr das Bild.

„Ist doch gar nicht so schlecht geworden“, meinte er. Sophie sah sich das Bild an. Nicht nur, dass ihre Hautfarben den krassesten Gegensatz aller Zeiten bildeten, sie konnte auf dem Bild genau sehen, wie unangenehm ihr der Kuss gewesen war. Sie fand es furchtbar, sagte aber nichts sondern zuckte nur mit den Schultern. Ambrose steckte das Handy wieder weg und zog Sophie noch näher zu sich heran. Die eine Hand legte er um ihre Schultern, die andere auf ihre Oberschenkel. Ich werde jetzt nicht aufstehen und gehen, gebot sich Sophie. Der Kerl bemüht sich echt und er macht das echt gut. Hin und wieder fühl ich mich gar nicht so unwohl. Um ihren Entschluss zu bekräftigen, hob Sophie die Hand und verschränkte die Finger mit denen von Ambrose. Der deutete das als gutes Zeichen und begann vorsichtig über ihren Oberschenkel zu streicheln.

„Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?“, fragte er dann.

„Ja, schon“, antwortete Sophie ohne Ambrose dabei anzusehen. Stattdessen beobachtete sie seine Finger, die immer näher an ihre Körpermitte heran wanderten. Wenn er jetzt behauptete, dass er sich auf den ersten Blick in sie verliebt hätte, dann würde sie ihm eine scheuern. Ganz bestimmt.

„Ehrlich? Du wirkst eigentlich gar nicht so.“

Sophie seufzte. Auch das hatte sie von ihren Freunden schon öfters gehört. „Ich glaube lieber daran, dass es etwas gibt als nicht daran zu glauben, dass etwas so Gutes passieren könnte.“

„Ich auch.“ Ambrose machte eine kurze Pause. „Warst du schon mal verliebt?“

„Nicht so richtig“, gab Sophie zu. Warum war sie so ehrlich?

„Wow, das ist ungewöhnlich. Und hattest du dann schon mal Sex?“

„Wieso willst du das alles wissen?“ Sophie fühlte sich zusehends unwohler in ihrer Haut. Mit Müh und Not verdrängte sie die Bilder aus ihrem Kopf, die sie einfach nicht sehen wollte. Nicht schon wieder.

„Sorry, ich bin nur neugierig. Weißt du, ich finde dich echt interessant. Du bist anders. Du wirkst viel älter als du bist, sicherer. Und du siehst aus, als hättest du einige interessante Geheimnisse. Das gefällt mir.“ Sophie entspannte sich wieder ein kleines bisschen. Ambrose war doch wirklich nett zu ihr, warum auch immer. Ihr Therapeut hatte gesagt, sie müsse langsam versuchen, den Menschen wieder mehr zu vertrauen, warum also nicht heute damit anfangen? Was könnte schon passieren? „Ich finde es nicht schlimm, dass du noch Jungfrau bist. Im Gegenteil, es gibt da einiges, dass ich dir zeigen könnte... Ich könnte dich in ganz neue Welten von Glück einführen.“ Sophie wandte den Kopf so weit es ihr möglich war, ab, schluckte den bitteren Geschmack in ihrem Mund herunter. Sie ließ Ambrose in dem Glauben, sie sei noch Jungfrau.

Er merkte, dass ihr das Thema unangenehm war. Also ließ er es fallen. Aufmerksam war er, dass musste sie zugeben. „Wo kommst du eigentlich her?“, fragte er.

„Aus einem kleinen Dorf in der Eiffel. Kennst du eh nicht“, antwortete sie automatisch.

„Ich bin in Lyon groß geworden. Und Bordeaux. Und Marseille. Wir sind ziemlich oft umgezogen.“ Ambrose zuckte mit den Schultern. „Hast du Geschwister?“

„Nein.“

„Ich habe einen älteren Bruder und eine kleine Schwester. Meinen Bruder habe ich seit drei Jahren nicht gesehen. Er lebt bei unseren Großeltern in der Elfenbeinküste. Meine Schwester studiert in Lyon.“

„Wow, drei Jahre ist ziemlich lange.“

„Die Elfenbeinküste ist weit weg.“ Einen Augenblick lang dachte Sophie, Ambrose würde sie um Geld anbetteln, um seinen Bruder zu besuchen. Stattdessen beugte er sich vor und küsste sie erneut. Langsam begann Sophie sich daran zu gewöhnen und es war ihr schon sehr viel weniger unangenehm als zuvor. Als er sich wieder von ihr löste, ließ er seine Hand zwischen ihre Beine gleiten. Er begann mit kleinen Bewegungen ihre Mitte zu massieren. Sophie ignorierte es. Es war ihr nicht einmal so unangenehm, wie sie erwartet hätte. Irgendwie mochte sie Ambrose, auch wenn sie ihm keinen Meter weit traute.

„Wo wohnst du eigentlich?“

„In einem Vorort. Das war billiger als in Paris ein Zimmer zu nehmen.“
„Ich wohn in La Defense, in 'ner WG mit meinem Cousin.“ Sophie nahm es nickend zur Kenntnis. „Du hast echt schöne Augen“, sagte Ambrose. Sophie wandte sich ihm wieder zu. Das Kompliment konnte nicht ernst gemeint sein, er hatte ihre Augen gerade gar nicht sehen können. Aber jetzt sah er sie genau an und lächelte. Er sagt das, weil er dich rumkriegen will, zuckte es ihr durch den Kopf. Wäre das denn so schlimm?, dachte sie im nächsten Moment. Bevor sie eine Antwort finden konnte, sprach Ambrose weiter. „Weißt du, mein Cousin ist die ganze Woche über bei seiner Freundin. Vielleicht kannst du das Auto ja hier stehen lassen und morgen wieder abholen.“ Sophie merkte, wie der Druck seiner Finger sich ein wenig verstärkte.

„Ich weiß nicht...“ brachte sie flüsternd heraus. Ambrose lächelte nur.

„Klar. Kein Problem. Vielleicht ein andermal? Wie wär's wenn ich dich nächsten Samstag ins Kino einlade? Oder wir gehen ins Aquarium?“ Sophie war erleichtert. Vielleicht war Ambrose doch nicht auf der Suche nach einem schnellen Fick. Vielleicht meinte er es wenigstens ein bisschen ernster.

„Gern“, sagte sie. Ambrose zog sein Handy heraus.

„Hier, gib deine Nummer ein, dann können wir uns nochmal absprechen.“ Einen Augenblick lang überlegte Sophie, ihm eine falsche Nummer zu geben. Lass los, flüsterte es in ihr und Du kannst ihn dann immer noch blockieren, wenn es sein muss. Also gab sie ihre echte Nummer und ihren Namen ein und speicherte den Kontakt ab. Ambrose schickte ihr gleich eine Nachricht und in ihrer Tasche bingte es leise. Dann küsste er sie wieder. Ja, es war schon viel besser als am Anfang. Sophie fühlte sich kaum noch bedroht, erwiderte den Kuss vorsichtig.

Ambrose löste sich kurz von ihr. „Ganz im Ernst, deine Haare find ich echt toll.“ Wieder strich er mit den Fingern hindurch, hielt sich schließlich daran fest und zog sie zu sich heran. Er küsste sie wieder, fordernder diesmal. „Das Angebot von vorher steht noch“, flüsterte er zwischendrin. Wieder überlegte Sophie einen Moment lang, ob sie nicht doch darauf eingehen sollte. Dann küsste Ambrose sie wieder ohne eine Antwort abzuwarten. Sophie spürte seine Zunge an ihren Lippen und öffnete sie für ihn. Ihr Herz pochte stark genug, dass sie es spüren konnte. Aber Sophie wusste nicht ob vor Angst oder vor Aufregung. Ein Schauer überlief ihren Körper. Sie erwiderte den Kuss. Dann fuhr Ambroses Hand unter ihr Shirt, strich über ihren BH. Und da schaltete Sophies Gehirn wieder um. Es waren noch eine ganze Menge anderer Leute auf dem Dach und sie war nicht Cléo. Sophie löste sich von Ambrose. „Nicht“, bat sie. Er zog langsam die Hand zurück. Er ist kein schlechter Kerl, sagte sie sich wieder. Aber da küsste er sie schon wieder und dieses Mal strich seine Hand über ihren Hintern. „Nein, hör auf“, sagte sie wieder.

„Hab dich nicht so. Es sieht doch keiner her. Und ich find deinen Arsch echt schön.“ Wie um seine Worte zu bekräftigen, kniff er einmal zu. Dann beugte er sich wieder vor, merkte diesmal nicht, wie steif Sophie geworden war. Vielleicht war es ihm auch einfach nur egal. Er will dich doch nur ins Bett kriegen, dachte Sophie. „Nein“, flüsterte sie noch einmal zwischen zwei Küssen, aber ihre Gegenwehr erstarb immer mehr. Sie ließ ihn einfach machen. Seine Hand fuhr gerade erneut unter ihr T-Shirt, als sich ein Mann direkt vor sie stellte.

„Hey“, sagte er. Widerwillig löste Ambrose zuerst die Lippen und dann den Blick von Sophie um ihn anzusehen. Die Hand aber ließ er, wo sie war. Auch Sophie sah zu dem Typen, der sie unterbrochen hatte. Er war groß und genauso durchtrainiert wie Ambrose, wenn auch von der Statur her noch etwas kräftiger. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Haut reflektierte das flackernde Licht von der Tanzfläche und ließ ihn unwirklich erscheinen. Trotz der Dunkelheit trug er eine Sonnenbrille. „Ich glaube sie hat Nein gesagt.“

„Das geht dich ja wohl nichts an.“

„Ich glaube es geht jeden etwas an, wenn ein Mädchen verletzt wird.“

„Sieht sie aus, als ob sie verletzt wäre?“ Ambrose zog jetzt die Hand unter Sophies T-Shirt hervor und ballte sie zur Faust. Er saß noch immer auf dem Boden, aber Sophie konnte die Anspannung in ihm spüren.

„Nein, aber als ob sie gleich verletzt worden wäre.“

Jetzt stand Ambrose tatsächlich auf. „Ich glaube es ist besser, du verziehst dich jetzt, bevor tatsächlich jemand verletzt wird“, sagte er mit einer drohenden Geste. Der andere Kerl grinste nur.

„Darauf kannst du lange warten“, sagte er. Da ging Ambrose auf ihn los. Mit der linken zielte er auf die Nieren und mit der Rechten setzte er zu einem Kinnhaken an. Aber im letzten Moment drehte der Unbekannte sich zur Seite und entging der Attacke. Im gleichen Augenblick schnappte er sich Armbroses rechten Arm und drehte ihm ihn auf den Rücken. „Hmm. Was soll ich jetzt nur mit dir machen?“ Armbrose versuchte frei zu kommen, aber der andere Kerl drückte seinen Arm nur noch ein Stückchen weiter nach oben und sein Widerstand erstarb. „Ich könnte dir die Schulter auskugeln. Entweder so, dass man sie dir nur wieder einrenken muss und morgen ist alles wieder in Butter oder so, dass die Sehnen gleich mit abreißen und du erst mal auf den OP-Tisch musst. Ich könnte dir auch das Handgelenk brechen. In ganz viele kleine Teile. Ich hoffe du spielst Fußball und kein Tennis?“ Ambrose erwiderte nichts. Von der Seite konnte Sophie sehen, wie er vor Schmerz das Gesicht verzog.

„Aufhören“, flüsterte sie leise. Der unbekannte Kerl sah sie erstaunt an. Eigentlich hätte er sie vor lauter Musik und aufgrund der Entfernung gar nicht hören dürfen. Aber er hatte trotzdem reagiert. Für einen Augenblick lang meinte Sophie zu spüren, wie die Temperatur um sie herum sank, während sie den Unbekannten ansah. Trotzdem fror sie nicht. Dann wandte der Typ den Blick wieder ab und beugte sich zu Ambrose hinunter.

„Du kannst von Glück reden, dass ich heute einen guten Tag habe. Aber wenn du mein Mädchen auch nur noch einmal anguckst, dann mache ich dir das Leben zur Hölle. Ist das klar?“ Er flüsterte und doch konnte Sophie jedes Wort klar und deutlich verstehen. Das war unmöglich. Vielleicht bildete sie es sich ein? Ja, wahrscheinlich. Sie kannte den Kerl doch gar nicht – warum sollte er sie dann „mein Mädchen“ nennen? Es war nur ihre Fantasie, die verrückt spielte, das war alles. Sie sah, wie Ambrose nickte, dann ließ der Unbekannte ihn los. Ambrose stolperte nach vorn, hielt sich den gerade noch verdrehten Arm und verließ dann ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen die Party.

„Ist alles okay mit dir?“, fragte der Unbekannte dann. Sophie sah wieder zu ihm auf. Seine Haut wirkte jetzt irgendwie dunkler. Sie schien das Licht nicht mehr zu reflektieren, sondern aufzusaugen. Ich denke heute nur Schwachsinn, dachte Sophie.

„Ja, mir geht’s gut. Danke.“ Sie rappelte sich auf und befühlte ihre Tasche, ob auch noch alles da war.

„Ist jemand mit dir hier, der dich nach Hause bringen kann?“

„Meine Freundin, sie ist...“ Sophies Blick flog über die Leute. Cléo war nirgends zu entdecken. Panisch zog Sophie ihr Handy aus der Tasche. Es zeigte zwei neue Nachrichten. Die eine war von Ambrose, die andere von Cléo. Bin mit Thomas mit. Du sahst beschäftigt aus. Hab deinen Spaß! :* schrieb sie. Sophie war sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder wütend sein sollte. „Sie ist schon weg.“

„Kann ich dich dann nach Hause bringen?“ Sophie sah sich den Fremden genauer an.

„Nein, danke. Mein Auto steht unten in der Tiefgarage, ich schaff das schon allein.“

„Ich begleite dich zum Auto.“ Sophie setzte zum Widerspruch an, doch der Typ unterbrach sie. „Keine Widerrede.“ Sophie wusste nicht, ob es besser wäre, sich einfach zu fügen oder dem Typen zu widersprechen. Sie hatte gesehen, wie spielerisch leicht er Ambrose außer Gefecht gesetzt hatte. Schweigend machte sie sich gemeinsam mit dem Fremden auf den Weg in die Tiefgarage.

„Mein Name ist übrigens Zedd“, sagte der Fremde im Aufzug. Er hatte die Sonnenbrille nach wie vor nicht abgesetzt und Sophie fühlte sich immer unwohler dadurch, dass sie seine Augen nicht sehen konnte. Aber vielleicht hatte er ja irgendeine Krankheit. Sophie wagte es nicht, nachzufragen.

„Wie der Buchstabe? Willst du mich verschaukeln?“, rutschte es ihr heraus.

„Ist nur ein Spitzname. Aber ich hab mich nun mal dran gewöhnt.“ Sie schwiegen wieder, bis sie bei Sophies Auto ankamen.

„Danke fürs Herbegleiten“, sagte sie.

„Kein Ding“, antwortete Zedd. Mehr gab es nicht zu sagen, also stieg Sophie ein. Sie überlegte einen Moment lang, ob es unhöflich wirkte, wenn sie von inne alle Türen verriegelte und beschloss, dass es ihr egal war. Sie drückte auf den kleinen Knopf und ein beruhigendes Klicken ertönte. Sofort fühlte sie sich sicherer. Vorsichtig setzte sie aus der Parklücke aus und fuhr langsam Richtung Ausgang. Im Rückspiegel beobachtete sie Zedd, der mitten auf der Fahrbahn stand und ihr nachsah. Als ob er ihren Blick spürte, hob er die Hand und winkte. Dann nahm er die Sonnenbrille ab.

Sophie trat hart auf die Bremse, drehte sich um. Das konnte nicht sein. Sie kannte diese Augen. Es war das einzige, was in ihrer Erinnerung an die Schatten nicht verschwommen und verzerrt war. Die goldenen Augen eines Wolfs. Das war unmöglich, und doch stand Zedd da und sah sie mit genau diesen Augen an. Das bildest du dir ein, schoss es Sophie durch den Kopf. Auf diese Entfernung kannst du niemals die Farbe seiner Augen erkennen. Aber sie musste es genau wissen. Also legte sie den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück zu ihrer Parklücke, doch Zedd war nirgendwo zu sehen, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Sie schluckte. Ich muss dringend eine Runde Schlafen, dachte sie und machte sich vorsichtig auf den Heimweg.

Wolfsaugen

Am nächsten Morgen fühlte sie sich immer noch nicht wohl. Die Erlebnisse der letzten Nacht verfolgten sie. Überall sah sie diese stechenden gelben Augen vor sich. Also setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann zu zeichnen. Aber egal wie oft sie es versuchte, sie konnte Zedd nicht zeichnen. Irgendetwas stimmte nie. Ob es die Nase war, der Winkel der Augenbrauen, der Schwung der Lippen. Sophie konnte es nicht benennen, sie wusste nur, dass es falsch war. Zedds Gesicht war in ihrer Erinnerung schon wieder verzerrt und verschwommen. Nur die Augen. Die blickten sie von jeder Zeichnung aus an. Sophie zerriss jede einzelne wieder und schmiss sie in den Müll. Dann stellte sie sich vor die Leinwand und begann zu malen. Sie drehte die Musik auf volle Lautstärke und ließ zu, dass sie ihre Gedanken übertönte. Sie setzte Pinselstrich für Pinselstrich ohne ein genaues Bild im Kopf zu haben. Nach knapp zwei Stunden legte sie eine Pause ein und holte sich in der Küche ein Glas Wasser. Als sie zurück in ihr improvisiertes Atelier kam, ließ sie das Glas fallen. Lautstark zersprang es in hundert Teile. Sophie scherte sich nicht darum. Ihr Blick war starr auf ihre Leinwand gerichtet.

Zwei gelbe Augen starrten sie von dort an. Umgeben waren sie von nichts als undurchdringlicher Schwärze. Sophie lief es kalt den Rücken herunter. Wieso hatte sie nicht bemerkt, was sie da malte? Sie rannte zur Staffelei und riss die Leinwand herunter. Aber sie brachte es nicht über sich, sie zu zerstören. Stattdessen stellte sie sie nur in eine Ecke, mit der Rückseite nach vorn, damit sie die Augen nicht mehr sehen musste. Morgen werde ich es übermalen, schwor sie sich. Mit dem Bild von einem Strand oder einer Blumenwiese. Ganz egal.

Dann schloss sie sich im Badezimmer ein und duschte lange und ausgiebig. Aber das ungute Gefühl wollte einfach nicht mehr verschwinden.

 

Sophie stand neben ihm und folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger. Die weiße Unterhose, die Zeus trug, mit den passenden kleinen Blitzen darauf, war wirklich zum Schreien komisch. Sie konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen, während sich eine Gruppe japanischer Touristen um sie herum drängelte.

„Ich frage mich wirklich, warum ich es seit der Klassenfahrt nie wieder hier her geschafft habe“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

„Vielleicht warst du einfach zu beschäftigt.“ Sophie lächelte und sah sich um. So langsam füllte sich der Parc Astérix mit immer mehr Besuchern. „Komm, wir gehen zur nächsten Achterbahn, bevor die Schlange zu lang wird.“ Sie spürte, wie er den Arm um sie legte. Die Beiden gingen weiter, bis zur „Fluch der Karibik“-Fahrt. Die Schlange dort war doch schon ziemlich lang.

„Wenigstens ist der Weg hier wirklich schön gestaltet“, sagte er und Sophie sah ihn an um herauszufinden, ob es ihm wirklich nichts ausmachte zu warten. Da erschrak sie und trat automatisch einen Schritt zurück. Sie spürte den Zaun an ihrem Rücken.

„Wie kommst du hier her?“, flüsterte sie. Sie konnte den Blick nicht mehr von Zedds gelben Augen lösen und fragte sich, warum sie nicht schon vorher bemerkt hatte, mit wem sie hier war.

„Ich bin schon die ganze Zeit in deiner Nähe.“ Sophie schüttelte den Kopf. Nein. Sie war bestimmt nicht mit ihm hergefahren. Sie... Sie sah sich um. Die Fluch der Karibik Fahrt war in Disneyland, nicht im Parc Astérix. Und sie konnte sich weder daran erinnern hierher gefahren zu sein, noch in den anderen Freizeitpark.

„Ich träume“, stellte sie fest und erwartete aufzuwachen. Aber nichts passierte. Zedd lächelte müde. Er streckte die Hand nach ihr aus und obwohl sie sich so weit wie möglich von ihm weglehnte, strich er zärtlich mit den Fingern über ihre Wange.

„Fühlt sich das an wie ein Traum?“, fragte er. Sophie schluckte. Nein, ganz und gar nicht. Ihre Haut begann unter seinen Fingern zu kribbeln. Sie reagierte auf seine Berührung. Viel stärker, als sie es eigentlich wollte. Zedd kam ihr wieder näher, stellte sich so dicht vor sie, dass sie in keine Richtung mehr davonlaufen konnte. Sein breiter Rücken schirmte sie von den Blicken Neugieriger ab. Sowieso war es viel zu still geworden, sogar die Musik war verstummt. „Aber eigentlich sollte ich mich geehrt fühlen, dass du von mir träumst, nicht wahr?“ Seine Finger wanderten von ihrer Wange zu ihren Lippen und fuhren ganz sanft darüber. Sophie rührte sich nicht. Da beugte er sich vor und küsste sie. Nur ganz kurz, aber doch intensiv genug als dass Sophie erzitterte. „Die Frage ist nur: Ist das hier ein schöner Traum oder ein Alptraum? Sophie. Ein schöner Traum oder ein Alptraum?“ Er löste sich wieder von ihr, trat wieder einen Schritt zurück und löste sich in pure Schwärze auf.

Tiefste Dunkelheit breitete sich im Raum aus, verschlang alles und verschluckte schließlich auch Sophie. Sie fiel.

Und wachte im nächsten Moment in ihrem Bett wieder auf. Sie konnte ihr Herz schlagen spüren und konzentrierte sich ein paar Sekunden lang nur auf ihre Atmung. Aber das Gefühl beobachtet zu werden, verschwand nicht. Also lehnte Sophie sich zur Seite und schaltete ihre Nachttischlampe an. Außer ihr war niemand im Raum. Sie setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Was zur Hölle hatte sie da gerade geträumt?

Erneute Begegnung

Sophie saß irgendwo auf dem Montmartre und zeichnete eine Ecke der Sacre Coeur mit der danebenliegenden Gasse ab. Seit drei Stunden saß sie hier, zeichnete ein Bild ums andere und experimentierte mit dem Licht und den Schatten. Eigentlich brauchte sie nur eine einzige Zeichnung für ihren Kurs morgen, aber sie wollte nicht nach Hause zurück. Sie wollte nicht irgendwo hin, wo sie allein war. Wollte nirgendwo hin, wo die Schatten sie wieder holen könnten. Aber langsam ging die Sonne unter. Und wenn die Stadt dann in ihrem ewigen Dämmerlicht versank, wollte Sophie auch nicht mehr alleine hier sein. Sie beendete ihre Zeichnung und packte ihre Sachen weg. Dann machte sie sich auf den Weg zur Metro.

Sie wich ein paar Selfiestick-Verkäufern aus, die sie wohl für eine Touristin hielten und ignorierte die Künstler auf dem Place du Tertre, die sie im Porträt malen wollten. In einer der nicht ganz so überfüllten Nebenstraßen weiter unten am Berg blieb sie dann aber doch stehen. Ein alter Mann kniete an der Ecke auf dem Boden und malte mit einem winzigen Stück Kreide auf einen fleckigen Papierbogen. Aber das war es nicht, was Sophie hatte halten lassen. Neben ihm lag ein Stapel fertiger Bilder und ganz oben lag eines, das wohl außer ihr niemanden zum Anhalten gezwungen hätte. Es war das Schwarz-Weiß-Porträt eines jungen Mannes, der dem Betrachter über die Schulter hinweg entgegenblickte. Die Hälfte seine Gesichts lag im tiefen Schatten, verlor sich in dem dunklen Hintergrund, aber seine Augen – seine Augen blickten hell und wachsam und schienen sich über Sophie lustig zu machen. Hier waren sie ebenso grau wie der Rest des Bildes, nicht einmal ein goldener Schimmer lag darin, aber Sophie erkannte sie trotzdem wieder. Erkannte ihn wieder.

„Wann haben Sie das gemalt?“, fragte Sophie. Der Mann vor ihr drehte sich um und schien sie erst jetzt zu bemerken. Er lächelte und folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger mit dem Blick.

„Heute Nachmittag. Gefällt es dir?“

„Wer hat Ihnen dafür Modell gestanden?“

„Niemand. Es ist ein bisschen einem Mann nachempfunden, den ich heute hier habe vorbei laufen sehen. Mehr nicht.“

„Wann war das?“

„So gegen drei? Gefällt dir das Bild?“ Sophies Herzschlag beschleunigte sich. Um drei war sie auf den Montmarte gekommen um das Museum zu besuchen und zu zeichnen. Verfolgte Zedd sie? Oder bildete sie sich die Ähnlichkeit ein? Sagte der Mann überhaupt die Wahrheit?

Was spielt das schon für eine Rolle? Er ist es. „Ich kaufe das Bild. Wie viel wollen Sie dafür?“

„Du kannst es als Geschenk nehmen.“ Der Mann griff danach und hielt es ihr entgegen. Als er sie ansah sah sie, dass sein linkes Auge blind war und ihm einige Zähne fehlten. Seine schmutzigen Finger hinterließen kleine verschmierte Farbflecke auf dem Papier. Sophie streckte die Hand danach aus, aber bevor der Mann es losließ, sah er sie noch einmal eindringlich an.

„Sei vorsichtig wohin du gehst. Manchmal gibt es kein Zurück mehr.“ Sophie lief es kalt den Rücken hinunter. Er ist verrückt, dachte sie. Total verrückt. Aber sie nickte und der Mann ließ das Bild los.

„Danke“, sagte Sophie noch, dann drehte sie sich um und ging davon.

Als sie schließlich im RER nach Hause saß, schaffte sie es kaum das Bild aus der Hand zu legen. Er war es, darin war sie sich ganz sicher. Sie starrte die Zeichnung an wie gebannt. Wie konnte es sein, dass ein Fremder, der ihn nur so kurz gesehen hatte, ihn so gut treffen konnte und sie schaffte es nicht? Sie starrte auf das Bild und versuchte sich dieses Mal sein Gesicht genau einzuprägen. Sie musste ihn erkennen, wenn er noch einmal in ihrer Nähe auftauchte. Und dann könnte sie zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Als Stalker oder so. Aber er hat dir doch gar nichts getan, flüsterte es in ihr. Er hat dir doch geholfen. Ja, antwortete ihre innere Stimme. Aber er war da, oder etwa nicht? Sie starrte auf das Bild und versuchte sich jedes Detail zu merken. Den Schwung seiner Nase, die schmalen Lippen. Die Art, wie er die Augenbrauen zusammenzog. Seinen Drei-Tage-Bart und seine hohe Stirn. Die hohen Wangen und das angedeutete Lächeln in den Mundwinkeln. Die Form seiner Augen und die kleinen Fältchen, die sich rund um die Lider bildeten. Wer bist du?, fragte sich Sophie im Stillen. Und wo kann ich dich finden?

Irgendwann schaffte sie es den Blick von dem Bild zu lösen und sah auf. Draußen war es mittlerweile stockfinster geworden, Sophie konnte nicht erkennen wo sie war. Also blickte sie auf die Anzeige am anderen Ende des Zuges. Merde!, durchfuhr es sie. Die nächste Station war schon die Endstation – sie hatte ihren Bahnhof verpasst. Und zwar um Längen. Tant pis, dachte sie dann. Ändern kann ich es eh nicht mehr. Also packte sie die Zeichnung widerwillig weg und stieg an der nächsten Station aus. Sie hatte Pech – der nächste RER in die andere Richtung fuhr erst in 20 Minuten. Sie setzte sich auf einen der Bahnsteige und genoss einen Moment lang die Ruhe. Sie war hier weit genug von der großen Stadt entfernt um die Sterne sehen zu können. Außer ihr war niemand in der Nähe. Die Laterne neben ihr summte leise. Sophie lächelte und fühlte sich einen Moment lang wirklich angekommen. Dann fuhr am Gleis in ihrem Rücken quietschend ein Zug ein und der Moment war vorüber.

Die Leute strömten aus den Waggons und in die Unterführung. Nicht einmal eine Minute lang herrschte geschäftiges Treiben um Sophie herum, dann waren alle wieder verschwunden. Alle, bis auf eine Gruppe Jugendlicher. Sophie warf ihnen nur einen kurzen Blick zu. Sie lungerten bei der Unterführung herum, schienen aber nicht zu beabsichtigen hinunter zu gehen. Drei Jungs und ein Mädchen waren es. Auf die Entfernung schätze Sophie sie auf nicht älter als Sechzehn. Sie ließen eine Flasche kreisen in der mit Sicherheit keine Limonade war. Einer der Jungs zündete eine Zigarette oder so etwas an und der unverwechselbare Geruch von billigem Marihuana wehte zu Sophie herüber. Sie wandte sich angeekelt ab und kramte ihr Handy aus der Tasche. Sie checkte Instagram und Facebook, las ein paar neue Mails und machte sich in ihrem Kalender einen Vermerk bezüglich der Abgabe ihrer Semesterarbeit. Sie wollte gerade DeviantArt öffnen, als sie bemerkte, dass die Jugendlichen bei der Unterführung langsam laut wurden. Sophie konnte zwar immer mal wieder nur ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen, aber das war mehr als genug.

Als Sophie hinsah, sah sie, dass die Flasche mittlerweile leer auf dem Boden stand. Der letzte Rest des Joints lag glühend daneben. Einer der Jungs hielt das Mädchen jetzt im Arm, was ihr auf den ersten Blick auch gar nicht unangenehm zu sein schien. Vielleicht ist er ihr Freund oder so, dachte Sophie. Dann ließ der Typ langsam die Hand unter das T-Shirt des Mädchens gleiten. Sophie verkrampfte. Sie kannte diese Situation. Viel zu gut. Das Mädchen wollte sich losmachen, aber ihr möglicherweise-Freund hielt sie fest. Die anderen beiden lachten nur. Dann sagte einer: „Eh, Jules, ich finde wirklich du solltest das mit uns teilen. Wir teilen doch sonst auch immer alles.“ Sophie konnte selbst auf die Entfernung sehen, wie das Mädchen erblasste. Sie flüsterte irgendetwas aber Jules, ihr möglicherweise-Freund, schien sie nicht zu hören. Stattdessen ließ er sie endlich los, gab ihr aber gleichzeitig einen Schubs in Richtung seiner Freunde, die sie natürlich prompt auffingen. Ihre Hände fuhren über den Körper des Mädchens. Die versuchte sich zu wehren, hatte gegen die zwei stärkeren Jungs aber keine Chance.

Sie haben mich nicht bemerkt, dachte Sophie. Wenn ich mich ganz klein mache und keinen Ton von mir gebe, dann bleibt das auch so. Ich sollte die Polizei rufen. Ich sollte verschwinden.

Zu viele Möglichkeiten fächerten sich vor Sophies innerem Auge auf, während sie vergeblich versuchte den Blick abzuwenden und so zu tun, als wäre sie gar nicht hier. Aber stattdessen stand sie plötzlich auf und lief auf die Gruppe zu.

Das ist das dümmste, was du machen kannst. Dreh wieder um, dachte sie. Dreh um! Aber sie hielt weiter auf die Jugendlichen zu.

„Hey, lasst sie in Ruhe“, sagte sie. Acht paar Augen flogen ihr zu. Einer der Jungs musterte sie von Kopf bis Fuß. Er schien ein wenig älter zu sein als die anderen Beiden, nur unwesentlich jünger als Sophie selbst – wenn überhaupt.

„Ich glaube es wäre besser, wenn du dich da raushältst“, sagte der, der das Mädchen gerade festhielt.

„Lass sie los“, antwortete Sophie. Der Typ zuckte mit den Schultern und schubste sie von sich weg. Sophie fing sie auf und zog sie hinter sich.

„Ihr solltet jetzt gehen“, verlangte Sophie dann. Die Jungs lachten nur.

„Meinst du wirklich, wir würden es dir so leicht machen?“, fragte der Älteste und schickte einen der anderen vor. Sophie wich ihm aus. Doch der Kerl setzte nach, hob die Hand zum Schlag. Sophie duckte sich darunter weg, verlor das Gleichgewicht und stolperte nach vorn, genau auf Jules zu. Der fing sie auf und hielt sie so fest, dass sie sich kaum rühren konnte. Sie versuchte nach seinem Schienbein zu treten, verfehlte es aber.

