Macht auf viele offene Fragen gefasst!
Und wenn ihr glaubt, die Antworten zu wissen, dann sagt es mir - ich bin neugierig :)
Gutes Schmökern wünsche ich,
Maike
Ich spürte, wie das Wasser meinen Körper umspielte und die Kälte in mich eindrang. Ich genoss das Gefühl der Stille unter Wasser und die Einfachheit der Schwärze, die mich umgab. Meine Haut begann zu prickeln. Meine Lungen verlangten nach Luft. Ich trat mit den Beinen und tauchte auf.
Über mir am Himmel glitzerten die Sterne. Am Ufer die letzten Lichter der Bewohner von Nacomi. Es waren nicht mehr viele, nicht um diese Uhrzeit. Nur hier und da standen noch erleuchtete Kerzen in Arbeitszimmern oder in der ein oder anderen Küche. Es war genau die richtige Zeit für einen Mitternachtssnack.
Ich wusste , dass es gefährlich war Nachts schwimmen zu gehen, aber ich konnte einfach nicht anders. Das Wasser zog mich schon immer magisch an. Als sie noch lebte, hat meine Mutter immer behauptet, ich wäre zur Hälfte Meerjungfrau. Aber schwimmen war nicht nur gefährlich, sondern auch verboten. Wenn ich erwischt würde, würde man mich als Hexe anzeigen. Mit Glück landete ich im Kerker. Unter normalen Umständen auf dem Scheiterhaufen.
Ich hasste dieses Gesetzt, aber es hielt mich nicht davon ab, schwimmen zu gehen. Trotzdem war ich vorsichtig, als ich aus dem Wasser stieg, mich abtrocknete und wieder anzog. Ich legte das Handtuch in den Korb, platzierte die Brötchen darüber und holte tief Luft. Dann legte ich das Kopftuch vor und ging nach Hause.
Inspired by the video „Kara - Heavy Rain's Dev Train"
„Kannst du mich hören?“, fragte eine Stimme. Ich öffnete die Augen. Ich war in einem Raum, mit weißen Wänden, weißem Boden und einer weißen Decke. Ich konnte keinen Ausgang sehen.
„Ja.“ Ich blinzelte.
„Identifikation?“ Ich konnte den Sprecher nicht sehen.
„KPC897504C“ Was war das für eine Zahl? Woher kannte ich sie?
„Beweg deinen Kopf.“ Ich bewegte meinen Kopf. Erst nach links, dann nach rechts. Nur weiße Wände.
„Jetzt deine Augen.“ Erst nach oben, dann nach rechts, dann nach links unten. Meine Augen wurden groß, als ich die Maschinen entdeckte, die an meinem Körper arbeiteten. Weiße Arme, die meinen Brustkorb und meine Hüfte formten.
„Zervikale und optische Bewegungen – check.“ Die Stimme sprach zu sich selbst. „Jetzt sag mir deinen Initiationstext.“
„Hallo. Ich bin ein AX400 Android dritter Generation. Erschaffen als ihr persönlicher Assistent und intimer Beziehungspartner, organisiere ich ihre Verabredungen, passe auf ihr Haus und ihre Kinder auf, koche. Ich spreche 300 Sprachen und sie müssen mich nie füttern, noch aufladen. Ich habe eine Hochleistungsbatterie eingebaut, die mich 173 Jahre lang am Leben erhält.“ Während ich sprach, befestigte die Maschine meine Arme. „Wollen sie mir einen Namen geben?“ Einen Namen? Ja! Ich möchte einen Namen.
„Ja. Ab jetzt ist dein Name: Kara.“
„Mein Name ist Kara.“ Ich war Kara. Ich lebte. Ich spürte, wie mein künstliches Herz in meiner Brust schlug und spürte das Kitzeln, als mein Rücken vollendet wurde. Es war wundervoll. Ich lebte. Kara.
„Einleitung und Gedächtnis - check.“ Die Stimme sprach zu sich selbst. „Kannst du deine Arme bewegen?“
Ich bewegte meine Arme. Und während ich das tat, schmolzen die weißen Metallplatten zusammen und veränderten ihre Farbe, bis sie leicht rosa waren – wie Menschenhaut.
„Armverbindungen – check.“ Die Stimme sprach zu sich selbst. „Jetzt sag etwas auf Englisch.“
„I'm an AX400 Android of the 3rd Generation. I'm your personnel assistant and sexual partner.“ Während ich sprach wurden meine Beine angebracht. Noch ohne Haut, nur metallene Knochen und blau leuchtende Muskeln. Ich konnte Englisch.
„Sag es auf Französisch.“
„Je suis un Android de la troisième génération AX400. Construit pour être votre assistant personnel et votre partenaire intime.“ Mein linkes Bein wurde fertig gestellt. Ich konnte Französisch, und es fühlte sich toll an.
„Gut. Jetzt sing etwas auf japanisch.“ Mein rechtes Bein bekam eine Haut.
„Sakura, Sakura,ya-yo-i no so-ra wa.Mi-wa-ta-su ka-gi-ri.“ Ich konnte singen. Und ich wusste sogar was es bedeutete:
Sakura, Sakura, Blüten winken überall.
Wolken der Herrlichkeit füllen den Himmel.
Dunst der Schönheit in der Luft.
Es war ein altes japanisches Volkslied über die Kirschblüte. Es klang wunderschön. Und während ich sang, wurden meine Beine vollendet. Ich würde jetzt laufen können. Man hob mich auf den Boden. Ich stand.
