Cover

Vorwort

Hallo ihr lieben Leser!!

 

Das hier ist eine ganz besondere Geschichte - oder eher, ist sie ganz besonders aufgebaut. Mal ganz abgesehen von den Passagen in denen Luna sich euch direkt erklärt, ist auch die zeitliche Ordnung eher ungewöhnlich.

Ihr könnt nämlich rein theoretisch nach jedem Intermezzo aufhören zu lesen - falls ihr das wollt. Ihr könnt natürlich auch weiterlesen, dann müsst ihr aber darauf gefasst sein, dass es ist, als würde die Geschichte von Neuem beginnen, nicht ganz von vorn, aber doch weiter vorn als das Intermezzo war.

Ich hoffe das klang jetzt nicht zu konfus - und ich hoffe, das Ungewöhnliche reizt euch. Ich bin sicher ihr werdet es verstehen.

 

Eigentlich hatte ich geplant diese Geschichte nach dem ersten Intermezzo enden zu lassen, aber dank dem lieben Zuspruch von Vampiermsus 23 (danke noch mal) hat sich meine Meinung dann doch noch geändert.

 

Jetzt halte ich aber bald die Klappe und überlasse Luna das Wort, versprochen. Nur eins noch: Ich freue mich über jedes Herz (natürlich) und auch jedes Feedback, egal wie es mich erreicht und egal ob positiv oder negativ. Mir hilft das immer sehr.

 

Und jetzt: Willkommen in Lunas Welt.

 

Maike

1. Teil

Ich sah auf die Uhr - natürlich hatte mich meine Mutter wieder viel zu früh geweckt. Eigentlich wollte ich mich gerade noch mal umdrehen und weiterschlafen, als ich es mir anders überlegte und doch aufstand. Dann könnte ich wenigstens in Ruhe frühstücken.

Ich schnappte mir mein Kleid von der Stuhllehne und taperte ins Bad. Erst als ich dort war fiel mir wieder ein, dass ich ja seit zwei Wochen keinen Grund mehr hatte zu rennen. Mein großer Bruder hatte geheiratet und war ausgezogen - außer mir gab es jetzt niemanden mehr, der das Badezimmer morgens okkupieren könnte. Ich lächelte während ich mich fertig machte, weil ich daran denken musste wie glücklich er ausgesehen hatte. Aber mein Lächeln gefror, als mir wieder einfiel, dass ich ihn jetzt nur noch ein paar Mal im Jahr sehen würde. Außer natürlich, ich nahm im Sommer dieselbe Arbeit an wie er. Und genau das war der Plan.

"Luna! Du bist schon wieder viel zu lange im Badezimmer. Komm runter frühstücken!" Rief meine Mutter von unten herauf. Ich verdrehte die Augen, wusste aber, dass sie Recht hatte. Ich machte noch einen kurzen Abstecher in mein Zimmer, um mir meine Schürze zu holen und band sie mir auf dem Weg in die Küche um.

"Guten Morgen, mein Schatz", grüßte sie mich.

"Guten Morgen. Wie lange ist Papa schon weg?", fragte ich zurück, als ich mich setzte.

"Er ist gegangen, als ich dich geweckt habe. Setze dich, ich habe dir Pfannkuchen gebacken." Meine Mutter gab mir den Teller und setzte sich dann mir gegenüber. Sie wartete schweigend, während ich aß. Ich konnte sehen, dass sie mir noch etwas sagen wollte, aber ich fragte nicht danach. Erst als ich fertig gegessen hatte und mir meine Tasche nahm, rückte sie damit heraus.

"Bitte sei heute vorsichtig, Luna. Es sind Blades im Viertel gesehen worden." Ich schluckte.

"Schon wieder?"

"Ja. Ich möchte nicht, dass du alleine unterwegs bist. Schließe dich bitte einer der Gruppen an." Ich sah aus dem Fenster. Vorhin schon hatte ich mich gefragt, warum so wenige Menschen allein unterwegs waren. Gerade bog eine Gruppe von Schülern in unsere Straße ein, unter denen auch meine beste Freundin Leyla war.

"Mach ich, Mum. Leyla kommt grade. Macht's dir was aus, wenn ich jetzt schon...?"

Meine Mutter lachte. "Geh nur. Aber sei vorsichtig."

"Klar. Bis heute Mittag." Zum Abschied gab ich meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Dann verließ ich das Haus.

 

Hallo, mein Name ist Luna Pettyfer und eigentlich möchte ich euch von dem Sommer erzählen, der mein ganzes Leben umkrempelte, aber eins nach dem anderen.

Ich bin noch Schülerin, mache aber zu dem gerade geschilderten Zeitpunkt meinen Abschluss. Noch lebe ich bei meinen Eltern, aber das wird sich wohl bald ändern, denn das Datum für meine Hochzeit steht schon. Ich werde einen Jungen aus der Gegend heiraten, Josh Michaelsen. Wir kennen uns flüchtig, er ging bis letztes Jahr auf dieselbe Schule wie ich. Unsere Eltern haben schon als wir klein waren festgelegt, dass wir einander heiraten würden und die Regierung hatte es vor kurzem endlich genehmigt. Ich freute mich auf mein neues Leben nach der Hochzeit, denn ich war mir sicher, dass ich mit Josh genauso glücklich werden würde wie meine Mutter mit meinem Vater.

Wir sind Wylder, Gläubige des Lichts. Es ist unsere Pflicht und unser Vergnügen den Regeln zu folgen. Auch unsere Regierung besteht aus Wyldern, sie sorgen dafür, dass unsere Welt nicht aus den Fugen gerät. Wisst ihr, zwei Generationen vor mir gab es einen großen Krieg und nur dank dem Zusammenhalt der Wylder konnte die Welt am Laufen gehalten werden. Jeder Wylder beherrscht ein klein wenig weiße Magie und alle zusammen reiten aus um die Welt wieder aufzuräumen.

Ich bin froh eine Wylder zu sein. Es ist die anständigste Klasse, finde ich. Außer den Wyldern gibt es noch die Freien, die keinerlei Magie besitzen und weder dem Licht, noch der Finsternis huldigen. Sie leben meist außerhalb der Städte, produzieren unser Essen und unsere Kleidung. Natürlich sind sie wichtig für unsere Gesellschaft, aber ich habe bis heute nicht begriffen, wie man an nichts glauben kann.

Und dann gibt es natürlich noch die Blades, Anhänger der Finsternis. Mit ihrer dunklen Magie können sie großen Schaden anrichten, deswegen ist es gut, dass es viel mehr Wylder gibt als Blades. Auch die Blades leben in der Stadt, aber in einem ganz anderen Viertel als wir Wylder. Ich bin nie dort gewesen und ich möchte auch nie dorthin.

Ich lebe gerne hier. Ich mag den geordneten Tagesablauf, die Sicherheit. Na gut, manchmal langweile ich mich zu Tode, aber hey - bis jetzt habe ich es immer überlebt. Ich hatte Glück als Wylder geboren zu werden.

So, jetzt kennt ihr mich und die Welt in der ich lebe ein wenig besser. Ihr wisst jetzt, woran ich geglaubt habe. Jetzt werde ich euch erzählen, wie sich das alles in nur einem Sommer geändert hat.

 

Meinen Abschluss hatte ich mittlerweile bestanden, meine Bewerbung auf eine Stelle bei derselben Firma, bei der auch mein Bruder arbeitete, war auch schon abgeschickt. Ich war gerade mit Leyla in der Stadt gewesen und wir waren jetzt gemeinsam auf dem Weg nach Hause.

"Gott, ich bin so froh, dass wir die Schule endlich hinter uns gelassen haben", sagte sie gerade zum hundertsten Mal.

"Ich auch. Freust du dich auf deine Hochzeit?" Ley würde schon nächste Woche heiraten - und zwar ihren besten Freund. Manchmal beneidete ich sie darum, dass sie ihren Bräutigam schon so gut kannte.

"Und wie. Das Haus, dass Brams Familie gebaut hat ist so schön, ich bin sicher es wird mir dort gefallen. Du kommst doch zu meiner Hochzeit, oder?"

"Ley, ich bin deine Brautjungfer - natürlich komme ich zu deiner Hochzeit." Ich schüttelte lachend den Kopf. Leyla war wie immer total aufgedreht und redete ohne vorher darüber nachzudenken.

"Ich wollte ja nur noch mal nachfragen. Ich bin so aufgeregt!", quiekte sie. Lachend umarmte ich sie schnell.

"Du bist so was von verrückt."

"Deswegen liebst du mich ja auch."

"Stimmt." Lachend gingen wir weiter. Dieses Gespräch hatten wir nicht zum ersten Mal geführt, es fühlte sich fast einstudiert an.

"Nehmen wir die Abkürzung durchs Industriegebiet?", fragte ich.

"Warum nicht. Dann sind wir sogar rechtzeitig zum Essen zu Hause. Bei uns gibt es heute Gemüse-Auflauf, und bei euch?" Ley und ich bogen in den kleinen Weg ein, der direkt im Industriegebiet mündete. Wir wohnten beide in dem Viertel auf der anderen Seite davon. Normalerweise nahmen wir die Straßenbahn, aber heute wollten wir noch eine Weile reden und hatten uns deshalb entschlossen zu Fuß zu gehen. Keine gute Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte.

Wir gingen eine ganze Weile weiter, redeten über dies und das, nichts Wichtiges. Bis Ley plötzlich meinte: "Du, ich glaube wir werden beobachtet."

"Beobachtet?"

"Ja. Ich hab da so ein Gefühl."

Ich ließ meinen Blick über die leere Straße wandern. "Aber hier ist gar niemand. Die Aufregung macht dich paranoid." Leyla lachte, und wir wechselten wieder zu anderen Themen, aber wir waren jetzt vorsichtiger - aufmerksamer. Ansonsten hätten wir das dumpfe Geräusch hinter uns auch gar nicht gehört.

"Was war das?" Wir drehten uns gleichzeitig um. In nur einer Sekunde erkannten wir, was vor sich ging. Über das Dach des Hauses, das wir gerade passiert hatten, rannten Menschen. Einer davon war gerade vom Dach gesprungen und kam jetzt auf uns zu.

"Blades! Lauf!", schrie Ley und wir drehten uns um und rannten um unser Leben. Trotzdem konnte ich hören, wie unser Verfolger uns immer näher kam. Dann sprang plötzlich noch einer von dem Dach vor uns - mindestens fünf Meter tief. Er landete leicht auf seinen Füßen und grinste uns an. Zum Glück waren wir gerade an einer Kreuzung, naja, oder eben auch nicht zum Glück.

"Nach links!", schrie ich.

"Nach rechts!", schrie Leyla gleichzeitig und dann bogen wir in entgegengesetzte Richtungen ab. Ich hätte geflucht, wenn ich noch genug Atem gehabt hätte. Meine Lunge brannte, mein Herz pochte wie verrückt und ich machte mir Sorgen um Leyla - bis ich plötzlich in einer Sackgasse stand.

Jetzt konnte ich fluchen. Hätte ich besser aufgepasst, wo ich hingerannt war anstatt über meine Schulter zu sehen, weil ich mich fragte ob ich noch Verfolger hatte, wäre mir das nicht passiert. Zu meinem Leidwesen hatte ich noch einen Verfolger und es war zu spät um umzudrehen. Er hatte die Kreuzung bereits erreicht. Als er erkannte, dass ich nicht mehr weg konnte, verringerte er sein Tempo und lächelte breit. Im Gegensatz zu mir atmete er ganz ruhig, als hätte es ihn keinerlei Mühe gekostet zu rennen.