„Und was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte er. Sophie roch den ekligen Geruch von Alkohol und Marihuana in seinem Atem. Der Älteste musterte sie wieder. Sophies Blick flog zu dem anderen Mädchen, in der Hoffnung, sie hätte vielleicht eine Idee oder wäre wenigstens davongelaufen und hätte sich in Sicherheit gebracht. Aber der dritte Typ hielt sie wieder fest und es schien, als hätte sie es aufgegeben sich zu wehren.

Du hättest dich nicht einmischen sollen, durchzuckte es Sophie. Der Älteste kam näher, streckte die Hand nach ihr aus und Sophie riss das Knie nach oben. Leider traf sie nur seinen Oberschenkel. Er zuckte trotzdem zusammen und beugte sich einen Moment lang vornüber. Als er sich wieder aufrichtete sah Sophie den Zorn in seinem Blick. Sie reckte trotzig das Kinn obwohl sie innerlich vor Angst zitterte. Würde es wieder passieren?

Eine schallende Ohrfeige traf sie. Ihr Kopf schlug schmerzhaft zur Seite, sie spürte wie ihre Haut anfing zu brennen. Jemand packte grob ihr Kinn und drehte ihr Gesicht wieder nach vorne.

„Mach das noch mal und ich schlag richtig zu, darauf kannst du wetten“, sagte der Älteste. Er war Sophie jetzt so nah gekommen, dass sie spürte wie sein stinkender Atem über ihr Gesicht strich. Sie würgte. Der andere Typ lachte.

„Wir sollten sie hier weg bringen. In ein paar Minuten fährt der nächste Zug ein“, beschloss der Älteste dann. Sophie spürte wie Jules nickte. Er wollte sie zwingen die Treppen hinunter zu gehen und hielt sie für einen kurzen Moment etwas lockerer. Das genügte. Sophie trat nach hinten aus, Jules erschrak und ließ sie los. Sophie wollte weglaufen, aber sie hatte kaum einen einzigen Schritt gemacht, als etwas Hartes sie mit voller Gewalt am Hinterkopf traf. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen, sie taumelte und fiel ein paar Treppenstufen nach unten. Dort blieb sie benommen liegen. Noch einen Moment lang sah sie alles nur verschwommen, dann klärte sich ihre Sicht und der dröhnende Schmerz setzte ein. Sie hatte sich das Knie aufgeschürft und als sie die Hand vorsichtig an ihren Hinterkopf hob, spürte sie klebriges Blut an ihren Fingern.

Am oberen Treppenabsatz stand der ältere Typ und hielt die kaputte Flasche in der Hand. Jules richtete sich gerade wieder auf.

„Das wirst du mir büßen, du dumme Schlampe“, fluchte er. Er machte einen Schritt auf sie zu.

„Das willst du nicht wirklich tun.“ Und hielt mitten in der Bewegung inne. Ganz langsam drehten er und der Andere sich zu der Stimme um. Sophie kannte sie. Erkannte sie wieder. Mühsam zog sie sich zwei Stufen nach oben um den Bahnsteig wieder im Blick zu haben. Zedd stand da, zwischen den beiden am Treppenabsatz und dem anderen, der nach wie vor das Mädchen festhielt und verwirrt seine Kumpel anstarrte. Zedd trug wieder die dunkle Sonnenbrille, aber Sophie erkannte ihn.

„Drei gegen einen? Meinst du wirklich, das war eine gute Idee?“, fragte der Älteste und winkte dem dritten Typen. Der ließ das Mädel los und sie sank kraftlos zu Boden. Zedd lächelte nur müde. „Ich geb dir noch eine Chance einfach abzuhauen.“

Zedd schüttelte den Kopf. „Ich lass euch ganz bestimmt nicht noch mal mit ihr alleine.“

„Du hast es nicht anders gewollt“, stellte der Anführer der Bande klar und sie griffen Zedd aus verschiedenen Richtungen an. Der aber wich ihnen so schnell aus, dass Sophie die Bewegung kaum sehen konnte. Sie schob es auf den Sturz. Jules und der andere prallten mit dem Kopf zusammen. Jules ging dabei zu Boden. Der Älteste konnte sich gerade noch abfangen und holte noch im Taumeln zu einem Schlag aus. Aber Zedd blockierte ihn und verpasste dem Kerl einen rechten Haken. Sophie meinte das Brechen von Knochen zu hören. Die Nase des Typen begann sofort zu bluten. Jetzt ging der andere, dessen Namen Sophie nach wie vor nicht kannte, wieder auf Zedd los. Er kam von hinten und Sophie dachte einen Moment lang, Zedd hätte es nicht bemerkt. Dann drehte er sich blitzschnell um und trat dem Typen noch in der Drehung mit voller Wucht in seine besten Teile. Er sank sofort stöhnend zu Boden. Aber es war noch nicht vorbei. Der Älteste hatte sich wieder gefangen und versuchte noch einmal Zedd anzugreifen. Zedd sah es kommen und schlug ihn zu Boden. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, es sah aus als würde er die Zähne fletschen.

„Verschwindet jetzt oder ihr seht die Sonne nicht mehr aufgehen“, drohte er. Als keiner der Drei am Boden sich rührte, fuhr er fort. „Ich zähle bis zehn. Wenn ihr dann noch da seid, hat euer letztes Stündchen geschlagen.“ Während er langsam anfing zu zählen, ging er zu der kaputten Flasche und hob sie auf. Er begutachtete wie scharf die Kanten waren und richtete sie dann auf den Anführer. „Fünf. Sechs.“ Die Drei rappelten sich auf. Bei Acht waren sie fluchend und stöhnend in der Unterführung verschwunden. Zedd wandte sich dem anderen Mädchen zu. „Du auch.“ Sophie wollte protestieren, konnte ihre Stimme aber nicht finden. Das Mädchen warf Sophie einen kurzen Blick zu als sie an ihr vorbeirannte und ihren „Freunden“ folgte.

Zedd stellte die kaputte Flasche wieder ab und wandte sich Sophie zu. Sie sah, wie er ein paar Mal tief durchatmete und langsam seine zu Fäusten geballten Finger öffnete. Erst, als er sich einigermaßen im Griff zu haben schien, kam er die paar Stufen zu Sophie hinab und ging neben ihr in die Hocke.

„Was passiert jetzt?“, brachte Sophie flüsternd heraus. Das Dröhnen in ihrem Kopf ließ langsam nach. Zedd zog vorsichtig ihre Hand von ihrem Hinterkopf weg und begutachtete die Wunde. Er nickte.
„Sie fängt schon an zu heilen. Ein gutes Zeichen.“ Dann blickte er auf seine Armbanduhr. „Ich fahr dich nach Hause.“

„Ich will zu einem Arzt“, widersprach Sophie. „Zur Polizei.“

„Nein. Bis wir bei einem Krankenhaus ankommen ist die Wunde verheilt und ich kann nicht zur Polizei. Ich bringe dich nach Hause.“ Sophie schluckte. Sie wagte es nicht, Zedd in Frage zu stellen. „Kannst du alleine gehen?“ Sophie nickte vorsichtig. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass Zedd sie mehr als nötig berührte. Gänsehaut zog sich über ihren ganzen Körper. Mit Mühe rappelte sie sich auf. Zedd führte sie hinaus auf den Parkplatz und öffnete einen alten Renault, der ganz vorne dran stand. Sophie setzte sich. Die Luft im Auto roch abgestanden, auf der Rückbank lag eine Decke. Zedd sank auf den Fahrersitz und während Sophie noch aus dem Fenster starrte und sich vorsichtig fragte, warum sie in das Auto eines Fremden gestiegen war, sprang nur wenige Sekunden später der Motor an. Zedd parkte aus und fuhr los.

„Wieso warst du hier?“
„Weil ich mit dem Zug gefahren bin.“

„Verfolgst du mich?“ Sophie wandte sich ihm zu, sah wie er schluckte und sein Griff um das Lenkrad sich verstärkte.

„Kannst du nicht einfach froh sein, dass ich da war?“, antwortete Zedd schließlich. Sophie wurde es mulmig. Er wich ihr aus.

„Und heute Mittag auf dem Montmartre? Ein Zeichner hat dich gesehen. Verfolgst du mich?“

„Kennst du so etwas wie Zufall?“

Sophie schüttelte den Kopf. „Das ist doch kein Zufall mehr. Antworte mir einfach, bitte. Verfolgst du mich?“ Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, während Sophie auf eine Antwort wartete.

„Sagen wir, ich bleibe in deiner Nähe.“

„Immer?“ Sophie schloss einen Moment lang die Augen. Er hatte es zugegeben. Sie sollte Angst haben. Sollte ihn zwingen anzuhalten, sollte zur Not aus dem fahrenden Auto springen. Aber irgendwie fühlte sie sich... erleichtert.

„So oft es geht.“

„Warum?“

„Weil du... Weil du etwas Besonderes bist.“ Zedd starrte weiterhin geradeaus. Er konnte sie nicht ansehen. Sophie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie drehte sich um und sah aus dem Fenster. Es war stockfinster draußen.

„Scheiße Mann, mach das Licht an!“, fluchte Sophie.

„Krieg dich ein, ich seh genug“, antwortete Zedd, bewegte dann aber doch den Hebel und die Scheinwerfer gingen an. Einen Moment lang zischte die Straße viel zu schnell unter ihnen hindurch, dann schien Zedd langsamer zu werden und hielt sich einigermaßen an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Sophie versuchte auf den Tacho zu schielen, aber alles rund um das Lenkrad versank in tiefster Schwärze. Vielleicht war die Innenbeleuchtung kaputt.

Sophie und Zedd schwiegen bis er direkt vor dem Haus hielt, in dem sie eine Wohnung gemietet hatte.

„Danke fürs Heimfahren“, sagte sie und schnallte sich ab. Zedd nickte nur. Dann griff er urplötzlich nach ihrem Handgelenk, gerade als sie die Tür öffnen wollte. Ein elektrisches Kribbeln fuhr durch Sophies ganzen Körper und die Gänsehaut kehrte zurück. Sie sah ihn an.

„Du solltest besser auf dich aufpassen“, sagte er.

„Wieso? Du bist doch sowieso in der Nähe um mich zu retten“, entgegnete sie schnippisch und stieg aus.

„Aber lange wird es nicht dauern, bis sie das unterbinden“, murmelte Zedd. Sophie war sich nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hatte und als sie sich doch noch mal zu ihm umdrehte, hatte er sich bereits wieder der Straße zugewandt und ließ den Motor an. Ohne ein weiteres Wort fuhr er davon.

Sophie ging nach oben und betrachtete im Spiegel ihren Hinterkopf. In ihren Haaren klebte getrocknetes Blut, aber sie konnte nirgendwo eine Wunde entdecken.

Das ist unmöglich, dachte sie. Aber als sie auf ihr Knie blickte, konnte sie dort nicht einmal eine Blutkruste finden. Sophie schluckte. Hatte sie nur geträumt? Halluziniert? Sie zog sich aus und duschte lange und ausgiebig, aber das ungute Gefühl verschwand nicht.

Als sie aus der Dusche stieg wurde ihr klar, dass es nicht Jules klammernde Berührung war, die sie nach wie vor spürte, sondern den elektrischen Impuls, den Zedd durch ihren Körper gejagt hatte. Aus einer Eingebung heraus, schaltete Sophie in der ganzen Wohnung das Licht aus. Aber das reichte noch nicht. Sie nahm sich eine Taschenlampe und ging hinunter in den Keller. Dann zog sie die Sicherung für ihre Wohnung. Ohne die Lampe anzuschalten ging sie zurück und legte sich in ihr Bett. Umso länger sie liegen blieb, umso mehr schien sie die Abwesenheit der Elektrizität um sie herum zu spüren und irgendwann verschwand das kribbelnde Gefühl in ihr. Sie schlief endlich ein.

 

Sie stand in ihrem Atelier mit dem Rücken zur Tür. An ihrem Schreibtisch saß ein Mann und betrachtete, was vor ihm lag.

„Zedd?“, fragte Sophie. Er drehte sich um und lächelte.

„Du hast versucht mich zu zeichnen.“ Sophie nickte und ging auf ihn zu. Sie blickte über seine Schulter auf ihren Schreibtisch. Er hatte ihre zerrissenen Zeichnungen aus dem Müll gekramt und wieder zusammengesetzt.

"Ich habs aber nicht hingekriegt", gab Sophie schließlich das Offensichtliche zu.

"Aber der fremde Mann auf dem Montmartre hat es geschafft. Und das, obwohl er mich doch nur einen winzigen Moment lang gesehen hat."

"Sagst du mir wie?", bat Sophie.

"Ich habe ihm die Hand geführt. Er hat gemalt, aber ich habe ihm das Bild in die Gedanken gepflanzt. Das ist alles." Sophie beschloss so zu tun, als wäre das das normalste der Welt.

"Warum kann ich es nicht?"

Zedd seufzte. "Es ist noch zu viel Licht in deinem Herzen. Die Dunkelheit hat dich noch nicht vollständig im Besitz. Du hast sie noch nicht akzeptiert. Nimm sie auf, werde ein Teil von ihr. Dann wirst du auch ein Bild von mir malen können. Wenn du mich sehen kannst, wie ich bin." Zedd blickte ihr tief in die Augen und ein Schaudern überlief sie, sodass sie nicht einmal Zeit hatte sich darüber Gedanken zu machen wie verrückt das klang. Dann wandte Zedd sich um und stand auf.

"Das hier ist dir aber schon ziemlich gut gelungen", sagte er und holte die Leinwand heraus, auf die Sophie seine gelben Augen gemalt hatte. Sie war noch nicht dazu gekommen sie zu übermalen. Zedd kam ihr wieder näher. Nahm das Bild in die eine Hand und strich mit der anderen vorsichtig über ihr Gesicht.

"Warum fällt es dir im Traum jetzt schon so viel leichter meine Anwesenheit zu akzeptieren?"

"Ich träume?", fragte Sophie ausweichend.

"Bitte, da bist du doch längst drauf gekommen. Ich konnte fast ohne Widerstände in deinen Kopf eindringen. Sophie, das ist gefährlich. Warum machst du es mir so leicht?"

"Ich weiß nicht, was du meinst." Sophie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Den Geschmack einer Lüge. Sie hatte darauf gehofft von ihm zu träumen.

"Ach Sophie. Du solltest mir nicht vertrauen. Genau genommen sollte ich aber auch nicht hier sein, nicht wahr?"

Sophie presste fest ihre Lippen und Zähne aufeinander und verweigerte eine Antwort.

"Ich habe dich beobachtet, Sophie. Und mir gefällt was ich sehe. Viel zu sehr." Er lehnte seine Stirn an ihre und atmete tief ein. "Das könnte zu einer Gefahr werden - für uns beide." Sophie schwieg einen Moment lang, genau wie er. Dann fuhr Zedd fort. "Ich glaube, ich werde das Bild behalten."

Er beugte sich herunter und küsste sie. Nicht sanft wie im letzten Traum, sondern richtig. Als Sophie die Arme ausstreckte um ihn von sich wegzuschieben, löste er sich wieder in Dunkelheit auf. Die Schwärze floss durch ihre geöffneten Lippen in sie hinein und Sophie verschluckte sich daran.

Würgend und keuchend wachte sie in ihrem Bett auf. Eine Minute lang kämpfte sie darum, Luft zu bekommen. Dann sprang sie aus dem Bett und rannte in ihr Atelier. Sie suchte überall, aber das Bild mit den goldenen Augen war nirgendwo zu finden.

Hatte sie wirklich nur geträumt?

Jetzt wirst du endgültig verrückt, dachte Sophie.

Erpressung & Dates

"Kommst du zu Weihnachten nach Hause?", fragte ihre Mutter zum bestimmt hundertsten Mal.

"Ich weiß noch nicht, Maman. Es ist erst Oktober." Das sagte sie immer, so lange wie es ging. Sophie konnte ihrer Mutter nicht sagen, dass sie nicht nach Hause kommen wollte - das hätte ihr das Herz gebrochen. Dabei ging es gar nicht um sie oder ihren Vater. Es ging um alle anderen. Weil zu Weihnachten alle nach Hause kamen.

"Wir vermissen dich."

"Ich bin erst seit zwei Monaten weg."

"Aber trotzdem."

Ich werde nicht nach Hause kommen, Maman. Nicht wenn das heißt, dass ich ihn sehen muss. Dass ich sie alle wiedersehen muss, die über mich gelacht und getuschelt haben. Die mir nicht geglaubt haben und dadurch alles nur noch schlimmer wurde. Du und Papa ihr könnt das nicht verstehen, aber ich bin froh endlich weg zu sein.

Wie oft hatte Sophie sich schon gewünscht, sie hätte den Mut ihrer Mutter all das zu sagen. Aber zuletzt endeten die Telefongespräche doch immer genau wie das Anfang Obtober.

"Ich werde sehen was ich tun kann", versprach Sophie obwohl sie schon genau wusste, dass sie nicht nach Hause fahren würde.

Genau deshalb hatte sie auch heute schon ihre Wohnung geputzt, an ihrer Hausarbeit gearbeitet, Katzenvideos auf Youtube geschaut und starrte jetzt seit bald fünf Minuten das Handy in ihrer Hand an. Ihr Vater hatte Geburtstag, sie musste zu Hause anrufen und sie freute sich auch darauf zu hören was es Neues gab - aber sie hasste es zu lügen.

Mit einem Seufzer auf den Lippen gab Sophie die Nummer ein.

"Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern, die sich nie melden. Gründungsmitglied Jean-Baptiste am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Sehr witzig, Papa." Sophie konnte ein Grinsen doch nicht unterdrücken und hörte ihre Tante im Hintergrund lachen. "Eigentlich rufe ich an um dir alles, alles Gute zum Geburtstag zu wünschen."

"Danke schön", antwortete ihr Vater. "Wie geht's dir?"

"Gut. Wir haben jetzt das Thema für die Kreidezeichnungen bekommen: Unser Paris. Find ich super. Die ersten Bilder sind auch schon fertig. Und bei euch so?"

"Deine Mutter hat wieder diesen leckeren Kuchen gebacken, der dafür sorgt, dass wir morgen alle zwei Kilo mehr auf der Waage haben, aber ansonsten können wir nicht klagen. Draußen scheint die Sonne, Susanne und Arthur sind hier und haben mir eine Flasche Whiskey mitgebracht - ich kann nicht klagen."

"Wie geht's Arthur, hat er noch Probleme mit dem Rücken?"

"Ja. Aber nächsten Montag geht er für zwei Wochen in Kur, dann müsste es bald besser werden."

"Schön." Sophie gingen die Dinge aus, die sie sagen konnte. Ihr Vater und sie waren noch nie die mit den großen Reden gewesen.

"Anne, willst du noch mit Sophie sprechen?" Ihr Vater hatte zwar wohl das Telefon von sich weggedreht, aber Sophie hörte ihn trotzdem. Und sie betete, dass ihre Mutter 'Nein' sagen würde, auch wenn sie wusste, dass es hoffnungslos war.

"Ich geb dich weiter", sagte ihr Vater und Sophie nickte nur. Der unangenehme Teil des Gesprächs kam erst noch.

"Sophie?", fragte ihre Mutter durchs Telefon.

"Ja, Maman. Wie geht's dir?"

"Gut, aber die viel wichtigere Frage ist: wie geht's dir? Kommst du zu Recht?"

"Ja, so wie immer, Maman. Ich hab mich längst eingelebt, das weißt du doch."

"Und hast du Freunde gefunden?" Sophie seufzte. Das war immer schon die größte Sorge ihrer Mutter gewesen - das Sophie keine 200 Leute "Freunde" nannte, so wie sie.

"Ich war gestern mit ein paar Leuten Mittagessen. Und letztes Wochenende war ich mit Cléo auf einer Party. Ist es das, was du hören willst?" Sophie merkte, wie schnippisch das klang und es tat ihr auch Leid. Aber wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte, konnte sie einfach nicht anders.

"Ach, Sophie. Ich mache mir doch nur Sorgen."

"Ich weiß, Maman." Tut mir Leid, wollte sie noch sagen, aber es kam ihr mal wieder nicht über die Lippen.

"Und hast du mittlerweile einen Jungen kennengelernt? Gehst du aus?"

"Maman!", beschwerte sich Sophie und sie hörte leise, wie ihr Vater ebenfalls versuchte ihre Mutter zurückzuhalten.

"Ich bin doch nur neugierig."

Sophie seufzte. "Es gibt da vielleicht einen, aber ich kenne ihn gerade mal seit einer Woche, also..." Sophie biss sich auf die Lippe. Was erzählte sie da und vor allem wieso?

"Wie heißt er? Wo kommt er her? Wie sieht er aus? Wie hast du ihn kennengelernt? Was macht er? Wie alt ist er? Wie..."

"Anne!", rief Sophies Vater im Hintergrund.

"Sein Name ist Zedd. Er war auch auf der Party, auf der ich mit Cléo war." Was zur Hölle?, dachte Sophie. Sie sollte Zedd als Stalker anzeigen, nicht ihrer Mutter erzählen, dass sie vielleicht was mit ihm anfing.

"Und wie....?"

"Das reicht, Maman. Wirklich."

"Ist ja gut." Sophie hörte, dass ihre Mutter beleidigt war.

"Dann lass ich euch jetzt mal weiterfeiern. Grüß Tata und Arthur für mich. Und sag Papa noch mal Alles Gute."

"Mach ich. Und du meld dich mal wieder! Und zwar bitte nicht erst in zwei Monaten!"

"Mach ich, Maman", antwortete Sophie schnell. "Tschüß, Bisous."

"Bisous, meine..." Den Rest konnte Sophie nicht mehr hören. Sie hatte schon aufgelegt. Genervt schmiss sie ihr Handy auf ihr Bett und ließ sich gleich daneben fallen. Telefonate mit ihrer Mutter laugten sie aus.

"Weißt du, ich fühl mich ja wirklich geschmeichelt, dass du schon mit deinen Eltern über mich sprichst, aber eigentlich dachte ich, unsere Beziehung sei noch nicht so weit fortgeschritten. Und außerdem könntest du ruhig ein wenig netter zu deiner Mutter sein."

Sophie fuhr erschrocken hoch. In der Tür zu ihrem Schlafzimmer stand Zedd. Er grinste, als wäre das überhaupt nichts ungewöhnliches.

"Scheiße, was zur Hölle machst du hier?", fragte Sophie.

"Ich wollte nur sehen wie es dir geht. Als ich dich gestern Abend hier abgesetzt habe, warst du ja nicht sonderlich gesprächig."

"Wie kommst du in meine Wohnung?" Sophie begann wütend zu werden.

"Unter der Fußmatte ist kein besonders kreatives Versteck für einen Zweitschlüssel." Er warf ihr den kleinen Schlüssel zu und Sophie streckte automatisch die Hand aus und fing ihn auf.

"Es geht mir gut. Kannst du jetzt bitte wieder verschwinden?"

"Vielleicht."

"Was soll das heißen?" Sophie stand auf und baute sich vor ihm auf. Sie war zwar recht dünn, aber dafür ziemlich groß. Normalerweise reichte das. Aber gegenüber Zedd fühlte sie sich wie ein Grashalm. Ein Windstoß und sie würde umknicken.

"Nachdem du deiner Mutter jetzt schon von uns erzählt hast, finde ich, es wird Zeit, dass wir uns mal treffen, wenn du nicht in Gefahr schwebst."

"Ich hab dich nicht darum gebeten in meiner Nähe zu bleiben", erinnerte Sophie ihn.

Zedd ignorierte ihre Einwurf. "Ich lade dich zum Essen ein. Morgen um sieben stehe ich wieder vor deiner Tür. Deal?"

"Das kannst du sowas von vergessen." Sophie verschränkte die Arme. "Hau jetzt ab."

"Nur wenn du morgen mir mir ausgehst."

"Nein."

"Gut. Dann bleib ich eben hier." Zedd zuckte mit den Schultern und löste sich aus dem Türrahmen. Er ging in das Zimmer hinein und ließ sich ohne zu fragen auf ihre Bettkante sinken. Er lehnte sich ein wenig zurück und stützte die Hände auf. "Wir können das Essen natürlich auch überspringen, wenn dir das lieber ist." Er hob eine Augenbraue und für einen Moment war Sophie sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich fühlte. Da war nach wie vor die Wut darüber, dass er einfach so in ihre Privatsphäre eingedrungen war. Da war die Angst, die sie eigentlich von Anfang an hätte fühlen sollen. Und dann war da Aufregung. Zedd sitzt auf meinem Bett. Der Wunsch, auf sein Angebot einzugehen. Ich könnte es tun. Ohne es wirklich zu bemerken ging Sophie auf ihn zu. Stellte sich viel zu dicht vor ihn.

"Verschwinde", sagte sie.

"Gehst du morgen mit mir aus?"

"Das ist Erpressung."

"Mir egal."

"Hau ab."

"Ich könnte jetzt die Hand ausstrecken und dich auf meinen Schoß ziehen, weißt du das?" Sophie erschauderte. Sie machte wieder ein paar Schritte zurück.

"Bitte. Ich will, dass du gehst."

"Und genau deswegen sollte ich eigentlich bleiben." Zedd seufzte und stand auf. Er stellte sich vor sie und Sophie dachte, er würde die Hand heben um ihr über die Wange zu streicheln, so wie er es in ihren Träumen tat. "Wenn du wüsstest, was ich alles riskiere deinetwegen. Ich habe ihnen all das hier als Teil eines Plans verkauft. Wenn sie merken, dass... Geh mit mir aus, Sophie. Bevor sie es sich anders überlegen." Sophie wusste nicht, von wem er sprach. Verstand kaum, was er sagte. Aber sie spürte wie sie nickte. Zedd lächelte sie glücklich an.

"Geht doch. Dann bis morgen um sieben." Er drehte sich um und ging hinaus auf den Flur. Sophie folgte ihm bis zur Wohnungstür und schloss sie hinter ihm. Sie versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.

Auf einmal fiel ihr ein, dass sie heute morgen ihren Schlüssel vergessen hatte. Sie war am Mittag selber mit dem Ersatzschlüssel in die Wohnung gekommen. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn danach nicht wieder unter die Fußmatte gelegt hatte, sondern auf den Küchentisch. Zedd hatte gelogen. Und er war ganz sicher ohne Schlüssel in ihre Wohnung gekommen.

 

Sophie saß angespannt auf ihrer Bettkante. Alle zehn Sekunden blickte sie auf die Uhr. Sie zupfte am Saum ihres schwarzen Kleides. Sie hatte es vor Monaten gekauft und nie getragen, obwohl sie es wunderschön fand. Es war einfach zu anders als all ihre anderen Sachen - sie hatte es nicht gewagt. Heute Abend aber hatte sie es vom Bügel genommen und angezogen. Warum konnte sie selbst nicht so genau sagen. Eigentlich sollte sie in ihrem Schlafanzug unter der Bettdecke liegen und krank spielen. Oder am besten gar nicht hier sein. Und schon gar nicht sollte sie so nervös darauf warten, dass Zedd an der Tür klingelte. Ob er überhaupt klingeln würde?

Sophie sah wieder auf die Uhr. Es war eine Minute vor Sieben. Sie hielt es nicht mehr aus, also stand sie auf und ging ins Badezimmer. Im Spiegel betrachtete sie sich. Sie hatte vorher über eine Stunde hier verbracht. Hatte geduscht und sich die Beine rasiert, hatte ihre Haare geföhnt und dann zu leichten Locken gedreht, wie sie es zuletzt für ihren Schulabschluss gemacht hatte. Dann hatte sie ihr Make-Up aus dem hintersten Winkel des Schranks gezogen und sich geschminkt. Weil sie es nicht aushielt nichts zu tun, nahm sie jetzt wieder den Lippenstift, den sie sonst nie benutzte, und zog ihn nach. Das ist total bescheuert, dachte sie. Dann blickte sie auf den kleinen schwarzen Zylinder in ihrer Hand und warf ihn ärgerlich ins Waschbecken. Genau in diesem Moment klingelte es an der Tür. Sophie schreckte auf. Blickte ihr Spiegelbild an und dann über ihre Schulter in den Gang hinaus. Sie zögerte.

"Sophie, ich weiß, dass du da bist", ertönte Zedds Stimme gedämpft aber doch mehr als deutlich durch die Tür. Ohne es wirklich zu bemerken, hatte Sophie das Badezimmer verlassen und war in den Flur gegangen. Jetzt stand sie vor der Wohnungstür und bewegte sich keinen Zentimeter mehr. Obwohl Zedd auf der anderen Seite stand, spürte sie ganz deutlich seinen Blick auf sich. Für einen winzigen Augenblick stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf, dann verschwand das Gefühl. Zitternd streckte Sophie die Hand aus. Sie öffnete das Schloss und dann die Tür. Zedd stand vor ihr und lächelte. Er trug schwarze Jeans, ein weißes Hemd und eine schwarze Jacke. Sophie brauchte einen Moment, ehe sie merkte, was mit ihm nicht stimmte. Er musterte sie mit hellgrünen Augen.

"Wow", sagte er nur und ließ den Blick zwei Mal an ihr hinunter gleiten. "Du siehst toll aus."

„Danke. Was sollen die Kontaktlinsen?“

„Ich hatte keine Lust im Restaurant mit Sonnenbrille aufzutauchen. Bist du so weit?“

„Klar.“ Sophie schnappte sich ihre Tasche und war froh, dass ihre Hand dabei nicht zitterte.

Vor der Haustür stand ein silberner Mercedes und als Zedd seine Schlüssel aus der Tasche zog, blinkten die Lichter auf.

„Was ist mit dem alten Renault?“

„Oh, der war nur geliehen.“ Sophie wunderte sich, beließ es aber dabei. Sie stieg ein und fröstelte kurz, als sie das kühle Leder der Sitze an ihren Beinen spürte.

„Wohin fahren wir?“

„Zum Restaurant.“ Sophie rollte mit den Augen. „Lass dich doch einfach überraschen.“ Nach etwa einer Viertelstunde fuhr Zedd auf den Parkplatz eines kleinen griechischen Restaurants am Ortsausgang eines Dorfes. Sophie war noch nie vorher hier gewesen.

„Bist du öfter hier?“, fragte sie.

„Nein, heute ist das erste Mal. Aber ich habe gehört, es soll sehr gut sein. Ich hoffe du magst griechisch?“

„Sehr gern sogar.“ Sie gingen hinein und wandten sich an die Bedienung. Sie wollte ihnen einen Tisch im vorderen Teil des Restaurants, in der Nähe der Fenster zuweisen, aber Zedd wies mit dem Finger auf die Nischen in der gegenüberliegenden Wand. Die Bedienung zuckte nur mit den Schultern und ließ sie allein. Das Restaurant bot nicht für viele Menschen Platz und war so gut wie leer. Aber das störte Sophie nicht. Auch nicht, dass das Licht an ihrem Tisch gerade so dämmrig genannt werden konnte. Allerdings spürte sie eine ungekannte Aufregung, als sie daran dachte, wie geschützt sie und Zedd hier vor den Blicken anderer waren. Nachdem die Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte, verfielen Zedd und Sophie in ein Schweigen, das rein gar nichts Angenehmes an sich hatte.

„Also...“, sagte Sophie nach einer Weile, „Wie alt bist du eigentlich?“

Ein leichtes Schmunzeln zog sich über Zedds Gesicht. „Alt genug.“

„Sehr witzig.“

„Warum willst du das denn unbedingt wissen?“

„Entschuldige, ich versuche ja nur Konversation zu betreiben“, entgegnete Sophie schnippischer, als sie eigentlich wollte.

„Tut mir Leid. Du hast Recht“, antwortete Zedd. Aber er sagte ihr trotzdem nicht, wie alt er war.

„Ich bin 18“, nahm Sophie das Thema wieder auf.

„Ich weiß.“ Es klappte nicht.

„Du... Du hast mir mal gesagt, Zedd sei nur dein Spitzname. Wie heißt du wirklich?“

„Sceadwian.“

„Wie?“

„Sceadwian. Das ist Altenglisch.“

„Aha. Da waren deine Eltern aber sehr kreativ. Oder hast du englische Wurzeln oder so?“

„Ich bin sogar in England geboren und hab da 'ne ganze Weile gelebt, ehrlich gesagt.“

„Den Akzent hört man dir aber nicht mehr an.“

„Das höre ich gern.“ Das Gespräch verebbte wieder. Sophie nahm ihr Glas und nuckelte an ihrer Cola. Als sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten stellte sie es schnell wieder ab. Nervös wickelte sie eine ihrer gelockten Haarsträhnen um ihren Finger und starrte sie an. Der Gegensatz zwischen ihrer weißen, durchscheinenden Haut und dem schwarzen Haar kam ihr heute noch krasser vor.