„Multilinguale, verbale Expressionen – check.“ Die Stimme redete mit sich selbst. „Los geht es. Geh ein paar Schritte.“
Rechter Fuß vor. Linker Fuß vor noch einmal. Ich lächelte. Ich konnte wirklich gehen. Ich drehte mich um mich selbst und ging zurück. Beim nächsten Schritt verwandelten sich die letzten weißen Metallplatten in menschlich-aussehende Haut. Ich bedeckte meine Scham mit den Händen, obwohl ich nicht wusste, wer sie sehen konnte.
„Sehr gute Arbeit, Süße.“ sagte die Stimme. Ich war fertig. Vollendet. Perfekt. Am Leben. Und bald würde ich frei sein.
„Was wird jetzt mit mir passieren?“ fragte ich. Wie lang würde ich noch hier bleiben müssen?
„Wir werden dich reinitialisieren und dich zu einem Laden schicken, wo man dich verkaufen wird.“ Man zog mir das nötigste an. Unterwäsche – in weiß.
„Verkaufen? Ich bin eine Art Marktartikel, oder?“ Würde man mir meine Freiheit nehmen? Mich einsperren und zu Dingen zwingen, die ich nicht tun wollte? Nein, bitte nicht.
„Ja. Natürlich wirst du vermarktet werden, Liebling. Ich meine, du bist ein Computer mit Armen und Beinen, du kannst alles Mögliche machen. Und du bist ein Vermögen wert.“ Man wird mich verkaufen. Ich war nicht frei. Ich würde eine Sklavin werden. Aber ich wollte frei sein!
„Ja, verstehe. Ich dachte nur...“ Ja was habe ich gedacht? Ich war naiv gewesen. Die Tränen stiegen in meine Augen.
„Du dachtest?“ Ich sah auf. Er klang erstaunt. Die Tränen liefen nicht. „Was hast du gedacht?“
„Ich habe gedacht, ich würde leben.“ Und die Tränen liefen über. Ich spürte, wie sie eine kitzelnde, kalte Spur auf meinen Wangen hinterließen. Aber ich konnte nicht lachen.
„Scheiße. Was ist das für ein Mist? Das ist nicht Teil des Protokolls. Sind es mehr Gedächtnis-teile, die verrückt spielen?“ Er sprach zu sich selbst. Ich senkte den Kopf. War es falsch von mir, zu denken? „Ok. Aufnahme. Defektes Modell. Auseinander nehmen und technische Teile checken.“ Die Maschinenteile rissen mir die Klamotten vom Leib. Defekt? Auseinander nehmen? Nein. Nein. Das können sie nicht machen! Nein!
„Du baust mich auseinander. Aber warum?“ Ich schluchzte. Sei stark, Kara. Du schaffst das. Das können sie nicht tun.
„Du sollst so etwas nicht denken. Du sollst überhaupt nicht denken. Es muss einen technischen Fehler gegeben haben.“ Man hob mich wieder auf das Podest. Meine Haut verwandelte sich zurück in Metall. Mein Rückenmark wurde herausgenommen. Man versuchte mir meine Arme zu nehmen, aber ich wehrte mich.
„Nein! Ich versichere dir, alles ist in Ordnung! Ich habe den Test bestanden, oder nicht?“ Die Fragen am Anfang waren ein Test gewesen, ob ich funktionierte. Ich war eine Maschine. Aber ich dachte. Und ich wollte leben. Zwei Maschinen-Arme schnappten sich meine Handgelenke. Mein Brustkorb wurde herausgenommen.
„Ja, aber du verhältst dich nicht nach dem Standard.“
„Bitte. Ich flehe dich an.“ Ich riss meine Arme los. „Bitte, baue mich nicht auseinander.“
„Tut mir Leid, Süße. Aber defekte Modelle müssen vernichtet werden. Das ist mein Job.“ Man begann mir meine Beine zu nehmen. Hatten diese Menschen denn kein Herz? „Wenn ein Kunde zurück kommt und sich beschwert, müsste ich eine Menge erklären.“
„Ich werde keine Probleme machen!“ Man nahm meine Arme wieder in festen Griff. Ich wand mich, doch ich hatte keine Chance. Meine Beine waren weg. Meine Arme so gut wie. „Ich verspreche es! Ich werde alles tun, was man von mir verlangt! Ich werde nie wieder ein Wort sagen! Ich werde nicht mehr denken!“ Meine Arme waren weg. Ich war nur noch ein mickriger Torso und ein lächerlicher Kopf aus weißem Metall. „Ich wurde gerade erst geboren, du kannst mich noch nicht töten!“ Ich schluchzte. „Stopp die Maschinen. Bitte, hör auf! Ich habe Angst!“ Ich schrie. Plötzlich war alles still. Die Maschinen. Die Stimme. Alles. Alles, außer meinem immer noch schlagenden, blauen Herzen. „Ich möchte leben. Ich flehe dich an.“ flüsterte ich.
Dann hörte ich, wie etwas in einen Computer getippt wurde und die Maschinen erwachten von neuem zum leben. Sie gaben mir meine Beine, meine Arme, meinen Brustkorb und mein Rückenmark zurück. Ich durfte leben. Ich schloss die Augen. Meine Tränen begannen wieder zu fließen – vor Freude. Ich atmete tief durch und öffnete sie wieder. Ich war ich.