Ich raffte alle meinen Mut zusammen und versuchte nicht an die Geschichten von verschwundenen und ermordeten Wyldern zu denken, die alle wahr und den Blades zu verdanken waren. Wie ihr seht, gelang es mir nicht sonderlich gut.

"Bleib weg von mir", sagte ich. Meine Stimme war überraschend fest. "Ich beherrsche Magie." Ich konzentrierte mich und brachte meine Hand zum Leuchten. Es war nur ein Lichtzauber und er konnte niemanden verletzen, aber ich hoffte, dass es beeindruckend aussah. Das Zittern meiner Finger ließ das aber nicht zu.

"Ist es dir zu dunkel, dass du Licht brauchst?", fragte mich der Blade grinsend. Ich hatte ihn wohl nicht im Mindesten beeindruckt, denn er kam immer noch auf mich zu. "Dann nimm doch das hier." Er hob seine Hand und sie ging in leuchtende Flammen auf. Erschrocken schrie ich auf, meine Konzentration ging flöten und mein Zauber auch. Diese Art von Magie hatte ich noch nie gesehen.

Der Blade lachte. "Beeindruckend für eine kleine Wylder, ich weiß. Und dabei ist das noch gar nichts." Mittlerweile war ich bis zur Wand in meinem Rücken zurückgewichen. Trotzdem begriff ich zu spät, was er vorhatte, als er die Flammen an seiner Hand löschte und sie dann in einer Wurfbewegung auf mich richtete. Schon war ich mit einem Netz an den grauen Putz genagelt.

Der Blade blieb erst direkt vor mir stehen. Ich registrierte jetzt, dass er jung war, maximal zwei Jahre älter als ich. Er trug einen Ohrring im linken Ohr und eine Kette mit einem Ring daran. Seine dunkelbraunen Augen fixierten mich. Dann legte er überlegend den Kopf schief.

"Was mache ich denn jetzt mit dir?" Ich betete einfach nur, dass es Ley gut ging. "Ich weiß was. Wie heißt du?"

"Was geht dich das an?", fauchte ich ihn an. Ich war selbst überrascht, dass ich dafür noch genug Mut übrig hatte.

"Na hoppla. So spricht eine Wylder aber eigentlich nicht." Er lachte über einen Witz, den nur er verstanden hatte. "Nein im Ernst, wie heißt du?"

"Luna." Ich bereute sofort, dass ich ihm geantwortet hatte.

"So wie der Mond? Ein hübscher Name, wirklich. Ich bin Cas, das ist die Abkürzung für Casper. Das war der Name meines Großvaters, nach ihm wurde ich benannt." Er lächelte mich an. "Weißt du, warum wir Blades Blades genannt werden?"

"Weil ihr immer Klingen bei euch tragt mit denen ihr Unschuldigen die Brust durchbohren könnt." Wow, das klang wirklich fies. Um ehrlich zu sein, war ich ein wenig beeindruckt von mir.

Er lächelte und zog den Degen aus seinem Gürtel. Das scharfe Metall blitzte hell in den letzten Sonnenstrahlen auf. "Meinst du diese hier? Ja, wir tragen immer eine bei uns, aber deine Antwort war trotzdem falsch. Als die Menschheit zum ersten Mal in die heutigen drei Klassen aufgeteilt wurde, nannte man die Blades Blades, wegen ihres scharfen Verstandes und ihrer Fähigkeit sich schnell zu bewegen." Er sah auf seine Klinge, und dann wieder auf mich. "Wer erzählt euch diese Geschichten, dass wir Wylder umbringen würden?"

"Wir lernen es von unseren Eltern. Wir lesen es in der Zeitung. Wir wissen -"

"Ihr wisst gar nichts", unterbach Cas mich. Dann holte er mit seinem Degen aus und ich schloss die Augen, denn ich wusste, dass ich jetzt sterben würde. Doch anstatt eines Stichs, spürte ich, wie der Widerstand des Netzes plötzlich nachgab und ich nach vorne fiel. Ich öffnete die Augen und wollte gerade schreien, als Cas mich auch schon aufgefangen hatte. Mein einziger Gedanke war "Lauf!", als er mir plötzlich so nah war. Aber es war mir unmöglich. Stattdessen musste ich mich an ihm festhalten, bis ich einen sicheren Stand hatte und ich verwünschte die ganze Welt dafür. Als ich endlich von ihm loskommen wollte, hielt er mich immer noch fest. Ich wehrte mich, versuchte mich loszureißen, bis ich seine Klinge in meinem Rücken spürte. Wenn er mich töten wollte, warum hatte er es dann nicht sofort getan?

"Ich möchte dir nicht weh tun, also hör auf dich zu wehren", fauchte Cas. Seine Worte verwirrten mich nur noch mehr - ich meine: häh? Trotzdem hielt ich jetzt ganz still, wollte nicht riskieren, dass er mich aus Versehen aufschlitzte. Sobald er merkte, dass ich nicht mehr versuchte ihn zu treten oder zu beißen, zog er mich näher zu sich heran. Unsere Oberkörper berührten sich wieder, ich musste den Kopf heben, damit ich nicht an seiner Schulter erstickte. Ich spürte wie er den Kopf ein wenig herunter senkte, spürte plötzlich seinen Atem an meinem Ohr. Hatte er mich deshalb nicht getötet, weil er noch mehr von mir wollte als meinen Tod? Wollte er mich mit Gewalt zwingen...? Eine Träne lief mir über die Wange, ich versuchte mich zu wappnen, aber es ging nicht. Stattdessen fing ich wieder an zu zittern.

"Bitte nicht...", flüsterte ich so leise, dass ich es selbst kaum hörte.

"Warum hast du eine solche Angst vor mir?", fragte Cas in mein Ohr hinein. Dieses Mal gab ich keine Antwort. Mein Kampfgeist hatte mich verlassen, mir blieb nichts anderes mehr übrig als mich zu fügen. "Ich werde dir nichts tun." Er wartete wieder, vermutlich auf eine Antwort, aber ich sagte nichts. "Du bist anders als die meisten Wylder. Wenn du das auch weißt, wenn du dich manchmal langweilst oder vor dem Spiegel stehst und dich fragst wie du ohne Schürze und mit offenem Haar aussehen würdest... Dann komm heute Nacht zur Chamberlyroad Ecke Novemberallee. Du wirst dort einiges über dich erfahren, was du nie gedacht hättest. Aber glaub mir, du bist bereit dafür." Ich wartete darauf, dass irgendetwas geschah, dass er mich doch noch erstechen würde, aber nichts.

Keine Ahnung wie lange er mich fest hielt, bis er wieder etwas tat. Während er mich immer noch mit einem Arm umklammerte, steckte er vorsichtig mit dem anderen seinen Degen wieder an den Gürtel. Ich spürte das kalte Metall durch mein Kleid hindurch, als es mich leicht streifte, aber ich blieb unverletzt, nicht einmal der Stoff nahm Schaden. Dann hob Cas die jetzt freie Hand an meinen Kopf, strich mir vorsichtig durchs Haar. "Bitte komm", flüsterte er mir zu, bevor er in einer einzigen Bewegung meine Haarklammer löste, mich losließ und sich umdrehte. Ich schwankte leicht, blieb aber stehen und blickte ihm hinterher, als er davonrannte. Der Wind blies mir meine Haare ins Gesicht. Cas hatte meine Klammer behalten.

 

So, und das war der Anfang vom Ende von meinem Leben, so wie ich es kannte. Irgendwann war mir dann aufgegangen, dass ich mich auf dem Weg nach Hause machen sollte, es wurde schon dunkel. Auch Ley fiel mir wieder ein und ich begann zu rennen. Als ich das Industriegebiet verließ, sah ich sie sofort. Sie wartete an einen Baum gelehnt auf mich.

 

"Luna! Du lebst. Gott, ich bin so froh dich zu sehen. Ich hab gedacht..." Sie fiel mir stürmisch um den Hals. "Ist alles in Ordnung?"

"Ja, ja mir geht's gut." Ich konnte es selbst kaum fassen, dass Cas mir nichts getan hatte. "Bist du ihnen entwischt?"

"Ja, ziemlich schnell sogar, nachdem wir uns getrennt hatten. Ich bin dann hierher gerannt, weil ich dachte du bist vielleicht schon da, aber das warst du nicht, also hab ich gewartet und gewartet. Ich hatte solche Angst um dich."

"Mir ist nichts passiert. Sie... Sie haben mich nicht gekriegt, aber ich habe mich verlaufen und musste erst mal den Weg zurück finden", log ich. Warum ich log, wusste ich selbst nicht so genau, aber ich konnte ihr einfach nicht von der Begegnung mit Cas erzählen - ich verstand sie ja selbst noch nicht.

"Und deine Haarspange?" Ich fasste mir ins Haar. Eigentlich trugen Wylder ihre Haare immer zusammengebunden. Das gehörte sich einfach so.

"Ich muss sie irgendwo verloren haben."

"Warte, hier. Ich habe immer eine zweite dabei." Sie reichte mir ihre und ich band mir die Haare wieder zusammen. Das alles fühlte sich noch an wie ein Traum.

"Du, Ley, ich glaube wir sollten unseren Eltern nichts davon erzählen."

"Warum nicht? Sie müssen doch wissen, dass schon wieder Blades im Viertel unterwegs sind."

"Aber dann lassen sie uns wahrscheinlich nie wieder allein in die Stadt gehen. Am Ende verschieben sie womöglich deine Hochzeit."

"Das würden sie doch nicht machen, oder?", fragte Ley mich zweifelnd. Ich sah sie an und wusste nicht, ob ich das richtige tat, als ich mit den Schultern zuckte.

"Sie hätten große Angst um uns."

Leyla überlegte eine Weile, dann nickte sie zögernd. "Okay, wir schweigen." Dann machten wir uns auf den restlichen Weg nach Hause.

 

Tja, als ich an dem Abend dann im Bett lag, wurde mir klar, dass ich eine Menge Regeln gebrochen hatte. Und außerdem gingen mir Cas Worte nicht mehr aus dem Kopf. Also wartete ich bis meine Eltern schliefen und verließ dann leise das Haus.

Es war komisch, wie leicht ich die Ecke fand, zu der ich gehen sollte. Ich war bis jetzt nur ein paar Mal daran vorbeigefahren, aber natürlich wusste ich, wo sie lag: es war die letzte Ecke vor dem großen Park, der das Viertel der Wylder vom Viertel der Blades trennte. Die einzige Stelle, an der sich diese beiden Stadtteile berührten.

Die ganze Zeit über suchte ich in meinem Kopf nach Gründen, um wieder umdrehen zu können und sobald ich einen fand, fand ich auch einen, der mich weiter trieb. Ob ich mich manchmal langweilte? Natürlich. Ob ich gerne mal ohne Schürze aus dem Haus gehen würde? Ja, sehr sogar. Ob ich gerne wüsste, wie sich der Wind in meinem Haar anfühlen würde? Manchmal träumte ich sogar davon am Meer zu stehen und den Wind zu spüren, der meine Haare nach hinten weht. Diese Gedanken waren es, die nicht zuließen, dass ich wieder nach Hause ging. Ich musste einfach wissen, was Cas gemeint hatte.