„Das machst du immer, wenn du nervös bist“, sagte Zedd unvermittelt.

„Was?“

„Wenn du nervös bist, spielst du mit deinen Haaren. Oh, und du beißt dir auf die Lippe.“ Sofort ließ Sophie die Haarsträhne fallen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippe. Das hatte sie nicht einmal bemerkt.

„Woher weißt du bitte, ob ich das immer mache, wenn ich nervös werde?“

„Das habe ich dir doch gesagt: Ich habe dich beobachtet.“ Sophies Mund wurde trocken, ihr Herz pochte zu schnell. Das war einfach nur krank. Sie sollte wirklich gehen und ihn anzeigen. Ich habe dich beobachtet. Ich habe dich beobachtet. Scheiße, durchfuhr es Sophie. Was mache ich eigentlich hier? Der Typ ist doch ein Psychopath.

„Ich muss mal wohin“, sagte sie prompt, nahm ihre Handtasche und stand auf. Auf wackligen Knien ging sie zu den Toiletten und verfluchte den Absatz ihrer Schuhe, auf dem sie jeden Moment unzuknicken drohte. Sie verschloss die Tür hinter sich und stütze sich auf den Waschbeckenrand. Im Spiegel blickte sie sich in die Augen. Und erschrak, wie ruhig sie aussah. Sie hatte erwartet, rote Stressflecken zu sehen, geweitete Pupillen. Irgendein Anzeichen dafür, dass sie Angst hatte. Aber da war nichts. Sie sah aus, als wäre sie völlig ruhig. Sophie schüttelte den Kopf und wusch sich mit dem eiskalten Wasser die Hände. Und als sie wider aufblickte gestand sie sich ein, dass sie tatsächlich keine Angst hatte. Sie wusste nur, dass sie eigentlich Angst haben sollte.

Aber ich bin ja auch nicht gerade für mein gutes Urteilsvermögen bekannt, dachte sich Sophie. Ich werde jetzt da raus gehen, an ihm vorbei, und ihn einfach sitzen lassen. Irgendwo habe ich eine Bushaltestelle gesehen und irgendwie werde ich nach Hause kommen. Aber ich kann doch nicht hier bleiben! Das wäre... Sophie versuchte sich selbst einzureden, wie dämlich sie sich gerade verhielt. Ich habe dich beobachtet. Das ist doch krank. Das habe ich dir doch gesagt: Ich habe dich beobachtet. Sophie stutzte. Das habe ich dir doch gesagt. Sie erinnerte sich an seine Worte. Ich habe dich beobachtet, Sophie. Und mir gefällt was ich sehe. Viel zu sehr. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie diese Unterhaltung nur geträumt hatte. Im echten Leben hatte er nur zugegeben, dass er in ihrer Nähe blieb um sie zu beschützen. Nicht, dass er sie beobachtete. Aber das ist doch quasi dasselbe. Bestimmt hat er das gemeint. Er kann nicht wissen, dass du von ihm träumst. Er kann es nicht wissen.

Sophie wusch sich noch einmal die Hände um ihre Gedanken abzuschütteln. Dann verließ sie die Toiletten und ging zurück ins Restaurant. Mittlerweile hatte sie aber ganz vergessen, dass sie eigentlich hatte verschwinden wollen. Sie setzte sich zurück an den Tisch, zu dem man schon das Essen gebracht hatte.

„Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“

„Mir geht’s gut.“

„Du beißt dir schon wieder auf die Lippe.“ Sophie zog die Zähne zurück und schob sich schnell eine Gabel Salat in den Mund. Sie aßen schweigend und Sophie vermied es, auch nur einmal den Blick zu heben.

„Okay, vielleicht war das eine blöde Idee“, sagte Zedd, nachdem die Bedienung die leeren Teller wieder mitgenommen hatte.

„Was?“ Jetzt sah Sophie doch auf. Zedd blickte sie direkt an und Sophie stellte fest, dass sie seine Augen durch die blauen Kontaktlinsen hindurch noch gruseliger fand als vorher.

„Das mit dem Date. Ich mein, wir kennen uns gar nicht und die paar Mal, wo wir uns begegnet sind, naja, das waren eben nicht die besten Umstände. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“ Sophie runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er gestern auf ihrem Bett gesessen hatte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und ihr angeboten hatte, gleich zum Dessert zu kommen. Nicht in Verlegenheit bringen?

„Das sah aber gestern ganz anders aus.“

„Ich bin nicht gut in diesen Dingen. Ich weiß nicht... Ich bin schon sehr, sehr lange mit niemandem mehr ausgegangen.“

„Du gehst nicht mit Mädchen aus, aber mir vorzuschlagen, ganz ohne Vorspiel Sex zu haben, damit hast du kein Problem?“ Sophie erschrak über ihre eigene Direktheit. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das Wort „Sex“ das letzte Mal so ungeniert benutzt hatte. Das hatte sie noch nie. Zedd sah sie an, als wüsste er nicht ganz, wie er darauf reagieren sollte. Er sah fast ein wenig peinlich berührt aus, auf der anderen Seite schien er aber ein erleichtertes Grinsen zu verbergen. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Nur weil ich seit Jahrzehnten mit keinem Mädchen mehr ausgegangen bin, heißt das ja nicht, dass ich nicht meinen Spaß haben kann. Sex ist da etwas ganz anderes.“ Sophie stutzte. Meinte er das grade etwa ernst?

„Soll heißen, du springst mit jeder nächstbesten Schlampe in die Kiste. Und eigentlich soll ich nur eine von ihnen werden. Danke fürs Gespräch, ich gehe jetzt.“ Sophie drehte sich um und angelte erneut nach ihrer Handtasche. Sie war schon aufgestanden und wollte sich zum Gehen wenden, als Zedd sie am Handgelenk packte und festhielt. Er stand viel zu dicht vor ihr. Sophie roch sein teures Rasierwasser und darunter etwas viel subtileres. Kälte und Ruhe, das Krächzen einer Eule, Gefahr und Adrenalin. Du bist bescheuert, schalt sie sich. Das ist doch kein Geruch.

„So war das nicht gemeint. Bitte, bleib.“ Sophie machte den Fehler ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Augen flehten sie an ihm zu glauben, ihm eine Chance zu geben. „Du bist nicht eine von ihnen, das habe ich doch gesagt. Du bist etwas Besonderes.“ Sophie spürte sich selbst nicken. Zedd ließ sie los. Erst jetzt bemerkte sie, wie eiskalt seine Finger auf ihrer Haut gewesen waren. Er schloss für einen Moment die Augen, trat einen kleinen Schritt zurück und als er sie wieder öffnete, lag nichts bittendes mehr darin, als hätte er all die intensiven Gefühle, die er ihr grade noch zu vermitteln versucht hatte, einfach ausgeschaltet. Sophie erschauderte es.

„Lass uns hier abhauen“, sagte er dann und legte einen Arm um Sophie, als wären sie nur irgendein Pärchen. Sophie war zu perplex um sich zu wehren und ließ sich von ihm erst zum Tresen schieben, wo er bezahlte und dann hinaus in die Nacht.

„Wieso hast du mich gebeten mit dir auszugehen?“, fragte Sophie, als sie am Wagen ankamen.

„Das macht man doch so, oder etwa nicht?“

„Kannst du auch einfach mal auf eine meiner Fragen antworten wie ein normaler Mensch?“ Zedd sah sie einen Augenblick lang erstaunt an. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als wollte er ihr das größte Geheimnis des Universums anvertrauen, so eindringlich sah er sie an.

„Vielleicht bin ich kein normaler Mensch“, antwortete er dann. Sophie verdrehte nur die Augen.

„Warum wolltest du mit mir ausgehen?“

„Weil ich Zeit mit dir verbringen wollte“, antwortete Zedd jetzt.

„Du bist doch sowieso ständig in meiner Nähe, hast du selbst gesagt.“

„Das ist nicht das selbe.“ Zedd schüttelte den Kopf. „Ich will Zeit mit dir verbringen, wenn du mich tatsächlich auch sehen kannst. Mit mir sprechen kannst.“

„Weißt du, Sprache ist eigentlich dazu da, jemanden kennenzulernen.“

„Ich kenne dich aber schon, besser als du dich selbst, vermutlich. Ich bin sehr gut im Beobachten.“

„Ach ja?“ Sophie bekam eine Gänsehaut, die nichts mit der kalten Nachtluft zu tun hatte. Aber auch nichts mit Angst. Es war allein sein Blick. Zedd nickte.

„Du brauchst jeden Morgen auf die Minute genau die selbe Zeit im Bad. Du hast ein ganzes Fach voller Sachen in deinem Kleiderschrank, die du dich nicht traust anzuziehen. Du malst gerne, du spielst Klavier. Früher hast du auch mal Harfe gespielt. Wenn du in einem Bahnhof an einem dieser Klaviere vorbeikommst, an die sich jeder setzen darf, dann würdest du dich gerne einfach hinsetzen und spielen, aber du traust dich nicht. Sobald du aus dem Haus gehst, senkst du den Blick. Den rechten Schnürsenkel bindest du genau spiegelverkehrt zum linken. Du bist Rechtshänderin, hältst aber das Messer beim Essen mit links. Deine alten Skizzenbücher bewahrst du in einem Schuhkarton unter deinem Bett auf. Die Playlists auf deinem iPod sind ein einziges Sammelsurium aus HipHop, Pop, Rock, Country, Jazz, klassischer Musik und eigentlich allem außer Heavy Metal. Du kommst besser mit deinem Vater zu Recht als mit deiner Mutter. Du triffst dich zwar hin und wieder mit ein paar Leuten aus der Uni, würdest aber die wenigsten als Freunde bezeichnen. Und im übrigen beißt du dir schon wieder auf die Lippe. Wenn das so weiter geht, fängst du bald an zu bluten.“ Sophies Herz schlug ihr bis zum Hals, sie bekam es nicht mal fertig ihre Schneidezähne aus ihrer Unterlippe zu lösen. Alles was er gesagt hatte, stimmte. Woher konnte er das alles wissen? War er ihr wirklich überallhin gefolgt? Sie brachte keinen Ton heraus.

Plötzlich spürte sie Zedds Finger an ihren Lippen. Mit leichtem Druck brachte er sie dazu den Mund zu öffnen und so ihre Zähne zu lösen. Seine Finger blieben einen Moment zu lange liegen, dann spürte sie, wie er ihr vorsichtig übers Kinn streichelte.

„Weißt du, eigentlich finde ich das extrem süß, aber wenn du wirklich anfangen würdest zu bluten...“ Zedd leckte sich über die Lippen und Sophie brachte nach wie vor keinen Ton heraus. Sie war sich nicht einmal sicher ob sie noch atmete oder die Luft anhielt. Dann, ganz plötzlich, ließ Zedd sie los und drehte sich um.

„Ich sollte dich nach Hause bringen.“ Und ohne ein weiteres Wort stieg Sophie ein.

Die richtige Spur

„Hallo, Sophie“, sagte er und lächelte. Er bat ihr den Stuhl an und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. „Wie geht’s dir?“

„Gut, danke schön. Wo sind wir?“

„In einem Restaurant.“

„Was für einem?“

„Was immer du willst.“

„Italienisch?“ Zedd lächelte und die Umgebung veränderte sich. Die kahlen weißen Wände färbten sich beige, Bilder von den Weiten der Toskana tauchten auf, im Hintergrund begann leise eine Oper zu spielen, die jemand aus der Küche hinter dem hohen Tresen lautstark mitsang. Auf dem Tisch erschien eine rote Tischdecke, ein Kerzenständer und ein Glas mit Grissini tauchte auf. Sophie nahm sich eine und knabberte daran.

„Oder eine Crêperie?“ Wieder veränderte sich die Umgebung. Neben Sophie tauchte eine große Glasfront auf, die den Blick auf den Atlantik zuließ. Aus der Oper wurden französische Chansons und der Duft frischer Crêpes stieg Sophie in die Nase. „Mmh. Träumen ist schon etwas tolles.“ Sie lächelte Zedd an. Und er lächelte zurück, aber dann wurde er ernst.

„Ich verstehe es nicht, Sophie. Im echten Leben bist du so misstrauisch, so hart. Du lässt keinen an dich heran. Aber hier... Du hast mich ja fast eingeladen.“

„Ich wollte dich sehen.“

„Und das nach diesem furchtbaren Date?“

„Im Traum muss ich mir nicht einreden, dass ich Angst vor dir haben sollte. Es ist ja nur ein Traum.“

„Aber eigentlich sollte es ein Alptraum sein, verstehst du das denn nicht?“ Zedd wirkte ein wenig verzweifelt. „Ich sollte nicht hier sitzen und mich mit dir unterhalten. Ich sollte dich in Angst und Schrecken versetzen bis du kein Auge mehr zu bekommst. Ich sollte zulassen, dass dir all die schlimmen Dinge passieren, die dir beinahe passiert wären, wäre ich nicht da gewesen. Ich sollte die Gefahren nicht von dir weghalten. Eigentlich sollte ich sie auf dich lenken.“

„Das würdest du nie tun. Du bist doch mein Beschützer.“

„Doch, Sophie. Genau dafür bin ich eigentlich hier.“ Zedd seufzte. Dann stutzte er. „Was soll das eigentlich heißen: mir einreden, dass ich Angst vor dir haben sollte?“

„Dass ich keine Angst vor dir habe, auch wenn ich weiß, dass ich eigentlich Angst haben sollte. Ich... Irgendwie bin ich eigentlich gerne in deiner Nähe.“

„Wirklich?“ Zedds Gesicht hellte sich auf. Sophie senkte den Blick. Es ist nur ein Traum, sagte sie sich. Du kannst sagen was du willst. Dann nickte sie. „Das ist schön.“ Für einen Moment klang Zedd ehrlich glücklich, dann stöhnte er. Als Sophie aufblickte hatte er den Kopf in den Händen vergraben. „Das kann so nicht weiter gehen.“

„Was?“

„Ich darf nicht versuchen dich zu beschützen. Ich darf deine Nähe nicht mehr suchen, wenn es nicht ist um dir Angst zu machen. Ich darf nicht solche Gefühle für dich entwickeln. Das verstößt gegen alle Regeln.“

„Du hast Gefühle für mich?“ Zedd stand auf und im nächsten Moment war er direkt vor ihr. Das Restaurant, der Tisch, selbst Sophies Stuhl war verschwunden, sie stand jetzt wie er. Und um sie herum war nichts als Schwärze.

„Ich hatte mit ein wenig Anziehung gerechnet, so wie sie wohl jeder von uns der Auserwählten gegenüber spürt. Aber nicht so. Nicht so stark.“ Zedd legte seine große Hand an Sophies Schlüsselbein. „Ich wünschte ich könnte das hier auch im echten Leben tun. Aber da sehen sie zu. Es wäre zu gefährlich.“ Er lächelte traurig, dann beugte er sich herunter und küsste sie. Sophie spürte sie, die Schatten, die aus ihm herausschlüpften. Spürte die Kälte, als sie sie umfingen, gefangen nahmen. Spürte, wie sie durch ihre geöffneten Lippen in sie hinein schlüpften. Und für einen winzigen Moment spürte sie die alte Panik. Aber dann erinnerte sie sich an Zedds Hand auf ihrer Haut, an seine Lippen an ihren. Und die Schatten verloren ihren Schrecken. Wenn sie Zedd nur küssen konnte, wenn dann auch die Schatten auftauchten, dann würde sie es trotzdem tun. Sie waren nicht wichtig, er war es. Sophie schmiegte sich an ihn, schlang die Arme um seinen Hals. Als er sich endlich von ihr löste, sah er sie erstaunt an.

„Du bist nicht aufgewacht.“ Sophie lächelte, schüttelte den Kopf. „Aber ich habe sie losgelassen, du musst sie geschluckt haben. Wie...“

„Ich habe keine Angst mehr vor ihnen. Wenn sie ein Teil von dir sind, dann ist das eben so. Sie können mich nicht davon abhalten bei dir zu bleiben.“

„Bei... mir?“ Sophie vergrub ihre Finger in seinem Haar. Es war so wunderbar weich!

„Bei dir.“

„Das geht nicht.“ Abrupt löste er sich von ihr. „Sophie, du musst aufwachen!“ Und dann spürte sie seine Hände wieder an ihren Schultern. Er schubste sie so stark, dass sie nach hinten fiel.

Sophie wachte auf.

 

Eine ganze Weile lang saß sie nur in ihrem Bett und starrte durch die Dunkelheit an die gegenüberliegende Wand. Irgendwann zog sie die Knie an und vergrub den Kopf in ihren Händen. Er ist ein verdammt gefährlicher Stalker, dachte sie. Und ich habe nichts besseres zu tun als mich in ihn zu verlieben. Das ist so was von bescheuert. Das ist doch krank. Ihre Gedanken kreisten, aber sie konnte es nicht leugnen. Sie hatte Gefühle für Zedd.

Irgendwann stand sie auf und setzte sich an ihren Computer. In die Suchmaschine gab sie seinen richtigen Namen ein. Sceadwian. Sie bekam einige Ergebnisse, alle auf Englisch. To overshadow, to shield from light, to protect as with covering wings. Sie alle passten perfekt zu Zedd. Sophie saß da, blickte auf die Übersetzungen und dachte nach.

Er taucht immer auf wie aus dem nichts.

Er sagt, er ist immer in deiner Nähe, aber du siehst ihn nie.

Er kommt ohne Schlüssel in deine Wohnung.

Er bewegt sich schneller, als es möglich sein sollte.

Er ist stark.

Er hat irgendetwas von Blut gesagt.

Seine Haut ist so weiß wie deine.

Er sagt, er ist gefährlich.

Sein Name bedeutet Schatten.

Er sagt, er sollte keine Gefühle für dich haben.

Er sagt, er ist kein normaler Mensch.

Er hat gelbe Augen.

In deinen Träumen, ist er umringt von den Schatten.

Sophie zweifelte an ihrem Verstand, an ihrer Erziehung an allem, was wirklich sein sollte. Und doch wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war.

 

Zedd ließ sich nicht mehr blicken. Tage vergingen, schließlich eine ganze Woche. Sophie träumte nicht einmal von ihm – nicht so, wie sie es schon getan hatte. Sein Bild zuckte durch ihre Gedanken, dass schon. Aber sie konnte nicht mit ihm sprechen. Ihn nicht anfassen. Es waren nur normale Träume. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie musste ihn einfach sehen. Die Frage war nur – wie?

Sie ging an all die Orte, an denen sie ihm schon begegnet war. Das Hochhausdach, der Bahnhof, das Restaurant. Nichts. Sie erwog sogar sich Tickets für den Parc Astérix und Disneyland zu kaufen, weil das die Orte waren, an denen er zum ersten Mal in ihren Träumen aufgetaucht ist. Aber sie sah ein, dass das nicht der richtige Weg war. Er beschützt dich, sagte sie sich. Also musst du nur in Gefahr geraten. Das ist alles. Aber es wollte einfach nichts gefährliches passieren. Sie beschloss, sich absichtlich in Gefahr zu bringen.

Wenn es nicht funktioniert. Wenn er nicht in der Nähe ist... Sophie verdrängte die Gedanken. Zum gefühlt hundertsten Mal blickte sie auf den Minuten-Anzeiger der Metro. Noch zwei Minuten, dann kam die nächste. Die Station war immer noch wie leergefegt. Nicht einmal eine handvoll Leute warteten auf den Zug. Und keiner achtete auf sie. Noch eine Minute. Sophie stand auf und ging in Richtung Tunnel. Die Gleise waren nur noch wenige Meter entfernt. Ne descendez pas sur les voies! Die Schilder sprangen Sophie förmlich an. Die Minutenanzeige sprang auf null und begann zu blinken. Sophie ging noch näher heran. Sie konnte den Zug hören. Sie biss sich auf die Lippe. Dann tauchten seine Scheinwerfer auf. Warte noch, sagte sie sich. Warte noch... Jetzt. Sophie machte noch einen Schritt, dann noch einen. Beim nächsten würde sie fallen. Der Zug war nur noch wenige Meter entfernt. Sie hob das Bein.

Und lag im nächsten Moment mit dem Rücken auf dem Boden der Metrostation. Der Zug fuhr ein, bremste, als wäre nichts geschehen. War es ja auch nicht. Zedd lag über ihr und sah sie böse an. Vorsichtig rollte er sich von ihr runter.

„Bist du okay?“ fragte er dann doch. Sophie sah sich um. Die anderen Menschen schienen nach wie vor nichts zu bemerken. Sie stiegen gerade in die Metro ein, die Türen schlossen sich. Sophie nickte.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was zur Hölle sollte das?“ Zedd verschränkte die Arme, machte nicht einmal Anstalten ihr aufzuhelfen. Also rappelte sie sich alleine auf.

„Ich wollte dich sehen“, antwortete sie.

„Und da wolltest du dich vor einen Zug werfen?“

„Ich wusste ja, dass du mich retten würdest.“

„Und was wenn nicht? Was wenn nicht, Sophie?“ Er kam auf sie und sah sie immer noch böse an. „Weißt du, ich passe nicht rund um die Uhr auf dich auf. Ich habe auch nach andere Sachen zu tun. Was, wenn ich nicht da gewesen wäre?“

„Wo warst du überhaupt? Du kamst von links – aber da war nur die Mauer und der Tunnel. Wo kamst du her?“

„Das spielt doch keine Rolle! Du könntest tot sein!“

„Bin ich aber nicht.“ Zedd massierte sich die Nasenwurzel, beruhigte sich langsam. Sophie konnte es sich einbilden, aber als er die Augen wieder aufschlug, schien das Licht in der Station wieder heller zu leuchten.

„Okay, okay. Wo willst du hin? Nach Hause?“ Sophie nickte. „Die nächste Metro kommt schon in ein paar Minuten. Ich bringe dich bis zur RER.“ Er zog sie von den Bahngleisen weg und sie setzen sich nebeneinander. Sophie betrachtete ihn von der Seite, aber er weigerte sich sie anzusehen.

„Du kamst aus dem Tunnel, nicht wahr? Aus den Schatten?“, fragte sie schließlich.

„Mach dich nicht lächerlich. Das kann ein Mensch nicht.“ Sophie merkte genau, dass er nicht sagte Das ist unmöglich. Er sagte nur, dass unmöglich war für einen Menschen.

„Wie alt bist du?“

„Schon wieder diese Frage?“

„Wenn du mir nicht dein wahres Alter sagen willst, dann lüg mich doch einfach an.“

„Ich kann nicht lügen, Sophie. Das ist ja das Schlimme“, antwortete Zedd. Er kann nicht lügen. Sophies imaginäre Liste wurde immer länger. Sie schwiegen wieder eine Weile. Irgendwann fuhr die Metro ein und sie stiegen ein. Im Wagon bemerkte Sophie, wie die Menschen sie anstarrten. Erst verstand sie es nicht, aber irgendwann merkte sie, dass die Leute nicht sie, sondern Zedd anstarrten. Sophie brauchte eine Weile um zu verstehen warum, so sehr hatte sie sich schon daran gewöhnt. Aber für den Durchschnittsmenschen war jemand mit leuchtenden, wolfsgelben Augen wohl nicht gerade ein typisches Bild. Zedd schien noch immer sauer auf sie zu sein, die Lichter im Zug flackerten. Jeder der ausstieg schien froh zu sein, nicht mehr in Zedds Nähe sein zu müssen. Eine alte Dame zog ihre Jacke enger um sich.

Sie frieren. Sie haben Angst vor Zedd, erkannte Sophie. Sie haben Angst vor Zedd. Und plötzlich erinnerte sie sich daran. Er ist gefährlich. Er stalkt dich. Und vermutlich ist er nicht mal... menschlich. Sophie sah die anderen Leute an, die sich fürchteten und die Furcht kroch langsam auch zurück in sie. Zedd würdigte sie keines Blickes, aber umso länger und öfter Sophie ihn ansah umso schneller schlug ihr Herz. Und dieses Mal nicht auf eine gute Weise. Er ist gefährlich.

Als sie endlich an ihrer Station ankamen, sprang Sophie förmlich aus der Metro heraus – genau wie alle anderen es getan hatten. Sie rannte fast, aber Zedd holte sie ein. Er packte sie am Handgelenk hielt sie fest, bis sie stehen blieb.

Sophie wich vor ihm zurück, immer weiter, bis sie die Wand im Rücken spürte. Aber ihn schien das nicht zu interessieren. Er folgte ihr, nagelte sie fest, schnitt jede Fluchtmöglichkeit ab.

„Warum läufst du vor mir davon?“, fragte er und studierte sie mit diesen gruselig schönen Augen.

„Du bist nicht... Du bist kein..“ Sophie biss sich auf die Zunge. Wenn sie es aussprach, würde es viel zu real werden.

„Kein Mensch?“ Einen Moment lang schien er zu zögern. Dann grinste er hämisch. „Gut beobachtet.“ Er grinste, griff ohne hinzusehen nach ihrer rechten Hand und begann mit zwei Finger ihren Handballen zu massieren. Ein Schauer überlief Sophies Körper und sie war sich nicht sicher, ob er tatsächlich aus Angst resultierte.

„Was willst du von mir?“, fragte sie.

„Was ich will... Das ist eine gute Frage.“ Zedd löste den Blick von ihr und blickte hinauf an die Betondecke des Tunnels, als würde dort eine Antwort stehen. Doch sein Griff lockerte sich in keinster Weise. „Da ist das, was ich von dir wollen sollte. Und dann ist da das, was ich wirklich von dir will.“ Er sah sie wieder an, kam noch näher. Sein Körper presste gegen ihren und am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Oder nach seinem Shirt gegriffen, ihn zu sich heruntergezogen und geküsst, wie sie noch niemals jemanden geküsst hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Die Frage ist nur, wie lange ich die Pflicht noch über den Wunsch stellen kann.“ Er hob die Hand, strich ihr vorsichtig über die Wangen, über ihre Augenlider, die sich fast von selbst schlossen, über ihre Lippen. Dann fuhr er ganz langsam in ihren Nacken. Sophie spürte ein kurzes Ziehen an ihren Haaren, als er die Finger darin vergrub und genoss den Schmerz. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf, öffnete leicht die Lippen ohne es zu merken. In ihrem Kopf schrie es gleichzeitig Lauf weg! Und Küss mich endlich! „Ich könnte dich mir nehmen. Jetzt und hier. Ich könnte dich mit Gewalt zwingen – oder ich könnte deine Gedanken manipulieren, mit meiner Dunkelheit den letzten Rest Licht aus deinem Herzen vertreiben. Und du würdest dich mir freiwillig hingeben.“

Er ist verrückt. Er wird dir wehtun. Wie die anderen damals, dachte Sophie. Aber was sie sagte, war das genaue Gegenteil. „Tu es“, bat sie. „Zwing mich. Mach, dass ich keine Angst mehr haben muss. Dass ich aufhöre mit mir selbst zu streiten.“

„Ich wünschte es wäre so einfach. Aber ich darf nicht. Sie würden mir das nicht verzeihen.“ Er sah sie an. Lächelte zuerst müde, verzog dann gequält das Gesicht. „Gott, du bist so schön.“ Er legte den anderen Arm um ihre Hüfte, zog sie noch enger gegen sich und Sophie kam ihm bereitwillig näher. „Warum kannst du nicht einfach irgendein Mädchen sein? Warum musst du...“ Er unterbrach sich, schluckte. Sophie hatte keine Ahnung was er meinte.

„Küss mich“, sagte sie. Sie hatte Angst. Die selbe Angst wie vor vier Jahren. Ihr Herz klopfte zu schnell, zu laut. Ihre Stimme versagte, ihre Beine drohten einzuknicken und sie spürte wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Nein, nein, nein. Bitte. Bitte nicht. Das Echo ihrer eigenen Stimme hallte in ihrem Kopf wieder. Und doch war es dieses Mal anders. Sie wollte es. Sie... „Küss mich“, sagte sie wieder.

Und obwohl Zedd aussah, als würde die Bewegung ihm körperliche Schmerzen bereiten, beugte er sich herunter und küsste sie. Und Sophie ließ los. Sie schlang die Arme um ihn und öffnete die Lippen. Öffnete ihm in diesem einen Kuss ihr ganzes Herz. Bot ihm ihren Körper und ihre Seele. Sie spürte, wie seine Hände über ihren Körper fuhren, wie er das Angebot annahm. Er schubste sie fast gewaltsam wieder nach hinten, presste sie gegen die Wand und küsste sie, wie Sophie zuvor noch nie geküsst worden war. Roh und stürmisch, mit so viel Druck, dass es fast weh tat und doch so voller Leidenschaft als hätte er jahrelang auf diesen Augenblick gewartet.

Ihre Hände wanderten seinen Körper entlang, unter sein T-Shirt. Ihre Nägel kratzten über seine Haut. Dann tasteten ihre Finger über seine Bauchmuskeln hinunter zum Bund seiner Jeans, glitten darunter. Und plötzlich war da nichts mehr. Sophie erschrak, verlor das Gleichgewicht und öffnete erschrocken die Augen. Mit einem Ausfallschritt konnte sie sich gerade noch so abfangen bevor sie fiel.

Er stand auf der anderen Seite des Ganges, hatte ihr den Rücken zugewandt. „Nein“, sagte er leise. Dann schlug er mit der Faust gegen die Mauer. Aber anstatt sich die Hand zu brechen, konnte Sophie sehen wie das Gestein Risse bekam. „Ich darf nicht. Ich sollte nicht einmal hier sein.“

Sophie fühlte sich leer. Sie hatte ihm alles gegeben, ihm alles offenbart. Sie fühlte sich wie damals, wenn nicht noch schlimmer. Sie trug noch all ihre Klamotten und war doch noch nie so nackt gewesen. Sie konnte spüren, wie weit er von ihr entfernt war. Sie war allein. Mit ihm, mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihren Erinnerungen. Niemand war da um ihr zu helfen, niemanden interessierte es, nicht einmal ihn. So wie damals. Sie schlang die Arme um den Körper und sank zu Boden. Aber all das konnte nicht verhindern, dass sich die Gänsehaut über ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie starrte immer noch auf seinen Rücken, auch wenn sie wusste, dass er nicht zu ihr zurück kommen würde.

„Du musst die Dunkelheit alleine finden.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Ob er überhaupt etwas gesagt hatte. Ohne ihr auch noch einen einzigen Blick zuzuwerfen löste er sich in Schatten auf. Sophie blieb zurück, blieb liegen. Es war ihr egal.

 

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie danach auf die graue Mauer auf der anderen Seite starrte. Ein paar Leute gingen vorbei ohne sie zu bemerken, ein paar gingen vorbei, bemerkten sie und beschleunigten ihre Schritte. Sie hielten sie nur für irgendeine weitere Obdachlose, den Schmutz der Stadt, den niemand haben will. Aber irgendwann kam ein Sozialarbeiter, Sophie erkannte ihn an der blauen Jacke. Er ging vor ihr in die Hocke, suchte Augenkontakt, aber berührte sie nicht.

„Hallo, mein Name ist Finn. Kann ich dir helfen?“, fragte er. Sophie antwortete nicht. Sie sah ihn nur an.

„Hast du Hunger? Durst? Brauchst du eine Decke oder einen Schlafplatz für die Nacht? Ich kann dir helfen. Du musst mir nur sagen, was ich tun kann.“ Sophie überlegte so zu tun, als ob sie taub wäre. Dann setzte sie sich auf. Dabei kam ihre Tasche unter ihr zum Vorschein, auf der sie zuvor gelegen haben musste. Ein Klingeln ertönte daraus. Finn streckte vorsichtig die Hand danach aus, berührte die Tasche aber noch nicht.

„Darf ich?“, fragte er. Sophie nickte. Alles in ihrem Sichtfeld schien irgendwie verschwommen. Und sie fühlte sich schmutzig. So verdammt schmutzig. Finn nahm ihre Tasche und suchte einen Moment lang darin herum. Erst dachte Sophie er würde ihr Handy herausziehen, aber er nahm schließlich ihren Geldbeutel heraus. Ganz langsam öffnete er ihn und während sein Blick über ihren Ausweis, ihren Führerschein und ihre Studentenkarte flog, vertieften sich die Falten auf seiner Stirn.