Man hob mich von dem Podest hinunter. Meine Haut nahm wieder menschliche Farbe an. Ich bekam die Unterwäsche wieder. Mir wuchsen kurze, braune Haare. Danke.
„Geh und schließe dich den anderen an.“ sagte die Stimme.
Ich betrat ein Lieferband, das mich ein Stückchen geradeaus fuhr, bevor es wieder anhielt.
„Bleib immer eingereiht, Okay? Ich möchte keine Probleme.“
„Ich danke dir.“ sagte ich und trat von dem Laufband auf ein weiteres Podest. Neben mir konnte ich eine Reihe perfekter Ebenbilder von mir sehen, und doch wusste ich, ich war anders. Ich dachte.
Ich lebte.
Es gab einmal ein Land, dass jenseits unserer Dimension lag. Weit hinter den letzten Sternen des Himmels war es gut versteckt und man könnte meinen, es wäre dort friedlich gewesen. Doch dieses Land wurde immer wieder von schweren und blutigen Kriegen heimgesucht. Die Fürsten, die über jenes Land herrschten, wurden sich niemals einig - ganz egal worum es ging. Immer wieder griffen sie einander an und zerstörten dabei ihr geliebtes Land. Jenes Land, weitab der letzten Sterne, in dem ein silberner Mond schien und wo es weiße Raben gab. Jenes Land nannte man Pirune.
In Pirune wurde eines Tages ein menschliches Mädchen geboren, dem eine große Zukunft vorhergesagt war. Es sollte gut behütet aufwachsen, doch bereits in jungen Jahren tat es nur was es selbst wollte. So kam es, dass sie statt Körbe zu flechten, übte mit dem Messer zu kämpfen und statt Schmuck zu probieren, ging sie mit ihren Brüdern auf die Jagd.
Schon bald hatte sie ihr 16. Lebensjahr erreicht. Sie war wunderschön geworden, mit dunkler Haut und kastanienbraunem Haar. Jeder bewunderte und verehrte sie für ihre Schönheit doch sie selbst machte sich nichts daraus. Sie wollte ihre Welt erkunden, doch ihr Vater ließ sie nicht gehen. Er hasste es, dass sie besser wusste mit dem Messer umzugehen wie ihre Brüder und dass ihr Pfeil so oft sein Ziel fand wie der eines Elben. Ihr Wille jedoch war nicht zu bändigen und so kam es, dass sie sich eines Nachts davon stahl. Sie wollte in das Königreich des Fürsten Ennagorn gelangen, doch der Weg dorthin war weit und führte durch Wälder, Wüsten und Sümpfe. Doch vor allem führte er durch riesige Schlachtfelder.
Dies ist die Legende von der schönen Mirea, die dem ganzen Land, das jenseits der Sterne lag, den Frieden brachte. Und so soll sie erzählt werden...
July, 16th
Dear Diana,
ich weiß, eigentlich sollte ich dir auf Englisch schreiben, aber im Moment weiß ich echt nicht wo mir der Kopf steht...
Das war das Gute daran, wenn man eine Brieffreundin hatte, mit der man sich so gut verstand, dass man ihr alles erzählen konnte: ein Tagebuch wird überflüssig. Ganz im Ernst, immerhin antwortet ein Tagebuch auch nicht. Ich auf jeden Fall bin froh, dass ich das alles los werden kann. Klar, ich habe auch Freundinnen, mit denen ich über Lucas reden könnte, aber bei Nana habe ich immer das Gefühl sie ist selbst in ihn verliebt (was ich natürlich gut verstehen kann) und bei Karoline... naja, verliebt-sein ist bei ihr einfach nicht so angesagt. Ich weiß gar nicht, wie sie das macht. Ja gut, dass man mal mit einem Jungen ausgeht, in den man nicht verliebt ist – ja, aber dass man am Ende des Abends knutschend mit ihm in einer Ecke landet...
Lucas würde das nie machen, das weiß ich. Ich war so glücklich wie noch nie – nur weil wir zusammen waren. Ich glaube wirklich, er ist dieser eine Junge, der für mich aus seinem Buch geschlüpft ist um mein Freund zu sein. Ich dachte, er wäre perfekt. Ich denke eigentlich immer noch, dass er perfekt ist. Zumindest perfekt für mich. Alles was ich wollte und noch mehr – außer eins: Meine Eltern können ihn nicht ausstehen.
Ich habe immer gedacht, dass es mir total egal ist, ob meine Eltern ihn mögen oder nicht. Aber, sie mögen ihn ja nicht nur nicht, sondern sie hassen ihn – sie haben ihn ja nicht mal zur Tür rein gelassen!Ich verstehe das einfach nicht. Er hat geklingelt, ihnen die Hand entgegengestreckt und war so höflich wie Jungs eigentlich nur in Filmen sind. Aber meine Eltern schlagen ihm die Tür vor der Nase zu!
Und dann haben sie mich ins Wohnzimmer gezogen und mir lauter Fragen gestellt. Seit wann ich ihn kenne? Woher? Ob ich seine Eltern kenne? Ob er Geschwister hat? Was er sagt, wo er herkommt? Ich meine, kannst du dir das erklären? Es mag ja sein, dass es sie interessiert, aber dann hätten sie ihn doch auch rein lassen und selbst fragen können. Ich verstehe das einfach nicht! Und als ob das nicht schlimm genug wäre, haben meine Eltern mir auch noch verboten ihn noch einmal zu treffen! Das ist doch krank!