 

Als ich an der Ecke ankam, kam ich mir lächerlich vor. Es war totenstill, keine Menschenseele war zu sehen. Ich seufzte, konnte nicht verhindern, dass ich enttäuscht war. Ich hatte auf Antworten gehofft. Gerade als ich mich wieder umdrehte, hörte ich die Schritte. Schnell wie der Blitz wirbelte ich herum und sah die dunkle Gestalt auf mich zukommen. Unschlüssig, ob ich davonlaufen oder einfach abwarten sollte, machte ich erst einmal nur einen Schritt zurück. Als ich erkannte, dass es ein Blade war, schalteten meine Reflexe schneller als ich - ich rannte. Doch schon nach etwa fünfzig Metern hatte er mich eingeholt.

"Warum läufst du immer vor mir davon?" Er hielt mich von hinten an beiden Armen fest, flüsterte direkt in mein Ohr. Ich erkannte Cas dennoch.

"Lass mich los," antwortete ich. Meine Stimme zitterte, mein Herzschlag schien meine Worte zu übertönen.

"Nur wenn du nicht davon läufst."

"Werde ich nicht", versprach ich schnell. Ganz langsam lockerte er seinen Griff. Sobald ich entweichen konnte, brachte ich Abstand zwischen uns. Dann sah ich ihn an, schluckte. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob rennen nicht doch die bessere Alternative war.

Cas lächelte mir zu. "Du bist gekommen."

"Ja. Ich... Ich bin neugierig. Warum hast du mich nicht umgebracht? Warum tust du es jetzt nicht?"

"Hör auf damit. Bitte. Ich habe noch nie einen Menschen getötet und ich habe es auch ganz bestimmt nicht vor. Hör auf in Klassen zu denken."

Ich runzelte die Stirn, konnte nicht verstehen, was er damit meinte. Zumindest damals noch nicht. "Ich habe keine Ahnung, was du meinst."

"Natürlich nicht. Wie könntest du auch? Du kennst ja nichts anderes." Er sah mich einen Moment lang an. "Ich vergesse oft, wie geblendet ihr seid."

"Was soll das heißen?"

"Das wirst du bald verstehen. Komm, wir sollten von der Straße weg." Cas drehte sich um und lief in die Richtung, aus der er gekommen war. Das wäre meine Chance gewesen zu fliehen, aber stattdessen folgte ich ihm. Es sollte mich nicht interessieren, was er zu sagen hatte, aber das tat es.

 

Damals war ich noch so jung und dabei ist es noch gar nicht so lange her. Ich habe aber seit dieser Nacht so viel erlebt, dass es mir vorkommt wie Jahre, dabei sind es nur Monate.

Könnt ihr euch das vorstellen, wie es ist, wenn alles was du zu wissen glaubst, sich als Lüge entpuppt? Wenn sich wegen einer Person euer ganzes Leben radikal verändert? Euer Selbstbild, euer Umfeld, eure Arbeit - einfach alles? Wahrscheinlich nicht, aber ich greife der Geschichte voraus. Ich sollte erst einmal erzählen, wo Cas mich hingebracht hat.

 

Wir gingen zum Park. Das gefiel mir ganz und gar nicht, kein Wylder ging jemals in diese Anlage hinein, zu groß war unsere Angst vor Überfällen. Aber ich folgte Cas weiterhin, in den Park hinein. Aber ich ging jetzt ein Stück näher bei ihm. Er würde mich ja wohl nicht doch noch umbringen, oder? Obwohl mein Herz raste wie verrückt und es abgesehen vom Mondlicht stockfinster war, bemerkte ich die Schönheit meiner Umgebung. Es gab hier Teiche und Brunnen, weit angelegte Wiesen und hin und wieder ein Blumenbeet. Es gab Spielplätze für Kinder, Picknicktische und Sportplätze. Ich hätte nie gedacht, dass das alles hier so groß war.

"Es ist wunderschön hier", bemerkte ich.

"Ja, das muss es zumindest einmal gewesen sein. Aber jetzt verkommt alles, weil sich niemand mehr hierher traut." Cas Stimme klang bitter. Sobald er es erwähnte, fiel es auch mir auf. Das Gras war zu hoch, in den Beeten wuchs Unkraut, manche Tische standen schief, Schaukeln fehlten und der Asphalt des Weges war aufgebrochen. Plötzlich wirkte das ganze einfach nur noch traurig, wie das Überbleibsel einer anderen Zeit. Darüber dachte ich nach, bis wir plötzlich vor einer Mauer standen.

"Was ist das?", fragte ich, als ich daran hoch blickte. Sie war bestimmt vier Meter hoch und aus glattem Beton. Egal ob ich nach links oder nach rechts sah - ich konnte kein Ende entdecken.

"Die Grenze zum Viertel der Blades." Plötzlich wurde mir wieder bewusst wo ich war und mit wem ich dort war. Ich schluckte, meine Muskeln spannten sich an, aber ich lief nicht davon. Cas bog nach rechts ab und lief an der Mauer entlang. Als ich zurückblickte fiel mir auf, dass der Weg erst direkt an der Mauer endete, so als wäre sie direkt auf ihn drauf gebaut.

"Geht der Weg auf der anderen Seite weiter?", fragte ich.

"Ja, genau wie der Park. Den gibt es schon weitaus länger als die Mauer, wahrscheinlich sogar schon länger als die Klassenteilung. Sieh dir diesen Baum dort an: er ist bestimmt hundert Jahre alt." Ich war nie auf die Idee gekommen, dass der Park nicht zur Grenzanlage gehörte, sondern einfach nur am falschen Platz war. Geschweige denn, dass ich gedacht hätte, dass er auf der anderen Seite weiterging.

"Wie groß ist er, also der Park?"

"Keine Ahnung." Cas zuckte mit den Schultern. "Ein paar Quadratkilometer vielleicht."

"Wohin gehen wir?"

"Du hast ganz schön viele Fragen, kann das sein?"

"Ja, natürlich. Warum sollte ich auch keine Fragen haben?“

"Eigentlich sollten Wylder doch nicht neugierig sein, aber du bist es."

"Was soll das denn heißen?"

"Ach, nur dass du einige Eigenschaften aufweist, die eine Wylder eigentlich nicht haben sollte: Neugier, Mut, Abenteuerlust."

"Ich bin eine Wylder", erklärte ich bestimmt. Daran gab es schließlich auch gar keinen Zweifel. Meine Eltern waren Wylder, ich beherrschte weiße Magie, glaubte daran und fügte mich den Regeln. Es war doch wohl normal, dass ich auch ein bisschen anders dachte als andere, oder?

"Ja, vielleicht."

"Wie bitte?", fragte ich gereizt nach, aber ich erhielt keine Antwort. Er war stehengeblieben und beugte sich gerade über den Boden, dann scharrte er einmal mit dem Fuß darüber.

"Du darfst keinem hiervon erzählen, das ist dir klar, oder?" Er sah mich an.

"Natürlich nicht. Sie würden mich wahrscheinlich in psychiatrische Behandlung geben, wegen meiner Dummheit einem Blade zu folgen." Ich entlockte Cas ein Lächeln.

"Du musst es versprechen." Es schien ihm tatsächlich wichtig zu sein. Ich verdrehte nur die Augen. "Versprich, dass du mit niemandem außer mit mir über irgendetwas von dem, was du heute siehst, sprichst. In keiner Sprache. Du wirst es auch nicht aufschreiben, oder aufmalen oder in sonstiger Weise festhalten oder weitergeben. Versprich mir das."

"Versprochen." Ich überlegte gar nicht lange, denn mir würde sowieso niemand glauben. Mein Versprechen war bindend, schließlich war ich eine Wylder.

"Gut, dann komm." Cas bückte sich noch mal um und griff in die Erde hinein. Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und öffnete dabei eine Falltür im Boden. Darin kamen steile Stufen zum Vorschein, die nach unten führten, in die absolute Dunkelheit. Cas ging voran, aber nur ein paar Stufen weit. Er ragte noch immer aus der Erde heraus, als er sich zu mir umdrehte. "Na los, komm schon."

"Wo führt der Tunnel hin?", fragte ich im Gegenzug.

"Auf die andere Seite der Mauer." Ich wich zurück. Auf gar keinen Fall würde ich auch nur einen Fuß in das Viertel der Blades setzen.

"Was hast du denn?"

"Ich werde nicht da hinüber gehen."

"Vertraust du mir nicht?" Nur ganz kurz dachte ich darüber nach.

"Nein." Cas sah mich an und ließ ganz langsam die Hand sinken, die er mir entgegengestreckt hatte.

"Natürlich nicht." Er seufzte. "Wie könntest du auch? Du kennst mich schließlich gar nicht." Dann kam er wieder hoch und schloss die Falltür.

"Okay, eigentlich darf ich dir außerhalb von unserem Viertel nichts erzählen, weil wir dann nicht sicher sein können, ob du es auch wirklich ernst meinst. Aber auch wenn du mir nicht vertraust, dann vertraue ich immer noch dir. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie tue ich es. Komm, setze dich zu mir." Cas war während er sprach zur Mauer gegangen und hatte sich daran herunter gleiten lassen. Ich hatte nicht alles verstanden, was er gesagt hatte, aber ich setzte mich trotzdem zu ihm.

"Was möchtest du denn wissen?", fragte er mich und lächelte. Obwohl es dunkel war, konnte ich sehen, wie seine Augen zu leuchten begannen, als er mich ansah. Zum ersten Mal, fielen mir seine schön definierten Gesichtszüge auf und dass sein Haar im Mondlicht ein wenig heller war, als tagsüber. Ich vergaß, was er mich gefragt hatte.

"Luna?"

"Hmm?"

"Was möchtest du wissen?" Das holte mich zurück, ich wurde rot und hoffte, dass er das im Dunkeln nicht sehen konnte.

"Ähm, keine Ahnung, alles Mögliche." Ich sah hinauf zum Himmel und überlegte. "Wie... Wie kannst du ein Blade sein? Ich meine, weißt du nicht, dass es falsch ist, schwarze Magie anzuwenden?"

"Das ist eine ziemlich komplizierte Frage. Du glaubst doch, dass man in seine Klasse hinein geboren wird, warum fragst du dann?" Er wartete ab, ob ich antworten würde, aber mir fiel keine plausible Erklärung ein. "Weil du hoffst, dass es für mich einen Ausweg aus diesem Leben 'als Böser' gibt. Und dass obwohl du doch angeblich etwas anderes glaubst." Er ließ mir Zeit zu verstehen, was er gesagt hatte, bevor er weitersprach. "Um zurück auf deine Frage zu kommen: ich kann so leben, weil ich weiß, dass es nicht falsch ist."

"Das verstehe ich nicht. Es ist schwarze Magie, es ist..."

"Es ist Magie. Weder schwarz noch weiß, sondern genau dieselbe wie deine."

"Nein. Ich bin eine Wylder, du bist ein Blade. Wir wenden unterschiedliche Magien an."

"Das redet man euch ein, ja. Aber eigentlich ist es genau dasselbe. Nur dass ich mein volles Potential nutze und du dich hinter dem scheinbaren Wissen versteckst, es nicht zu können." Was meinte er denn? Als ich nichts sagte, seufzte er. "Ich habe dir doch gesagt, dass du aufhören sollst in Klassen zu denken. Und das solltest du wirklich, denn die Aufteilung in Klassen ist totaler Blödsinn. Kein Mensch lässt sich in eine Gruppe hineinzwingen, und niemand wird mit einer bestimmten Überzeugung geboren. Das reden sie euch nur ein."