„Du bist gar nicht obdachlos, oder?“ Sophie schüttelte den Kopf. „Hat jemand dir wehgetan?“ Sophie verkrampfte, ihre Hände schlossen sich zu Fäusten, sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer zu schmerzen begann.

Hat es wehgetan?, hörte sie die Stimme ihrer ehemals besten Freundin sagen.

„Du verstehst das nicht! Ich wollte das nicht! Ich wollte nicht... Er hat es einfach gemacht. Er hat mich gezwungen.“

Da hat er aber etwas ganz anderes erzählt. Du bist ihm doch auf sein Zimmer gefolgt, hast angefangen dich auszuziehen. Hast dich ihm praktisch an den Hals geworfen, hat er gesagt.

Das ist nicht wahr!

Er ist der Sohn des Pfarrers. Warum sollte er so etwas erfinden?

„Okay, Sophie.“ Finn steckte ihren Geldbeutel wieder ein. Und schulterte ihre Tasche. „Ich bringe dich zu einem Arzt. Kannst du aufstehen?“ Sophie schluckte. Sie war sich nicht sicher was sie gerade laut gesagt hatte, was sie wirklich gehört hatte und was nur in ihrer Erinnerung passiert war. Finn bückte sich wieder.

„Ich werde dich jetzt hochheben, okay?“ Sophie nickte. Was machte es schon für einen Unterschied? Finn schob vorsichtig einen Arm unter ihre Knie und einen Arm unter ihre Arme und hob sie schwerfällig auf. Er ächzte dabei, aber sobald sie einmal standen, schien er sich an das Gewicht zu gewöhnen. Er trug sie nach draußen und winkte auf der Straße ein Taxi herbei. Dann brachte er sie ins nächste Krankenhaus.

 

Sophie lag in dem viel zu kalten Krankenhausbett. Die Tür war offen und sie bekam genau mit, wie Finn die Schwester mit Müh und Not überzeugen konnte, ihm die Testergebnisse mitzuteilen. Die Beiden schienen zu glauben Sophie würde schlafen.

„Wir haben keine Anzeichen für eine Vergewaltigung gefunden. Und auch keine sonstigen Verletzungen. Weder innerlich noch äußerlich. Das einzige, was sie hat, ist eine starke Unterkühlung.“

„Das kann nicht sein. Ich weiß doch, was sie zu mir gesagt hat. Ich kenne die Anzeichen. Ich...“

„Sie hat Ihnen vermutlich nichts anderes gesagt als uns. Und wenn ich keine Testergebnisse hätte, würde ich ihr glauben, verstehen Sie. Aber die Ergebnisse lügen nicht.“

„Sie waren nicht dabei als ich sie gefunden habe. Sie war so verängstigt, sie sah so verletzt aus. Warum sollte sie ohne Grund in einer U-Bahn-Station auf dem verdreckten Boden gelegen haben? Das macht doch niemand. So etwas simuliert doch keiner. Machen Sie die Tests nochmal. Sie müssen irgendetwas übersehen haben.“

„Hören Sie, junger Mann. Ich habe genau das Gleiche erlebt wie sie: ein verängstigtes, verstörtes Mädchen, das nichts sehnlicher wollte als eine warme Dusche. Aber ich vertraue meinen Testergebnissen und Sie haben nicht das Recht mir zu sagen, wie ich meine Arbeit machen soll.“ Sophies Kopf war vollkommen leer. Der Arzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, mit dem sie eigentlich längst schlafen sollte. Aber es stellte sie nur ruhig, umgab sie mit einer Schicht aus Watte. Sie bekam kein Auge zu. „Außerdem – und das sollte ich Ihnen jetzt nun wirklich nicht sagen – sind bei Mademoiselle Moreau schon einmal solche Tests durchgeführt worden. Auch damals mit negativen Ergebnis.“

„Und deswegen glauben Sie, sie simuliert jetzt wieder?“

„Das sagt mir das Papier, ja. Aber wenn ich ehrlich bin... Ich glaube sie hat wirklich einmal so etwas erlebt. Vielleicht wird durch irgendwas die Erinnerung daran ausgelöst und sie glaubt, sie hätte es jetzt gerade erst erlebt. Dann führt man die Tests durch und kann nichts finden. Das halte ich für möglich, aber es ist nur eine persönliche Vermutung, ohne jede Begründung. Und ich kenne mich mit dem Thema auch nicht aus. Ich kann da leider gar nichts machen.“

„Meinen Sie das ernst?“

„Es tut mir Leid.“

„Fuck it!“, rief Finn viel zu laut. Sophie konnte seine schnellen Schritte hören, als er den Gang verließ. Die Schwester seufzte. Dann bemerkte sie, dass die Tür offen stand und zog sie zu. Dunkelheit umschloss Sophie.

Auch damals mit negativem Ergebnis. Sie simuliert jetzt wieder. Sophie schloss die Augen und konnte doch nicht verhindern, dass die Bilder von damals auf sie einströmten und den Weg in ihre Alpträume fanden.

Die Versuchung der Dunkelheit

Mittags wurde Sophie aus dem Krankenhaus entlassen. Dabei wollte sie gar nicht gehen. Es war egal wo sie war. Jetzt war sowieso alles egal. Zedd hatte zugegeben, dass er kein Mensch war und jetzt war er weg. Sophie wusste, dass sie erleichtert sein sollte, aber sie fühlte sich, als hätte man einen Teil von ihr abgeschnitten. Und es hörte nicht auf zu bluten. Sie war so darauf konzentriert, das zu ignorieren, dass sie die vielen Augen, die sie beobachteten zunächst gar nicht bemerkte.

Erst war alles so wie immer. Mal abgesehen davon, dass Sophie ohne Ziel durch die Straßen von Paris lief und nicht einmal wusste, wo sie war. Aber dann bemerkte sie, dass die Schatten zu dunkel waren, dafür, dass die Sonne von ein paar Wolken verdeckt wurde. Dann bemerkte sie, dass die Schatten nicht einfach nur Schatten waren. Sie bewegten sich, lebten und schienen sich nach Sophie auszustrecken.

Sophie wich ihnen aus, versuchte nur dort zu laufen, wo es keine Schatten gab, aber das war in Paris gar nicht so einfach. Die Stadt war zu dicht bebaut und da wo sie es nicht war, ersetzten Bäume die hohen Häuserfronten. Sophie versuchte sich zu orientieren, dachte sich, dass sie an den Ufern der Seine bessere Chancen hätte. Aber sie hatte komplett die Orientierung verloren, hatte keine Ahnung, wo sie eigentlich war. Und umso länger sie hier draußen blieb, umso deutlicher konnte sie die Schatten sehen. Sie begann zu erkennen, dass es viele waren. Begann ihre humanoiden Gestalten von dem eigentlichen Schatten der Gebäude unterscheiden zu können. Sie sah sie immer besser, sah schließlich ihre Finger und ihre Gesichtsform und ihre Augen - überall diese Augen und alle starrten sie an. Sophie beschleunigte ihre Schritte. Versuchte Hinweisschilder zu finden, irgendetwas, das ihr half sich zu orientieren. Aber sie hatte kein Glück. Und dann begann sie auch das Flüstern der Schatten zu hören.

Es war nicht das Kreischen der Jagd, dass die Schatten beim letzten Mal ausgestoßen hatten, sondern nur ein leises Flüstern. Zuerst nicht lauter als der Wind in den Bäumen oder das Rascheln von Kleidung. Aber es fraß sich in Sophies Kopf. Sie konnte es nicht ignorieren. Es waren zu viele Stimmen, die gleichzeitig sprachen. Zu ihr, über sie.

"...Sie ist so schön..."

"...Wir warten schon so lange..."

"...Komm zu mir, komm..."

"...Ihre Haare sind so toll..."

"...Der König wird sich so sehr freuen..."

"...Lange müssen wir nicht mehr warten..."

"...Sie wird uns gehören..."

"...Bald, ja bald schon..."

Sophie hielt sich die Ohren zu und begann zu rennen. Sie wusste nicht wohin, wollte nur wegkommen. Aber sie spürte, wie die Schatten ihr folgten. Wie sie von einem Gebäudeschatten in den nächsten sprangen, die Hände nach ihr ausstreckten und sie doch nie berührten.

Irgendwann kam Sophie tatsächlich zum Fluss. Sie stand direkt an der Mauer und blickte auf das ungewöhnlich schnell fließende Wasser. Die Schatten waren zurückgeblieben, in den Schatten der Gebäude, aber wenn Sophie sich umdrehte, dann konnte sie sie immer noch sehen. Schließlich überwand sie sich und machte sich auf die Suche nach der nächsten Metro oder RER Station. Sophie musste sich eine Weile lang Mut zureden, ehe sie die Treppen nach unten stieg. Nur um dann festzustellen, dass die Gänge und Bahnsteige völlig frei von Schatten waren. Das Neonlicht ließ alles kalt und ungesund aussehen, aber es ließ keine Schatten zu. Nur wenn Sophie einen Blick in die dunklen Tunnel warf, dann konnte sie sie sehen. Sie klammerten sich an Wänden und Decken fest und blieben gerade außerhalb des Lichtscheins. Schnell wandte sich Sophie wieder ab.

Als sie nach Hause kam, stellte Sophie fest, dass das Licht in ihrer Wohnung nicht funktionierte. Nach einem Moment der Panik fiel ihr wieder ein, dass sie die Sicherung gezogen und nicht wieder eingesteckt hatte. Schnell ging sie in den Keller und änderte das. Die Dunkelheit, die sie sonst so begrüßt hatte, machte ihr jetzt Angst. Jedes Gefühl der Geborgenheit war verschwunden. Sophie schaltete alle Lampen an, ließ die Rollläden herunter, verschloss die Tür so gut sie konnte und schloss sich dann im Bad ein. Sie steckte ihre elektrische Heizung ein und setzte sich angezogen in die leere Badewanne. Sie zog die Knie an, legte den Kopf darauf und starrte auf die weißen Wände während sie versuchte einfach alles zu vergessen.

 

Ein schrilles Klingeln riss Sophie aus ihrem Schlaf. Sie saß immer noch in der Badewanne, wer weiß wie lange schon. Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Das schrille Geräusch ertönte erneut und Sophie erkannte ihre Türklingel. Sie rappelte sich auf. Ihre Beine waren eingeschlafen und schlaff, ihr Magen leer. Ihr Kopf dröhnte von der trockenen, heißen Luft im Raum. Sie stellte die Heizung ab, wagte es aber nicht das Fenster zu öffnen. Sie verließ das Badezimmer und ging zur Tür, an der es schon wieder klingelte. Sie blickte durch den Spion. Es waren keine Schattengestalten im Treppenhaus zu sehen. Stattdessen stand da Cléo und streckte schon wieder die Hand nach dem Klingelknopf aus. Gerade noch rechtzeitig öffnete Sophie die Tür. Cléo sah sie an als wäre sie ein Geist.

"Wie siehst du denn aus?", entfuhr es ihr. Dann fing sie sich wieder. "Ich hab mir wohl doch zu Recht Sorgen gemacht." Ohne auf Sophies Einladung zu warten schob sie sich an ihr vorbei in die Wohnung. "Was ist denn das hier für eine Festbeleuchtung?" Und schon machte sie sich daran, die Lichter auszuschalten und die Rollläden hochzuziehen.

"Du hast dir Sorgen gemacht?"

"Äh, hallo? Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht! Nachdem ich dich das ganze Wochenende über nicht erreichen konnte und du heute auch unentschuldigt in der Uni gefehlt hast... Du hast noch nie gefehlt! Schon gar nicht unentschuldigt. Was ist los? Rede mit mir." Cléo nahm Sophie bei den Händen und zog sie auf das Sofa, dass im Atelier an der Wand stand. "Bist du krank?" Wie eine überfürsorgliche Mutter legte Cléo ihr eine Hand auf die Stirn. Sie erschrak und zog sie schnell zurück. "Du bist ja eiskalt! Warte, ich hol dir eine Decke und mach dir einen heißen Tee. Beweg dich nicht." Cléo verschwand im Schlafzimmer. In der Uni gefehlt? Sophie nahm Cléos Handy, dass sie auf dem Tisch vergessen hatte und entsperrte es. Tatsächlich. Es war schon Montag. Sophie hatte über 48 Stunden im Badezimmer gesessen. Wenn Cléo nicht aufgetaucht wäre, wäre sie vielleicht gar nicht mehr aufgestanden. Sophie musste schlucken. Cléo konnte es nicht wissen, aber sie hatte ihr vermutlich gerade das Leben gerettet.

Mit dieser Einsicht kamen der Durst und der Hunger. Sophie spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Magen und ihre trockene Kehle. Als Cléo mit ihrer Bettdecke wiederkam und sie einwickelte, krächzte Sophie: "Ich habe Durst. Und Hunger."

"Ich kümmere mich gleich darum, Schätzchen. Leg du dich erst mal hin und ruh dich aus." Sophie tat, was Cléo ihr sagte. Mit dem wenigen, was sie im Haus hatte, schaffte Cléo es, etwas zu Essen zuzubereiten und dazu gab es eine ganze Kanne Tee. Und während Sophie aß, erzählte Cléo ihr von ihrem bunten, aufregenden Leben, davon, dass sie jetzt wieder mit Thomas zusammen war, von der fürchterlichen Hausarbeit, die sie bis nächste Woche abgeben musste. Sophie hörte zu und vergaß langsam ihre Angst. Draußen schien die Sonne, es war ein wundervoller Tag und sie wollte sich das nicht von diesen elenden Schatten verderben lassen. Und was Zedd anging - ihn würde sie schon auch noch in die Finger kriegen. Er war nicht ganz verschwunden, das war unmöglich. In Büchern verschwanden sie auch niemals ganz.

"Danke, Cléo", sagte Sophie irgendwann unvermittelt.

Cléo unterbrach sich und sah sie erstaunt an. "Wofür?"

"Dass du hier bist. Mir geht es schon viel besser deinetwegen. Ich hätte nicht gedacht..." Sophie spürte wie sich ihre Brust zusammenzog und ihr Tränen in die Augen stiegen und über die Wangen liefen.

"Ach Süße, das ist doch selbstverständlich! Ich bin doch deine Freundin." Cléo nahm sie in den Arm, wohl weitaus weniger überrascht als Sophie selbst. Sie schniefte und beruhigte sich wieder.

"Trotzdem. Danke." Sophie merkte, wie sehr sie Cléo unterschätzt hatte. Für sie war sie nur eine Bekannte, vielleicht eine Freundin - aber doch nicht eine so gute, dass sie sich um Sophie kümmerte, wenn sie krank war. So gute Freunde hatte sie doch nicht. Das hatte Sophie zumindest gedacht.

"Gerne", antwortete Cléo. Sie löste sich wieder von Sophie, sah sie an, lächelte. Dann strich sie Sophie vorsichtig eine Haarsträhne von den nassen Wangen. "So. Ich habe gesehen, dass du zwei Tafeln Schokolade in der Küche hast. Nachtisch?"

Sophie konnte nicht verhindern, dass sie auch lächeln musste. Sie spürte sich nicken. Cléo stand auf und holte die Schokolade. Als sie Sophie das erste Stück reichte, zögerte sie aber.

"Oh, entschuldige. Ich hab dir einfach Schokolade angeboten und alles, dabei weiß ich gar nicht, was du hast. Ist dir schlecht oder so? Mache ich grade alles nur noch schlimmer?"

"Nein, mir ist nicht schlecht. Du machst das perfekt. Mir... Ging's einfach nicht so gut. Aber jetzt ist es schon viel besser und die Schokolade wird es nochmal besser machen." Sophie streckte die Hand aus und schnappte sich das Stück. Noch als sie hineinbiss, spürte sie Cléos skeptischen Blick auf sich. Aber dann schien Cléo sich dafür zu entscheiden es einfach dabei zu belassen. Die Skepsis verschwand und sie begann einfach wieder zu reden. Über den Film, den sie am Samstag im Kino gesehen hatte, über den Kuchen, den sie unbedingt backen wollte und über die Band, die Thomas rauf und runter hörte, die sie aber nicht ausstehen konnte.

Und irgendwann wurde es draußen dunkel und sie bestellten eine Pizza. Und während sie warteten, redeten sie und während sie aßen, redeten sie und als Cléo schließlich ging, war es fast Mitternacht. Sophie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie hatte Cléo sehr viel über sich erzählt, wenn auch noch längst nicht alles. Zedd hatte sie auch mit keinem Wort erwähnt, aber was machte das schon.

Und als sie einschlief, fühlte Sophie sich gut.

 

Das Gefühl war am nächsten Morgen abgeklungen, aber Sophie hatte es nach wie vor im Hinterkopf. So schaffte sie es aufzustehen, sich fertig zu machen und zur Uni zu gehen.

Auf der Straße warteten natürlich schon die Schatten auf sie. Sie sahen sie an, Sophie meinte sogar sie lächeln zu spüren. Und auf einmal verstand sie, dass diese Schatten ihr gar nichts tun würden - im Gegenteil. Sie hatten sie gern. Trotzdem brauchte Sophie all ihren Mut um bis zur RER Station und dann zur Uni zu gehen. Aber auch da waren die Schatten - überall. Sogar in den Vorlesungssälen. Aber Sophie tat einfach so, als wäre alles ganz normal. Und als sie am späten Nachmittag das Unigelände wieder verließ, war es das auch. Sie hatte sich an die Schatten gewöhnt.

Trotzdem versuchte sie so viel wie möglich in der Sonne zu laufen, denn wenn sie zu dicht an sie heranging, dann konnte sie wieder ihr Flüstern hören und ihre Finger spüren, die vorsichtig über ihre Arme strichen. Und das war Sophie trotz allem noch unangenehm. Als sie am Bahnhof ankam, war sie deshalb irgendwie erleichtert. Wo viele Menschen waren, waren weniger Schatten. Aber dann hörte sie seine Stimme.

"Was soll ich hier?" Sophie hätte sie überall erkannt. Sofort drehte sie sich um, aber sie konnte ihn zunächst nirgendwo entdecken. Erst nach einer Weile fand sie ihn - auf der Terrasse des Restaurants, fast zwanzig Meter von ihr entfernt. Eigentlich hätte sie ihn niemals hören dürfen - geschweige denn verstehen. Aber da stand Zedd und wandte ihr nur sein Profil zu. Er blickte einen zweiten jungen Mann an, der neben ihm stand. Der wiederum sah Sophie an und lächelte als ihre Blicke sich kreuzten. Das erste was sie sah, waren seine stechend gelben Augen - die selben wie bei Zedd. Auch sonst sah er ihm sehr ähnlich.

"Ich dachte, du freust dich, sie zu sehen - so wie alle anderen", sagte er. Seine Stimme war Zedds nicht unähnlich, aber sie war nicht so weich und sie hatte etwas grausames an sich, etwas, dass Sophie erschaudern ließ. Zedd antwortete ihm nicht. "Weißt du, ich war ja wirklich skeptisch, was deinen Plan anging. Aber es hat hervorragend funktioniert. Sie kann uns jetzt schon alle sehen und so wie es aussieht auch schon ziemlich gut hören." Jetzt winkte der Fremde sogar. Erst jetzt drehte Zedd sich zu Sophie um. Er lächelte nicht, stattdessen sah er aus, als würde er unerträgliche Schmerzen leiden. Sophie zuckte unter diesem Blick zusammen.

"Und um mir das zu sagen hast du mich herbestellt?", fragte Zedd schließlich ohne den Blick von ihr zu lösen.

"Nicht nur deshalb. Ich will, dass ihr kein Haar mehr gekrümmt wird. Sie ist fast so weit. Und bis dahin will ich, dass sie in Sicherheit ist - bei jemandem, dem ich vertrauen kann."

"Nein."

"Willst du dich mir widersetzen, Bruder?"

Sophie konnte sogar auf die Entfernung sehen, wie Zedd mit den Zähnen knirschte. "Nein", brachte er schließlich hervor und wandte sich dem anderen Mann - seinem Bruder - wieder zu.

"Gut, dann geh. Bleib an ihrer Seite." Zedd nickte und drehte sich zur Treppe um. "Und Bruder?", hielt der andere ihn doch noch einmal zurück. "Vergiss nicht, welches dein Platz ist." Sophie sah, wie Zedd die Hände zu Fäusten ballte. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er auf seinen Bruder losgehen. Dann streckte er die Finger und verschwand aus Sophies Sichtfeld - nur um im nächsten Augenblick direkt neben ihr aufzutauchen. Er packte sie grob am Arm und zog sie zu ihrem Zug.

"Komm", sagte er nur, sah sie aber nicht an. Sophie war zu perplex um sich zu wehren. Erst als sie sich im RER auf zwei Plätze fallen ließen, ließ er sie los.

"Du hast einen Bruder", war das Erste, was Sophie herausbrachte.

"Ja." Zedd sah sie nicht an sondern blickte aus dem Fenster.

"Aber..."

"Okay, hör zu." Jetzt wandte Zedd ihr doch den Kopf zu. Aber sie fand nichts Weiches in seinem Gesicht, nichts, was sie sonst in ihm gesehen hatte. "Nur weil ich hier sein muss heißt das nicht, dass wir uns auch unterhalten müssen." Dann wandte er sich wieder ab und Sophie blieb nichts anderes übrig als zu schlucken und zu schweigen.

Erst als sie bei ihr zu Hause waren, machte sie den Mund wieder auf.

"Was zur Hölle soll das eigentlich?"

"Pssst", machte Zedd nur. Dann schaltete er alle Lampen an und schloss die Rollläden - genau so, wie Sophie es am Samstag getan hatte. Dann erst wandte er sich ihr zu.

"Es tut mir leid", sagte er und Sophie spürte, wie ernst er das meinte. Dann holte er tief Luft, nahm Sophie bei den Händen und sah ihr tief in die Augen. "Wir haben nicht viel Zeit bevor sie Verdacht schöpfen, deshalb musst du mir genau zuhören. In deinem Leben wird sich bald alles ändern. Du musst bereit sein und du darfst keine Angst haben, das würde mein Bruder sofort ausnutzen. Ich weiß nicht inwieweit... Eine Verbindung... Sei einfach vorsichtig. Ich bleibe in deiner Nähe, aber ich werde nicht eingreifen können, wenn sie denken, dass du so weit bist. Verstehst du das?"

"Nein."

"Mehr kann ich dir nicht sagen. Nur eines noch: Manchmal sind Träume mehr als nur das." Er sah sie an und die Härte verschwand aus seinem Gesicht. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Sophie meinte zu spüren, dass seine Finger dabei zitterten. "Ich muss gehen. Mach die Rollläden wieder hoch. Und versuch einfach so zu tun, als wäre alles normal."

"Ich dachte, du bleibst in meiner Nähe." Ohne es zu merken, griff Sophie nach seiner Hand, die immer noch an ihrer Wange lag. Er lächelte.

"Ich gehe nicht weit weg. Ich kann nur nicht direkt hier bei dir bleiben. Nicht in dieser Gestalt. Das halte ich nicht aus." Er löste sich von ihr und ging zur Tür. Da drehte er sich noch ein letztes Mal zu ihr um und in seinen Augen lagen die Worte, die er nicht aussprach.

"Wir sehen uns heute Abend", sagte er stattdessen. Sophie nickte nur.

 

Sie konnte es gar nicht erwarten, ins Bett zu gehen. Aber sie wollte so tun, als sei alles so normal wie immer. Und als sie schließlich einschlief, träumte sie.

"Zedd?", rief sie in den leeren Raum hinein.

"Ich bin hier." Er tauchte neben ihr auf. "Du hast es verstanden, oder?"

"Dass das hier mehr als nur Träume sind? Ja." Zedd sah erleichtert aus.

"Wieso erlauben sie, dass du dich hier mit mir triffst?" Sophie wusste zwar noch immer nicht, wer "sie" waren, aber sie begann zu verstehen, was ihre Rolle bei all dem war.

"Weil sie nichts davon wissen. Wenn mein Bruder nicht grade beschließt, dir im Traum ebenfalls einen Besuch abzustatten, werden sie es auch nicht merken. Aber das ist unwahrscheinlich. Er hat noch nie viel von Traummanipulation gehalten." Sophie tat so, als wüsste sie, wovon er sprach. "Karge Einrichtung", bemerkte er schließlich. Sophie zuckte die Schultern. Sie standen in einem unmöblierten Raum mit kahlen weißen Wänden und einem einzigen Fenster. Es zeigte hinaus auf einen dunklen Wald, auf dem Boden lag helles Parkett.

"Ist ja ein Traum, hab da keinen Einfluss drauf."

Zedd schüttelte den Kopf. "Das stimmt so nicht. In den anderen Träumen, da habe ich entschieden was du träumst. Ich habe alles dekoriert und gesteuert. Aber es ist dein Traum. Mit ein bisschen Übung kannst du lernen mich auszusperren oder selber alles zu steuern. Und heute bin ich erst eingetreten, als der Traum schon da war. Du steuerst das. Wenn du willst, kannst du es ändern."

"Ich kann?"

"Du musst dich konzentrieren. Mach die Augen zu und stell dir vor, wie es aussehen soll. Und mit ein bisschen Übung sieht es danach wirklich so aus." Sophie war skeptisch, aber sie versuchte es. Sie stellte sich das Wohnzimmer bei ihren Großeltern vor, einer der letzten Orte ihrer Kindheit, an dem sie sich noch sicher fühlte - weil er nie da gewesen war. Sie sah es genau vor sich: das weinrote Sofa, der altmodische Teppich, das dunkle Sideboard und die Schwarz-Weiß-Fotografien über dem Bücherregal. Durch die Fenster blickte sie hinaus auf den See, das gegenüberliegende Ufer verschwand im Nebel. Und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie immer noch das gleiche. Es hatte funktioniert. Zedd lächelte sie an, nahm sie bei der Hand und zog sie zum Sofa.

"Kannst du mir das Alles jetzt erklären?"

"Nicht... Ganz. Es gibt Regeln, die ich beachten muss. Dinge, die ich dir nicht sagen darf. Aber ich will es versuchen, so gut ich kann." Sophie setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa, drehte sich ganz zu Zedd und genoss es, dass er sie festhielt und abwesend mit den Fingern über ihre Hände strich. Hier im Traum war seine Haut schön warm und nicht eisig kalt.

"Du hast verstanden, dass wir... Dass wir keine Menschen sind?" Sophie nickte. "Dein Leben wird sich bald drastisch ändern. Du... Wirst dich ändern."

"Ich werde..." Sophie wollte es nicht glauben, aber sie wusste, dass Zedd nicht log. "So wie ihr."

Zedd reagierte nicht, aber Sophie konnte in seinen Augen lesen, dass sie Recht hatte. "Du bist die... Für uns bist du etwas besonderes."

"So etwas wie auserwählt?", fragte Sophie und Zedd antwortete wieder nicht, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. "Warum ich?"

"Ich weiß es nicht. In jeder Generation gibt es einen Menschen, der dazu bestimmt ist. Warum du es bist - ich weiß es nicht."

"Deswegen starren mich die Schatten an."

"Ja. Sie beobachten dich, wollen dich kennenlernen. Sie können es kaum erwarten, dass du..." Sophie nickte. Es gefiel ihr nicht, was Zedd ihr erzählte, aber sie glaubte ihm.

„Wie lange habe ich noch... als Mensch? Was passiert, wenn ich erst mal so bin wie ihr?“

„Das... Ich darf es dir nicht sagen.“ Zedd vergrub verzweifelt den Kopf in den Händen. Sophie beugte sich nach vorn und zog vorsichtig daran, bis er sie wieder ansah.

„Das ist okay“, sagte sie und irgendwie war es das auch. Sie wartete ab, ob Zedd antworten würde. Als er es nicht tat, beugte sie sich vor und küsste ihn. Aber dieses Mal erwiderte Zedd den Kuss nicht. Im Gegenteil: er schob sie von sich weg. Sophie wusste nicht, was das bedeuten sollte, was sie sagen sollte. Sie löste nervös ihren Zopf auf und begann ihn neu zu flechten. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Oder zumindest aufgewacht. Aber weder das eine noch das andere passierte.

„Ich darf nicht“, sagte Zedd irgendwann leise. Nur zögernd sah Sophie ihn an. „Ich darf dich nicht küssen. Ich darf nicht wollen... dass du zu mir gehörst. Das verstößt gegen alle Regeln.“

„Die Regeln sind mir egal.“ Sophie war erstaunt wie fest ihre Stimme klang. Sie ließ ihre Haare los und rutsche näher an Zedd heran. Sie vergrub die Finger in seinem Haar.

„Wenn mein Bruder es erfährt...“

„Das wird er nicht. Wir träumen, schon vergessen? Und du hast selbst gesagt, dass er nicht herkommen wird.“ Zedd schien immer noch nicht überzeugt. Was soll's, dachte Sophie. Viel schlimmer kann es ja nicht werden. Und sie küsste ihn wieder. Dieses Mal erwiderte Zedd den Kuss, wenn auch nur zögerlich. Als Sophie ihn intensivieren wollte, als sie ihre Hand vorsichtig unter sein T-Shirt gleiten ließ, löste er sich wieder von ihr.

„Das geht nicht.“

„Warum nicht?“ Sophie wollte ihm keine Fluchtmöglichkeit mehr geben. Sie wollte ihn. Und sie konnte in seinen Augen lesen, dass er sie auch wollte.

„Ich will dir keine Angst machen.“
„Angst?“

„Wenn ich dich so küssen würde... Die Schatten. Sie sind ein Teil von mir und wenn ich... wenn du mich so berührst, dann kann ich sie nicht zurückhalten.“

„Das ist mir egal. Ich habe keine Angst mehr vor ihnen, Zedd.“ Sophie lächelte. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss sie die Augen und der Raum um sie herum veränderte sich. Aus dem Wohnzimmer ihrer Großeltern wurde das Schlafzimmer in ihrer Wohnung. Zedd und sie saßen auf dem Bett und Sophie lehnte sich wieder zu ihm. „Ich will dich.“ Sie küssten sich und Sophie war fest entschlossen sich nicht noch einmal abwimmeln zu lassen. Und endlich spürte sie, wie Zedd die Arme um sie legte. Sie öffnete die Lippen, stieß mit der Zunge gegen seine Zähne bis er ihr entgegen kam. Sie ließen sich nach hinten in die Kissen fallen. Sophie lag über Zedd, erforschte seinen Mund mit ihrer Zunge, dann seinen Hals mit ihren Lippen. Zedds Hände wanderten unter ihr Shirt, zogen es aus. Dann musste ihr BH dran glauben. Das hier ist ein Traum. Warum trage ich nicht meine schöne Unterwäsche?, dachte Sophie einen Moment lang. Plötzlich rollte Zedd sich herum, war über ihr und presste die Lippen so fest auf ihre, dass sie kaum noch Luft bekam. Seine Hand massierte ihre Brust und ihr entfuhr ein leises Stöhnen.

Sie spürte wie die Schatten aus ihm herausschlüpften und in sie eindrangen. Sie waren eiskalt und Sophie bekam eine Gänsehaut. Es war wie der Vorgeschmack auf das, was sie gleich bekommen würde. Ihre Erregung verstärkte sich. Zedd löste sich von ihr und zog sein Shirt aus, dann küsste er sie wieder. Es ging so schnell, dass Sophie nicht einmal Zeit hatte durchzuatmen. Aber sie hatte gesehen, dass die Schatten langsam auch den Raum füllten. Und während sie und Zedd weitermachten, wurden es immer mehr, bis der ganze Raum in Dunkelheit versank. Sie nahmen festere Gestalt an und begannen Sophie über die Haare, über ihre Haut zu streichen.

Als Zedd endlich in sie eindrang, schrie Sophie auf. Und die Schatten schrien mit ihr, vor Erregung und vor Glück. Sie waren ein Teil von Zedd und in diesem Moment auch von ihr. In diesem Moment war Sophie schon eine von ihnen.

 

Das Beste daran, dass sie nur träumten war, dass sie nicht müde wurden. Sie hatten keinen Hunger, keinen Durst, mussten nicht aufs Klo. Sie wollten nicht aufhören. Aber irgendwann lagen sie doch nur nebeneinander im Bett. Sophie kuschelte sich an Zedd und atmete tief seinen Duft ein, während Zedd ihr geistesabwesend Muster auf den Arm zeichnete.

„Du wirst bald aufwachen“, sagte er vorsichtig.

„Ich will aber nicht.“

„Du musst zur Uni.“

„Ich kann schwänzen.“ Zedd lächelte und Sophie glaubte, er würde sie endlich wieder küssen, aber stattdessen schüttelte er nur den Kopf.