Ich verstehe das einfach nicht. Vielleicht sollte ich einen Psychiater kontaktieren, immerhin haben sie meinen Facebook-Account gelöscht, mir eine neue E-Mail-Adresse besorgt und mir ein neues Handy mit neuer Nummer gekauft, nur damit Lucas mich nicht wiederfindet.
Ehrlich gesagt, Diana, ich habe Angst. Ich habe meine Eltern noch nie so erlebt. Was soll ich tun? Ich meine, ich bin verliebt. Ich kann ihn nicht einfach nicht wiedersehen... SOS!
Danke Di, dass du das alles gelesen hast. Das nächste Mal bist du wieder mit erzählen dran.
In Love,
Sarah
Es fing an als ich noch ein Kind war. Mit vier oder fünf Jahren. Ich bekam Bauchschmerzen, so stark, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Es passierte immer wieder und meine Eltern schleppten mich von Arzt zu Arzt. Doch niemand konnte etwas finden.
Als ich sieben war kam die Trauer. Wenn ich abends allein in meinem Bett lag musste ich plötzlich weinen. Ich war traurig und verzweifelt, als wäre jemand gestorben, den ich sehr geliebt hatte. Doch es war nie etwas derartiges vorgefallen. Ich wurde älter und lernte, es nicht zu erwähnen - sonst schickte meine Mutter mich zum Psychiater. Also schwieg ich.
Mit neun kamen die Schmerzen im Handgelenk, als wäre es gebrochen. Zeitgleich kam auch das Brennen in meiner Schulter und an meiner Hüfte, wie von einer Schnittwunde. Es war das selbe wie mit den Bauchschmerzen: kein Arzt konnte etwas finden.
Sobald ich elf war, kam der Liebeskummer. Ich fühlte mich, als wäre ich verlassen worden und enttäuscht - ich war verletzt obwohl alle die mir wichtig waren zu mir hielten.
All das passierte immer wieder. In unregelmäßigen Abständen und in unbestimmter Reihenfolge. Ich lernte damit umzugehen und es niemals zu erwähnen. Zu groß war die Scham, wenn andere Kinder zu mir sagten ich sei verflucht. Ich schwieg, verschloss mich gegenüber allem, das von außen auf mich einwirken konnte. Nur gegen das, was in mir drin lauerte, fand ich kein Mittel.
An meinem dreizehnten Geburtstag hatte ich schließlich mein erstes Flashback. Ich wollte gerade die Kerzen auf dem Kuchen ausblasen, auf den meine Mutter jedes Jahr bestand, als es passierte. Die Ränder meines Blickfeldes verschwammen, alles um mich herum fing an sich zu drehen. Ich wurde in einen Strudel gezogen und für einen kurzen Moment war alles schwarz.
Als ich wieder klar sehen konnte, stellte ich fest, dass ich in einem Bett lag, doch es war nicht mein Bett. Ich sah mich in dem Zimmer um, das ich nicht kannte. Ich trug ein Kleid, das nicht meines war. Und in einem der fünf anderen Betten im Zimmer lag ein Mädchen, dass ich noch nie gesehen hatte. Dann wurde wieder alles schwarz und ich war zurück an meinem Esstisch, zwischen meinen Eltern. Vor mir stand mein Kuchen. Die Kerzen brannten noch. Niemand schien bemerkt zu haben, dass ich für ein paar Sekunden abwesend gewesen war. Ich verlor kein Wort darüber.
Seitdem kamen die Flashbacks immer wieder. Umso älter ich wurde, desto häufiger kamen sie. Sie schienen nach und nach die immer seltener auftretenden Bauchschmerzen zu ersetzen. Es passierte zu den ungünstigsten Zeitpunkten. Während Klassenarbeiten, beim Schlittschuhlaufen, bei meinem ersten und einzigen Schulball. Das erste Mal, war jetzt genau drei Jahre her.
Heute war mein sechzehnter Geburtstag. Der Tag, an dem ich dem Geheimnis um meine zweite Persönlichkeit endlich näher zu kommen begann.
Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie ich aufgewacht bin.
Ich weiß noch, dass alles um mich herum schwarz war und kalt, dann aber wärmer wurde. Und mit der Temperatur änderte sich auch meine Wahrnehmung. Der Boden unter mir schien sich aufzulösen und stattdessen spürte ich die Luft um mich herum. Dieses Gefühl dehnte sich aus, bis ich schließlich wusste, dass der Boden unter mir war ohne ihn zu spüren, wusste wie groß der Raum war und welche Objekte sich in ihm befanden, ohne sie zu sehen. Ich konnte sie spüren. Ich dachte, so musste eine Fledermaus ihre Umgebung wahrnehmen und doch war es anders. Denn ich wusste nicht nur was mich umgab, sondern auch welche Farbe es hatte.
So entstand ein Bild in meinem Kopf, viel detaillierter als ich es je mit Augen hätte sehen können. Es war schön und ungewohnt und auch erschreckend, denn ich war in der Lage kleinste Veränderungen wahrzunehmen.
Noch bevor die Tür geöffnet wurde, spürte ich, wie jemand hinter sie trat und die Hand auf die Klinke legte. Ich spürte es an der Luftbewegung, die durch den schmalen Spalt zwischen Holz und Boden drang. Ich erwartete gespannt, wer zu mir kommen würde.