"Das ist nicht wahr. Die Klassengesellschaft funktioniert schließlich."

"Ja, aber nur, weil jeder Angst davor hat auszubrechen." Ich sah Cas jetzt zum ersten Mal wieder an. Aber unsere Blicke begegneten sich nicht, denn jetzt sah er nach oben in den Himmel. "Meine Mutter war eine Wylder."

"Was?"

"Ja. Sie war schon verheiratet, als sie meinem Vater begegnete - einem Blade. Als ihr Ehemann herausfand, dass nicht er der Vater ist, hat er sie und mich verstoßen. Wir haben dann außerhalb der Stadt gelebt, als Freie. Meine Mutter starb kurz vor meinem vierten Geburtstag. Alles, was ich noch von ihr habe ist die Erinnerung an ihr Lächeln."

"Das tut mir leid." Seine Geschichte klang so unglaubwürdig, dass es mir schwer fiel, ihn ernst zu nehmen, aber gleichzeitig hörte ich die Bitterkeit und die Trauer so deutlich in seiner Stimme, dass ich auch sofort wusste, dass er die Wahrheit sagte.

"Danke. Ich bin dann in ein Heim gekommen, zwei Jahre lang habe ich dort gelebt, bevor mein Vater mich fand und bei sich aufnahm. Ich weiß, dass die Klassengesellschaft Schwachsinn ist, weil ich der beste Beweis dafür bin." Endlich sah er mich wieder an. Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. "Du glaubst mir nicht." Er seufzte und wollte sich abwenden. Aber ich streckte wie automatisch die Hand nach ihm aus und legte meine Finger vorsichtig auf seinen Arm.

"Doch. Ich meine, ich denke schon. Es ist nur, wenn ich dir glaube, dann muss ich auch glauben, dass meine Eltern mich belogen haben und das will ich nicht."

"So darfst du das nicht sehen. Deine Eltern sind auch schon belogen worden, so wie ihre Eltern vor ihnen. Es ist ein raffiniertes Lügennetz, das nach dem großen Krieg gespannt wurde und seitdem nicht einmal gewackelt hat."

"Die Regierung belügt uns also?"

"Davon gehe ich aus."

"Warum erzählst du mir das alles?"

"Wir Blades möchten nicht länger mit ansehen, wie die Wylder ihr Leben vergeuden und die Freien in Angst leben. Wir müssen etwas tun. Aber noch sind wir zu wenige, um etwas ausrichten zu können, wenn alle Wylder hinter der Regierung stehen. Deshalb nehmen wir das Risiko auf uns und gehen in euer Viertel. Wir sind auf der Suche nach jungen Frauen und Männern, die die Seite wechseln könnten."

"Du, du möchtest, dass ich eine Blade werde."

"Vielleicht. Es ist komplizierter als es klingt. Wir versuchen euch die Augen zu öffnen und die meisten, die wir bis jetzt getroffen haben, sind dann freiwillig bei uns geblieben."

"Deshalb sollte ich auf die andere Seite. Damit ich nicht davonlaufe." Das begriff ich jetzt und plötzlich war ich wütend. Es war hier nie um mich als Person gegangen.

"Ja, ich meine, nein. Wenn wir losgehen, ist das normalerweise der Plan, aber bei dir... Ich weiß auch nicht. Ich möchte, dass du diese Entscheidung allein triffst, eine Entscheidung für das Richtige."

"Ich kann nicht einfach meine Familie und meine Freunde zurück lassen." Schon spürte ich, wie mein Ärger wieder nachließ, als Cas mich endlich ansah.

"Dann lass dir Zeit. Denk darüber nach. Ich werde dich finden und fragen, ob du bereit bist."

"Wann?"

"Bald, hoffe ich." Wir sahen uns einen Moment lang nur an und ich spürte, wie mir plötzlich ganz warm wurde.

"Ich sollte dich zurückbringen."

"Ja." Ich schüttelte den Kopf um wieder ein wenig klarer denken zu können, dann ließ ich mir von Cas aufhelfen. Meine Handfläche brannte, als er mich losließ.

Er begleitete mich bis zu unserem Haus, obwohl ich zu bedenken gab, dass er entdeckt werden könnte, aber er ließ es sich nicht ausreden. Bis ich endlich einschlief, dämmerte es bereits.

 

Cas hatte mir einiges zum Nachdenken gegeben. Für euch ging das Ganze jetzt wahrscheinlich ein wenig schnell - ich habe ja selbst den Rest der Nacht wachgelegen um darüber nachzudenken. Es lässt sich aber eigentlich ziemlich schnell zusammenfassen.

In 1. Meine Sicht der Dinge, vor dieser Nacht: die Blades sind gefährlich. Ihre Magie ist böse und sie setzen sie gegen andere ein. Jeder wird in seine Klasse hineingeboren, in die Klasse in die er gehört. Aber ich wollte nie die Hoffnung aufgeben, dass die Blades vielleicht irgendwie Wylder werden konnten. Wir Wylder sind gut, ehrlich. Wie unsere Regierung. Wir können nur weiße Magie anwenden.

2. Das, was Cas versucht hat mir zu erklären: das Klassensystem ist eine Lüge, die die Regierung gezielt lenkt. Jeder Mensch ist einzigartig und passt nicht unbedingt in seine Klasse. Alle können gleich viel Magie anwenden. Man kann die Grenzen der Klassen überwinden.

3. Meine Gedanken nach dem nächtlichen Treffen: totale Verwirrung. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich glauben sollte. Ich wollte Cas je gerne glauben - aber ich konnte nicht in einer Nacht alles übereinander werfen.

Nach unserer Begegnung schlief ich schlecht. Ich machte meine Hausarbeiten schlampig und wurde drei Mal fast überfahren. Ich dachte nur noch über Cas nach. Am Anfang noch über das, was er gesagt hatte, aber irgendwann nur noch über ihn. Über seine blauen Augen, die braunen Haare, seine süße Nase. Darüber, wie er nur für einen Moment meine Hand gehalten hatte. Ich hatte in Büchern gelesen, dass man so über seinen Ehepartner nachdenken sollte, was mich nur noch mehr verwirrte. Wenn ich an Josh dachte, war da schließlich gar nichts. Was war das für ein eigenartiges Gefühl?

Lacht mich bitte nicht aus. Ich wusste es damals wirklich nicht, Liebe war für mich immer anders definiert gewesen. Heute ist mir klar, dass ich schon damals dabei war mich in Cas zu verlieben.

2. Teil

Seit dem geheimen Treffen waren fünf Tage vergangen, ich hatte kein Wort darüber verloren. An diesem Abend war Leys Hochzeit und ich gab mir alle Mühe mich für sie zu freuen, glücklich auszusehen, wenn ich neben ihr saß. Und ich glaube, es gelang mir ganz gut. Zumindest bemerkte sie nichts.

Die Zeremonie war schon seit Stunden vorbei, die Nacht war hereingebrochen. Alle feierten bei dem Haus, das die Familie des Bräutigams traditionellerweise gebaut hatte. Es war wirklich hübsch, klein, aber immer noch groß genug für mindestens zwei Kinder. Die Einrichtung war genau auf Leylas Geschmack abgepasst. Schon als ich den ersten Schritt über die Türschwelle gemacht hatte, hatte ich gewusst, dass es ihr hier gefallen würde.

Meine Eltern hatte ich vor einer ganzen Weile aus den Augen verloren. Ley redete fast nur noch mit Bram, ihrem Ehemann. Viele Gäste waren längst leicht betrunken und der Geruch von Alkohol, Zigarren und naja, einfach Menschen in Verbindung mit der Lautstärke von sechzig sich unterhaltenden Personen bereitete mir langsam Kopfschmerzen. Ich drängte mich zu Ley durch und gab ihr Bescheid, dass ich einmal frische Luft schnappen musste. Sie nickte nur, also ging ich hinaus.

Ich sah mich kurz um, überlegte wo ich hingehen sollte. Ich wollte ein wenig Abstand zwischen mich und die Leute bringen, zumindest für eine viertel Stunde oder so. Also entschloss ich mich dazu, nach rechts zu gehen, denn ich erinnerte mich daran, dass es dort einen alten Brunnen gab, auf dessen Beckenrand ich mich setzen könnte.

Ich atmete dort einfach mal tief durch. Die kalte Nachtluft belebte mich sofort wieder und die Ruhe ließ meine Kopfschmerzen schwächer werden.

"Hey", sagte jemand. Ich riss die Augen auf und sah mich um, konnte aber niemanden entdecken.

"Wer ist da?"s fragte ich.

"Ich bin es nur. Lauf bloß nicht wieder weg." In einer Seitenstraße ging kurz ein Licht an und ich erkannte Cas. Sobald ich wusste, wer er war, beendete er den Zauber wieder.

"Was machst du hier?", fragte ich ihn.

"Ich habe doch gesagt, dass ich dich finden werde." Er lächelte und setzte sich neben mich. "Hast du dich schon..."

"Nein", unterbrach ich ihn.

"Das macht nichts. Ich kann warten."

"Du solltest nicht hier sein. Heute Nacht sind hier eine ganze Menge Wylder unterwegs." Ich konnte nicht verhindern, dass ich mir Sorgen machte. Wenn er entdeckt würde...

"Keine Bange. Bevor auch nur irgendein Wylder erkennen könnte, dass ich ein Blade bin, wäre ich auch schon wieder weg. Eure Reflexe arbeiten viel langsamer als meine, weil sie über die Jahre abgestumpft sind."

"Wirklich?"

"Ja." Er sah mich kurz an, aber das reichte um mich zu überzeugen. Dann rutschte er ein Stück von mir weg und legte sich mit dem Kopf zu mir auf den Rücken. "Der Himmel hier ist so leer."

"Wie meinst du das?", fragte ich.

"Leg dich hin." Ohne zu überlegen folgte ich seiner Aufforderung. Der Brunnenrand war zum Glück breit genug, sodass mein Kopf neben seinen passte. "Man sieht nur den Mond." Ich sah nach oben. Der Himmel war dunkelblau, so wie jede Nacht, nur um den Mond herum war es etwas heller. "Kennst du die alten Gemälde, auf denen ganz viele Lichter im Nachthimmel zu sehen sind?"

"Ja", antwortete ich. Immer schon hatte ich wissen wollen, was sie waren, denn ich fand sie wunderschön.

"Das sind Sterne. Riesige Gasbälle, so wie unsere Sonne nur viel weiter entfernt. Tagsüber verdeckt das Licht der Sonne sie, aber nachts waren sie früher von überall her zu erkennen. Während dem Krieg wurden die oberen Luftschichten aber so sehr verschmutzt, dass man heute nicht mehr so gut hindurchsehen kann. Außerdem überdeckt das viele Licht in den Städten das Licht der Sterne, das erst einmal mehrere Milliarden Kilometer zurücklegen muss, bevor es bei uns ankommt."

"Du klingst, als hättest du sie schon einmal gesehen."

"Das habe ich. Außerhalb, weit, weit außerhalb der Stadt gibt es einen Ort, von dem aus man sie sehen kann. Es ist wunderschön dort."

"Ja, das glaube ich sofort. Ich würde die Sterne auch gerne einmal sehen."