„Dann wird jemand Verdacht schöpfen. Das geht nicht.“

„Wie kannst du jetzt noch so vernünftig sein?“, ärgerte sich Sophie.

„Wenn ich in irgendeiner Weise vernünftig wäre, dann wäre ich gar nicht hier. Und läge erst Recht nicht nackt neben dir im Bett.“

„Ich will aber wirklich nicht aufwachen“, sagte Sophie ein wenig beleidigt.

„Glaub mir, ich will auch nicht, dass du aufwachst. Aber das lässt sich nicht vermeiden – dein Wecker klingelt nämlich bald. Und ich will, dass du dich vorher noch ein bisschen ausruhen kannst.“

„Ich schlafe. Mehr Ausruhen geht ja wohl kaum.“

„Ich muss jetzt gehen.“ Zedd sagte es zwar, aber er wartete ab. Tief in sich drin wusste Sophie, dass er Recht hatte. Sie brauchte nur eine Weile um sich davon zu überzeugen. Vorsichtig löste sie sich von Zedd und robbte auf ihre Bettseite. Allein diese dreißig Zentimeter Abstand kamen ihr viel zu weit vor. Sie drehte sich auf die Seite und beobachtete Zedd dabei wie er aufstand und sich anzog. Dann streckte sie die Hand nach ihm aus.

„Reicht es nicht, wenn du gehst, wenn mein Wecker tatsächlich klingelt?“ Zedd kehrte ihr den Rücken zu, aber als sie ihn ansprach, drehte er sich um. Sobald er sie ansah, kam wieder ein wenig Bewegung in die Schatten, die noch immer rund um das Bett standen. Sie schienen sich nach Sophie auszustrecken, wollten sie berühren, aber taten es nicht. Ein Spiegel dessen, was Sophie in Zedds Augen lesen konnte. Sie stand auf und ging zu ihm, lehnte ihren Körper gegen seinen, vergrub die Finger in seinen Haaren, sah ihm tief in die Augen und verfluchte im Stillen die Klamotten, die er trug.

„Das ist keine gute Idee.“

„Ach nein?“ Sophie stellte sich auf Zehenspitzen, drückte ihm zuerst einen Kuss auf den Hals und knabberte dann an seinem Ohrläppchen.

„Es wäre nicht besonders gut, wenn dein Wecker uns... unterbrechen würde. Und ich glaube nicht, dass ich bleiben kann, ohne dich... ohne noch einmal mit dir zu schlafen.“ Sophie spürte, wie ein paar der Schatten ihr mit eisigen Fingern über die Schulterblätter strichen, ihre Wirbelsäule nachzeichneten. „Könntest du also bitte damit aufhören mich zu verführen?“ Zedd nahm ihre Handgelenke und schob Sophie von sich weg. Sie war ein wenig beleidigt, dass er ihr scheinbar so leicht widerstehen konnte, während sie jede Sekunde ohne seine Berührung gerade unerträglich fand. Ohne daran zu denken, dass die Schatten direkt hinter ihr waren, machte sie ein, zwei Schritte zurück. Plötzlich war sie umgeben von den dunklen Schemen, die sich gegen sie pressten, über ihre nackte Haut fuhren. Sophie bekam Gänsehaut am ganzen Körper, konnte ein kleines Stöhnen aber nicht unterdrücken.

„Gott, Sophie komm da raus. Und hör sofort auf damit. Das... das ist fast noch schlimmer als würdest du mich direkt berühren.“ Sophie hatte unbewusst die Augen geschlossen und die Hände ausgestreckt um die Liebkosungen der Schatten zu erwidern. Jetzt öffnete sie sie wieder und erspähte durch eine Lücke Zedd, der aussah, als könnte er sich gerade noch so davon abhalten wieder über sie herzufallen. Aber er konnte auch den Blick nicht von ihr lösen.

„Du kannst das spüren?“, fragte sie. Zedd nickte nur. Sophie streckte die Hand aus und begann vorsichtig einen der Schatten zu streicheln. Sie warf wieder einen Blick auf Zedd und sah, dass jetzt er die Augen geschlossen hatte und unter ihrer Berührung des Schattens zu Erzittern schien. Sophie zog die Hand zurück und kicherte. Diesen Trick würde sie sich auf jeden Fall merken. Dann trat sie aus den Schatten heraus, aber Zedd öffnete die Augen nicht wieder. Stattdessen sagte er: „Zieh dir etwas an. Dann ist es bestimmt leichter.“ Sophie überlegte einen Moment lang, tat dann aber, worum er sie bat. Bis sie fertig war, schien Zedd sich einigermaßen beruhigt zu haben. Die Schatten hatten an Gestalt verloren, waberten nur noch als dunkle Flecke über die Wände und Decke auf Zedd zu und verschwanden wieder in ihm.

„Wann sehe ich dich wieder?“

„Morgen Nacht.“

„Ich dachte, du sollst auf mich aufpassen.“

„Ich werde in deiner Nähe sein, nur nicht in menschlicher Gestalt. Ich meine, es war schwer genug dich nicht zu küssen, als ich noch nicht wusste, wie es sich anfühlt. Aber jetzt...“

„Und das ist leichter, wenn du kein... Mensch bist?“

„Ein bisschen.“ Zedd lächelte. Dann zog er sie ein letztes Mal an sich und küsste sie sanft, fast ängstlich – um bloß nicht in Versuchung zu geraten.

„Ich muss gehen“, flüsterte er. Er war ihr noch so nah, dass sie seine Worte auf ihren Lippen spüren konnte.

„Das hast du schon einmal gesagt“, erwiderte Sophie. Aber sie versuchte nicht ihm noch näher zu kommen oder ihn zurückzuhalten. Sie ließ zu, dass er sich von ihr löste und dann einfach... verschwand. Von einem Moment auf den anderen hatte er ihren Traum verlassen.

Sophie ließ sich auf den Boden sinken und lehnte den Rücken gegen das Bettgestell. Sie versuchte zu verarbeiten, was sie gerade erlebt hatte. Irgendwann verblasste der Raum um sie herum und Sophie sank in einen traumlosen Schlaf.

Im Herzen der Schatten

Etwa eine Stunde später klingelte ihr Wecker. Zögernd öffnete Sophie die Augen. Sie fühlte sich ausgeruht, aber gleichzeitig prickelte ihr ganzer Körper noch immer vor Aufregung. Schnell stand sie auf und nahm eine kalte Dusche um sich ein wenig abzureagieren. Sie verstand jetzt, warum Zedd frühzeitig gegangen war. Sophie hielt den ganzen Tag lang nach ihm Ausschau, aber sie konnte ihn unter den vielen Schatten, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, nicht erkennen.

Aber als sie nachmittags die Uni verließ, erblickte sie ihn doch noch. Er stand im Schatten eines Kiosks auf der anderen Straßenseite, lässig an die alten Poster gelehnt und drehte Sophie den Rücken zu. Soweit Sophie das beurteilen konnte, unterhielt er sich angeregt mit einem zweiten Mann, den Sophie aber nicht kannte. Aus einem Impuls heraus versteckte Sophie sich hinter ein paar anderen Studenten. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf drehte sich Zedd um, betrachtete für einen Moment mit gerunzelter Stirn das Unigebäude und folgte dann dem anderen Mann die Straße hinunter. Sophie begriff, dass er glauben musste, dass sie noch in der Uni war – eigentlich hatte sie noch eine Vorlesung. Aber der Professor war kurzfristig „krank“ geworden. Es wurde gemunkelt, er sei mit seiner Freundin durchgebrannt. Sophie rannte die Treppen hinunter und folgte Zedd.

Die beiden Männer gingen zielstrebig durch die Gassen des Quartier Latin. Sophie schlich hinter ihnen her und hoffte einfach nur, dass sie nicht gleich in ein Taxi steigen oder sich in Schatten auflösen würden. Aber sie gingen nur immer weiter, vorbei am Pantheon und an der Sorbonne, dann bogen sie in die Rue des Écoles ein und blieben schließlich vor dem Haus Nummer 14 der Rue des Carmes stehen. Sophie wartete an der Straßenecke ab. Zedd holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete das Tor zu dem kleinen begrünten Vorhof. Dann verschwanden er und der Fremde aus Sophies Blickfeld. Sie zögerte, näherte sich aber dann doch dem Haus. Wie die meisten in Paris, war es mit seinen Nachbarn verschmolzen. Eingepfercht zwischen der Nummer 16, die im Erdgeschoss eine Galerie beherbergte und im ersten und zweiten Stock aussah wie eine Kirche und der Nummer 12, einem typischen Pariser Haus aus sandfarbenem Stein mit gusseisernen Balkonen, war es das einzige Haus in der Straße, das zurückgesetzt war und einen kleinen Vorhof hatte. Sophie versuchte durch die Gitterstäbe des Zauns etwas zu erkennen, aber die Bäume und Büsche im Hof verdeckten ihre Sicht – und wenn sie hindurchblinzeln konnte, sah sie nur schwarze Fenster. Es war eine wunderschöne Immobilie, perfekt restauriert und erhalten und doch überzog eine Gänsehaut Sophies Haut, als sie das Haus betrachtete. Eine von der Sorte, bei der Sophie nicht sagen konnte, ob sie gut oder schlecht war.

Erst jetzt fiel Sophie auf, dass es viel zu still um sie herum geworden war. Sie drehte sich um und suchte die Schatten, die sie sonst überall hin begleiteten. Aber obwohl die Straße nicht gerade von Sonnenlicht durchflutet wurde, hielten sie alle Abstand. Im Umkreis von mindestens zwanzig Metern hielt sich kein einziger gestalthafter Schatten auf. Anstatt sich darüber zu freuen, beunruhigte das Sophie noch mehr. Sie ging auf sie zu, auf die Augen, die sie so genau beobachteten. Aber sie blieb im Sonnenlicht stehen, wagte es doch nicht ganz. Schließlich streckte sie die Hand in den Schatten. Es ging nicht lange und die Gestalten hatten sich ihr genähert und strichen mit ihren langen Fingern über ihre Haut. Sophie unterdrückte ein Schaudern.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte sie schließlich.

„Zuhause.“

„Zuhause.“

„Zuhause“, flüsterten die Schatten ihr entgegen. Sophie konnte spüren, wie froh sie waren, wie sehr sie diesen Ort liebten und ehrten.
„Was soll ich tun?“

„Geh.“

„Geh hinein.“
„Der König wartet auf dich.“

„Wir warten.“

„Der König wartet auf dich.“ Sophie blickte zurück zu dem geheimnisvoll friedlichen Haus, in dem Zedd verschwunden war. Jetzt konnte auch sie spüren, wie es sie dorthin zog. Sie wollte dort hinein, wollte zu Zedd. Und schon stand sie wieder vor dem Tor, eine Hand um die Gitterstäbe, die andere am Klingelknopf. Sie konnte das Schrillen im Haus sogar hier draußen hören. Ihr Griff um das eiserne Tor verkrampfte sich. Was, wenn niemand ihr öffnen würde?

„Ja, bitte?“, ertönte verzerrt die Stimme einer Frau aus der Gegensprechanlage.

„Verzeihen Sie bitte, mein Name ist Sophie Moreau. Ich... ich bin Kunststudentin. Ich würde ihr Grundstück gerne zeichnen.“ Es war eine spontane Idee gewesen, aber Sophie spürte, dass es auch die Wahrheit war. Sie wollte das Mysterium dieses Ortes irgendwie festhalten.

„Sophie Moreau? Und sie sind Studentin?“

„Ja.“

„Einen Moment bitte, ich muss das mit den Hausherren besprechen.“ Sophie hörte ein Klicken in der Leitung. Aber sie musste nicht lange warten. Nicht einmal eine Minute später sah sie, wie im ersten Stock die große Tür aufging, die auf die Galerie führte, die den Vorhof umgab. Heraus rannten Zedd und sein Bruder, gefolgt von einer kleinen untersetzten Dame, die die Klamotten eines Zimmermädchens der Zwanziger Jahre trug.

„Soll ich sie herein lassen?“, fragte sie gerade, aber niemand hörte ihr zu. Sophie sah hinauf zu den Brüdern, die in diesem Moment nicht unterschiedlicher hätten sein können. Während sich auf dem Gesicht seines Bruders ein breites Lächeln ausbreitete, sah Zedd so aus, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Sophie hatte sich so darauf gefreut ihn zu sehen, aber als sie ihm in die Augen blickte, verging ihr jegliche Freude. Sie waren erfüllt von Wut und Angst. Lauf, formte er mit den Lippen und Sophie erkannte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Einen großen Fehler, aber es war zu spät.

„Sie ist es wahrhaftig. Sie ist hier!“ Zedds Bruder lachte, dann winkte er den Schatten hinter Sophie. „Bringt sie her, bringt sie herein! Und lasst es alle wissen: Unsere Königin ist hier!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und lief zurück ins Haus. Sophie war sich nicht sicher ob es ein schwarzer Umhang war, der ihm um die Schultern wehte oder ob es die Schatten waren, die so flatternd an ihm klebten. Sie sah zurück zu Zedd, aber der hatte die Augen jetzt geschlossen. Ohne sie wieder zu öffnen, wandte auch er sich ab und ging wieder ins Haus. All das dauerte nicht einmal ein paar Sekunden. Ehe Sophie sich umdrehen und nach Hause gehen konnte, spürte sie den Druck kalter Hände im Rücken. Die Schatten umzingelten sie, pressten sie nach vorne, drückten das verschlossene Tor auf. Sophie wollte sich wehren, aber die Schatten umgaben sie wie eine Mauer, schoben sie nach vorne, trugen sie förmlich auf Händen in den großen Empfangssaal des Hauses. Dort setzten sie sie ab, ließen ihr endlich wieder etwas Platz und Sophie sah sich um.

Von innen erschien das Haus ihr viel größer als von außen und das, obwohl alle Fenster mit schweren, dunkelroten Vorhängen verdeckt waren. Alles versank in Dunkelheit und Sophie brauchte ein paar Sekunden, ehe ihre Augen sich daran gewöhnt hatten. Eine große, marmorne Doppeltreppe beherrschte den Raum. In ihrer Mitte stand ein kleines Podest mit zwei Stühlen darauf, dahinter führten zwei Türen in angrenzende Räume. Auch an beiden Seitenwänden gab es weitere Türen, doch alle waren verschlossen. Sophie blickte die große Treppe nach oben, gerade rechtzeitig, denn in diesem Moment kam Zedds Bruder heruntergerannt, so schnell, dass er nur einen Wimpernschlag später direkt vor Sophie stand. Aber sie blickte nicht ihn an, sondern Zedd, der am oberen Treppenabsatz angehalten hatte und ihren Blick kalt und starr erwiderte. Aber Sophie sah, was darunter brodelte. Seine Hände schlossen sich um das Treppengeländer herum zur Faust. Sophie sah, wie seine Knöchel weiß hervortraten. Einige Sekunden vergingen und niemand sagte ein Wort. Zedds Bruder sah weiter Sophie an, Sophie sah Zedd an. Dann kam die Hausdame in den Flur geeilt. Sie blieb neben Zedd stehen.

„Bereiten Sie ein Zimmer vor“, sagte Zedd leise zu ihr.

„Ich werde sofort den Mädchen...“

„Nein. Machen Sie es selbst. Mademoiselle Moreau bezieht unser bestes Zimmer und sie wird eine Weile bleiben. Ich möchte, dass Sie sich persönlich um alles kümmern, was sie anbelangt.“ Zedd löste die Augen nicht von Sophie während er sprach.

„Natürlich, Monsieur.“ Die Dame machte einen Knicks, überquerte die Galerie und verschwand auf der anderen Seite im Flur.

„Du bist wirklich hier.“ Zedds Bruder ging langsam vor Sophie in die Hocke, bis er in etwa mit ihr auf einer Höhe war. Er streckte die Hand aus und fuhr ihr über die Wange. Er lächelte noch immer, warm und einladend, ein Kontrast zu seinen so scharfen Gesichtszügen. Seine goldenen Augen schienen zu leuchten. „Ich habe so lange auf dich gewartet.“ Er zog die Hand zurück und stand wieder auf. Dann bot er ihr die Hand an um ihr aufzuhelfen und vorsichtig nahm Sophie an. Sie konnte Zedd nicht ansehen. Die Stelle, an der sein Bruder sie berührt hatte, brannte wie Feuer. Sie fühlte sich, als hätte sie Zedd betrogen. Sie hasste es, dass sein Bruder sie so berührt hatte, und spürte doch ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Sie wollte nur weg von ihm und genoss doch seine Nähe. Sobald sie sich aufgerichtet hatte, beugte er sich hinunter und küsste ihr die Hand.

„Mein Name ist Tenebros, aber du kannst mich gerne Ten nennen. Meinen Bruder Zedd kennst du ja schon. Willkommen in unserem Haus – sieh es ab sofort auch als deines an.“ Ten lächelte nach wie vor und erst jetzt realisierte Sophie, dass er auch noch immer ihre Hand hielt. Sie wurde rot und wollte sie zurückziehen, aber in diesem Moment verschränkte Ten seine Finger mit ihren. Ohne Vorwarnung machte er wieder einen Schritt auf sie zu, seine freie Hand fuhr in ihren Nacken, seine Stirn lag an ihrer. Sophies Herz pochte so schnell wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. „Ich will dir alles zeigen. Aber dafür haben wir noch genug Zeit, nicht wahr?“ Seine Hand löste sich aus ihrem Nacken, schob den Träger ihres Tops über ihre Schulter, erkundete ihr Dekolleté. Sophies Haut begann zu prickeln, aber sie spürte auch, wie sich noch etwas anderes in ihr regte. Etwas, das tiefer lag, aber sie spürte es, wie ein Flügelschlagen in ihrer Brust, das Kitzeln einer Feder unter ihren Schulterblättern. Gänsehaut überzog ihren Körper und Sophie begrüßte sie. Sie öffnete die Lippen, erwartete Tens Kuss.

„Sie ist noch nicht so weit“, sagte Zedd auf einmal. Ten löste seinen Blick von Sophie und sah zu seinem Bruder nach oben.

„Sie ist hier, oder nicht? Sie hat ihren Weg allein hier her gefunden und das ist die Regel, oder? Der letzte Beweis.“ Schon hatte Ten sich wieder Sophie zugewandt, beugte sich herunter und...

„Sie ist noch nicht so weit.“ Plötzlich stand Zedd direkt neben ihnen. Er hatte die Hand auf Tens Schulter gelegt um seinen Bruder zurückzuhalten. Der sah ihn böse an und ließ Sophie nun doch los. Sobald er sie nicht mehr berührte, verschwand das Prickeln, verschwand das Gefühl, das etwas aus ihr ausbrechen wollte. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade getan hatte – was sie gerade fast getan hätte. Und das direkt vor Zedds Augen. Erschrocken stolperte sie einige Schritte zurück, aber die Brüder bemerkten es nicht einmal. Sie lieferten sich ein Blickduell, das keiner von Beiden zu gewinnen schien.

„Ich habe sie seit deiner Jagd beobachtet. Glaub mir, sie ist noch nicht so weit“, sagte Zedd erneut.

„Ach ja? Ich denke, hier geht es um etwas ganz anderes. Du kannst es einfach nicht ertragen, das ist alles.“

„Sie ist noch nicht so weit.“ Zedd starrte seinen Bruder nieder. Aber Ten lächelte nur. Er wandte den Kopf zu Sophie.

„Komm her“, bat er sie. Aber Sophie schüttelte den Kopf. Während die Brüder gestritten hatten, waren die Schatten aus ihnen hinausgeflossen und über ihre Körper gewabert. Obwohl die Beiden ihre menschliche Gestalt behalten hatten, hatten sie in diesem Moment nichts menschliches mehr an sich. Hinter Ten schienen sich die Schatten zu großen Flügeln verdichten zu wollen. Sophie blinzelte einen Tränenschleier weg und der Eindruck verschwand, aber sie hatte Angst. Wie war sie nur hier herein geraten?

„Nein? Ach, Sophie.“ Ten klang nicht wirklich enttäuscht. Im nächsten Moment streckten sich die Schatten aus ihm heraus bis zu Sophie, zogen sie zu ihm hin, ohne dass sie etwas hätte tun können. Er legte ihr von hinten den Arm um die Schultern, hielt sie nur ganz leicht fest. Aber die Schatten verhinderten, dass sie sich hätte losmachen können. Mit der freien Hand schob er ihre Haare über ihre Schulter und Sophie konnte nicht anders: sie legte den Kopf schief, als seine Lippen ihren Hals berührten.

„Ich kann sie in ihr spüren, Bruder. Sie wollen raus.“ Sophie sah zu Zedd. Hatte auf der einen Seite immer noch Angst, wollte um Hilfe schreien. Sie wollte ihn um Entschuldigung bitten. Aber sie spürte schon wieder das Prickeln, da wo Ten sie berührte und das machte alles nur noch schlimmer. Die Schatten hatten sie wieder losgelassen, aber Sophie konnte nicht von Ten weg. Sie wollte es nicht. Und deshalb fühlte sie sich furchtbar, denn sie sah, wie sehr es Zedd schmerzte sie so zu sehen. In den Armen seines Bruders. „Komm“, sagte der zu ihm und ließ gleichzeitig seine freie Hand Sophies Körper hinabgleiten. An ihrer Hüfte ließ er sie liegen. „Dann kannst du sie auch spüren.“

Zedd schüttelte den Kopf.

„Bruder. Es ist ein Geschenk, das ich dir gerne mache. Ich bestehe darauf. Das kannst du mir doch nicht abschlagen.“ Zedd sah aus, als würde er mit sich ringen, aber schließlich kam er näher und streckte vorsichtig die Hand nach Sophies Wange aus. Doch noch bevor er sie berühren konnte, umklammerte Ten sein Handgelenk mit seiner Hand. Sophie dachte erst, er wollte Zedd wieder wegstoßen, aber stattdessen zog er ihn ruckartig noch näher, sodass Zedds Hand auf der nackten Haut ihres Dekolletés zum Liegen kam. Sofort durchzuckte Sophie wieder das Prickeln, weitaus stärker als je zuvor. Sie stand zwischen den Brüdern, von hinten noch immer umarmt von Ten und vor ihr Zedd, der ganz langsam die Finger über ihre Haut gleiten ließ. Ten senkte wieder den Kopf an ihren Hals und als sie seine Lippen spürte, konnte sie ein winziges Stöhnen nicht zurückhalten. Das Prickeln wurde fast unerträglich, ihr ganzer Körper schien unter Strom zu stehen, fast zu platzen vor Energie.

Aber Sophie wollte das nicht. Sie wollte sich nicht so fühlen. Sie wollte weg, hatte immer noch Angst. Aber vor allem wollte sie nicht sehen, wie sehr Zedd gerade litt.

Dann endlich zog er die Hand zurück und machte einige Schritte von ihr weg. Im selben Moment sah Ten wieder auf. Er stützte das Kinn auf Sophies Schulter, hielt sie immer noch fest, aber das Prickeln wurde weniger. Sophie versuchte ein wenig durchzuatmen.

„Und? Du weißt sie sind da“, sagte Ten.

Zedd knirschte mit den Zähnen, sah geflissentlich an Sophie vorbei. „Ja“, gab er schließlich zu.

„Na dann.“ Sophie hörte das Lächeln in Tens Stimme. Er drehte sie zu sich um, legte beide Hände an ihre Wangen, hielt sie fest. Sophie schielte zu Zedd. Das Prickeln kam nicht zurück. In diesem Moment hatte sie nur Angst. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was Ten eigentlich von ihr wollte. Was sie hier sollte. Zu was sie eigentlich auserwählt war oder warum. Sie kannte Ten nicht und sie wollte nicht, dass er sie so berührte. Sie wollte es nicht. Hilf mir, versuchte sie in ihrem Blick zu sagen, aber Zedd sah sie nicht einmal an.

„Sieh mich an“, verlangte Ten und Sophie gehorchte ihm. Er lächelte immer noch. Für einen Moment dachte Sophie, er würde noch mehr sagen, aber er beugte sich nur nach vorne und küsste sie. Entgegen ihren Erwartungen war er ganz sanft dabei, es war nur eine hauchzarte Berührung. Der Kuss dauerte nicht einmal fünf Sekunden. Sophie spürte, wie ihr Innerstes leicht flatterte, mehr nicht. Sie hoffte, Ten würde sich damit zufrieden geben. Als er sich von ihr löste und sie wieder ansah, lächelte er immer noch. Sophie erwiderte gleichgültig seinen Blick. Ihrerseits jetzt nicht mehr in der Lage Zedd anzusehen. Einige Sekunden vergingen und Tens Blick verdunkelte sich.

„Ich habe dir gesagt, dass sie noch nicht so weit ist“, mischte Zedd sich erneut ein.

„Nein. Das kann nicht sein.“ Ten wurde wütend, das konnte Sophie in seinen Augen lesen. Und als er jetzt wieder die Lippen auf ihre presste, war alle Sanftheit verschwunden. Sein Griff um ihre Oberarme war so fest, dass Sophie davon sicherlich blaue Flecken bekommen würde. Er zwang ihre Lippen auseinander, drang mit der Zunge in ihren Mund. Sophie spürte, wie seine Schatten ihn verließen und sie beide umgaben. Wie sie über Sophies Haut strichen und kleine Kratzer hinterließen. Sophie spürte wie sie in sie hinein fuhren. Aber es hatte nichts erotisches an sich. Nicht wie bei Zedd. Es schmerzte Sophie. Und umso länger es ging, umso größer wurden die Schmerzen. Sophie wollte schreien, aber ihre Lippen wurden noch immer von Tens versiegelt. Sie presste die Hände gegen ihn, wollte von ihm loskommen, aber er ließ nicht los. Sie spürte seine Schatten in sich. Es fühlte sich an, als würden sie ihr Kälteverbrennungen zufügen und ihr immer und immer wieder ein Messer zwischen die Rippen stoßen. Sophie spürte wie das Etwas, das sich vorher so flatternd geregt hatte, dagegen aufbäumte, zurück stach und sie innerlich zerriss. Erst als Sophies Beine unter ihr nachgaben, ließ Ten sie los. Er ließ sie einfach zu Boden fallen und endlich konnte Sophie schreien. Und sie schrie. Ihr Körper zuckte, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Sophie wusste nicht, ob sie wach war oder bewusstlos, sah mal nur Schwärze und mal alles in gleißender Helligkeit.

„Was hast du getan?“, schrie Zedd und eilte an ihre Seite. Irgendwie schaffte Sophie es, eine zitternde Hand nach ihm auszustrecken und er sank auf die Knie, umklammerte ihre zarten Finger. Ohne es zu wollen, drehte Sophie sich um, wandte sich ihm zu. Sie zog die Beine an, als könnte sie sich damit vor dem Gefühl schützen, zerrissen zu werden. Sie schrie noch immer.

„Was hast du getan?“, fragte Zedd wieder, jetzt leiser. Er hatte den Kopf gesenkt, Sophie meinte ihn schluchzen zu hören. Er hielt noch immer ihre Hand umklammert und ganz langsam wurde Sophie wieder ruhiger. Sie hörte auf zu schreien, auch wenn sie noch immer zuckte und zitterte.
„Zedd...“ flüsterte sie. Er sah sie an, Tränen in den Augen, und strich ihr vorsichtig über die Wangen, übers Haar.

„Ich bin hier. Ich bin hier“, sagte er und nach und nach, vielleicht waren es Sekunden, vielleicht Minuten oder auch Stunden, ebbten Sophies Schmerzen ab. Sie lag auf dem Boden, vollkommen erschöpft und hatte Mühe die Augen offen zu halten.

„Du hast mich verraten“, sagte plötzlich Ten. Zedd wandte sich nicht um, aber sein Blick wurde starr, er verkrampfte. „Ich kann es sehen. So wie du sie ansiehst. So wie... sie dich ansieht. Bruder. Wie konntest du?“ Er schien ehrlich enttäuscht und geschockt. Zedd drückte Sophie einen Kuss auf die Hand, die er immer noch umklammert hielt, ehe er sie losließ und aufstand. Er drehte sich zu seinem Bruder um.

„Ich habe die Regeln nicht gebrochen“, sagte er.

„Und doch... hast du mich hintergangen. Bitte Bruder, sag mir, dass ich falsch liege.“ Zedd ballte nur die Hände zu Fäusten.

„Du antwortest nicht. Natürlich nicht, denn es wäre eine Lüge.“ Im Bruchteil einer Sekunde stand Ten direkt vor Zedd. Er legte ihm die Hand an die Wange, als wollte er ihn liebkosen und es sah fast so aus, als würde er ihn küssen wollen. „Du weißt, dass ich das nicht dulden kann.“ Dann holte er aus und schlug mit voller Wucht zu. Zedd ging sofort zu Boden.

„Nein“, wollte Sophie sagen, aber der Laut kam ihr nicht mehr über die Lippen. Das Bewusstsein entglitt ihr langsam. Ten holte aus, trat nach seinem auf dem Boden liegenden Bruder. Einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Zedd wehrte sich nicht. Als Ten aufhörte, lag Zedd bewegungslos da. Ten ging neben ihm in die Hocke, schob fürsorglich das Haar aus Zedds Gesicht, entfernte mit den Fingern die Blutspur unter seiner Nase und an seinem Kinn, nur um es dann von seiner Hand zu lecken. „Bringt ihn weg“, sagte er zu den Schatten im Raum. Sie strömten auf Zedd zu, dann verlor Sophie das Bewusstsein.

Der Dämonenkönig

Als sie wieder aufwachte, lag sie zwischen samtenen, schwarzen Bettlaken auf einem riesigen Himmelbett in einem Zimmer, das sie noch nie vorher gesehen hatte. Auch hier waren die Fenster mit schweren Vorhängen verdeckt, die von der Decke bis zum Boden reichten und keinerlei Licht einließen. An der Wand gegenüber standen ein alter Kleiderschrank und die dazu passende Kommode aus dunklem Holz. Beide Möbelstücke waren mit unzähligen Schnörkeln und Intarsien verziert und Sophie konnte noch nicht sagen, ob sie das kitschig oder schön fand. Außerdem entdeckte sie noch einen Spiegel, ein Sofa, dass aus einer ganz anderen Epoche zu stammen schien – Biedermeier, vermutete Sophie – und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Vorsichtig rollte sie sich aus dem Bett. Sie trug noch immer die Jeans und das T-Shirt von gestern. Oder vorgestern? Wie lange war sie bewusstlos gewesen?

Sie ging zum Kleiderschrank und zog ihn auf. Kleider. Schwarze, wallende Kleider, aus allen möglichen Jahrhunderten. Ein oder zwei aus diesem konnte Sophie entdecken. Dann zog sie die Schubladen der Kommode auf. Mieder, Korsetts, Röcke. Ganz unten ein paar Jeanshosen und T-Shirts. Ein paar Kapuzenpullover. Sophie erwog, einen überzuziehen, sie fror erbärmlich. Aber sie schob die Schublade wieder zu. Die Sachen gehörten nicht ihr. Das Zimmer war nicht ihres und sie würde auch ganz bestimmt nicht hier bleiben. Geschweige denn Klamotten ausleihen.

Mit entschlossenen Schritten ging sie zu den Fenstern und zog die Vorhänge auf. Nur dass es keine Fenster, sondern zwei Balkontüren waren, die auf die Galerie über dem Vorhof hinausführten. Sophie drehte am Knauf, erwartete die Tür verschlossen vorzufinden, doch sie schwang problemlos auf. Kalte Luft strömte ins Zimmer und Sophie realisierte, dass es kurz nach Sonnenaufgang sein musste. Sie schlang die Arme um den Körper und trat hinaus. Sie ging bis ans Geländer und sah hinunter in den grünen Vorhof. Auf den Straßen war es noch sehr still und einen Augenblick lang schien es, als würde Paris tatsächlich einmal den Atmen anhalten.

„Guten Morgen.“ Sophie fuhr herum, als sie Tens Stimme hörte. Er hatte eine der anderen Balkontüren geöffnet und war zu ihr hinaus getreten. Lächelnd kam er ihr entgegen. „Hier. Ich dachte, die willst du jetzt vielleicht wieder haben.“ Er hielt ihr ihre schwarze Jacke hin. Die, die sie an dem Tag getragen hatte, an dem die Schatten sie zum ersten Mal überfallen hatten. Erst jetzt realisierte Sophie, dass es damals nicht Zedd gewesen war, den sie gesehen hatte, sondern Ten. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie die Jacke entgegen und zog sie über.