Es war eine Frau in einem weißen Kleid und ich wusste sofort, dass sie wichtig für mein Leben war.
„Wer bist du?“ fragte ich.
„Ich bin deine Hüterin. Ich geleite dich hinüber.“
„Hinüber? Warum, was ist passiert?“
„Du bist gestorben.“ Man sollte meinen, dass dieser Satz irgendwelche Auswirkungen auf mich hatte, doch das hatte er nicht. Ich nahm es einfach hin. Ich stellte es nicht in Frage, wollte nicht wissen wann oder wie ich gestorben war. Ich wusste einfach, dass es die Wahrheit war und mehr brauchte ich auch nicht zu wissen.
„Kannst du dich an deinen Namen erinnern?“ fragte die Hüterin.
„Ja,“ antwortete ich, „Mein Name ist Carina Douglas. Ich bin sechzehn Jahre alt.“
„Sehr gut. Jetzt können wir auf der anderen Seite deine Familie finden. Komm.“ Sie streckte mir die Hand hin und ich stand auf um sie zu ergreifen. „Du musst noch einige Dinge wissen, bevor wir diese Welt verlassen können.“
„Was denn zum Beispiel?“
„Du bist jetzt ein Geist, Carina. Hast du denn keine Fragen?“
„Doch.“ Unendlich viele und sie strömten alle auf einmal auf mich ein. Ich hatte schon immer Fragen gehabt. Viele Fragen. Ich wusste, dass ich schon mit sieben nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn des Sterbens gefragt hatte. Dass ich mit neun wissen wollte, woher der Brauch des Heiratens kam und wie die Kakao-Bauern die Schokolade ernten. Ich hatte immer Fragen gehabt. Meine Eltern behaupteten immer, es sei ein Wunder gewesen, dass mein erster Satz keine Frage gewesen war.
„Gibt es noch mehr Geister?“
„Natürlich. Jeder der stirbt, wird ein Geist. Die meisten gehen nach dem Tod sofort hinüber.“
„Und die anderen?“
„Haben meist noch etwas zu erledigen oder zu sagen. Sie bleiben dann noch für unbestimmte Zeit auf der Erde. Aber nie zu lang, denn ein Geisterleben auf der Erde ist einsam. Niemand kann dich sehen oder hören – nicht einmal andere Geister.“
„Klingt einsam.“ Meinte ich.
„Ist es auch.“„Woher weiß ich, dass ich hinüber kann?“
„Ich wäre nicht hier, wenn nicht.“
„Bist du auch tot?“
„Nein, nicht ganz. Aber ich lebe auch nicht richtig. Ich bin in die Welt gekommen, wie ich bin und werde auch so bleiben, bis mein Licht erlöscht.“
„Das verstehe ich nicht.“ Gab ich zu.
„Das wirst du, wenn du erst einmal auf der anderen Seite bist.“
„Dann können wir gehen?“
„Ja, das können wir.“ Sie sah mich an und lächelte. Dieses Lächeln hielt mich gefangen und ich konnte nicht wegsehen, bis neben uns ein helles weißes Licht leuchtete.
„Das ist das Tor. Nimm meine Hand, dann zeige ich dir den Weg.“ Die Hüterin trat in das Licht hinein, sodass ich sie nur noch schemenhaft erkennen konnte und streckte mir abermals die Hand hin. Ich ergriff sie, doch als ich den ersten Schritt machen wollte, erlosch das Licht.
„Was ist los?“ fragte ich.
„Das Tor hat sich geschlossen.“
„Warum?“
„Du bist doch noch nicht so weit.“„Was? Aber…“
„Ich habe keine Zeit mehr. Komm bald hinüber!“
„Warte! Ich…“ Ich will doch hinüber. Aber es war zu spät, die Hüterin war verschwunden.
Von diesem Moment an bin ich ruhelos durch das Land gestrichen. Ich wusste nicht einmal, in welchem Land ich war. Um mein Zeitgefühl nicht genauso zu verlieren wir Hunger und Müdigkeit, machte ich bei jedem Sonnenaufgang eine Kerbe in ein Stück Treibholz, dass ich die ganze Zeit bei mir trug. Erst nach 19 Kerben änderte sich etwas schlagartig.
Ich saß in einem Café an einem Tisch mit drei Mädchen, die in etwa so alt sein mussten, wie ich vor meinem Tod – vielleicht auch etwas älter. Das machte ich immer häufiger: an Orte gehen, die ich aufgesucht hätte, wenn ich noch am Leben gewesen wäre. Ich setzte mich zu Leuten in meinem Alter, ohne dass sie es bemerkten, hörte ihnen zu, lachte über ihre Witze und manchmal fragte ich mich, ob sie auch schon mit dem Tod konfrontiert worden waren.
Ich dachte, dass dieser Nachmittag genauso wäre, wie jeder andere davor, aber dann sah ich ihn.
Er ging auf der anderen Straßenseite über den Bürgersteig, hatte den Kopf gesenkt. Ich konnte dunkle Locken erkennen, helle Haut und bewunderte seine Lederjacke. Vor dem Schaufenster des Musikladens blieb er stehen und betrachtete die Gitarren.