"Wenn du willst, kann ich dich ja irgendwann mal mit dorthin nehmen. Aber es ist eine Tagesreise, bis man dort ist." Ich wandte den Kopf und sah plötzlich direkt in Cas' Augen, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt waren.

"Ich kann keine zwei Tage von zu Hause fort bleiben", brachte ich heraus.

"Schade."

"Ja." Umso länger ich Cas ansah, umso wirrer wurden meine Gedanken. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Pupillen und ich meinte fast, die Sterne in seinen Augen glitzern zu sehen. Ich atmete leicht und die Zeit verging, ohne dass irgendwer etwas sagte oder sich bewegte. Wir sahen uns nur in die Augen, aber es war wunderschön.

"Ich... Ich...", begann ich, doch ich brachte keinen ganzen Satz zustande.

"Du solltest zurückgehen."

"Ja." Ich wandte den Blick ab. Mach dich nicht lächerlich, befahl ich mir. Dann richtete ich mich wieder auf. Als ich wieder saß, stand Cas bereits vor mir. Wieder reichte er mir die Hand, um mir aufzuhelfen, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre.

"Es ist die Hochzeit deiner Freundin, nicht wahr?"

"Ja. Ich bin ihre Brautjungfer. Woher weißt du..."

"Ich weiß so einiges." Er lächelte geheimnisvoll, lachte dann aber. "Ich habe sie von einem Dach aus ins Haus gehen sehen und wiedererkannt. Sie sah toll aus."

"Ja. Das tut sie."

"Aber nicht so wunderschön wie du." Ich sah ihn an und wurde rot, als unsere Blicke sich begegneten. Er griff in seine Tasche und zog etwas hervor. "Hier. Es ist ein Geschenk, für dich. Ich hoffe es gefällt dir, auch wenn es nicht eingepackt ist." Er reichte es mir. Es war ein kleines, gelbes Büchlein. Darauf stand: "W. Shakespeare, Romeo und Julia".

"Danke." Ich nahm es an mich. Noch nie hatte ich so ein Buch gesehen und als ich das Papier berührte, spürte ich sofort, dass es alt war. Sehr alt.

"Es ist eigentlich ein Theaterstück, aber es wird nicht mehr aufgeführt. Mein Vater hat gesagt, dass es seiner Mutter gehört hat, sie hat es sehr geliebt. Ich habe es auch gelesen und naja, ich dachte, vielleicht gefällt es dir ja." Er sah mich an und zum ersten Mal entdeckte ich Unsicherheit in seinem Blick.

"Ganz bestimmt wird es das", antwortete ich.

"Es ist so, die Regierung mag das Stück nicht sonderlich gern, genau genommen haben sie es verboten. Versteck es also bitte gut. Niemand darf es finden."

"Okay, das mache ich." Wieder sahen wir uns einen Moment lang an. Dann blickte Cas über meine Schulter in die Straße hinein, aus der ich gekommen war.

"Du solltest wirklich gehen, bevor sie einen Suchtrupp nach dir ausschicken."

"Ja, wahrscheinlich."

"Tschüss." Cas beugte sich herunter und küsste mich auf die Wange. "Ich komme bald wieder." Dann sah er mich wieder an. Mir wurde klar, dass, wenn ich jetzt nicht ging, ich womöglich niemals gehen würde. Also drehte ich mich um und ging davon. Ich versuchte wirklich, nicht zurückzublicken, doch schon nach ein paar Metern wurde das Verlangen zu groß. Cas war schon verschwunden.

Ich hob die Hand an mein Gesicht und berührte die Stelle an der seine Lippen mich gestreift hatten. Es schien fast so, als könnte ich sie noch immer auf der Haut spüren.

 

Ich habe damals eine ganze Weile an der Ecke gestanden, bis ich mich dazu entschloss das Büchlein einfach unter mein Kleid zu stecken. Die ganze Zeit über hatte ich Angst, es könnte herausfallen, aber das tat es nicht. Zum Glück verließen meine Eltern und ich die Party bald darauf. Sobald ich allein in meinem Zimmer war, begann ich zu lesen.

Ich las das ganze Stück in dieser einen Nacht durch. Es war das schönste und traurigste was ich jemals gelesen hatte. Erst fiel es mir schwer zu verstehen, worum es ging, aber irgendwann begriff ich es. Die Geschichte spielte vor so langer Zeit, zu einer Zeit in der es noch keine Klassen gab und trotzdem durften Romeo und Julia nicht zusammen sein. Doch sie liebten sich so sehr, dass sie es trotzdem versuchten und schließlich füreinander starben. Ich habe wahrscheinlich alle Tränen geweint, die ich zur Verfügung hatte. Aber als sie mir endlich ausgingen, musste ich auch schon wieder aufstehen.

Den ganzen Tag über war ich todmüde. Meine Mutter schlug mittags sogar vor, dass ich mich noch einmal hinlegen sollte, nur für eine halbe Stunde, aber ich lehnte ab. Ich hatte Angst, nach einer halben Stunde noch nicht wieder wach zu werden. Abends fiel ich dann endlich in mein Bett und schlief sofort ein. Ich träumte von Cas.

 

Die Zeit verging und immer wieder tauchte Cas in meiner Nähe auf. Wir unterhielten uns über alles Mögliche. Cas erzählte mir von den Dingen, die er außerhalb der Stadt gesehen hatte. Aber über das Buch sprachen wir nie. Ich trug es jetzt immer bei mir, in einer versteckten Tasche, die ich an alle meine Kleider genäht hatte. Es schien mir das sicherste Versteck zu sein und außerdem war es ein schönes Gefühl Cas' Geschenk in meiner Nähe zu wissen. Das war, als wäre er bei mir. Ich las Romeo und Julia immer wieder. So oft, dass ich einige Dialoge bald auswendig kannte.

Manchmal zeigte Cas mir einen Zauber wenn wir uns trafen und versuchte mich zu überreden, ihn nachzumachen, aber ich weigerte mich. Ich war damals einfach noch nicht bereit dazu.

Fragt mich bitte nicht, wie Cas mich immer fand. Woher er wusste, wann ich allein war oder wie er es schaffte unentdeckt zu bleiben, aber während all der Wochen, die vergingen gab es keine neuen Meldungen von Blades, die sich im Viertel herumtrieben.

Diese Wochen vergingen schleppend langsam. Ich wartete eigentlich immer nur darauf, wann Cas mir begegnen würde, sorgte absichtlich dafür, dass ich allein war, aber er kam nicht immer. Ich weiß, das ist total lächerlich. Zumindest machte ich meine Hausarbeiten noch, auch wenn ich ansonsten nicht mehr viel zu tun hatte. Ley durfte ich nicht sehen, da sie ja jetzt verheiratet war und ich nicht. Die meisten meiner anderen Freunde hatten keine Zeit oder gingen schon arbeiten. Ich hatte also eine ganze Menge Freizeit und Langeweile, deshalb sehnte ich mich danach Cas wieder zu treffen. Aber mit der Langeweile war es vorbei, als meine Mutter mich an meinen Hochzeitstag erinnerte. Mir blieben nur noch sieben Tage.

 

"Wir müssen noch die Girlanden kaufen gehen und die Servietten. Hast du bei dem DJ angerufen? Und, kann er kommen?", fragte meine Mutter. Sie war die ganze Zeit total aufgeregt, hatte Angst nicht mehr alles organisiert zu bekommen.

"Ich habe den DJ schon vor Monaten gebucht, dass weißt du doch. Und an seiner Zusage hat sich nichts geändert", antwortete meine Vater hinter der Zeitung hervor. Er sah mich an und verdrehte die Augen. Es war bestimmt das dritte Mal, dass meine Mutter diese Frage stellte, deshalb musste ich ein Kichern unterdrücken.

"Luna, du musst das alles ein bisschen ernster nehmen. Es ist deine Hochzeit! Der wichtigste Wendepunkt in deinem Leben und du hast dich noch nicht einmal für ein Farbthema entschieden."

"Mum, wir schaffen das schon. Ley hat auch so kurzfristig angefangen zu planen und ihre Hochzeit war doch auch ganz toll."

"Leyla hat aber nicht den Sohn des meist angesehenen Wylders des Viertels geheiratet. Toll reicht nicht aus und als Mutter der Braut bin ich dafür verantwortlich, dass es großartig wird."

"Mum!", stöhnte ich genervt. Ich hasste dieses Argument. "So angesehen ist Joshs Vater auch nicht."

"Luna, das will ich nicht gehört haben."

"Entschuldigung", murrte ich. Meine Laune war am Ende. Ich hatte Cas schon seit fünf Tagen nicht mehr gesehen und so wie es aussah würde meine Mutter mich bis zu meiner Hochzeit auch nicht mehr aus den Augen lassen.

"Ein Farbthema, jetzt", forderte sie. Ich stand auf und sah mir die Muster an, die sie bereit gelegt hatte. Willkürlich wählte ich eines aus.

"Das", meinte ich.

"Bist du sicher? Das ist so blass."

"Mum."

"Ist ja schon gut. Schön, dann können wir ja jetzt die Dekoration besorgen fahren." Sie schnappte sich mein Handgelenk und zog mich mit. Mittlerweile schien es mir unbegreiflich, dass ich mich einmal so sehr auf meine Hochzeit gefreut hatte. Im Moment nervte sie mich eher und mit der Liebe von Romeo und Julia im Hinterkopf und Cas' Bild vor Augen fiel es mir schwer zu glauben, dass die Hochzeit dafür sorgen würde, dass ich Josh liebte. Mein Verständnis für den Begriff Liebe hatte sich längst verschoben.

 

Eines Nachts wurde ich dann plötzlich wach. Etwas hatte gegen mein Fenster geklopft. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich darauf wartete, ob sich das Geräusch wiederholen würde. Als es das tat, atmete ich tief durch und entschloss mich nachzusehen, was es verursachte. Ganz langsam drehte ich mich zum Fenster. Leider war es in meinem Zimmer heller als draußen und ich konnte nicht viel mehr als mein Spiegelbild erkennen.

"Luna? Bist du wach? Mach das verdammte Fenster auf!", hörte ich. Ich erkannte Cas' Stimme sofort, auch wenn sie eigenartig klang und ich sie durch das Glas hindurch eigentlich gar nicht hätte hören dürfen.

Sofort stand ich auf und öffnete das Fenster. Cas kletterte herein.

"Wie zur Hölle hast du das gemacht?"

"Was?"

"Wie bist du an mein Fenster gekommen?"

"Ein Kletterzauber. Ich habe die Struktur der Wand so verändert, dass es fast so leicht war wie Treppensteigen."

"Das geht?"

"Wie du siehst." Ich dachte einen Moment darüber nach.

"Warum hast du dann nicht einfach das Fenster auch mit Magie geöffnet?"

"Ich wollte dich nicht erschrecken."

"Das ist dir kläglich misslungen", schnaufte ich, aber ich meinte es nicht ernst. Eigentlich war ich sogar froh, dass er hier war. Als ich zu meinem Bett ging um mich zu setzen, wurde mir das erst so richtig bewusst. Cas war in meinem Zimmer. Mitten in der Nacht. Mein Herzschlag beschleunigte sich, ohne dass ich es hätte verhindern können.

"Tut mir leid."

"Schon okay", brachte ich heraus. Ich richtete leise mein Bett und setzte mich. Dann machte ich eine Handbewegung, die Cas dazu einladen sollte näher zu kommen. Er zögerte kurz und ich erkannte Unsicherheit in seinen Bewegungen.