„Ich hoffe du hast gut geschlafen?“, fragte Ten.

„Wo ist Zedd?“ Sophie drehte sich zu ihm um und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie musste all ihren Mut aufbringen um ihm in die Augen zu sehen. Wenn sie daran zurückdachte, spürte sie noch immer die Schmerzen, die seine Schatten ihr zugefügt hatten, als er sie geküsst hatte. Aber sie hatte nicht nur Angst, er könnte ihr wieder weh tun. Sie fürchtete, sie würde das Kribbeln wieder spüren. Ihn berühren wollen.

„Glaubst du, es macht mir Spaß, meinen eigenen Bruder zu bestrafen? Aber ich kann für ihn nicht andere Maßstäbe ansetzen als für alle anderen.“

„Was hast du mit ihm gemacht?“ Sophie sah wieder seinen leblosen Körper vor ihrem inneren Auge. In ihr ballte sich unter der Angst um Zedd auch Wut auf Ten zusammen.

„Wir mussten ihn erst einmal einsperren. Er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Jetzt muss er auch die Konsequenzen tragen.“

„Du bestrafst ihn, dafür dass ich mich in ihn verliebt habe?“ Sophie biss sich auf die Zunge. Das war nicht das, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Aber es war die Wahrheit und Sophie musste die Tränen zurückhalten. Ten zuckte sichtbar zusammen, als er das hörte, doch er fing sich schnell wieder, gewann seine Selbstsicherheit in einer Millisekunde zurück.

„Ich bestrafe ihn, weil er sich dir gar nicht so hätte nähern dürfen.“

„Aber er wollte sich doch von mir fernhalten! Du hast ihn doch wieder zu mir geschickt!“ Die Wut, die sie schon zuvor gespürt hatte, drang jetzt an die Oberfläche. „Er wollte sich an diese bescheuerten Regeln halten und einfach wegbleiben. Aber du hast ihn wieder zu mir geschickt! Und du wusstest genau, dass es ihm schwer fallen würde. Warum hast du es also getan? Du wolltest das doch! Du wolltest einen Grund, ihn bestrafen zu können!“ Sophie war auf Ten zugegangen. Ohne es zu merken, zu wollen, hatte sie die Hände ausgestreckt und ihn nach hinten geschubst. Ten stolperte einige Schritte zurück, wehrte sich aber nicht. Er sah sie nur an und Sophies Wut verhauchte auf einmal wieder. „Warte mal. Genau das ist es, oder? Du wolltest ihm wehtun. Du wolltest einen Grund, ihn vor den Schatten bloßzustellen, ihn zu diskreditieren. Du wolltest ihm beweisen, wer das Sagen hat, indem du ihm Schmerzen zufügst.“

„Du bist meine Königin. Wenn du erst einmal eine von uns bist, dann wirst du genug mit dem ganzen Hof teilen. Aber solange du noch menschlich bist... Du bist zu zerbrechlich. Niemand darf dich so berühren, so für dich empfinden. Nicht solange er noch Gefahr läuft, dich mit seinen Schatten zu erdrücken. Und besonders mein Bruder hätte vorsichtig sein müssen. Das wusste er. Er hätte die Wandlung nie so in Gefahr bringen dürfen.“ Sophie merkte genau, dass Ten ihre Behauptung nicht widerlegte.

„Ich liebe ihn. Und wenn er mich auch liebt, dann geht dich das nichts an! Du hast das nicht zu bestimmen!“ Sophie drehte sich von ihm weg, wollte wütend davon stürmen und ihn einfach stehen lassen. Aber urplötzlich umklammerte Ten ihr Handgelenk, zog sie zu sich zurück, so stark, dass sie stolperte und nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war.

„Du bist meine Königin. Und ich bin dein König. So ist es bestimmt. Ich habe 150 Jahre lang auf dich gewartet. Niemand darf das jetzt in Gefahr bringen. Du bist für mich bestimmt, warst du schon immer.“ Sophie spürte, wie seine Finger ihren Arm hinauf strichen, sich in ihren Nacken schoben. Das Prickeln kehrte zurück, Sophie schluckte, aber sie konnte den Blick nicht von ihm lösen.

„Was hast du mit mir vor?“ Gänsehaut zog sich über ihren Körper. Tens Finger spielten mit den Haaren in ihrem Nacken, er kam ihr noch näher. Sie spürte seinen Atem auf ihren Lippen.

„Jetzt gerade würde ich dich wirklich gerne küssen.“ Sophie schluckte. Ihr „Nein“ blieb ihr im Hals stecken.

„Das habe ich nicht gemeint“, sagte sie stattdessen. Ten lächelte. Er hatte genau erkannt, dass die Lüge ihr nicht über die Lippen gekommen war. Sie hatte ihm nicht sagen können, dass sie das nicht wollte. Aber er ließ sie los, stellte wieder einen normalen Abstand zwischen ihnen her.

„Du bist mein Gast, Sophie. Mein Haus ist ab sofort auch dein Haus. Ich bin überzeugt davon, dass du nach ein paar Tagen am Hof so weit sein wirst, deinen Platz einzunehmen.“

„Das heißt, ich bin deine Gefangene.“

„Du bist die zukünftige Königin. Ich will nur, dass du hier bleibst, in Sicherheit. Im Haus und auf dem Grundstück kann dir nichts passieren.“ Es war ein goldener Käfig, in den Ten sie steckte, aber es war ein Käfig. Sie musste nicht fragen, was passierte, wenn sie weglaufen sollte. Er würde sie überall finden.

„Wenn du irgendetwas brauchst, dann brauchst du nur die Glocke zu läuten und Madame wird dir bei allem zur Hand gehen. Und solltest du mich sehen wollen... du darfst mich jederzeit stören.“ Ten grinste, dann verbeugte er sich und ging wieder ins Haus hinein.

Sophie blieb einen Moment lang draußen stehen, betrachtete die Straße und die gegenüberliegende Häuserreihe, hob den Blick zum Himmel. Sie wusste, sie sollte Angst haben, sollte alles versuchen um hier wegzukommen. Und ein kleiner Teil in ihr wollte auch nichts mehr als das. Aber sie wusste, dass sie es nicht tun würde. Und irgendwie machte ihr das noch mehr Angst. Sie schloss die Augen, versuchte sich vorzustellen, sie wäre gar nicht hier, sondern irgendwo anders. Irgendwo, wo es keine Schatten gab, wo die Sonne ihr ins Gesicht schien und sie ihre Zehen im warmen Sand vergraben konnte, während sie ein Porträt von Cléo skizzierte. Aber dann spürte sie einen ersten, eiskalten Tropfen auf ihrer Stirn und der Tagtraum war vorbei. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer, bevor es richtig anfing zu regnen.

Sie öffnete die Tür auf der anderen Seite und schielte hinaus in den Gang. Niemand war zu sehen. Links von ihr führte die große Treppe nach unten, rechts ging ein langer Gang weiter, gesäumt von einem halben dutzend Türen auf jede Seite, bevor er ganz hinten nach links abbog. Sophie machte einen Schritt hinaus, überlegte es sich aber fast sofort anders. Allein würde sie das Badezimmer nie finden. Vorsichtig schloss sie die Zimmertür wieder hinter sich, ehe sie sich umsah. Neben dem Bett stand ein Nachtkästchen aus dem selben Holz wie der Kleiderschrank und die Kommode. Darauf stand eine Schirmlampe, die aussah, als hätte sie jemand aus dem Set einer 60er-Jahre Sitcom geklaut. Und aus der Wand darüber hing eine Art Kette. Im ersten Moment hielt Sophie sie für eine altmodische Klospülung. Dann erinnerte sie sich daran, einmal in einem Film gesehen zu haben, wie eine Gräfin an einer solchen Kette gezogen hat um ihre Kammerzofe aus dem Dienstbotenraum zu sich zu rufen. Wenn du irgendetwas brauchst, dann brauchst du nur die Glocke zu läuten, hatte Ten gesagt. Sophie versuchte ihr Glück. Sie konnte nichts hören, aber nach etwa zwei Minuten klopfte es an der Tür.

„Herein!“, rief Sophie. Die untersetzte Dame, die Sophie am Vortag schon gesehen hatte, betrat den Raum. Sie trug auch heute eine graue Zimmermädchen-Uniform, die etwas arg altbacken wirkte. Die Frau selbst, dass erkannte Sophie jetzt, war auch nicht mehr die Jüngste. Sophie schätzte sie auf Anfang Sechzig, wobei ihr graues Haar, dass zu einem strengen Dutt am Hinterkopf gebunden war, täuschen konnte. Von ein paar wenigen Falten um die Augen und an der Stirn war ihre Haut ebenmäßig. Sophie erhaschte einen Blick auf eisblaue Augen, ehe die Frau den Blick senkte und knickste.

„Sie haben nach mir geläutet, Mademoiselle Moreau?“

„Ja. Ich wollte ins Badezimmer, aber...“

„Ich zeige Ihnen sofort den Weg. Wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Eine einfache Wegbeschreibung hätte auch gereicht. Das Badezimmer lag gleich nebenan. „Es liegen Handtücher für Sie auf der Heizung bereit. Soll ich Ihnen neue Garderobe bringen?“ Sophie hatte gar nicht daran gedacht, dass sie hier duschen, sich umziehen könnte. Wie aufs Stichwort fing ihr ganzer Körper an zu jucken. Aber sie würde nicht die Klamotten aus der Kommode anziehen. Sie wollte nicht, dass Ten so über sie bestimmen konnte.

„Nein, danke. Ich... ich möchte allein sein.“

„Natürlich, Mademoiselle. Im Badezimmer gibt es auch eine Glocke. Sollten Sie doch noch irgendetwas brauchen, müssen Sie nur läuten.“ Sophie nickte nur, dann betrat sie den großen Raum. Hinter sich schloss sie die Tür ab. Entgegen ihren Erwartungen war das Badezimmer höchst modern eingerichtet. Glänzende weiße Fließen, eine Waschzeile mit drei Waschbecken auf der einen Seite, darüber ein langer Spiegel, eine große, freistehende Badewanne in der Mitte des Raumes, eine doppelte Dusche in einer Ecke, ein kleiner abgetrennter Raum mit einer Toilette, ein großes Regal mit Handtüchern. Neben der Tür stand die Heizung mit einem Satz schwarzer Handtücher für Sophie. Das Regal und die kleinen Schränke unter den Waschbecken hatten eine spiegelnde, dunkelrote Oberfläche. Die Vorhänge waren auch hier zugezogen. Statt sie aufzuziehen, schaltete Sophie das Licht an. Der Raum war zwar hell, aber eiskalt. Ein Schauer lief Sophie den Rücken herunter. Die dunkelroten Akzente wirkten wie Blutspritzer auf einer Leiche. Sie verscheuchte den Gedanken.

Auf einem kleinen Abstelltisch zwischen der Heizung und der Waschzeile fand Sophie einen Geschenkkorb mit einer kleinen Karte. Darauf stand ihr Name. Fühl dich wie Zuhaue! -Ten, stand darin. Sophie schaute sich den Inhalt des Korbes an. Nagelneue Flaschen ihres Haarshampoos und ihres Duschgels, ein wenig Makeup, eine Zahnbürste, eine kleine Flasche Schaumbad und das teure Parfüm, das Sophie vor einiger Zeit einmal getestet hatte, das sie sich aber nicht leisten konnte. Angeekelt stellte Sophie die Karte zurück. Nein. Sie würde keine Geschenke von ihm annehmen. Entschlossen schnappte sie sich lediglich eines der Handtücher und ging zur Dusche. Sie zog sich aus und ging hinein. Eine ganze Weile stand sie nur da. Nackt, hinter der Glastür, ohne das Wasser anzudrehen. Sie fror, Gänsehaut überzog ihren Körper und sie begann zu zittern. Sophie genoss es. Endlich hatte sie einmal wieder eine Gänsehaut einfach nur, weil ihr kalt war. In ihr gab es Nichts, das prickelte, da war kein Verlangen, keine Angst. Ihr war einfach nur kalt.

Irgendwann drehte sie aber doch das Wasser an, ließ es über ihre Haare und ihre Schultern rinnen und sog seine Wärme in sich auf. Als sie fertig war, zog sie sich schnell an, rubbelte ihre Haare schnell mit dem Handtuch ein wenig trocken und band sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz. Dann läutete sie nach Madame und wartete vor der Tür auf sie.

„Können Sie mir das Haus zeigen?“

„Bien sûr.“ Sophie folgte Madame durch endlose Gänge, vorbei an unzähligen Türen, Treppen hinauf und hinunter, durch Hallen und Wohnräume, die Küche, das Esszimmer. Es ging nicht lange, bis Sophie realisierte, dass das Haus von innen weitaus größer war, als die Rue des Carmes Nummer 14. Das war lediglich das Hauptgebäude. Innen waren die Wände zu den Nachbarhäusern eingerissen worden, bis der gesamte Block zu Tens „Palast“ gehörte und von der Nummer 14 aus zugänglich war. Es gab modern eingerichtete Räume, Räume, die aussahen wie aus den 50ern, solche aus der Biedermeierzeit, welche aus der Romantik und unzählige weitere Stile, die Sophie gar nicht benennen konnte. Aber in den meisten Räumen war die Einrichtung aus den verschiedenen Epochen zusammengewürfelt, so wie in Sophies Zimmer. So, als wüssten die Bewohner gar nicht wirklich, in welchem Jahrhundert sie gerade waren.

Überall waren die Vorhänge zugezogen, dunkle Holzmöbel und die Farben Rot und Schwarz beherrschten den gesamten Gebäudekomplex. Fast überall lag dicker Teppichboden, der das Geräusch von Sophies und Madames Schritten schluckte.

„Wie lange arbeiten Sie schon hier?“, fragte Sophie irgendwann.

„Mein ganzes Leben lang.“

„Wie heißen Sie eigentlich, Madame?“

„Meine Mutter hat mir wohl einen Namen gegeben, als ich geboren wurde. Aber seit ich hier arbeite hat ihn niemand mehr benutzt. Und im Lauf der Jahrzehnte ist er in Vergessenheit geraten.“

„Sie haben Ihren Namen vergessen?“

„Madame ist mein Name geworden. Nach mehr als hundert Jahren habe ich mich daran gewöhnt.“

„Nach hun- Wie alt sind Sie?“ Sophie war stehen geblieben und sah Madame erschrocken an. Bestimmt hat sie nur übertrieben, dachte sie noch.

„182 Jahre bin ich alt. Mit vierzehn habe ich hier angefangen, als die Herren Tenebros und Sceadwian aus England hier her zogen. Seitdem habe ich das Anwesen nicht mehr verlassen.“

„Das ist unmögl-.“ Sophie stockte. Das Wort wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Der Versuch es auszusprechen hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge.

„In diesem Haus ist nichts unmöglich.“ Madame sah sich verstohlen im Gang um, dann griff sie urplötzlich nach Sophies Händen, hielt sie fest. Sophie spürte, dass die alte Dame zitterte. „Es tut mir furchtbar Leid. Es ist allein meine Schuld, dass sie jetzt hier gefangen sind. Ich hätte Sie wegschicken sollen, wie jeden anderen, der an der Tür klingelt. Aber als Sie mir ihren Namen nannten... Ich habe gehört, wie die Herren von Ihnen gesprochen haben, da wusste ich nicht, was ich tun sollte. Hätte ich gewusst, dass sie... Es tut mir leid, so furchtbar leid.“ Sophie hatte Mühe die schnellen Worte der Dame zu verstehen. Sie spürte, wie ihr Zittern stärker wurde, fürchtete, Madame bekäme einen Herzinfarkt.

„Beruhigen Sie sich, Madame. Es ist nicht Ihre Schuld. Sie haben nur Ihre Arbeit gemacht. Bitte, beruhigen Sie sich.“ Sophie stützte die Dame, die mittlerweile Mühe hatte zu stehen und setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab.

„Mich beruhigen, ja. Mich beruhigen.“ Mit der Zeit wurde ihre Atmung wieder normal, ihr Blick klärte sich auf.

„Madame... Was sind sie?“, fragte Sophie vorsichtig.

„Dämonen. Sie sind Dämonen, die nur der Teufel selbst geschickt haben kann.“ Madame bekreuzigte sich zwei Mal, dann griff sie nach einer unscheinbaren Goldkette, die sie um den Hals trug. Unter ihrer hochgeschlossenen Uniform kam ein kleines Kreuz zum Vorschein. Sie umklammerte es, als hinge ihr Leben davon ab.

„Fliehen Sie, Mademoiselle Moreau. Fliehen Sie, solange sie noch können.“ Sophie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie hatte Angst. Sie wollte nicht so enden wie Madame, wollte nicht auf ewig hier eingesperrt sein, wollte nicht, dass man ihren Namen vergaß. Aber wie sollte sie fliehen? Es war unmöglich. Die Schatten waren überall.

Oder... nicht. Sophie sah sich um. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie keine der dunklen Gestalten gesehen hatte, seit sie aufgewacht war. Außer Madame und Ten hatte sie überhaupt niemanden gesehen. Das ganze Haus war wie ausgestorben.

Jemand räusperte sich lautstark und Sophie sprang auf und fuhr herum. Ten stand am anderen Ende des Ganges, lässig mit verschränkten Armen gegen die Mauer gelehnt und blickte an ihr vorbei mit kaltem Blick zu Madame.

„Madame, Sie sind nicht hier eingestellt um Geschichten zu erzählen“, sagte er. Sofort rappelte sich Madame auf, zog ihre Kleider zurecht, ließ das kleine Kreuz wieder verschwinden und knickste als Entschuldigung. Dann ging sie in die entgegengesetzte Richtung davon. Sophie ließ Ten nicht aus den Augen, als er auf sie zukam. Er musterte sie. „Du hast dich nicht umgezogen“, sagte er mit gerunzelter Stirn. Dann beugte er sich vor und schnupperte. „Und du trägst das Parfüm nicht, dass ich dir geschenkt habe.“

„Ich will keine Geschenke von dir. Ich habe meine eigenen Klamotten, in meiner eigenen Wohnung.“

„Natürlich. Ich schicke gleich jemanden los. Er bringt dir, was immer du willst.“

„So war das nicht gemeint.“

„Sophie, das habe ich dir doch schon erklärt. Ich möchte, dass du hier bleibst.“

„Als deine Gefangene.“ Ten ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er machte noch einen Schritt auf sie zu, stand schon wieder viel zu dicht vor ihr und griff nach ihrer Hand. Er verschränkte die Finger mit ihren.

„Als mein Gast. Du bist die zukünftige Königin.“ Er hob ihre Hand an seine Lippen, drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken, sah ihr aber weiter in die Augen. Das Kribbeln kehrte in Sophie zurück und sie glaubte, dass Ten das genau wusste und für sich nutzte. Aber sie konnte es nicht stoppen. Sie versuchte sich dagegen zu verschließen, wollte in dieser Diskussion nicht nachgeben. Er schien es in ihren Augen lesen zu können. „Sophie. Du kannst dich mir widersetzen und nichts von dem bekommen, was du willst. Oder du kannst einsehen, dass dein Leben leichter wird, wenn du auf mich hörst.“ Sophie schwieg. Auf einmal spürte sie, wie der Druck seiner Finger um ihre Hand stärker wurde, so stark, dass es wehtat. Wenn sie nicht nachgab, dann würde er ihr die Hand brechen, einfach indem er richtig zudrückte. Sie konnte es sehen.

„Meine Malsachen“, flüsterte sie leise. Sofort lockerte sich Tens Griff wieder. Fast meinte Sophie, es sich nur eingebildet zu haben. Er lächelte, dann streckte er seine freie Hand aus und ein Schatten kroch daraus hervor. Ten nickte ihm zu und der Schemen verschwand.

„Bis heute Abend hast du alles, was du brauchst“, sagte Ten fröhlich.

„Wo sind die anderen?“, fragte Sophie.

„Die anderen Schatten?“

„Hier gibt es so viele Zimmer und die wenigsten sind unbewohnt und...“ Sophie hatte keine Zeit ihren Satz zu beenden.

„Ich habe sie für heute weggeschickt. Ich dachte, es fällt dir vielleicht leichter dich einzuleben, wenn sie nicht hier sind.“

„Und sie haben sofort auf dich gehört, weil... weil du ihr König bist.“ Sie musste es aussprechen. Sie musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte.

„Ja.“ Ten lächelte. „Hast du Hunger? Ich bin sicher, das Frühstück ist schon fertig.“

„Schon, aber ich will allein sein. Madame soll es mir in mein Zimmer bringen.“

Ten nickte. „Ich schicke dir gleich eines der Küchenmädchen nach oben. Findest du den Weg allein zurück?“

Tanz der Vampire

Sophie verbrachte den Tag allein in ihrem Zimmer. Wenn sie die Dienstboten-Glocke läutete, kam ein Küchenmädchen und half ihr bei was auch immer sie wollte. Sophie saß da und blickte von ihrem Bett aus durch die offenen Balkontüren auf die Straße hinaus. Sah Männer, Frauen, Kinder vorbeilaufen. Ein paar Touristen fotografierten das Gebäude. Keiner von ihnen sah irgendetwas ungewöhnliches daran. Auch auf der Straße konnte Sophie keine Schatten entdecken. Es schien, als hätte es sie nie gegeben. Sophie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ein Schluchzen stieg in ihr auf, aber sie schluckte es herunter. Sie wollte jetzt nicht weinen. Nicht um Zedd, der wohl irgendwo im Gebäude war, den sie aber nicht sehen durfte. Und nicht um die Schatten, die ihr anfangs so große Angst gemacht hatten und ihr jetzt aber eher wie eine Verbindung zu Zedd vorkamen. Sie hatte sich so an ihre Anwesenheit gewöhnt, dass sie sie als tröstend empfunden hätte. Aber Sophie weinte nicht.

Als es Abend wurde, klopfte es an ihrer Zimmertür. Sophie glaubte zu wissen, wer es war und zögerte kurz. Aber es hätte keinen Sinn. Er wusste ja schließlich doch, dass sie hier war.

„Wie geht es dir?“, fragte Ten, als er ins Zimmer kam.

„Ich will nach Hause.“

Ten lächelte nur, schüttelte den Kopf. „Die Schatten, die ich geschickt hatte, deine Sachen zu holen, sind zurück. Ich wollte fragen, ob du mit mir zu Abend essen willst, während sie hier alles einräumen.“

„Lieber schau ich ihnen dabei zu.“ Sophie hatte Ten längst wieder den Rücken zugedreht und sah wieder aus dem Fenster. Sie hörte wie er näher kam, spürte ihn in ihrem Rücken noch bevor er ihr die Hand auf die Schulter legte. Langsam ging er um sie herum, ließ die Finger von ihrer Schulter zu ihrem Knie gleiten und ging vor ihr in die Hocke.

„Das war eigentlich keine Bitte.“ Er drohte ihr, berührte sie auf eine Weise, die ihr unangenehm sein sollte. Sie sollte Angst haben, wütend sein und irgendwo war sie das auch, aber was sie vor allem spürte war das aufregende Prickeln, das sein intensiver Blick in ihr auslöste. Sie spürte sich nicken. Sofort kehrte Tens Lächeln zurück, er sprang auf und hielt ihr dann die Hand entgegen um andererseits ihr aufzuhelfen. Ohne nachzudenken nahm Sophie an und Ten nutzte die Chance sofort um seine Finger mit ihren zu verschränken. So führte er sie ins Esszimmer, wo bereits für zwei Personen gedeckt war. Sobald sie sich gesetzt hatten, brachte eines der Küchenmädchen den ersten Gang.

„Hast du dich gut eingelebt?“

„Ich esse. Du hast nichts davon gesagt, dass ich auch mit dir reden muss.“

„Ich will nur nett sein, damit du dich wohlfühlst. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“

„Ach nein? Und dass du Zedd bewusstlos geprügelt hast ohne mit der Wimper zu zucken? Dass du und deine Schatten schon einmal über mich hergefallen seid? Dass du mich mit deinem Kuss fast erstickt hättest? Sind das keine guten Gründe Angst vor dir zu haben?“

„Ich musste doch wissen, ob es an mir lag, dass der erste Kuss dich nicht gewandelt hat. Normalerweise reicht ein Kuss, damit die Königin ihren Platz einnehmen kann. Das ist die Geschichte, mit der wir aufgewachsen sind. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du noch nicht so weit bist. Alle Anzeichen haben doch darauf hingedeutet.“

„Ich verstehe das alles nicht. Wieso ich? Warum soll ich eure Königin sein?“

„Schicksal. Jede Königin wird zwar als Mensch geboren, aber sie trägt alles schon in sich. Und ihre dunkle Seite erwacht, wenn sie erwachsen wird. Dann müssen wir sie nur noch finden, damit sie danach uns finden kann.“

„Und was, wenn ihr mich nicht gefunden hättet? Gäbe es dann ein anderes Mädchen, das Königin werden könnte?“

Ten schüttelte den Kopf. „Für jede Generation gibt es nur eine Königin. Und sie wird immer gefunden – es ist schließlich ihr Schicksal.“

„In jeder menschlichen Generation oder in jeder...“ Sophie wusste nicht, wie sie ihre Frage beenden sollt.

„Entschuldige. Ich bin es nicht gewohnt, mich mit Menschen zu unterhalten. In jeder unserer Generation. Für jeden König braucht es eine Königin. Ich vergesse oft, wie kurz ein Menschenleben ist.“

„Wie alt bist du?“

„184 Jahre alt. 1848 sind mein Bruder und ich nach Frankreich gekommen, nach dem Tod unserer Eltern.“

„Sie sind tot? Aber... seit ihr nicht unsterblich?“

„Nein. Wir leben nur etwas länger. Mein Vater war 304 als er starb.“

„Hmm.“ Sophie aß schweigend weiter. Langsam begann sie besser zu verstehen, wo sie gelandet war. Ten ließ sie in Ruhe bis das Dessert kam.

„Ich wollte dich ehrlich gesagt etwas fragen...“, sagte er vorsichtig.

„Was?“

„Ich wollte wirklich wissen, ob du dich eingelebt hast. Wenn es dunkel wird, werden die Schatten zurück hier her kommen. Sie werden nicht in dein Zimmer gehen, klar, aber... Ist das okay für dich?“ Sophie runzelte verwirrt die Stirn. Sie verstand Ten nicht. Im ersten Moment machte er ihr Angst, bedrohte sie, im nächsten versuchte er sie zu verführen und kurz danach war er so fürsorglich? Er wollte, dass sie Königin wurde, dass sie so wurde wie er. Aber scheinbar hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

„Ich will meine Privatsphäre, das ist alles“, sagte sie schließlich. Ten schien erleichtert und nickte. Er war entspannter und als sie fertig gegessen hatten, begleitete er sie lediglich auf ihr Zimmer und wünschte ihr eine gute Nacht. Dann ließ er sie wieder allein.

Als Sophie das Zimmer betrat, erschrak sie einen kurzen Moment lang. Zwischen dem alten Schrank und der Kommode stand jetzt ein nagelneuer Schrank, der aussah, als käme er direkt aus einem Ikea-Katalog. Vor der linken Balkontür stand ihr Schreibtisch mit all ihren noch immer wild durcheinander geworfenen, unfertigen Skizzen und daneben an der Wand lehnten all ihre bemalten und unbemalten Leinwände. Nach dem ersten Moment, beruhigte Sophie sich schnell wieder. Der vertraute Anblick ihrer Unordnung gab ihr ein wenig das Gefühl von Geborgenheit, von Zuhause. Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, durch ihre Sachen zu wühlen, alles neu zu sortieren. Am liebsten hätte sie ein wenig gemalt, aber sie hatte Angst vor dem, was dabei entstehen könnte.

Umso dunkler es draußen wurde, umso mehr Bewohner schienen in das Anwesen zurückzukehren. Immer wieder hörte Sophie Schritte im Gang, ab und zu die Türklingel, ganz selten ein leises Gespräch im Vorhof. Es war kurz nach Mitternacht als Sophie beschloss, dass es Zeit für sie war ein wenig Schlaf zu bekommen.

 

Sophie schreckte aus ihrem traumlosen Schlaf auf, als sie den Schrei hörte. Sie konnte noch nicht lange geschlafen haben. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Ob sie den Schrei vielleicht nur geträumt hatte. Sie lag still in ihrem Bett, aber alles was sie hörte war das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren. Durch die hohen Balkontüren schien das Licht der Stadt herein. Sophie war allein im Zimmer, das konnte sie mit Sicherheit sagen. Aber gleichzeitig fühlte sie sich, als wäre sie in einem Raum voller Menschen. Ihr Körper prickelte und ihr Blick flog durch den Raum auf der Suche nach den unsichtbaren Augen, die sie beobachteten. Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus. Sie wälzte sich herum und schaltete ihre Nachttischlampe an. Aber das Gefühl verschwand nicht. Dann hörte sie ein lautes Lachen. Oder ein leises Kichern? Sophie konnte den Unterschied gerade nicht ausmachen. Was auch immer es gewesen war, eigentlich hätte sie es gar nicht hören dürfen. Denn es kam von unten, aus der großen Halle.

Das ist keine gute Idee, sagte Sophie zu sich selbst, aber sie war bereits aufgestanden. Sie trug lediglich ein überlanges T-Shirt von einer ihrer Lieblingsbands, in dem sie geschlafen hatte. Barfuß trat sie auf den Gang hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Sobald sie ihr Zimmer verlassen hatte, war sie umringt von den Schattengestalten. Sie strichen ihr zärtlich über die Arme, das Haar, ihre nackten Beine. Und ein paar Minuten lang genoss Sophie ihre Berührungen. Dann drangen die Geräusche wieder zu ihr durch.

Viele Stimmen, die sich unterhielten. Ein leises Lachen. Das Tropfen einer Flüssigkeit. Das Klirren von Gläsern, als jemand mit einem anderen anstieß. Das leise Zischen von Kohlensäure. Ein Stöhnen. Das Rascheln von Kleidung, die zu Boden fällt.

Sophie straffte den Rücken, schüttelte die Schatten ab. Mit kleinen Schritten ging sie zur großen Treppe, schielte um die Ecke und hinunter in die Halle. Ein paar dutzend Gestalten waren dort unten. Manche aus Fleisch und Blut, andere nur Schatten. Es schien eine Party in Gang zu sein. Überall standen kleine Sofas in Gruppen, wo sich die Gäste unterhielten, kleine Tische mit Eimern voller Eis um den Champagner zu kühlen. An einem Ende des Raumes lag ein junges Mädchen auf einem der Sofas. Sie trug kein Shirt mehr, schien zu schlafen. Das störte den jungen Mann neben ihr nicht. Er streute etwas Salz auf ihren Bauch, nahm sich einen Tequila-Shot und eine Limette und leckte es von ihrem Bauch. Sie regte sich nicht. Sophies Blick wanderte weiter. An einer anderen Stelle hockte ein junger Mann auf dem Boden. Er schien Schwierigkeiten zu haben aufzustehen. Um ihn herum liefen drei junge Frauen, die fließend zwischen Schatten- und Menschengestalt wechselten, als könnten sie sich noch nicht so recht entscheiden. Eine beugte sich zu dem Mann herunter, bot ihm die Hand um ihm aufzuhelfen. Sobald er stand lehnte sie sich vor, küsste ihn und er brach sofort wieder zusammen. Die drei Schattengestalten kicherten.

Am Fuß der Treppe, direkt neben dem Podest, meinte Sophie Ten erkennen zu können. Er saß auf einem der Sofas, wandte ihr den Rücken zu und schien jemanden im Arm zu halten. Neugierig kam Sophie hinter der Ecke hervor, ging langsam die geschwungene Treppe nach unten ohne ihn aus den Augen zu lassen. Es war ein junges, blondes Mädchen, so viel konnte Sophie schon erkennen. Aber Ten verdeckte sie. Umso mehr Stufen Sophie nach unten ging, umso mehr Schattengestalten bemerkten sie. Aber erst als sie fast ganz unten war, drehte Ten sich um. Es war mucksmäuschenstill geworden.

„Sophie. Wir wollten dich nicht wecken.“ Ten stand auf und kam ihr ein wenig entgegen. Mit einer Hand machte er eine lässige Bewegung und die Party nahm wieder ihren Lauf. Die andere reichte er ihr um ihr die letzten Stufen hinab zu helfen. Jetzt konnte Sophie das blonde Mädchen endlich richtig sehen. Sie war wach, schien aber nicht bei sich zu sein, als stünde sie unter Drogen oder so. Sophie sah Blutspritzer auf ihrem hellgelben Oberteil.