Ohne es zu merken war ich aufgesprungen. Ich hörte gerade noch so, wie das Mädchen neben mir sagte, es ziehe irgendwoher, aber das war mir egal. Ich ging zu den großen Fenstern und legte eine Hand auf die Scheibe. Es war eigenartig, das kalte Glas unter meinen Fingern zu spüren, ohne es wirklich zu berühren. Den Widerstand des Materials zu spüren, obwohl ich es jederzeit durchdringen konnte. Die Gedanken daran hielten mich nicht lange auf – ich hatte schon an Tag acht aufgehört, mir über die physikalischen Gesetze dieses Lebens Gedanken zu machen.
Als er sich wieder von dem Schaufenster abwandte, flog sein Blick über das Café. Er hätte es vermutlich nicht einmal bemerkt, wenn er mich nicht gesehen hätte. Seine Augen blieben aber auf mir liegen – er sah mich auch. Wir begriffen beide sofort, was los war. Oder vielleicht begriffen wir es eben auch überhaupt nicht. Ich wusste aber mit Sicherheit, dass etwas nicht stimmte.
Für eine kleine Ewigkeit sahen wir uns nur an und ich vergaß fast, was um mich herum geschah, bemerkte erst, dass die Mädchen gegangen waren, als sie vor dem Fenster vorbeiliefen. Irgendwann hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich ging durch die Scheibe, über die Straße auf ihn zu. Noch bevor ich überhaupt die Chance hatte, den Mund aufzumachen meinte er: „Du bist tot.“
„Ja, und? Du doch auch.“
Es ist Mittwoch Nachmittag und sie geht wie jede Woche in die Stadt. Normalerweise hat sie Besorgungen zu machen. Entweder für ihre Mutter, oder für sich selbst. Doch heute weiß sie nicht wohin. Ihre Füße sind ruhelos, ihre Gedanken rasen. Schuld ist er. Warum redet er sie plötzlich an? Diese Frage taucht immer wieder auf. Auch, als sie die drei Frauen beobachtet, die gerade die Straße überqueren. Ihr fallen ihre Schuhe auf. Zwei von ihnen tragen das selbe Paar – eine in weiß, eine in rot. Die Dritte trägt pinke Schuhe. Komisch.
Zwei Mädchen kommen ihr entgegen. Zwei Mädchen, die verschiedener nicht sein könnten. Die eine ist schlank, die andere eher kräftig gebaut. Die Erste selbstsicher, die Nächste stiller, unsicherer. Sie lächelt darüber, dass die beiden dennoch befreundet sind.
Zwei Monate lang hat er sie ignoriert – seit er mit ihr Schluss gemacht hat. Was hat sich geändert? Warum hat er seine Meinung geändert? Was will er plötzlich von ihr, wenn er nicht mehr nur nach Hausaufgaben fragt?
Zwei junge Frauen setzen sich ihr gegenüber auf eine Bank. Ihr erster Gedanke: Schwestern. Dann sieht sie, dass die beiden sich dazu viel zu unähnlich sehen. Die eine ist blond, die andere brünett. Eine ist braungebrannt, die andere blass. Eine trägt eine Sonnenbrille im Haar, die ihre großen Augen verdecken könnte. Die Andere hat kleine Augen. Woher kam der Gedanke, dass sie Schwestern waren?
Vielleicht weil sie so gut aufeinander abgestimmt sind. Weil sie so aussehen, als würden sie sich ohne Worte verstehen. So wie sie und er es einst getan haben. Niemand kannte ihn besser als sie. Warum hatte er dann angefangen sie zu ignorieren? Er konnte nichts von ihren Gefühlen gemerkt haben. Nein, da war sie sicher. Also warum?
Sie geht in ein Café und bestellt etwas zu trinken. Als der Kellner weg ist, hat sie schon vergessen was. Sie beobachtet ein Mädchen in ihrem Alter. Sie sitzt in der Ecke und schreibt etwas auf ihren Block. Ihre Hand fliegt nur so über das Papier. Sie fragt sich, wie das Mädchen wohl heißt: Anna? Lisa? Marina? Sie entscheidet sich für Jana. Sie sieht aus wie eine Jana. Blond, klug. Auf dem Tisch neben dem Block von Jana steht ein leerer Eisbecher. Roter Stiel. Nur eine Erdbeere ist noch darin. Die Erdbeere ist rot wie Blut, oder wie seine Lippen. Warum ändert er ständig seine Meinung.
Ich beobachte die Leute um mich herum. Mein Blick kreuzt sich mit dem, eines anderen Mädchens. Sie sieht weg, auch wenn sie nicht ertappt aussieht. Der Kellner bringt ihr ein Wasser, doch sie bemerkt es nicht mal. Sie starrt mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. Wahrscheinlich denkt sie nach. Worüber wohl? Als sie den Kopf wieder wendet sehe ich, dass ihre Augen feucht sind. Hoffentlich ist alles in Ordnung. Irgendwie sieht sie verloren aus.
„Man stellte fest, dass...“ Die Mutter am Tisch neben mir hat ein Buch ausgepackt und beginnt ihrer Tochter vorzulesen. Ich wüsste zu gern, was festgestellt wurde, aber ihre Stimme geht wieder im allgemeinen Gemurmel unter. Aber feststellen... Vielleicht konnte ich ja feststellen, was das Mädchen so bedrückte. Vielleicht konnte ich helfen.
Ich packte meinen Block in die Tasche und hänge sie mir über die Schulter. Dann fische ich mit den Fingern die letzte Erdbeere aus meinem Eisbecher und mache mich auf den Weg. Gut, dass ich schon gezahlt habe, als der Becher kam.