"Deine Mutter lässt dich seit Tagen nicht mehr aus den Augen", meinte Cas während er sich neben mich setzte. Er wahrte dabei ungewöhnlich viel Abstand zu mir.

"Ja. Sie hat Angst, dass ich mich irgendwie verletzen könnte." Ich schnaubte. Das war so lächerlich.

"Sie möchte nicht, dass du mit einem Verband am Kopf heiraten musst, schätze ich."

"Woher weißt du... Ach egal."

"Wann ist die Hochzeit?"

"Am Freitag."

"Also morgen?"

"Morgen?" Ich war für einen Moment verwirrt. Es war doch nicht schon Donnerstag, oder?

"Ja, morgen ist Freitag. Beziehungsweise eher heute, wenn man die Uhr betrachtet." Ich schluckte, konnte nicht antworten. Ich hatte gedacht, dass ich noch ein wenig Zeit hätte. Wo waren die letzten Tage hin?

"Luna? Ist alles in Ordnung?"

"Ja, ja natürlich."

"Du hast Angst", stellte Cas fest. Zögernd sah ich ihn an.

"Warum sollte ich?"

"Hast du das Buch gelesen?"

"Ja." Was hatte das denn jetzt miteinander zu tun?

"Glaubst du wirklich, dass du mit Josh Michealsen so glücklich wirst, wie Julia mit Romeo?"

"Julia hat sich umgebracht."

"Du weißt was ich meine. Kannst du wirklich noch glauben, dass du dich einfach so in Josh verlieben wirst, nur weil deine Eltern es irgendwann einmal festgelegt haben?"

"Ich, ich muss es glauben", brachte ich heraus. Cas sah mich an und ich konnte ihm ansehen, dass er auf eine andere Antwort gehofft hatte. Ich wartete darauf, dass er irgendetwas sagte, aber stattdessen beugte er sich urplötzlich vor und küsste mich. Ich sah es nicht kommen und dann lagen seine Lippen schon auf meinen. Weich und warm. Ich konnte gar nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Es ging ganz schnell, dann löste er sich auch schon wieder von mir.

"Kannst du es jetzt noch?", fragte er. Noch immer war er mir so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Meine Gedanken waren total wirr, nur einer stach heraus: er hat dich geküsst.

Ich wich zurück, brachte so viel Abstand zwischen ihn und mich, wie das Bett zuließ.

"Was hast du getan?", fragte ich ihn fassungslos.

"Was ich längst hätte tun sollen."

"Du... Du... Bist du nur deswegen hier, um mein Leben zu zerstören?", fuhr ich ihn an.

"Wie meinst du das?"

Ich senkte meine Stimme wieder. Auf gar keinen Fall durften meine Eltern wach werden. "Seit du mir begegnet bist, ist alles kompliziert. Plötzlich muss ich über Dinge nachdenken, über die ich gar nicht nachdenken dürfte. Und das alles nur wegen dir." Ich spürte wie mir eine einzelne Träne über die Wange rann und wischte sie verärgert weg.

"Das liegt nur daran, dass du endlich erkennst, dass du viel mehr bist, als nur das Mädchen, das die Regierung dir vorschreibt zu sein." Cas stand auf und kam auf mich zu. Ich wich bis zur Wand zurück, doch er folgte mir trotzdem.

"Versteh doch endlich, was du für Möglichkeiten hast." Er hob die Hand und strich mir eine Strähne, die aus meinem Zopf gerutscht war, hinters Ohr.

"Machst du das alles nur, damit ich mit dir komme? Damit ich eine Blade werde?" Erst als ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie sehr mich diese Frage beschäftigt hatte. Das war es, wovor ich seit Leylas Hochzeit Angst gehabt hatte: dass ich nur eine von Vielen war.

Cas seufzte. "Nein. Eigentlich... Eigentlich sollte ich nicht einmal hier sein. Eigentlich hätte ich nach der ersten Nacht, die, in der du dich gegen uns entschieden hast, einen Vergessenszauber über dich legen sollen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich wollte nicht. Ich wusste, dass ich dich einfach wiedersehen musste."

"Wirklich?" Er kam noch ein Stück näher und legte seine Stirn gegen meine.

"Wirklich." Die Zeit blieb stehen. Ich versank in dem Gefühl Cas zu berühren. Dann legte ich meine Lippen auf seine, ganz vorsichtig. Ich hatte Angst. Einen Kuss durfte man eigentlich nur mit seinem Ehemann teilen. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich wollte nicht Josh, hatte ihn nie gewollt. Ich wollte Cas.

"Ich kann Josh nicht heiraten", stellte ich fest, als wir uns voneinander lösten. "Sonst werde ich mein Leben lang unglücklich sein." Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Plötzlich war alles so klar: was ich wollte und wie ich es beinahe weggeworfen hätte. Was ich tun musste und was ich dafür alles zurücklassen musste. Cas zog mich in seine Arme und strich mir gleichmäßig über den Rücken. Er sagte nichts, bis ich mich vorsichtig von ihm losmachte.

"Hier." Er zog etwas aus seiner Tasche. "Die wollte ich dir noch zurückgeben." Er drückte mir meine alte Haarspange in die Hand. Ich betrachtete sie lange, bevor ich antwortete.

"Ich brauche sie nicht mehr." Ich ging zum Nachttisch und legte sie darauf. Dann zog ich den Gummi aus meinen Haaren und legte ihn daneben bevor ich mich wieder zu Cas umdrehte. "Bring mich zu den Blades." Er kam zu mir und sah mich an.

"Bist du dir sicher?"

"Nein," antwortete ich, "aber ich werde mir nie sicherer sein als jetzt." Cas verstand was ich sagen wollte. Noch einmal drückte er mir einen Kuss auf die Lippen. Schließlich nahm er meine Hand und wir machten uns auf den Weg.

 

So jetzt wisst ihr, wie sich mein Leben so drastisch verändert hat. Ich würde euch ja gerne erzählen, wie Josh geguckt hat, als ich nicht bei der Hochzeit aufgetaucht bin, aber ich war nicht dort, also kann ich es euch nicht sagen.

Ich mache mir bis heute noch Vorwürfe, dass ich meine Eltern einfach so zurückgelassen habe, aber umso mehr Zeit vergeht, umso mehr weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Bei den Blades bin ich glücklicher als je zuvor. Alle haben mich freundlich empfangen und helfen mir dabei, die vielen Zauber zu lernen, von denen ich gedacht hatte, dass ich sie gar nicht beherrsche. Nur Cas' Vater sieht mich manchmal noch schief an, wenn sein Sohn mich berührt, aber wir kommen gut miteinander aus.

Ich wohne allein in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss eines Hauses und auch wenn es eine ziemliche Umstellung war, habe ich mich daran gewöhnt, meine Haare offen zu tragen, sogar Hosen zu tragen kommt mir mittlerweile normal vor.

Letztes Wochenende hat Cas mich mit zu dem Ort genommen, von dem aus man die Sterne sehen kann. Er lag neben mir und hat mir die Sternbilder gezeigt, die er kennt. Es war unglaublich schön. Der Himmel erschien mir so viel größer als sonst und die Sterne waren sowieso das Unglaublichste, was ich jemals gesehen hatte. Aber das Beste war, dass ich diesen Moment mit Cas teilen konnte.

Intermezzo

Als es klingelt springe ich vom Boden auf und renne zur Tür. Auf dem Weg werfe ich einen Blick auf die Küchenuhr - es ist schon später als ich gedacht hatte. Dann mache ich Cas auf.

"Hey", begrüßt er mich.

"Hey." Sofort breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Egal wie oft ich ihn sehe, jedes Mal ist es so, als würde ich mich noch mal in ihn verlieben. Auch wenn das total kitschig klingt.

Wir gehen ins Wohnzimmer und verbringen den Abend mit Pizza, Rotwein und irgendwelchen zweitklassigen Filmen, die im Fernsehen laufen, während wir uns unterhalten. Irgendwann lande ich in Cas' Armen. Wir küssen uns, er zieht mich näher zu sich. Seine eine Hand findet meine Hüfte, die andere den Reißverschluss meines Kleides. Als ich mich von ihm löse, sieht er mich verwirrt an. Doch bevor er irgendetwas sagen kann, stehe ich auf und ziehe ihn mit ins Schlafzimmer. Erst dort lege ich meine Lippen wieder auf seine.

Er reagiert sofort, öffnet endlich mein Kleid. Plötzlich finde ich mich an die Wand gepresst wieder. Cas küsst meinen Hals, mein Dekolleté. Dann wandert sein Mund wieder zu meinem.

"Bist du dir sicher?", flüstert er.

"Ja", gebe ich zurück. Ich lege meine Hände auf seine entblößte Brust und stoße ihn zurück, sodass er direkt auf dem Bett landet. Ich folge ihm, platziere mich direkt über ihm.

"Luna Pettyfer, du bist ein gemeines Biest", meint er, als er bemerkt, dass meine Knie und Ellbogen verhindern, dass er sich bewegen könnte.

"Stimmt. Und du bist schuld daran. Du hast mich zu den Blades geholt." Ich lasse ihm keine Zeit zu antworten sondern presse meine Lippen sofort wieder auf seine.

 

Mein Name ist Luna Pettyfer. Ich bin eine Blade, weil ich das frei für mich gewählt habe. Obwohl ich erst siebzehn bin, werde ich dafür kämpfen, dass jeder frei entscheiden kann. Das ist mein Ziel. Und was ist deines?

Teil 3

Mein Name ist Luna Pettyfer. Das letzte Mal habe ich euch davon erzählt, wie mein Leben sich verändert hat. Das war sehr schwer für mich, alles loszulassen und von vorn zu beginnen, auch wenn es das Richtige war. Dass ich mich für Cas und die Blades entschieden habe, hat mich einiges gekostet, aber der Kampf für meine Freiheit ist noch viel schlimmer.

Davon möchte ich euch jetzt erzählen. Natürlich geht es bei diesem Kampf nicht nur um meine Freiheit, sondern auch um eure Freiheit und um die Freiheit der nächsten Generationen. Ihr müsst wissen, dass es kein Zuckerschlecken ist für seine Überzeugungen einzustehen, aber ich bin mir sicher, dass es das Richtige ist. Und deswegen werde ich weiterkämpfen.

Als ich die Wylder vor einigen Monaten verlassen habe, wusste ich, dass sich einiges ändern würde, auch das ich mich ändern würde. Aber mir war nicht ganz klar, wie viel Neues ich erfahren und lernen würde. Und genau damit muss ich meine Erzählung beginnen.

 

"Okay, also wir müssen ganz langsam anfangen. Ich weiß ja nicht, was für Zauber du im Haushalt schon angewandt hast." Den letzten Teil ihres Satzes formulierte Nina mehr wie eine Frage, als wie eine Anleitung. Nina war ein paar Jahre älter als ich und eine der ersten Wylder gewesen, die die Seite wechselten. Jetzt sollte sie mir helfen zu lernen mein volles magisches Potential zu nutzen.

"Wenige. Einfache Lichtzauber meistens. Manchmal auch einen kleinen Wärmezauber um unserem altersschwachen Herd auf die Sprünge zu helfen", antwortete ich ihr.

"Das ist doch schon einmal eine gute Basis. Dann können wir ja mit den Wärmezaubern anfangen. Cas hat mir erzählt, dass er dir den Feuerzauber schon mal gezeigt hat."