„Was ist das hier?“, fragte Sophie.

„Nachdem sie den ganzen Tag nicht hier verbringen durften, dachte ich, es würde allen gut tun eine kleine Feier zu veranstalten.“

„Sind... sind das Menschen? Was macht ihr mit ihnen?“ Sophie biss sich auf die Lippe.

„Ja. Eigentlich wollte ich nicht, dass du das siehst. Aber...“ Sophie wandte Ten wieder den Blick zu. „Vielleicht hilft es dir, deine dunkle Seite zu wecken. Komm.“ Ten zog sie zu einem Sofa, das dem gegenüberstand, auf dem er mit dem Mädchen gesessen hatte. Verwirrt ließ Sophie sich darauf sinken. Ten ließ ihre Hand los und setzte sich wieder zu der Blondine. Sanft schob er ihr die Haare hinters Ohr. An ihrem Hals kamen mehrere Wunden zum Vorschein, eine davon blutete noch. „Bestimmt hat dich ihr Schrei geweckt. Danach musste ich ihren Verstand in Schatten einhüllen, jetzt macht es nur noch halb so viel Spaß. Aber jetzt bist du ja so oder so wach, nicht wahr?“ Ten lächelte kurz zu Sophie herüber, dann sah er wieder das Mädchen neben ihm an. Sophie konnte sehen, wie sich der Schleier vor ihren Augen löste, sie kam wieder zu sich und schrie. Sophie riss erschrocken die Arme hoch und hielt sich die Ohren zu. Sie sah, wie das Mädchen die Muskeln anspannte, schon so gut wie aufgesprungen war um davonzulaufen. Aber Ten strich ihr kurz mit dem Handrücken über die Wange bis sie aufhörte zu Kreischen. Er lächelte sie an. Sophie ließ vorsichtig die Hände wieder sinken. Sie wusste was kommen würde. Sie wollte es nicht sehen, aber sie schaffte es nicht sich abzuwenden.

„Schhhh“, machte Ten. „Es ist gleich vorbei.“ Dann lehnte er sich nach vorne, legte die Lippen an ihren Hals. Es sah aus, als würde er sie küssen. Das Mädchen wimmerte kurz, gab aber ansonsten keinen Laut mehr von sich. Sophie konnte beobachten wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, schließlich auch aus ihren Lippen. Das Mädchen sah ihr genau in die Augen. Ihre Lider flatterten, fielen dann zu. Als Ten sie losließ, fiel sie einfach um.

Sophies Herzschlag hämmerte in ihrer Brust. Ihre Finger begannen zu zittern. Nervös zog sie an ihrem T-Shirt. Sie hatte es geahnt, aber... Ten wischte sich mit der Hand ein Rinnsal Blut vom Kinn, leckte sich über die Lippen. Sophie wusste nicht ob sie ihn ansehen sollte oder die Leiche neben ihm. Sie wusste nur, dass das Prickeln zurück war. Ten klopfte auf den Platz neben sich.

„Na komm, Sophie.“ Er lächelte sie einladend an und Sophie spürte den Druck kalter Hände im Rücken. Sie brauchte sich nicht umzusehen um zu wissen, dass es Tens Schatten waren, die sie zu ihm schoben.

„Ihr seid Vampire“, brachte sie endlich hervor, als sie neben ihm saß. Ihr Knie berührte seines, sein Oberschenkel presste gegen ihren. Sie hatte sich eigentlich gar nicht so dicht neben ihn setzen wollen. Ten legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend los.
„So etwas wie Vampire gibt es nicht, Sophie“, sagte er schließlich. „Wir sind Schatten. Mag sein, dass diese Vampirlegenden von uns inspiriert sind, aber wir sind keine. Wir sind Schatten. Wir leben von und in der Dunkelheit. Das ist alles.“

„Aber du hast ihr Blut getrunken.“

„Stimmt. Aber das ist eher ein Luxus als ein Bedürfnis. Blut ist für uns so wie...“ Ten überlegte einen Moment lang. „Wie Schokolade für Menschen. Wir brauchen es nicht, aber ab und zu gönnen wir es uns. Und wenn es uns angeboten wird, dann können wir kaum Nein sagen. Ich frage mich...“ Ten wandte sich für einen kurzen Augenblick von Sophie ab. Als er sich wieder umdrehte, glänzten seine Fingerspitzen rot. „Es ist eigentlich schon zu kalt, aber-“ Ohne seinen Satz zu beenden hob er die Hand und verteilte ein wenig von dem Blut mit zwei Fingern auf Sophies Lippen. Er drückte zu fest zu, zwang ihre Zähne auseinander und berührte kurz Sophies Zunge. Dann zog er die Hand blitzschnell zurück. Noch bevor sie darüber nachdenken konnte zu schreien oder sich zu wehren, reagierte ihr Körper. Ohne es bewusst zu wollen, leckte sie sich das Blut von den Lippen. Es schmeckte wie die Luft in einer eisigen Winternacht. Ten lächelte, hielt ihr seine Hand entgegen, an der noch etwas Blut klebte. Das ist nicht richtig. Der Gedanke war da, aber Sophie hielt ihn nicht fest. Ich bin es leid, das Richtige zu tun. Mit beiden Händen griff sie nach Tens Hand, zog ihn zu sich und schleckte den letzten Rest Blut von seinen Fingern. Auch als sie damit fertig war, ließ sie ihn nicht los. Ihr ganzer Körper prickelte, ihre Haut kitzelte und juckte zugleich und Sophie wünschte, sie könnte sie abstreifen. Sie wollte Ten an sich ziehen, wollte ihn berühren, ihn spüren. Aber etwas hielt sie noch zurück.

„Ich wünschte, ich könnte dir mehr geben. Aber du bist noch zu menschlich. Das könnte fatale Folgen auf die Wandlung haben. Aber so wie du reagiert hast, frage ich mich doch..“ Ten entschied für sie, legte die Hand, die sie immer noch festhielt in ihren Nacken und küsste sie. Sophie erzitterte. Sie konnte gar nicht anders – sie küsste ihn zurück. Aber nur nach ein paar Sekunden löste Ten sich wieder von ihr. Er sah enttäuscht aus. „Ich verstehe es nicht“, murmelte er. Weiter ließ Sophie ihn nicht kommen. Sie zog ihn wieder an sich, küsste ihn, vergrub die Hände in seinem Haar und zog ihn so lange näher, bis sie mehr auf dem Sofa lagen als saßen, er über ihr. Sie spürte seine Hand ihren Oberschenkel hinauf wandern, unter ihr T-Shirt. Er ließ seine Lippen zu ihrem Ohrläppchen wandern, knabberte daran. Sophie stöhnte auf. Sie hatte längst vergessen, dass sie nicht allein im Raum waren. Plötzlich hielt Ten inne. Er zog vorsichtig seine Hände zurück.

„Es geht noch nicht, Sophie. Wir wollen doch nicht, dass noch mal das Selbe wie gestern passiert“, flüsterte er ihr ins Ohr, dann löste er sich endgültig von ihr. Einen Wimpernschlag später stand er vor dem Sofa, blickte auf Sophie herunter und streckte ihr die Hand entgegen.

„Aber komm, Sophie. Komm und tanz mit mir und den Schatten. Lass uns tanzen, bis die Sonne aufgeht und wer weiß? Vielleicht auch noch ein bisschen länger.“ Und Sophie nahm seine Hand und folgte ihm in die Mitte des Raumes. Sie begannen zu tanzen und tanzten, bis Sophie nur noch die Dunkelheit, die Schatten um sich herum sah und spürte. Aber sie hörten nicht auf.

 

Sophie nahm nicht wahr, wie der Raum sich nach und nach leerte. Sie tanzte mit Ten und den Schattengestalten, mit solchen, die aussahen wie Menschen und solchen, die zwischen ihrer menschlichen und ihrer Schattengestalt hin und her wechselten. Zum ersten Mal seit sie im Anwesen der Rue des Carmes angekommen war, fühlte sie sich in Paris wieder zu Hause. Sie dachte nicht über das nach, was sie tat – sie tanzte einfach nur. Aber umso heller es draußen wurde, umso mehr Schatten verschwanden. Am Ende waren nur noch ein paar in menschlicher Gestalt übrig und selbst die entschuldigten sich nach und nach und gingen auf ihre Zimmer.

Als der Raum so gut wie leer war, war Sophie einen kurzen Moment lang ganz allein. In diesem Moment traf sie die Müdigkeit auf einen Schlag. Sie schwankte kurz, schaffte es aber, die Augen offen zu halten. Fast sofort war Ten bei ihr, hielt sie fest, damit sie nicht umfiel. Sophie krallte sich an seinen Arm, fürchtete, ihre Beine würden unter ihr nachgeben.

„Ich bringe dich nach oben.“ Ganz langsam führte er sie zurück in ihr Zimmer. Sie ließ sich auf das große Bett fallen und hatte die Augen schon geschlossen, als Ten vorsichtig ihre Füße unter die Decke schob, ihren Kopf auf den Kissen bettete und sie zudeckte. Sie spürte, wie sich das Bett neben ihr bewegte, als Ten sich neben sie legte. Aber sie war schon zu nah am Schlaf um irgendetwas dagegen zu tun.

„Schlaf, meine Königin. Schlaf und ruh dich aus. Du hast unseren Schatten heute viel gegeben. Jetzt darfst du schlafen.“ Sie spürte noch, wie er ihr die Haare hinters Ohr strich und anschließend die Hand auf ihre Hüfte legte. Dann war sie endgültig eingeschlafen.

 

Als sie aufwachte, war sie allein. Jemand hatte die Vorhänge vor den Balkontüren zugezogen, sodass das Sonnenlicht keinen Weg ins Zimmer fand. Sie wälzte sich herum um ihre Nachttischlampe anzuschalten. Dabei entdeckte sie ihr Handy, das direkt daneben auf dem Nachtkästchen lag. Sophie war sich ziemlich sicher, dass sie es nicht da hin gelegt hatte. Sie hatte es seit Donnerstag, seit sie hier angekommen war, nicht mehr gesehen. Aber jetzt lag es einfach da. Ten musste es ihr zurückgegeben haben. Scheinbar vertraute er ihr jetzt genug um nicht zu glauben, dass sie die Polizei rief und auf ihn hetzen würde. Sophie seufzte, als sie realisierte, dass sie das wirklich nicht tun würde. Dann erst nahm sie ihr Smartphone hoch und schaltete es an. Es war fast voll aufgeladen, also gab es wohl irgendwo auch ein passendes Ladekabel, aber darum würde Sophie sich später kümmern. Als erstes fiel ihr Blick auf die Uhrzeit: 4.58 Uhr. Dann erst sah sie das Datum. Sonntag, 29. Mai. Sie war schon seit vier Tagen hier. Da war es kein Wunder, dass sie ein dutzend verpasste Anrufe, 9 ungelesene Mails und 16 neue SMS hatte. In den Mails ging es um Arbeitsaufträge für ihr Studium und blablabla. Sophie klickte sie weg. Das war jetzt gerade ihre kleinste Sorge. Die Anrufe und SMS waren fast alle von Cléo.

Wo bist du?

Keiner hat dich heute gesehen. Bitte antworte!

Sophie? SOPHIEEEEEEE?????

Ich mache mir Sorgen!

Bist du krank?

War bei dir zu Hause, du aber nicht. WO BIST DU?

Hallo???

Wenn du am Montag immer noch unauffindbar bist, geh ich zur Polizei.

Sophie? Bitte?

Sophie war gerührt, dass Cléo sich so um sie sorgte. Schnell tippte sie eine Antwort.

Es gab einen Notfall bei alten Freunden. Bleibe für eine Weile hier. Ich meld mich bald wieder. LG

Dann legte sie ihr Handy weg, bevor sie doch noch eine Dummheit machte. Sie wälzte sich aus dem Bett, zog sich schnell eine Leggings an und ging nach draußen. Die Luft war feucht und kalt, aber nicht feucht genug, als dass Sophie es Nebel genannt hätte. Sie hörte ein paar Autos irgendwo vorbei fahren, eine Fahrradklingel. Ein Junge ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Gehweg entlang. Er zog einen kleinen Karren hinter sich her, gefüllt mit Zeitungen. Sophie dachte nicht lange darüber nach. Sie drehte sich um, rannte durch ihr Zimmer, die Treppen hinunter, durch die Haustür hinaus und bis zu dem vergitterten Tor, das sie einfach nicht auf bekam.

„Hey, warte mal!“, rief sie dem Jungen hinterher. Er drehte sich um und sie winkte ihn zu sich. Zögernd kam er näher. Unter seiner schwarzen Mütze konnte Sophie braune Haarspitzen hervorspickeln sehen. Er konnte nur unwesentlich jünger sein als Sophie, aber sein Gesicht hatte seine Kindlichkeit noch nicht verloren.

„Kann ich eine von den Zeitungen haben?“, fragte Sophie, als er direkt vor ihr stand.

„Wenn du dafür bezahlst.“ Sophie nickte nur. Der Junge reichte ihr eine der Sonntagszeitungen durch das Gitter. Sophies Blick fiel sofort auf den Hauptartikel der Titelseite.

 

Weitere 8 Studenten spurlos verschwunden

Polizei findet am Samstag eine noch unbekannte Leiche

 

Paris - In der Nacht von Freitag auf Samstag sind erneut 8 Studenten spurlos verschwunden. Die 3 jungen Männer und 5 jungen Frauen, die an der Universität von Sorbonne...

 

„Mein Geld?“, fragte der Zeitungsjunge und hielt Sophie fordernd eine Hand hin.

„Ich... ähm...“ Erst jetzt realisierte Sophie, dass es ziemlich dumm war ohne Geld eine Zeitung kaufen zu wollen. Dann spürte sie, wie sich eine kalte Hand auf ihre Schulter legte. Jemand hielt dem Jungen einen Zwanziger hin.

„Nimm das und du hast keinen von uns gesehen.“ Der Junge blickte an Sophie vorbei zu Ten, der hinter sie getreten war. Dann streckte er zwar die Hand nach dem Geld aus, aber Sophie sah genau, dass sie zitterte. Sie wandte den Kopf und sah Ten an. Er hatte den Blick genau auf den Jungen gerichtet und auch wenn er lächelte, konnte Sophie in seinen gelben Augen doch die Drohung blitzen sehen, die er dem Jungen zukommen ließ. Im nächsten Moment hatte der sich umgedreht und war mit seinem Wagen im Schlepptau die Straße entlang und um die nächste Ecke gerannt. Schon spürte Sophie Tens Händedruck auf ihrer Schulter, er schubste sie zurück, sodass ihr Rücken hart gegen den Torpfosten knallte. Dann stellte er sich direkt vor sie, ließ ihr keinen Platz um zu entkommen. Sophies Hand verkrampfte sich um die Zeitung. Sie musste diesen Artikel lesen.

„Weißt du, du hättest auch einfach fragen können, ob du eine Zeitung bekommen kannst.“

„Tut mir...“, begann Sophie um ihn zu beschwichtigen. Aber Ten ließ sie nicht ausreden. Er kam ihr noch näher, seine Hüfte presste gegen ihre, seine Hände fuhren von ihren Lippen ihren Körper hinab, blieben in ihrer Taille liegen.

„Sag das nicht. Nicht wenn du es nicht ernst meinst. Für uns Schatten haben Worte eine weitaus größere Bedeutung als für Menschen. Du musst aufpassen, was du sagst. Ein einfaches „Es tut mir leid“ oder „Dankeschön“, kann dich ein Leben lang in die Schuld des anderen stellen. Sage nie etwas, das du nicht auch so meinst. Und schon gar nicht, wenn du die Konsequenzen nicht kennst.“

„Warum?“, fragte Sophie flüsternd. Mehr brachte sie nicht zu Stande, zu sehr war sie auf das Prickeln in ihrer Brust und ihrem Rücken konzentriert.

„Weil wir nicht lügen können. Die Wahrheit zu sagen gibt den Worten ihre ursprüngliche Kraft zurück.“

„Nein. Ich meine: Warum erzählst du mir das?“

„Weil ich glaube, dass es Zeit ist, dass du mehr über uns erfährst. Immerhin...“ Tens Blick wurde sanft, seine Hände strichen wieder über Sophies Arme nach oben zu ihrem Hals, legten ihren Kopf schief. Er beugte sich nach vorn und Sophie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren. Das Kribbeln wurde fast unerträglich, breitete sich bis in ihre Zehenspitzen aus. Sophie schloss die Augen. Sie wusste nicht, was sie von Ten erwarten sollte. Würde er sie beißen? Sie küssen? „Immerhin wirst du bald eine von uns sein“, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann war er plötzlich weg. Seine Hände verschwanden von ihrer Haut, Sophie spürte seinen Körper nicht mehr an ihrem. Irritiert öffnete sie die Augen. Ten stand nur ein paar Schritte entfernt und streckte ihr die Hand entgegen. Er grinste schelmisch.

„Komm. Du willst dich bestimmt anziehen, bevor wir unseren Unterricht beginnen.“

Schattenlehre

„Womit sollen wir denn nur anfangen?“ Ten ließ sich auf das teuer aussehende Sofa gegenüber von Sophie fallen. Er hatte sie in eine Art Bibliothek geführt. Die Wände des großen, hohen Raumes waren fast ausschließlich mit Bücherregalen bedeckt. Manche davon hatten sogar eine Glaswand um die jahrhundertealten Werke, die sie beherbergten, zu schützen. Vor dem Kamin, über dem ein großes Landschaftsgemälde hing, stand eine Gruppe dunkelroter Ledersofas, die genau so hart waren, wie sie aussahen. Sophie ließ sich vorsichtig darauf sinken.

„Woher kommen die Schatten?“, fragte sie misstrauisch. Sie traute Ten und seiner plötzlichen Fürsorge nicht. Ihre Erinnerung an Freitagnacht war verschwommen und lückenhaft. Sophie konnte sich nicht erinnern, was sie so müde gemacht hatte, dass sie den gesamten Samstag verschlafen hatte.

„Die eigentlichen, die ursprünglichen Schatten sind genau das – Schatten. Ich nehme an, du hast immer gedacht ein Schatten stirbt mit dem Menschen, zu dem er gehört, aber das tut er nicht. Ein Schatten hat nichts körperliches an sich, das verfallen könnte, wieso sollte er also altern und sterben? Ist sein Mensch einmal tot, löst sich der Schatten von ihm und lebt weiter – allein. Solange, bis kein Mensch mehr den Namen seines ursprünglichen, ja sagen wir Besitzers, mehr kennt. Dann verblasst er einfach.“

„Und zu welchem Menschen hast du gehört?“

„Zu niemandem. Es leben Schatten unter uns, die nie zu jemandem gehört haben – das sind die stärksten unserer Art. Das sind die, die eine menschliche Gestalt annehmen können und im Licht nicht sofort erlöschen. Zu dieser Art gehören ich, Zedd, einige andere und bald auch du. Wo genau wir herkommen, oder warum wir anders sind, das kann ich dir nicht sagen. Es wird vermutet, dass irgendwann am Anfang der Zeit, ein Schatten sich in einen Menschen verliebt hat. Und aus dieser Verbindung sind dann wir hervor gegangen. Aber beweisen kann das keiner.“

„Warum kann kein Schattenmädchen aus dieser Gruppe einfach Königin werden? Warum muss ich das sein?“

„Weil es so vorherbestimmt ist. Man kann das Schicksal nicht in Frage stellen.“ Ten sah etwas verwirrt aus, dass Sophie es überhaupt tat. Durch die Tür kam ein Schatten hereingelaufen und brachte ein Tablett mit Kaffee und ein paar Weintrauben. Ten nahm sich eine, Sophie griff nach einer der warmen Tassen. „Es war schon immer so, dass die Königin als Menschenmädchen geboren werden muss. Aber sie ist dazu bestimmt eine von uns zu werden, zu ihrem König zu gehören. Die Dunkelheit wächst im Lauf ihres Lebens in ihr heran, das geht mal schneller und mal langsamer. Und wenn sie so weit ist, dann wird ihr Weg den unseren kreuzen. Wir können dann nichts tun als abzuwarten. Dabei müssen wir ein paar Regeln einhalten. Dazu gehören, dass dem Mädchen durch die Hand eines Schattens nichts geschehen darf. Gleichzeitig ist es aber von Vorteil, wenn sie in gefährliche Situationen gerät, da das ihrer dunklen Seite zu wachsen hilft. Man darf sie auch nicht dazu zwingen, die Schatten in sich zu begrüßen, sie muss sie von alleine finden.“

„Was heißt das?“

„Das hast du schon gesehen. Die starken Schatten, die die in Menschengestalt wandeln können, sie tragen selbst dann ihre eigene dunkle Seite in sich, nur nicht nach außen gekehrt wie bei den anderen. Wenn sie wollen, können sie das nutzen, um ihren eigenen Schatten in ihr gegenüber hineinzuzwängen. Damit können wir die Gedanken eines Menschen kontrollieren oder ihn gar so weit mit unseren Schatten ausfüllen, dass derjenige sich ganz zu einem wandelt. Aber das birgt Gefahren in sich und meistens verblassen so entstandene Schatten innerhalb von wenigen Tagen.“

„Das hast du an meinem ersten Tag hier mit mir gemacht.“

„Nein. Ich meine, ja, ich habe meine Schatten in dich hineingezwängt, sie dich durchströmen lassen, damit sie auf ihrem Weg hinaus vielleicht deine Schatten mitbringen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du so heftig reagieren würdest.“

Sophie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und ließ sich all das durch den Kopf gehen während sie spürte, wie die warme Flüssigkeit sich in ihr ausbreitete.

„Gibt es keinen besonderen Namen für die starken Schatten? Mir schwirrt so langsam echt der Kopf.“ Sophie meinte es nicht wirklich ernst, murmelte nur vor sich hin, erwartete nicht einmal, dass Ten sie hören würde.

„Früher nannte man sie Nox, aber das ist schon sehr lange her. Ein altmodisches Wort.“

„Und was bedeutet, 'sie muss die Schatten alleine finden'?“ Sophie dachte daran, wie Zedd diesen Satz gemurmelt hatte, nach ihrem Kuss in der Metro-Station. Sie war sich jetzt sicher, dass sie sich das nicht nur eingebildet hatte.

„Sie muss von allein, ohne das jemand sie zwingt und sogar ohne, das jemand ihr den Ort des Hofes verraten hätte, den Weg zu ihrem König finden. Wenn sie von alleine nach ihm sucht, dann zeigt das, dass sie jetzt bereit für ihn ist.“

„Das letzte Zeichen.“

„Genau.“ Ten lächelte zu Sophie herüber. Er schien es zu genießen, den Lehrer zu spielen.

„Aber warum klappt es dann bei mir nicht? Vielleicht bin ich ja doch nicht die Richtige.“

„Doch, die bist du. Ich kann deine Dunkelheit, deine Schatten in dir spüren. Und ich bin sicher, du spürst sie auch.“

Sophie wollte darauf keine Antwort geben, aber sie dachte an das Prickeln, dass sie spürte, wenn Ten sie berührte. Dieses Prickeln, das rein gar nichts mit Schmetterlingen im Bauch zu tun hatte. „Wieso sie, Mehrzahl? Du hast doch gesagt, die Nox tragen nur ihre eigene Dunkelheit, nur ihren eigenen Schatten in sich und den können sie dann gegen die Menschen einsetzen.“

„Bei der Königsfamilie ist das etwas anderes. Sie tragen noch mehr Dunkelheit in sich als die restlichen Nox. Sie tragen auch die Schatten derer, die durch ihre Hand gestorben sind.“

„Das heißt... Deine Schatten, die die du manchmal nach mir ausstreckst... Das sind alles Menschen...“

„Und andere Schatten, die ich umgebracht habe, ja.“ Sophie musste schlucken. Sie dachte an Zedds Schatten, die sie liebkost und gestreichelt hatte. Die so sehr ein Teil von ihm waren. Die sie einfach so akzeptiert hatte. Sophie schloss die Augen.

„Ich weiß, was du denkst. Dass du doch noch niemanden umgebracht hast. Aber du bist für den König bestimmt, wir gehören zusammen. Wir werden alles teilen, wenn du erst einmal gewandelt bist – auch die Schatten.“

„Ihr seid Mörder“, brachte Sophie schließlich hervor. Sie dachte an das Mädchen, dessen Blut Ten getrunken hatte, deren Leiche er so achtlos neben sich hatte liegen lassen. Sophie wollte sich nicht vorstellen, dass sie jetzt als einer seiner Schatten in Ten weiterlebte. Bald womöglich auch in ihr.

„Wir sind Schatten, Sophie. Keine Engel.“ Ten stand auf und kam auf sie zu. Er streckte ihr die Hand entgegen um ihr aufzuhelfen. Sophie schluckte ihre Angst herunter. Sie wollte all das nicht, wollte die letzten Tage am liebsten vergessen, aber sie konnte es nicht länger leugnen: Sie gehörte hier her. Und umso mehr sie dagegen ankämpfte, umso schwieriger wurde das alles. Sie stellte ihre Tasse ab und nahm Tens Hand.

„Ich möchte dir gerne meine wahre Gestalt zeigen.“ Sophie nickte nur. Ten zog sie ein wenig von den Sofas weg und in den Raum hinein. Er lief rückwärts, ließ sie nicht aus den Augen. Nach ein paar Schritten ließ er sie los, lächelte und machte nur einen einzigen Schritt von ihr weg. Im Bruchteil dieser Sekunde verschwand der menschliche Ten. Es gab keinen langsamen Übergang, kein Beobachten, wie er vom Einen ins Andere wechselte. Er tat es einfach. Im einen Moment stand er noch einfach so vor Sophie mit seinen sorgsam zurückgekämmten, gleichzeitig aber doch irgendwie verwegen verwuschelten braunen Haaren, dem verschmitzten Lächeln, das seine weißen Zähne zeigte, in seinen Jeans und dem schwarzen Hemd. Und im nächsten Moment sah er sie immer noch an, aus diesen stechenden gelben Augen, aber nichts war mehr so wie vorher. Sein Körper war verschwunden, seine harten Gesichtszüge, der scharf geschnittene Unterkiefer, seine Haare, die am Ansatz einen Tick dunkler waren als in den Spitzen, einfach alles war absoluter Schwärze gewichen. Er sah Sophie an und beobachtete ihre Reaktion. Sophie sah ihn an, versuchte auszumachen, wo er endete und erkannte erst nach ein paar Augenblicken, dass seine Schatten um ihn herumtanzten und ihn damit so aussehen ließen, als hätte er nichts festes mehr an sich, als würde er einfach nur als Schatten durch den Raum wabern. Aber das stimmte nicht. Er war immer noch da, aber er hatte seine Dunkelheit nach außen gekehrt, sodass es Sophie schwer fiel ihn im Dämmerlicht des Raumes auszumachen. Dann entdeckte sie die Flügel.

Aus Tens Rücken entsprossen zwei riesige, schwarze Flügel. Sophie konnte sie über seinen Schultern sehen und als sie um ihn herum ging, sah sie, dass ihre Spitzen fast den Boden berührten. Sie spürte, dass Ten sie noch immer aus dem Augenwinkel beobachtete, aber es scherte sie nicht. Beim Anblick der Schattenflügel lief ihr ein Schaudern über den Rücken. Sie spürte das Kitzeln zwischen ihren eigenen Schulterblättern wieder. Jetzt wusste sie endlich, was es zu bedeuteten hatte. Sophie hatte gar nicht darüber nachgedacht, aber sie hatte die Hand nach Tens Flügeln ausgestreckt. Sie musste wissen, wie sie sich anfühlten. Waren sie kalt und hart wie Stein, so wie die Schatten? Oder würden sie unter ihrer Berührung einfach verschwimmen, als wären sie nichts als eine Illusion? Ihre Fingerspitzen glitten über weiche Federn. Es war zu dunkel um die eine von der anderen unterscheiden zu können, aber Sophie konnte sie spüren.

„Hast du Angst?“, fragte Ten auf einmal.

„Nein“, antwortete Sophie. Sie hatte jetzt auch den anderen Arm gehoben, vergrub ihre Finger so weit sie konnte in Tens weichen Flügeln. Sie war fasziniert. So etwas hatte sie noch nie gefühlt. „Spürst du das?“

„Ja. Und es gefällt mir.“ Plötzlich drehte Ten sich um, hielt Sophie in den Armen. Sie spürte, wie sich hinter ihr seine Flügel um sie beide schlossen und genoss das Gefühl. Sie fühlte sich, als wäre sie mit ihm ganz allein auf der Welt. Was ihr gleichzeitig einen wohligen Schauer über den Rücken jagte und sie vor Angst Gänsehaut bekommen ließ. Dann spürte sie seine Finger unter ihrem Kinn, sie hob den Kopf und spürte seine Lippen auf ihren. Natürlich kehrte das Kribbeln zurück, das Gefühl, das etwas aus ihr ausbrechen wollte. Aber Sophie fühlte sich besser damit, jetzt wo sie es einordnen konnte. Sie erwiderte Tens Kuss.

„Du bist meine Königin. Sag mir was ich für dich tun kann und ich werde alles in meiner Macht stehende tun um dir deinen Wunsch zu erfüllen.“ Tens Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, er hielt sie immer noch mit seinen eiskalten, starken Armen fest, aber Sophie war trotzdem warm. Sie überlegte nicht lange, sie wusste, was sie wollte.

„Ich will, dass du Zedd frei lässt.“ Sie spürte, wie Ten sich versteifte. Im nächsten Augenblick stand er wieder in seiner Menschengestalt vor ihr. Sophies Hände lagen an seiner Brust, sein Hemd war auf einmal aufgeknöpft, aber Sophie zog sie nicht zurück. Sie erwiderte lediglich seinen Blick. In Ten schien ein Kampf zu toben, als wüsste er nicht recht, was er tun sollte.

„Ich habe dir ein Versprechen gegeben“, sagte er schließlich. „Und das Versprechen eines Schattens ist immer bindend.“

„Dann wirst du es tun?“

„Ja.“ Ten löste eine Hand von ihr und streckte sie aus. Daraus hervor kroch einer seiner Schatten. „Holt meinen Bruder aus seiner Zelle und bindet ihn in meinem Beratungszimmer wieder fest.“

„Aber du hast gesagt...“

„Ich werde ihn frei lassen, aber noch nicht sofort. Er hat seine Strafe noch nicht abgesessen. Aber ich habe da eine Idee, wie wir sie verkürzen könnten.“ Ten sah wieder zu Sophie. Sein Lächeln war jetzt eiskalt und hatte etwas grausames an sich. Sofort ließ Sophie ihn los. Diesen Ausdruck hatte sie seit Donnerstag nicht mehr gesehen. Er machte ihr Angst. „Ich werde jemanden herschicken, der dich abholt, sobald alles bereit ist.“ Dann ließ er sie los und war schon zur Tür hinaus, ehe Sophie auch nur einen Schritt machen konnte. Sie hörte, wie ein Schlüssel gedreht wurde und rannte zur Tür, aber es war schon zu spät. Sie war eingeschlossen.

 

Sophie saß auf einem der Sofas, hatte die Knie angezogen und den Kopf darauf gelegt. Sie hatte es nicht einmal über sich gebracht die Vorhänge vor den wenigen Fenstern aufzuziehen und zu versuchen so zu entkommen. Sie war sich sicher, dass es sowieso keinen Sinn hätte. Sie saß einfach nur da und versuchte die schmerzhaften Erinnerungen zu vertreiben, die aus irgendeinem Grund gerade wieder den Weg in ihr Gehirn fanden. Irgendwann hörte sie, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Sie hörte das leise Quietschen der Angeln, dann Schritte. Aber sie drehte sich nicht um.

„Mademoiselle?“ Es war ein Mann, der sie da ansprach. Er hatte eine sehr angenehme Stimme. Sophie konnte spüren, dass er noch einige Meter hinter ihr stehen geblieben war.