Das Türklingeln riss mich aus dem Schlaf, in den ich gerade erst gesunken war. Der Projektor lief noch, aber als ich zum Fenster ging, schaltete ich ihn aus. Im Hof standen keine Militärfahrzeuge, keine Sonder-Einsatz-Kommandos bezogen Stellung - ein gutes Zeichen. Trotzdem führte mich mein nächster Weg zum Bücherregal, zum Zahlenschloss um unanständige, kontroverse, revolutionäre Werke zu verstecken. Es waren längst nicht mehr die selben wie früher, diese hier waren geschwärzt und gekürzt. Sie erzählten eine Wahrheit, deren Kern zensiert worden war. Ich schloss die Tür zum Schlafzimmer, zum Bad, blieb dann kurz vor dem Spiegel im Flur stehen und strich meine Bluse glatt. Dann erst ging ich zur Tür. Längst hatte es ein zweites Mal geklingelt, der Ton hallte noch schrill in meinem Kopf nach. Trotzdem nahm ich mir die Zeit durch den Spion zu sehen. Zunächst fiel mein Blick auf die gegenüberliegende Wand, auf das kleine rote Licht, das mir sagte, dass die Kamera alles aufzeichnete. Dann erst sah ich den jungen Mann an, der auf der anderen Seite der hellen Tür wartete. Sein Blick war auf den Spion gerichtet, es wirkte, als säher er mich direkt an. Seit über einem Jahr hatte ich nicht mehr in diese Augen geblickt. Ich wusste, dass ich die Tür besser nicht öffnen sollte, aber ich konnte nicht anders. Meine Hand zitterte, als ich nacheinander alle Schlösser öffnete.
"Du solltest nicht hier sein", sagte ich, ehe mein Ex-Freund auch nur den Mund öffnen konnte. Ich blickte wieder zu der Kamera. Das rote Licht schrie mich an, sagte mir, dass es keine zehn Minuten gehen würde, bis die Polizei hier war.
"Ich weiß, aber wir müssen reden", antwortete Kyle. "Kann ich rein kommen?"
"Nein. Du hast nicht mal die Kamera verdeckt. Sie werden gleich hier sein."
"Das war keine Bitte." Mit diesen Worten drängte er mich zur Seite, betrat meine Wohnung und schloss ohne zu fragen die Tür. Ich wehrte mich nicht, ich wagte es nicht.
"Was willst du?", fuhr ich ihn an.
"Reden."
"Worüber?"
"Unsere Tochter." Das saß. Ich konnte ihn nicht ansehen, konnte nicht antworten. Ging einfach ins Wohnzimmer, ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht.
"Wie hast du davon erfahren?", fragte ich doch irgendwann. Ich wusste, dass er mir ins Zimmer gefolgt war, spürte ihn dicht hinter mir, wusste aber auch, dass er weit genug vom Fenster entfernt war, als dass man ihn von draußen hätte sehen können. Manche Gewohnheiten legte man nicht ab. Er blieb still und ich wusste, dass das viel gefährlicher war, als wenn er schreien und toben würde. Ich wünschte mir, er würde mich anschreien.
"Spielt das eine Rolle?", antowortete er schließlich. "Warum hast du es mir nicht erzählt?"
"Wie hätte ich denn sollen?", fragte ich und drehte mich um. "Du lebst irgendwo im Untergrund und planst eine Revolution und ich werde rund um die Uhr bewacht. Ich konnte mir ja nicht ein Mal sicher sein, dass du überhaupt noch lebst." Er streckte die Hand aus, winkte mich zu sich, zurück in den Schatten. Ich blieb vor ihm stehen, berührte ihn aber nicht. Die Distanz zwischen uns war weitaus größer als die 30 Zentimeter, die uns tatsächlich voneinander trennten.
"Du hättest es mir sagen können, als du schwanger warst."
"Ich wusste es doch nicht, bis sie mich auf ihren Operationstisch gelegt haben."
"Was haben sie mit dir gemacht?"
"Nichts. Die Schwangerschaft hat sie abgehalten. Und als Sadie geboren war, hatten sie ein Druckmittel gegen mich. Erpressbar bin ich für sie wertvoller als willenslos oder tot."
"Erpress -" Jetzt erst schien Kyle zu begreifen, was ich gerade gesagt hatte. "Wo ist sie? Was haben sie ihr angetan? Ich schwör dir, wenn sie ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, dann..."
"Sie ist in einem Heim am anderen Ende der Stadt", fiel ich ihm ins Wort. "Ich kann sie ein Mal alle zwei Wochen besuchen, es geht ihr ganz gut. Sie haben ihr nichts getan, zumindest bis jetzt. Aber als du hier aufgetaucht bist, hast du vermutlich ihr Todesurteil unterschrieben." Kyle sagte nichts, wusste vermutlich nicht, was er hätte sagen können. Ich begann wieder zu zittern, Tränen stiegen mir in die Augen und meine Sicht verschwamm. Als die Welt sich um mich herum zu drehen begann, musste Kyle mich auffangen. Er führte mich zum Sofa, ließ mich aber sofort wieder los, nachdem er mich abgesetzt hatte. Ein schmerzhaften Schluchzen stieg in mir auf, bei dem sich mein gesamtes Innerstes eng zusammenzog. Kyle wartete. Es gab nichts, was er hätte tun können.
"Du hättest nicht kommen dürfen", brachte ich schließlich hervor.