"Ja schon, aber ich hab mich nicht getraut ihn nachzumachen. Ich hatte Angst, dass ich die Flammen nicht kontrollieren könnte und meine Hand dann wirklich in Flammen steht." Nina lachte, was mich leicht verunsicherte. Cas hatte mich gewarnt, dass Ninas Humor gewöhnungsbedürftig war, aber er hatte auch gemeint, dass man trotzdem gut mit ihr zurechtkam.

"Das sieht ihm ähnlich, gleich mit der schwierigsten Stufe dieses Zaubers anzufangen. Mach dir keine Sorgen, ich weiß wie es dir geht. Wir fangen leichter an." Ich lächelte unsicher. Ich war nie eine sonderlich gute Zauberin gewesen. Meine Lust diese ganzen Zauber auszuprobieren war dementsprechend groß.

"Nehmen wir erst mal die Steinplatte hier, die ist eurem Herd am ähnlichsten. Wärm sie auf."

"Die ganze Platte?"

"Klar. Sie muss ja nicht anfangen zu glühen oder so, nur wärmer werden." Ich konzentrierte mich und schaffte es nach mehreren Versuchen tatsächlich den Stein so zu erhitzen, dass man die Hand eher ungern darauf liegen ließ. Wir machten noch mehr Übungen, mit unterschiedlichen Materialien. Nina machte mir immer genauere Vorgaben, wie sehr ich es zu erhitzen hatte. Als letztes stellte sie ein Glas vor mich hin und meinte, ich solle es schmelzen.

"Das kann ich nie im Leben", meinte ich.

"Ach das klappt schon. Du hast dir doch auch den begehrtesten Jungen des Viertels geschnappt, da wirst du doch wohl so ein Glas einschmelzen können. Du musst einfach nur loslassen." Ich sah Nina an und versuchte aus ihren Worten schlau zu werden. Bevor ich etwas sagen konnte, wies sie jedoch noch einmal auf das Glas. Also versuchte ich alle Konzentration aufzubringen, die ich noch hatte und ließ sie auf das Glas los. Dummerweise schmolz es nicht, sondern zersprang. Es machte einen Höllenlärm.

"Oh mein Gott. Das... Das wollte ich nicht." Vorsichtig sah ich mich um. Der Tisch hatte jetzt einige Macken, aber ich hatte zum Glück keine Scherben abbekommen. Leider ging es Nina da anders: Sie hatte eine blutige Wunde am Arm. "Das tut mir total leid. Ich wollte echt nicht, dass das passiert. Ist sonst alles in Ordnung?"

"Mach dir keine Sorgen, ist nur ein Kratzer." Nina stand auf und lief zu einem Verbandskasten an der Wand. Gekonnt legte sie sich mit der freien Hand einen Verband um den Arm, bevor ich auch nur aufgestanden war um ihr zu helfen.

"So was passiert ständig. Als ich hier angefangen habe mich auszuprobieren, ist aus Versehen der Tisch zusammengekracht und meinem Ausbilder so auf den Fuß gefallen, dass er tagelang nur an Krücken gehen konnte."

"Wirklich?"

"Ja. Du hättest Cas' Gesicht sehen sollen, als ich seinen Vater so zugerichtet nach Hause brachte. Ich glaube er ist mir heute sogar noch ein bisschen böse, weil er danach eine Weile mit Robin trainieren musste. Das hat ihm mit dreizehn noch überhaupt keinen Spaß gemacht."

"Cas' Vater hat dich trainiert?"

"Klar. Er hat am Anfang eigentlich alle Neuen trainiert. Schließlich ist diese ganze Rebellion auf seinem Mist gewachsen." Während sie mit mir sprach, räumte Nina die letzten Überreste unseres Unterrichts weg. "Hast du das nicht gewusst?"

"Nein. Das hat Cas mir nie erzählt."

"Das sieht ihm mal wieder ähnlich. Aber dass seine Mutter eine Wylder war, das weißt du schon, oder?"

"Ja, das schon."

"Nachdem sein Vater Cas in dem Heim gefunden hatte, wollte er alles dafür tun, dass nicht noch mehr Kinder so ein Schicksal erleiden müssen. Außerdem hat er Cas' Mutter wirklich geliebt und er will, dass endlich alle selbst wählen dürfen, wen sie heiraten. So hat er es den Anderen damals natürlich nicht gesagt. Es ist ja nicht so, dass die Blades immer schon wussten, dass das Klassensystem Schwachsinn ist. Sie haben genauso daran geglaubt wie jeder andere auch. Nur mussten sie sich immer fragen, warum alles Schlechte angeblich immer ihre Schuld sein sollte. Das hat sie natürlich empfänglich für revolutionäre Gedanken gemacht."

"Du klingst wie ein Geschichtsbuch."

"Entschuldige. Mir wurde das alles nur so oft erzählt, dass es schon ganz normal für mich ist."

"Schon okay", antwortete ich. "Warum müssen denn die Blades jetzt immer als Sündenbock herhalten?"

"Weil die Regierung so ihre Macht behalten kann. Dadurch, dass sie den Wyldern erzählen, dass die Blades ein gemeinsamer Feind sind, hinterfragen die Wylder das Klassensystem nicht sondern akzeptieren es. Außerdem müssen die Politiker so nicht zugeben, dass auch sie mal Fehler machen."

"Also geht es eigentlich nur darum, dass die Blades keinen Bock mehr haben die Bösen zu sein. Cas hat erzählt, es ginge darum, dass die Freien nicht länger ausgestoßen und die Wylder nicht länger unterdrückt werden."

"Das stimmt ja auch. Das ist alles ein Teil davon, aber es geht um mehr. Es geht um Freiheit, darum selbst entscheiden zu können." Ich nickte und versuchte zu begreifen, was Nina mir erzählte. "Du nimmst das alles ziemlich locker auf."

"Klar, warum auch nicht?"

"Naja, man lernt hier doch von klein auf, dass Freiheit etwas Schlechtes ist. Ich meine, uns wird ja sogar erzählt, dass der große Krieg ausgebrochen ist, weil die Menschen zu viel Freiheit gehabt hatten."

"Ich schätze, dass ich einfach aufgehört habe mich über Dinge zu wundern, als ich Cas kennen gelernt habe."

"Scheint wohl so." Wir räumten noch den Tisch und die Stühle weg und verließen den Raum, bevor ich mich traute die nächste Frage zu stellen.

"Wie hast du das gemeint, vorher, dass ich mir den begehrtesten Jungen des Viertels geschnappt hätte?"

"Ach, nur so. Ich bin sicher dir ist klar, was für eine gute Partie Casper ist." Als ich nicht antwortete, sah Nina mich an. "Ich meine, als Sohn des Anführers? Und hast du gemerkt, wie leicht er Magie wirken kann? Und mal ganz abgesehen davon, wie gut er aussieht, wenn er ohne T-Shirt trainiert, niemand beherrscht die Klinge so gut wie er. Das muss dir doch bewusst sein."

"Naja, ich hab da nie drüber nachgedacht."

"Du hast dich einfach in ihn verliebt." Ich zuckte mit den Schultern. "Das kann dir auch wirklich niemand verdenken, aber du bist halt wahrscheinlich nicht die Einzige."

"Ich dachte du hast einen Freund?" War das der Grund, warum die Regierung die Heirat organisierte und die Liebe neu definiert hatte? Sobald Nina mir erzählte, dass auch andere Mädchen gerne mit Cas zusammen wären, hatte ich das Gefühl mit ihnen in Konkurrenz treten zu müssen. Das verwirrte mich viel mehr, als das, was Nina mir über Freiheit gesagt hatte, weil ich es absolut nicht einordnen konnte.

Nina lachte. "Ich spreche ja auch nicht von mir, wobei ich ja nicht blind bin, nur weil ich vergeben bin. Ich wollte dich nur vorwarnen - die Mädchen hier sind etwas direkter, als du es vielleicht gewohnt bist."

Ich nickte, unsicher was ich sagen sollte. Danke für die Warnung? Schön, dass ich jetzt was habe, über das ich mir Sorgen machen kann?

 

Das war meine erste Erfahrung mit Eifersucht. Damals wusste ich noch nicht, dass es Eifersucht war - dieses Wort existierte bei den Wyldern nicht einmal. Aber es blieb nicht das letzte Mal, dass ich in dieses Konkurrenzdenken abrutschte. Ihr habt gedacht, ich sei nicht so der eifersüchtige Typ? Tja, da habt ihr euch genauso getäuscht wie ich.

Ein paar Tage nach meinem Unterricht mit Nina, trainierte ich zum ersten Mal mit der Klinge. Seit ich bei den Blades war, hatte ich Aufbau- und Reflextraining machen müssen und laut meinem Trainer konnte ich das mehr oder weniger gut. Besser auf jeden Fall, als das mit dem Zaubern klappte. Als er mich endlich entließ, hatte ich verstanden, warum man zunächst einmal Aufbautraining machen sollte: mir tat einfach jeder Muskel weh. Wenn ich mich noch richtig hätte bewegen können, wäre ich wohl unter die Dusche geflüchtet, aber so humpelte ich mehr.

Danach ging es mir besser, zumindest konnte ich wieder aufrecht laufen. Als ich schon fast zur Tür raus war, fiel mir auf, dass ich noch etwas im Trainingsraum vergessen hatte, also ging ich zurück um es zu holen.

 

Entgegen meinen Erwartungen fand ich den Trainingsraum nicht leer vor. Cas stand am anderen Ende des Raumes und unterhielt sich mit zwei Mädchen. Er hatte den einen Arm lässig gegen die Wand gelehnt und obwohl ich ihn nur von hinten sehen konnte, machte mein Herz bei seinem Anblick einen kleinen Sprung. Manchmal nervte mich das schon fast.

Als ich näher kam, bemerkte ich, dass die zwei Mädchen ziemlich hübsch waren. Natürlich waren sie beide schlank und sportlich, so wie fast alle Blades, aber ihre Gesichter hatten etwas Besonderes an sich. Die Eine hatte ziemlich große Augen, die sie gekonnt mit ein wenig Make-Up in Szene gesetzt hatte und die Andere hatte tolle Locken, die sie gerade über ihre Schulter zurückstreifte und Cas dabei ein kleines Lächeln zuwarf. Vielleicht lag es an dem, was Nina mir erzählt hatte, aber ich fühlte mich beleidigt. Ich hatte zwar noch nie gesehen, dass sich Mädchen so verhielten, aber ich wusste instinktiv, dass sie versuchten Cas zu gefallen und das gefiel mir gar nicht.

"Hey." Ich stellte mich zu ihnen und küsste Cas schnell auf die Wange. Dann legte ich vorsichtig meine Hand in seine.

"Hey", antwortete er. "Und wie war das Training?" Natürlich hatte er nicht vergessen, dass ich heute zum ersten Mal mit der Klinge umgehen durfte. Ich schätze, dass ich ihm normalerweise die Wahrheit gesagt hätte, aber vor den beiden Mädchen wollte ich nicht zugeben, wie anstrengend es gewesen war.

"Es ist ganz anders als ich es erwartet habe. Aber es macht Spaß." Cas lächelte und irgendwie glaubte ich, dass er wusste, dass ich nicht ganz die Wahrheit sagte. "Möchtest du mich nicht vorstellen?", fragte ich ihn, bevor er näher darauf eingehen konnte.