„Der König erwartet Sie in seinem Beratungszimmer.“ Zögernd drehte Sophie sich um. Der Mann sah aus wie Anfang Zwanzig, seine blonden Haare hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Seine grünen Augen waren zu stechend um zu einem Menschen zu gehören. „Er hat mich geschickt Sie dorthin zu begleiten.“ Sophie ahnte, dass sie nicht wirklich eine Wahl hatte. Und die Aussicht möglicherweise Zedd zu sehen, beschleunigte ihren Herzschlag. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Handy. Zweieinhalb Stunden war sie hier festgesessen. Dann folgte sie dem Mann ins Erdgeschoss. Er führte sie zu einer der beiden Türen hinter dem Podest in der großen Halle und öffnete sie für sie. Sophie betrat den überraschend kleinen, fensterlosen Raum, der von einer altmodischen Schreibtischlampe gerade so erhellt wurde. Hinter ihr fiel die Tür wieder ins Schloss, ihr Begleiter hatte sie verlassen. Sie war allein mit Ten – und Zedd. Er war an die hintere Wand gekettet und sah aus, als könnte er sich gerade so selbstständig auf den Beinen halten. Seine Hände hingen schlaff in den Handschellen von der Decke. Er hob nicht mal den Kopf als Sophie eintrat. Die ignorierte Ten, rannte an dem komischen Sofa vorbei, direkt zu Zedd. Ihre Hände schlossen sich um sein Gesicht, sie drehte seinen Kopf zu sich. Seine Lider flatterten und er öffnete langsam die Augen.

„Sophie“, brachte er flüsternd hervor.

„Zedd, ich bin hier. Ich bin hier. Was haben sie dir angetan?“ Sophie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Zedd schien Mühe zu haben, den Blick fokussiert auf sie zu richten.

„Wir haben ihn in einen Raum eingesperrt und das Licht angelassen. Er ist zwar ein sehr starker Schatten, aber selbst er braucht hin und wieder ein wenig Dunkelheit.“ Sophie erkannte an Tens Stimme, dass er ihr gefolgt sein musste, nicht weit von ihr entfernt stand. Sie wandte den Blick jedoch nicht von Zedd ab.

„Hier, gib ihm das. Dann wird er sich gleich besser fühlen.“ Jetzt wandte Sophie sich doch um. Ten hielt ihr eine Flasche entgegen, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Sophie sah sie misstrauisch an. „Es ist nur Wasser mit ein wenig Zucker gemischt.“ Er kann nicht lügen, sagte sie sich. Aber vielleicht ist Zucker giftig für Schatten? Ten schien in ihrem Blick zu lesen, dass sie noch nicht überzeugt war. Er verdrehte die Augen.

„Es ist vollkommen ungefährlich. Hier“, Ten nahm einen kleinen Schluck aus der Flasche, „siehst du?“ Erst jetzt griff Sophie danach und ließ Zedd vorsichtig trinken. Als die Flasche leer war, sah er schon viel besser aus. Sophie konnte nichts sagen, sie wusste nicht was. Sie stand einfach nur da, hielt Zedd fest und sah ihm in die Augen. Daran änderte sich auch nichts, als sie hörte, wie die Tür wieder auf und zu ging.

„Ah gut, ihr seid da“, sagte Ten zu den Neuankömmlingen. Zedd versuchte an Sophie vorbei zu sehen, aber sie war noch nicht bereit ihn wieder loszulassen.

„Sie?“, fragte eine extrem tiefe, raue Männerstimme.

„Ja.“ Sophie hörte das Lächeln in Tens Stimme. Nicht das warme, fürsorgliche. Sondern das kalte, bedrohliche. Sie bekam sofort eine Gänsehaut. Aber sie kam nicht mehr dazu sich umzudrehen. Auf jeder Seite packten zwei starke Männer nach ihren Armen, zogen sie von Zedd weg.

„Was soll das? Lasst mich sofort los!“, verlangte sie, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

„Ten, was hast du vor?“ Zedd suchte den Blick seines Bruders. Er sah entgeistert aus und Sophie überkam die Vermutung, dass er bereits wusste, was geschehen würde. Es sah aus als würde es ihm Angst machen. Sophie versuchte noch einmal sich zu wehren, aber sie hatte keine Chance. Die zwei Männer legten sie auf das liegeähnliche Sofa, das überraschend hart war. Sie ließen sie nicht los, auch nicht, als ein dritter Mann neben der Liege auftauchte. Sein Gesichtsausdruck war hart wie Stein, als er auf Sophie nach unten blickte. Sie versuchte nach ihm zu treten, aber er fing ihren Fuß ab und setzte sich rittlings auf sie. Sophie spürte seine Knie an ihrer Hüfte, die Hände seiner Helfer viel zu fest an ihren Oberarmen.

„Nein“, wimmerte sie. Sie erkannte die Situation wieder, auch wenn es damals nur einer gewesen war.

„Bist du verrückt geworden?“, brüllte Zedd seinen Bruder jetzt an.

„Es sind Menschen. Und so etwas hätte längst passieren sollen. Es wäre längst passiert, wenn du sie nicht gerettet hättest. Zwei Mal sogar, wenn ich mich recht erinnere?“ Sophie versuchte an ihrem Peiniger vorbei zu Ten zu schauen, der sich neben seinen gefesselten Bruder gestellt hatte.

„Du mieses Schwein“, schrie Zedd und spuckte nach ihm. Er traf Tens Hals, aber der ging nicht auf die Provokation ein. Gleichgültig wischte er sich Zedds Speichel ab und lächelte Sophie an, als ihre Blicke sich kreuzten. Sophie fragte sich, wie er jemals fürsorglich auf sie gewirkt haben konnte.

„Was habst du dich denn so? Sonst hast du doch immer gerne zugesehen“, sagte Ten zu seinem Bruder ohne jedoch die Augen von Sophie zu lösen. Zedd bäumte sich auf, versuchte seinen Ketten zu entkommen, aber es war sinnlos, Sophie konnte es sehen. Sie selbst rührte keinen Muskel mehr, konnte es nicht. Sie war vor Angst wie eingefroren, spürte kaum wie der Kerl sie auszog, wandte lediglich den Blick an die blanke weiße Decke und ließ es einfach geschehen. Genau wie damals.

 

Als sie fertig waren, blieb Sophie einfach liegen. Sie versuchte verzweifelt sich einzureden, sie hätte nur einen Alptraum, aber sie spürte, wie die Tränen ihr stumm über die Wangen liefen, spürte die Schmerzen in ihrem Unterleib, spürte die Kälte, die sie erfasst hatte und am ganzen Körper zittern ließ. Ten kam zu ihr, sah sie einen Moment lang an und deckte sie zu. Dann wandte er sich an die drei Männer. Er zog ein großes Bündel Geld aus seiner Tasche und reichte es dem Anführer. Der nahm es an, zählte nach, nickte und ging dann mit seinen Kumpanen hinaus. Durch die offene Tür strömten einige Schatten herein und Ten gab ihnen die Anweisung Zedd loszubinden. Der hatte es irgendwann aufgegeben seinen Bruder zu beschimpfen und sich gegen seine Fesseln zu wehren. Aber sobald er jetzt losgebunden war, stürzte er sich auf Ten. Die Schatten konnten ihn nicht halten.

Er schlug auf Ten ein, traf ihn erst am Bauch, sodass Ten sich krümmte und dann mit einem Haken zielsicher am Kinn. Zedd bewegte sich so schnell, dass Sophie seine Bewegungen kaum wahrnahm. Aber dann begann Ten sich zu wehren, auch die Schatten griffen wieder ein und es ging nicht lange, da lag Zedd am Boden. Drei Schatten hielten ihn nach unten gedrückt und Ten stand über ihm, sah ihn an und rieb sich den verletzten Kiefer. Seine Lippe war aufgeplatzt und ein wenig Blut tropfte auf sein Hemd.

„Du hättest wissen sollen, dass es keinen Sinn hat gegen mich zu kämpfen, Bruder.“

„Ich bringe dich um Ten, das schwöre ich dir. Das werde ich dir nicht verzeihen“, entgegnete Zedd.

Ten lachte nur, beugte sich ein wenig zu ihm herunter und sagte leise: „Man soll keine Versprechungen machen, die man nicht halten kann.“ Dann richtete er sich in einer fließenden Bewegung wieder auf. „Bringt ihn in sein Zimmer und sorgt dafür, dass er da bleibt. Vorerst.“ Die Schatten trugen Zedd hinaus und Sophie blieb allein mit Ten zurück. Er kam zu ihr, setzte sich neben sie auf die Ottomane. Die Kälte war wieder aus seinem Gesicht gewichen und als er Sophie jetzt ansah, schien er ernsthaft besorgt zu sein. Er strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Ich weiß, du kannst das jetzt noch nicht verstehen, aber glaub mir. Es war das Richtige für dich.“ Ten beugte sich herunter und hauchte Sophie einen Kuss auf die Lippen. Es war das erste Mal, dass sie bei Tens Berührung kein Kribbeln verspürte. Alles was sie spürte waren Angst, Abscheu, Ekel und Schmerz. Ten zog sich wieder von ihr zurück, sah sie an.

„Wahrscheinlich musst du es erst ein Mal verarbeiten, bevor es wirken kann.“ Er lächelte, streichelte ihr über die Hand. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“

„Lass mich allein“, antwortete Sophie tonlos. Sie hatte keine Kraft mehr für alles andere. Ten nickte verständnisvoll, stand auf und war im nächsten Moment verschwunden. Sophie rollte sich zusammen und weinte.

Der letzte Kampf

Sie wollte sich am liebsten nie wieder bewegen, wollte einfach verschwinden, sich in Luft auflösen. Aber das konnte sie nicht. Als ihr irgendwann die Tränen ausgingen und ihr Körper nicht mehr von Krämpfen geschüttelt wurde, wollte Sophie keine Sekunde länger in diesem Raum bleiben. Sie stand auf, zog sich an und ging ins Badezimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab und dankte dem Gott an den sie nicht glaubte dafür, dass sie niemandem auf den Gängen begegnet war. Sie zog sich aus und nahm eine warme Dusche. Sie wusch sich so oft, schrubbte ihre Haut so stark, dass sie rot und wund wurde. Aber Sophie fühlte sich auch danach nicht besser. Zumindest nicht viel.

Sie schleppte sich kraftlos in ihr Zimmer, schloss auch hier die Tür hinter sich ab und schob den altmodischen Riegel vor. Sie spürte ihren leeren Magen grummeln, ließ sich aber trotzdem nur auf ihr Bett fallen, schlang die Decke eng um sich herum und schlief ein.

„Sophie, darf ich reinkommen?“ Sie erkannte Zedds Stimme sofort und setzte sich ein wenig in ihrem Bett auf, ehe sie ihn herein bat. Sobald sie fertig war, schnappte der Riegel an der Tür automatisch zurück und der Schlüssel drehte sich um. Zedd kam vorsichtig herein.

„Wie geht es dir?“, fragte er. Ganz langsam nur kam er näher, als hätte er Angst sie könnte vor ihm weglaufen. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Zu irgendetwas mussten die jahrelangen Therapiestunden ja gut gewesen sein. Du kannst nicht allen misstrauen, Sophie, hatte ihr Therapeut immer wieder gesagt. Und irgendwann hatte sie erkannt, dass er Recht hatte. Jemand hatte ihr weh getan, aber dieser jemand war nicht Zedd gewesen.

„Beschissen“, antwortete sie. Selbst hier konnte sie spüren, dass ihr ganzer Körper schmerzte. „Wir träumen, oder?“

„Ja. Jetzt wo ich endlich nicht mehr von Silber umgeben bin, geht das wieder.“

„Silber?“

„Die Zelle, in die Ten mich gesteckt hatte, war daraus. Und die Ketten. Es hemmt unsere Fähigkeiten, verhindert, dass wie die Gestalt ändern oder durch Träume wandeln können.“ Zedd war jetzt am Bett angekommen, ließ sich vorsichtig auf der Kante nieder. „Es tut mir so unendlich Leid, Sophie. Ich..“

„Sag das nicht. Ich will nicht, dass du in meiner Schuld stehst oder so. Du hast die Kerle ja nicht bezahlt. Das war dein Bruder.“ Sophie wurde schlecht beim Gedanken an die fremden Männer. Sie ließ sich nach vorn sinken und legte den Kopf an Zedds Schulter. Sie spürte, wie die Tränen ihr schon wieder in die Augen stiegen. „Können wir wo anders hingehen?“
„Wohin willst du?“

„An einen Ort, der mich nicht an Ten erinnert.“ Sie spürte wie Zedd die Arme um sie schlang.

„Besser?“ Sophie blickte vorsichtig auf. Sie waren auf dem Dach eines relativ hohen Gebäudes. Über ihnen glitzerten tausende Sterne am Himmel, um sie herum die Lichter des nächtlichen Paris. Das war es, was Sophie bewies, dass dies kein realer Ort war. In Paris konnte man niemals die Sterne sehen und schon gar nicht so viele auf einmal. Sophie verschränkte ihre Finger mit Zedds – sie war noch nicht bereit ihn wieder loszulassen – und sah in den Himmel. Eine Zeit lang schwiegen sie beide, genossen einfach nur, dass sie zusammen waren.

„Wie viele Menschen hast du getötet?“, fragte Sophie irgendwann.

„Was hat Ten dir erzählt?“

„Dass die Schatten, die du in dir trägst Menschen und Schatten sind, die du getötet hast.“

„Aber... Das ist nicht wahr.“ Zedd sah Sophie stirnrunzelnd an.

„Ich dachte, ihr könnt nicht lügen.“

„Was genau hat er dir gesagt?“ Sophie versuchte sich daran zu erinnern, wusste, dass es der genaue Wortlaut war, der hier Bedeutung hatte.

„Er hat gesagt, dass Mitglieder der Königsfamilie auch die Schatten derer in sich tragen, die durch ihre Hand gestorben sind.“

„Also glaubt er es mittlerweile wirklich.“

„Was?“

„Als unser Vater noch gelebt hat, hat er diese Schatten getragen. Es sind die Schatten derer, die durch Königshand gestorben sind und eigentlich sollte auch nur der König sie tragen.“ Zedd seufzte. „Und genau das bereitet Ten Sorgen. Er weiß nicht, was es bedeutet, dass ich sie auch nach wie vor in mir trage.“
„Weißt du es?“

„Nein. Sobald ein König stirbt, wird sein ältester Sohn der nächste König. Die Schatten fließen automatisch zu ihm über. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte kein König sein. Also habe ich verzichtet und die Schatten sind zu Ten weitergezogen. Aber nicht alle. Ein paar sind bei mir geblieben. In der realen Welt kann ich sie nicht so einfach kontrollieren wie Ten es kann, aber im Traum...“ Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen ließ Zedd seine Schatten los. Sie strichen unruhig um Sophie und ihn herum.

„Soll das heißen, dass eigentlich du König hättest sein sollen?“

„Ja. Ich bin vier Jahre älter als Ten. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht in der Pflicht stehen zu töten und besonders nicht... nicht so. Mindestens zwei Mal im Jahr, muss der König auf die Jagd gehen. Er tötet einen Menschen, raubt ihm seine Lebenskraft um damit dann die Schatten am Leben zu erhalten. Es ist eine Notwendigkeit und ich verurteile Ten nicht dafür, dass er es tut, aber ich wollte das nicht. Ich war zwar der Ältere, aber Ten war der Reifere. Er kam viel besser mit der Rolle klar, als ich. Also habe ich sie ihm überlassen.“

„Aber das ist nicht, was Ten tut. Er tötet nicht, um die Schatten am Leben zu erhalten. Er tötet aus Spaß.“ Sophie dachte an das blonde Mädchen. „Ich habe es gesehen“, flüsterte sie.

„Bist du dir sicher?“

„Seit Januar sind 53 Studenten in Paris spurlos verschwunden. Knapp die Hälfte davon sind nach ein paar Wochen tot wieder aufgetaucht. Und das letzte Mal, als gleich Acht Leute auf einmal verschwunden sind... Ten hat ein Fest gefeiert, am Freitag. Die Studenten waren da. Ten hat einer das Blut ausgesaugt bis sie tot war. Er hat sie einfach da liegen lassen. Es war ihm egal. Ich... Wieso tut er das?“ Zedd nahm Sophie in den Arm, strich ihr beruhigend über den Rücken.

„Ich will das nicht glauben. Damit setzt er uns alle einer großen Gefahr aus. Die Menschen dürfen uns auf keinen Fall entdecken. Ich verstehe nicht, warum er so etwas tun sollte.“

„Er will den Schatten eine Freude machen, glaube ich.“ Zedd antwortete nicht auf Sophies Vermutung. „Er will... Er will beweisen, dass er der bessere, der wahre König ist und nicht du.“ Sophie löste sich von Zedd, sah ihn an. Plötzlich hatte sie all das hier verstanden. Es war, als hätte sie das eine Teil gefunden, dass das Puzzle komplett machte. „Er hat Angst, du könntest ihn stürzen.“

„Auf diese Idee bin ich nicht einmal gekommen.“
„Aber er schon. Deswegen hat er dich so hart bestraft. Er will beweisen, dass er stärker ist als du. Deswegen nagt es so an ihm, dass ich noch immer nicht seine Königin bin.“ Sophie biss sich auf die Unterlippe. „Glaubst du wirklich, dass ich noch nicht so weit bin? Ich meine... Wenn Ten mich berührt... Oder wenn du mich berührst, dann kann ich die Flügel schon in meinem Rücken kitzeln spüren.“

„Ich weiß es nicht.“ Zedd blickte Sophie in die Augen. „Ich habe es mir nur so sehr gewünscht, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass Ten dich berühren, dich küssen, mit dir das Bett teilen würde. Aber du bist die wahre Königin und du gehörst zum König.“

„Ja. Nur... Nur dass Ten nicht der wahre König ist. Zedd, ich verstehe es jetzt! Deswegen wirken seine Küsse nicht. Deswegen bin ich immer noch ein Mensch. Ich spüre zwar das Kribbeln, weil mein Körper auf das Königsamt reagiert, aber das ist nicht genug. Weil du eigentlich König sein solltest. Deswegen spüre ich das Kribbeln auch, wenn du mich berührst. Aber erst wenn du König bist, wenn beides vereint ist, dann werde ich mich wandeln können.“ Zedd sah Sophie nur an, gab keine Antwort. Sie konnte nicht sagen, was er dachte. „Ergibt das irgendeinen Sinn?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja. Gott, ja. Sophie, das ergibt schon fast zu viel Sinn. Was sollen wir nur tun?“ Jetzt war es Zedd, der den Kopf an Sophies Schulter begrub.

„Ten muss dir die Königswürde zurückgeben.“

„Das wird er nie tun.“

„Aber es gibt keine andere Möglichkeit!“

„Doch. Eine.“ Zedd löste sich wieder von ihr, konnte sie aber nicht ansehen, als er fortfuhr. Auf einen Schlag verschwanden die Schatten wieder in ihm. Die Stadt um sie herum war mucksmäuschenstill, während Zedd auf sie hinaus blickte. „Ten muss sterben.“ Sophies Herz schlug viel zu schnell, zu stark. Sie spürte es in ihrer Brust flattern.

„Würde er dann zu einem deiner Schatten werden, wenn du... wenn wir ihn umbringen?“ Sie war selbst erstaunt, wie kalt sie klang.

„Nein. Nur die, die gebraucht werden um den Hof am Leben zu halten, bleiben bei König und Königin.“ Zedd sah sie nach wie vor nicht an. Sophie legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter, drehte ihn zu sich.

„Ich glaube, wir haben keine Wahl.“

 

Sophie hatte es nicht über sich gebracht etwas zu essen. Allein beim Gedanken daran, was sie vorhatten, wurde ihr schon schlecht. Aber sie und Zedd hatten noch lange darüber gesprochen. Sie wussten, dass Sophie immer zwischen den Brüdern stehen würde. Sie ahnten, dass Ten alles tun würde, um sie zu seiner Königin zu machen. Das hatte er ja auch schon bewiesen. Wenn er dahinterkam, dass sie nicht richtig auf ihn reagierte, weil die Königswürde eigentlich Zedd zustand... Solange beide Brüder am Leben waren, gab es keinen anderen Ausweg. Trotzdem wollte Sophie Ten zunächst zur Rede stellen. Ihn fragen, was all das Töten sollte. Aber sie hatte eine Scheiß Angst davor.

Sie wollte Ten auf einer guten Seite erwischen. Deshalb zog sie eines der altmodischen Kleider aus dem Schrank an, legte das Parfüm auf, dass er ihr geschenkt hatte. Sie bezweifelte, dass es reichen würde.

Zedd hatte ihr gesagt, dass Ten den Vormittag in der Regel in seinem Arbeitszimmer verbrachte. Er kümmerte sich um die Aktien und die Immobilien, die die Schatten besaßen, um Abrechnungen und Lohnzahlungen der Angestellten und trank währenddessen ein Glas von seinem teuren Whisky. Und das wichtigste dabei: er arbeitete allein.

Sophie stand jetzt vor der dunklen Tür, blickte hinüber zu der anderen, hinter der das Beratungszimmer lag. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, als sie versuchte die Kontrolle zu behalten. Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Sie hoffte, dass Zedd wirklich keine Probleme damit haben würde, sich aus dem Fenster in seinem Zimmer in den Vorhof abzuseilen, ohne dass es jemand bemerkte. Aber draußen schien die Sonne – das erhöhte ihre Chancen. Sophie atmete noch einmal tief durch bevor sie klopfte.

„Herein!“, klang Tens Stimme durch die Tür. Sophie öffnete sie vorsichtig. „Ah, Sophie. Wie schön, dass du zu mir kommst. Geht es dir besser?“ Ten legte seinen Stift zur Seite und klappte seinen Laptop zu. Entspannt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und lächelte sie an.

„Ja. Ich verstehe jetzt, warum du das getan hast.“ Sophie schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel vor.

„Was machst du da?“, fragte Ten noch ehe sie sich wieder umgedreht hatte.

„Ich will nicht, dass wir gestört werden.“ Sie zwang sich, das Lächeln aufzusetzen, dass sie oben im Badezimmer vor dem Spiegel geübt hatte. Erst dann drehte sie sich wieder um. Ganz langsam ging sie auf Ten zu, lockerte die Schnürung an ihrem Kleid etwas. Ten folgte ihren Bewegungen genau. Er schien keinerlei Verdacht zu schöpfen. Sophie klopfte das Herz bis zum Hals. Noch immer mit ihrem falschen Lächeln im Gesicht umrundete sie den Schreibtisch, stellte sich vor Ten. Viel zu dicht, wie sie fand. Aber sie ließ es zu, dass er die Hände nach ihrer Hüfte ausstreckte und sie auf seinen Schoß zog. Sie musste ihn lang genug ablenken, damit Zedd durch eines der großen Fenster in den Raum einsteigen konnte.

„Ich wusste, du würdest es verstehen.“ Seine Hände fuhren ungeniert ihren Körper entlang nach oben, über ihre Brüste, spielten mit ihren Haaren und streichelten ihr vorsichtig über die Wange. „Bist du so weit?“, fragte er. Sophie sah Ten in die Augen und fragte sich, wie sie je geglaubt haben konnte, dass das Zedds Augen waren. Sie nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Fenster wahr, tat aber so, als hätte sie es nicht gesehen.

„Ja“, antwortete sie leise. Sie spürte Tens Hände in ihrem Rücken, in ihrem Nacken, spürte das Kitzeln und Kribbeln an ihrem ganzen Körper. Sie wusste, was er wollte, wusste es war falsch und sollte sie anekeln und doch wollte ihr Körper es auch. Sie gab nach, musste nachgeben und beugte sich etwas hinunter um ihn zu küssen. In diesem Moment schlug Zedd die Fensterscheibe ein.

Sofort ließ Ten von ihr ab, schubste sie zurück, sodass sie gegen die Schreibtischplatte knallte. Ten sprang auf, wandte sich seinem Bruder zu und schien sie für den Moment vergessen zu haben. Aber Zedd kletterte nur durch das Fenster herein, blieb dann gleich wieder stehen und hob die Arme. Es half nicht viel. Tens Schatten schlüpften aus ihm heraus, umkreisten Zedd, schienen nur auf den Befehl zu warten ihn anzugreifen.

„Was willst du?“, fauchte Ten seinen Bruder an.

„Dir eine Frage stellen.“ Zedd machte einen Schritt auf ihn zu. Sofort fauchten die Schatten ihn wütend an, zogen den Kreis um ihn näher. Also blieb er wieder stehen. „Hast du wirklich 53 Studenten entführt und getötet – und das seit Januar?“

„Nein. So viel Zeit habe ich nicht.“
„Soll das heißen, du hast sie allein auf die Jagd gehen lassen?“

„Ja.“ Sophie hörte das Grinsen in Tens Stimme. Er wusste genau, dass das Zedd wütend machen würde. Ihr Bauch zog sich krampfhaft zusammen. Irgendwie schien sie doch noch gehofft zu haben, das Ganze ohne Gewalt regeln zu können.

„Sag mal hast du sie noch alle?“, fuhr Zedd seinen Bruder an. Dann ging alles ganz schnell. Tens Schatten gingen auf Zedd los, sprangen ihn von allen Seiten an und er ging zu Boden. Aber er war nicht verletzt und schaffte es, seine eigenen Schatten loszulassen. Sie verwickelten Tens in Kämpfe, lenkten sie von Zedd ab und gemeinsam bildeten sie eine Wand aus Dunkelheit zwischen den Brüdern.

„Du weißt, dass du diesen Kampf nicht gewinnen kannst!“, schrie Ten ihr entgegen. In diesem Moment griff Sophie ins Geschehen ein. Endlich einmal fühlte sie sich nicht wie vor Angst gelähmt, wenn ihr Gefahr drohte. Endlich einmal würden sich drei Jahre voller Selbstverteidigungs- und Karate-Kurse auszahlen. Ihre einzige Sorge war, dass Ten sich zu schnell bewegen würde, als dass sie ihn schnappen könnte. Aber er hatte nicht mit dem Angriff von hinten gerechnet und Sophies Tritt traf genau. Sofort ging Ten auf die Knie. Sophie schnappte sich seine Arme, drehte sie ihm auf den Rücken. Er kam nicht mehr weg.

„Sophie, meine Königin, was tust du?“, fragte er irritiert, aber Sophie antwortete nicht. Sie durfte sich nicht ablenken lassen.

„Jetzt!“, rief Sophie Zedd durch die Schatten zu und er trat einfach hindurch. Schweiß perlte auf seiner Stirn, als müsste er sich enorm konzentrieren, um die Schatten in den Kämpfen zu halten, aber er tat es. Ten sah von unten zu seinem Bruder auf. Der zückte jetzt ein Messer, erwiderte Tens Blick.

„Du wirst mich nicht umbringen“, sagte Ten kalt. „Du warst immer schon zu schwach um ein richtiger König der Schatten zu sein. Daran hat sich auch jetzt nichts geändert. Du hast den Mut dazu nicht.“ Sophie konnte sehen, wie Zedds Griff um das Messer sich verstärkte, wie er die Zähne aufeinander presste.

„Tut es dir wenigstens Leid um die Leben, die du genommen hast in den letzten Monaten?“

„Wegen den paar Menschen?“ Ten hatte tatsächlich den Nerv darüber zu lachen. „Natürlich nicht. Ihr Leben wäre sowieso bald geendet.“

„Falsche Antwort“, gab Zedd zurück. Mit einer blitzschnellen Bewegung rammte er Ten das Messer in die Brust. Sophie spürte, wie er gegen sie fiel, hörte ihn röcheln. Zedd beugte sich herunter, flüsterte seinem Bruder etwas ins Ohr, aber Sophie verstand jedes Wort. „Du weißt, dass ich meine Versprechen einlöse.“ Dann zog er mit einem Ruck das Messer wieder heraus und ließ es achtlos neben sich zu Boden fallen. Erst jetzt bemerkte Sophie, dass all die Schatten mittlerweile verschwunden waren. Vorsichtig ließ sie Ten zu Boden gleiten, kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie weinte, aber sagte kein Wort. Ten atmete schwer, das Blut breitete sich immer weiter um seine Wunde aus. Sein Blick hielt Sophie fest. Dann starb er.

Nur einen winzigen Augenblick lang lag er noch da, in Sophies Armen und sah starr zu ihr herauf. Dann löste er sich in Rauch und Schatten auf. Der Rauch verschwand, aber die Schatten blieben etwas orientierungslos zurück. Dann stürmten sie auf Zedd zu, drangen in ihn ein. Der zuckte zusammen, bei jedem Schatten, der in ihn hinein fuhr. Er presste beide Hände auf die Brust, würgte. Er hatte die Augen geschlossen. Plötzlich war es vorbei, Zedd stand ganz still. Sophie war sich sicher, dass er nicht einmal atmete. Sie wartete.

„Zedd?“, fragte sie schließlich irgendwann vorsichtig. Da nahm er einen scharfen Atemzug, riss die Augen wieder auf und sah sie an. Hinter ihm tauchten die riesigen schwarzen Flügel auf, die sie schon von Ten kannte – nur dass Zedd ansonsten noch immer seine menschliche Gestalt hatte.

„Ja. Ich bin hier.“ Er reichte ihr die Hände und half ihr auf.

„Bist du in Ordnung?“

Zedd sah an ihr vorbei zu der Stelle, an der Ten gestorben war. Es war nicht einmal ein Blutfleck im Teppich zu sehen. „Er war trotz allem noch mein Bruder, weißt du.“ Sophie berührte ihn sanft an der Wange, antwortete jedoch nicht. Er lächelte sie ein wenig traurig an, legte die Hand auf ihre. „Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte er.

„Es ist mein Schicksal, oder nicht?“

„Vielleicht muss es nicht so kommen. Ich... wenn du willst, lasse ich dich gehen.“ Sophie sah durch die Fenster hinaus auf den Innenhof. Fühlte sich, als könnte sie durch die Gebäude hindurch blicken, hinaus in die Stadt auf ihr altes Leben.

„Ich will weiter studieren. Ich... will meine Freunde behalten, so gut das eben geht. Aber ich gehöre hier her. Ich kann es spüren.“ Sie sah wieder Zedd an. „Und es ist die einzige Möglichkeit um bei dir zu sein. Ja“, sagte sie schließlich, „ich will es so.“ Zedd lächelte sie an, beugte sich ganz langsam herunter und küsste sie. Zärtlich, ohne Druck. Das Kribbeln war nicht anders als sonst, aber als er von ihr abließ, spürte sie die Veränderung. Sie brach zusammen.

Sophie lag auf dem Boden und zuckte. Es fühlte sich an, als würde ihr innerstes explodieren. Ein glühheißer Schmerz fuhr ihren Rücken hoch, bis in die Schultern, als würde jemand ihr jeden einzelnen Wirbel brechen. Sophie schrie und schrie. Sie spürte nicht einmal Zedds Hände, die versuchten sie zu trösten. Dann war es vorbei. Sophie atmete noch schwer, aber sie hatte keine Schmerzen mehr. Vorsichtig setzte sie sich auf, sah Zedd, der vor ihr in die Hocke gegangen war. Sie fühlte sich nicht, als wäre sie eine ganz neue Person, aber sie fühlte sich definitiv anders. Sie hob die Hand, sah fasziniert zu, wie sie zu einem Schatten wurde nur um dann wieder ihre menschliche Gestalt anzunehmen, als Sophie es wollte. Sie blickte sich über die Schulter, sah die schwarzen Flügel, die ihr aus dem Rücken sprossen und bewegte sie vorsichtig. Wie Zedd hatte sie zwar die Flügel, aber ansonsten ihre menschliche Gestalt. Das erschien ihr leichter als auch diese Schatten in sich einzuschließen. Zumindest für den Moment.

„Meine Königin“, flüsterte Zedd und Sophie wandte ihm den Blick zu. Er nahm ihre Hände und zog sie wieder hoch, zog sie eng an sich. Dann küsste er ihren Handrücken. Sophie spürte ein Kribbeln im Bauch, aber zum ersten Mal hatte es nichts mit den Schatten zu tun. Sie spürte wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, bei diesem Gedanken. Zedd lächelte zurück und endlich verschwand der sorgenvolle Ausdruck aus seinen Augen. Wieder beugte er sich herunter und küsste sie. Sophie schlang ihm die Arme um den Hals, presste sich gegen ihn und erwiderte den Kuss. Sie spürte, wie ihre Schatten aus ihnen herausschlüpften und begannen um sie herum zu streichen, spürte, wie sie ihre Finger über sie gleiten ließen. All das nahm sie intensiver wahr als je zuvor. Es war ein unglaubliches Gefühl.

Ja, dachte sie, daran könnte ich mich gewöhnen.

Impressum

Texte: Maike Bücheler
Bildmaterialien: Cover: Maike Bücheler unter Verwendung von Motiven/Brushes von www.pixabay.com und Obsidian Dawn (DeviantArt).
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die meine Zeit in Frankreich zu etwas ganz Besonderem gemacht haben. Für Magalie, ohne die ich Frankreich nie für mich entdeckt hätte. Für 15 Jahre Freundschaft. Für alles.

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