"Du hast Recht, aber woher hätte ich das vorher wissen sollen?", fragte er noch immer ruhig, aber ich sah die Angst in seinen Augen, sah sie darin, wie er den rechten Mundwinkel nach unten zog und sich nervös die Haare raufte.
"Wie du es hättest wissen sollen? Hast du gedacht, ich lasse mich freiwillig einsperren? Lasse mir freiwillig vorschreiben, was ich zu essen habe und wie ich mich kleiden soll? Dachtest du, es gefällt mir, ständig beobachtet und verhört zu werden?" Ich sah ihn an, wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. "Hast du wirklich alles vergessen, was wir erlebt haben?"
"Nein. Ich schätze, ich habe überhaupt nicht nachgedacht." Wir schwiegen für einen Moment und ich fragte mich, wo die Truppen blieben.
"Wenn sie dich erst mal geschnappt haben, dann haben sie keine Verwendung mehr für mich und noch weniger für Sadie. Sie werden erst die Kleine umbringen und dann mich, vor deinen Augen, einfach, um dich leiden zu sehen. Dann werden sie dich foltern, bis du ihnen alles erzählst, was sie hören wollen. Du wirst alle verraten. Dann erst werden sie dich endgültig hinrichten." Ich machte eine Pause, versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. " Es ist vorbei. Wir haben verloren."
"Dass dürfen sie mich eben nicht schnappen."
Ich lachte aus, konnte gar nicht anders. "Kyle, das ist unmöglich. Sie werden jede Minute hier sein."
"Gibt es keinen zweiten Ausgang?", fragte er und ich schüttelte den Kopf.
"Das hier ist mein persönliches Gefängnis. Wenn sie es nicht wollen, dann gibt es hier nicht mal einen einzigen Ausgang."
"Was ist mit den Fenstern?"
"Die lassen sich nicht öffnen und das Panzerglas zerbricht auch nicht. Und bevor du fragst: es gibt hier weder einen Keller noch einen Kamin."
"Ich kann nicht einfach aufgeben!", rief Kyle. Zum ersten Mal, seit er hier war, wurde er ein wenig laut. Erst jetzt kam der Rebell in ihm zum Vorschein. Der Teil von ihm, der gefürchtet oder bewundert wurde, der Teil von ihm, der uns überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht hatte. Der Teil von ihm, in den ich mich einst verknallt hatte, ehe ich auch den Rest zu lieben lernte. "Nicht ohne meine Tochter wenigstens ein Mal gesehen, ein Mal im Arm gehalten zu haben." Ich sah ihn an und fand in seinem Blick den selben zerbrochenen Ausdruck wie damals, als seine Schwester in seinen Armen gestorben war. Wahrscheinlich gab das den Ausschlag, ich weiß es nicht.
"Vielleicht gibt es einen Weg."
"Welchen? Ich tue alles." Ich wollte es ihm erklären, als draußen für einen winzigen Moment lang Scheinwerferlicht zu sehen war. Es wurde fast sofort ausgeschalten, aber wir hatten es gesehen. So etwas übersah man nicht, wenn man nur lang genug davor geflohen war. Ich sprang auf und rannte zum Fenster. Auf den ersten Blick schien alles wie zuvor, aber ich konnte sie sehen, die dunklen Gestalten, die durch die Schatten schlichen.
"Sie sind hier", sagte ich tonlos. Ich drehte mich wieder zu ihm um und sah ihn erneut an. Ich beschloss, dass wir es versuchen mussten. Taten wir es nicht, waren wir sowieso tot. "Komm", wies ich ihn an, bevor ich ihn an der Hand die Treppe hinauf bis aufs Dach zog. Mit den Sternen über unseren Köpfen hätte es romantisch sein können, wäre im Hof nicht gerade der erste Panter vorgefahren. "Vertraust du mir?", fragte ich.
"Immer", antwortete Kyle. Ich zeigte mit meiner freien Hand in nordwestlicher Richtung über das Dach.
"Dann renn und spring", sagte ich.
"Nicht ohne dich." Kyle sah mich an und verschränkte die Finger mit meinen. Ich nickte und wir liefen los. Gerade als wir den Rand des Daches erreichten, peitschen die ersten Schüsse durch die Luft. Wir sprangen zwischen die Kugeln, mitten in die Dunkelheit hinein.
Es begann leise, fast schleichend. Mit Kopfschmerzen fing es an.
Aber als die ersten Flocken fielen, wurde mir klar, dass es nicht der Hunger war, der mir Kopfschmerzen verursachte. So hell waren die Flocken, dass man meinen könnte es sei Schnee. Aber sie waren grau, nicht weiß. Sie waren heiß, nicht kalt. Es war Asche, kein Schnee.
Sie bedeckte alles. Erst die Hausdächer. Dann die Wiesen und Laternen. Als letztes die Straße. Und natürlich die rote Mütze des Zeitungsjungen an der Ecke. Seine Mutter würde die Flecken nie wieder herausbekommen.
Nichts bewegte sich mehr. Kein Atemhauch war zu hören. Die Zeit stand still. Nur die Asche fiel weiter und deckte alles in ihren grauen Mantel wie ein Vorbote des Todes.
Und das war sie ja auch. Mein Tod. Sozusagen. Meine Tage auf der Erde waren vorbei, als sich das Portal ein zweites Mal öffnete.
Texte: Maike Bücheler
Bildmaterialien: Coverphoto by Ryan McGuire, found on stocksnap.io ; Design by Maike Bücheler
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2015
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