"Doch natürlich. Das sind Kate und Laureen. Wir kennen uns schon seit der Grundschule, aber haben uns zwischenzeitlich dann doch aus den Augen verloren." Er zeigte nacheinander auf die mit den großen Augen und anschließend auf die mit den Locken. Die Zwei lächelten zuckersüß und ich wurde den Eindruck nicht los, dass mit diesem Gesichtsausdruck etwas nicht stimmte.

"Wir haben gerade mit Cas über sein Training gesprochen und ob er nicht mal ein wenig Zeit hätte uns zu unterrichten. Wir haben bis jetzt leider nicht so viel über den Umgang mit der Klinge gelernt."

"Wirklich? Vielleicht könnt ihr ja einfach mal mitmachen, wenn er mit mir trainiert. Du hast mir doch versprochen mit mir zu üben, nicht wahr?"

"Sobald Robin sein Okay gibt." Cas sah zu mir herunter und ich konnte in seinen Augen lesen, dass er leicht verwirrt war. Ich lächelte und antwortete: "Gut", bevor ich mich auf Zehenspitzen stellte und ihn küsste. Im Nachhinein war es mir ziemlich peinlich, wie ich mich verhielt, aber in diesem Moment wollte ich den zwei Schnepfen einfach nur zeigen, dass sie Cas nicht haben konnten. Er gehörte zu mir.

Ich spürte, dass Cas überrascht war, aber als ich nicht locker ließ, erwiderte er meinen Kuss und zog mich näher zu sich heran. Dann gab es plötzlich nur noch ihn und mich und alles andere war vergessen. Alles was zählte waren seine Lippen auf meinen und seine Hände an meinen Hüften. Meine Finger vergruben sich ganz automatisch in seinen Haaren.

Als wir uns schließlich wieder voneinander lösten, blickte Cas noch verwirrter drein als zuvor. Ich warf einen vorsichtigen Blick auf Laureen und Kate und stellte fest, dass sie nun nicht mehr lächelten. Im Gegenteil, sie sahen so aus, als hätten sie gerade erst in eine Zitrone gebissen. Dafür war es jetzt an mir, leise zu lächeln.

"Wir sollten dann mal gehen", meinte Kate nach ein paar Sekunden, in denen Cas immer noch mich angesehen hatte. Erst da blickte er wieder auf.

"Okay. Bis demnächst mal." Ohne zu antworten, gingen Kate und Laureen an uns vorbei und verließen den Raum. Sobald Cas mich wieder ansah, gab ich ihm noch einen schnellen Kuss, einfach, weil er mir immer noch so nah war. "Wir sehen uns heute Abend", flüsterte ich, bevor ich mich von ihm löste, meine Trinkflasche schnappte und mich auf den Weg nach draußen machte. Erst im Gang holte Cas mich ein.

"Was war das denn grade?" Ich blieb stehen und sah ihn an. Irgendwie war er echt süß, wenn er so aufgeregt war. Seine Haare waren noch leicht verwuschelt, seine Wangen leicht gerötet und seine Augen schienen direkt in mich hineinzusehen. Vermutlich hätte ich es nicht geschafft zu antworten, wenn nicht in dem Moment ein Mann an uns vorbei gelaufen wäre und Cas angesprochen hätte.

"Du kommst gleich aber schon zum Training, oder?"

"Klar, ich bin gleich da", antwortete er, wartete ab bis der Mann um die nächste Ecke verschwunden war und zog mich in einen kleinen Nebenraum.

"Also? Wofür war der Kuss?"

"Einfach nur so", log ich.

"Ach komm. Ich kenne dich besser. Normalerweise wirst du doch schon rot, wenn ich auch nur deine Hand halten will." Dass ihm das aufgefallen war, ließ mich jetzt erröten. "Du warst sowieso ganz komisch zu Kate und Laureen. Hast du was gegen sie?"

"Ich kenne sie doch gar nicht."

"Und trotzdem warst du so eigenartig." Cas sah mich forschend an und am liebsten wäre ich seinem Blick ausgewichen. Er kannte mich viel zu gut, so gut, dass er meistens in mir lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dieses Mal natürlich auch. "Bist du eifersüchtig?"

"Was?", fragte ich. Wovon sprach er da? Ich hatte keine Ahnung was das bedeuten sollte.

"Du bist eifersüchtig." Cas lachte, was mir in dieser Situation irgendwie unangemessen erschien.

"Was heißt das denn?"

"Entschuldige. Ich vergesse manchmal, dass die Regierung dieses Wort aus dem Vokabular gestrichen hat, als sie die Liebe neu definierte." Endlich sah er mich wieder an, aber dieses Mal war sein Blick nachsichtiger, weniger verwirrt. "Eifersucht ist das nagende Gefühl, das man bekommt, wenn man seinen Freund oder seine Freundin mit anderen zusammen sieht. Genau hier." Er pikste mir einmal mit dem Finger in den Bauch und ich wich zurück. Er wusste genau, wie kitzlig ich war. "Und dabei habe ich mich nur mit zwei alten Freundinnen unterhalten." Er kam mir immer näher und ich wich weiter zurück, bis ich die Wand im Rücken spürte. "Das ist echt süß." Cas stand jetzt so dicht vor mir, dass uns nur wenige Zentimeter trennten. Er hatte die Arme neben meinem Körper gegen die Wand gestützt, sodass ich ihm unmöglich entkommen konnte. Mein Herzschlag beschleunigte sich und mein Atem ging flacher. Musste ich wirklich immer so auf seine Nähe reagieren?

"Ist es schlimm, wenn ich eifersüchtig bin?", brachte ich heraus.

"Nein, gar nicht. Ich bin auch manchmal eifersüchtig. Darauf, wie viel Zeit du mit Robin verbringst - der ja fast wie mein großer Bruder für mich ist, oder darauf, wie manche Jungs dich ansehen. Manchmal würde ich ihnen dafür am liebsten eine reinhauen."

"Das wusste ich nicht."

"Das macht nichts. Es ist ganz normal, eifersüchtig zu sein. Vielleicht ist es sogar ganz gut für eine Beziehung. Ich meine, sonst hättest du mich niemals so geküsst wie gerade eben." Cas entlockte mir mit seinen Worten ein Lächeln bevor er seine Lippen vorsichtig auf meine legte. Als er sich wieder von mir entfernte hörte ich Schritte auf dem Gang.

"Cas?", rief jemand. "Wo auch immer du bist, komm endlich. Wir wollen mit dem Training anfangen!" Cas grinste in sich hinein und wir warteten, bis die Schritte sich wieder entfernt hatten, bevor wir wieder sprachen.

"Du solltest gehen", meinte ich.

"Ach, die halten es auch ein paar Minuten ohne mich aus." Er reichte mir die Hand und half mir aus der Ecke heraus, in die ich zurück gewichen war. "Ich muss dir noch eine Sache sagen." Er zog mich wieder dichter zu sich heran, ließ meine Hände dabei aber nicht los. "Du hast absolut keinen Grund um eifersüchtig zu sein, das ist dir doch klar? Für mich gibt es nur dich und keine Andere. Egal wie lange sie mir schöne Augen machen, okay?" Ich nickte langsam, zu mehr war ich irgendwie nicht imstande. Cas lächelte und küsste mich auf die Stirn. "So und jetzt sollte ich wirklich gehen."

 

Das scheint jetzt nicht viel mit einem großen Kampf zu tun zu haben, aber es ist trotzdem ein Teil dessen. Ihr müsst wissen, dass ich nicht von einem Tag auf den anderen von einer Wylder zu einer Blade geworden bin, sondern dass es eben eine Weile ging und die Dinge die ich gelernt habe, waren eben ein wichtiges Puzzlestück in diesem Vorgang. Dazu gehört das Zaubern genauso wie der Umgang mit der Klinge, aber auch alles, was ich über die Regierung erfahren habe und ja, auch das was ich mit Cas über die Liebe und über Eifersucht gelernt habe.

Außerdem habe ich mir gedacht, dass es vielleicht ganz nett ist, mit positiven Dingen zu beginnen und nicht gleich mit Tod und Verlust. Dazu kommen wir bestimmt noch früh genug.

Und nur falls ihr euch fragt: Kate und Laureen sind eigentlich gar nicht so übel. Sie haben sich sogar bei mir für ihr Verhalten entschuldigt. Mittlerweile kommen wir ziemlich gut miteinander aus.

Ein paar Tage nach der eigenartigen Begegnung in der Trainingshalle, kam Cas auf etwas zu sprechen, dass ich schon fast vergessen hatte: die Sterne. Natürlich war ich begeistert von der Idee, übers Wochenende die Stadt mit ihm zu verlassen und so weit zu fahren, dass wir die Sterne sehen konnten. Also handelten wir mit seinem Vater und meinen Trainern aus, dass wir frei bekamen und fuhren am Freitagmorgen los. Ich war mal wieder total aufgeregt, aber schließlich aus gutem Grund. Ich würde ein ganzes Wochenende nur mit Cas verbringen.

 

"Und, bist du schon neugierig?", fragte Cas mich. Ich drehte den Kopf und sah ihn an. Entgegen meinen Erwartungen blickte er zurück.

"Sieh nach vorn!", gab ich zurück. Er grinste und verdrehte die Augen, gab meiner Bitte aber nach. Es mag ja sein, dass er schon oft gefahren war, auch weit gefahren war, aber er fuhr trotzdem wie der Teufel. Schon auf dem Beifahrersitz hatte ich die ganze Zeit Angst um mein Leben, wenn er die Tachonadel mal wieder viel zu hoch trieb, knapp überholte oder viel zu dicht auffuhr. Schon mehrmals hatte ich mich vor meinem inneren Auge an irgendeiner Frontscheibe kleben sehen.

"Ich bin ein guter Fahrer."

"Du bist viel zu schnell", antwortete ich. Er sah kurz auf den Tacho und gab noch mehr Gas. "Cas!"

"Ist ja gut." Er wurde endlich mal langsamer. Ich atmete tief durch.

"Danke."

"Deswegen warst du so angespannt? Weil ich dir zu schnell gefahren bin?"

"Ja, auch."

"Und sonst?" Ich zögerte bevor ich ihm antwortete. Er hatte schon so viel erlebt, da hatte ich Angst, dass er mich vielleicht auslachen könnte.

"Ich bin noch nie außerhalb der Stadt gewesen", gab ich zu.

"Echt nicht? Du bist nie mit deinen Eltern an den See gefahren? Nie irgendwie übers Wochenende irgendwohin campen?"

"Nein. Ich glaube, die wenigsten Wylder verlassen jemals die Stadt, deswegen habe ich auch nie danach gefragt. Ich glaube, man erzählt uns in der Schule nicht einmal, was außerhalb der Stadtmauern liegt."

"Das tut mir leid."

"Wieso?"

"Weil es nichts schöneres als die Natur gibt. Innerhalb der Stadt fühle ich mich eingesperrt und kontrolliert, aber sobald ich sie verlassen habe, da ist es, als würde ich endlich lebendig werden." Ich hörte Cas gespannt zu, bevor ich wieder aus dem Fenster sah. Wiesen, Bäume, Hügel und Felder zogen an uns vorbei, sodass ich kaum den Blick davon lösen konnte. Ich hatte noch nie so viel grün auf einmal gesehen.

"Ich zeig dir was", meinte Cas irgendwann und bog von der breiten Straße auf eine kleinere ab.

"Wo fahren wir hin?", fragte ich ihn.

"An den See. Du musst einmal dort gewesen sein."

"Aber verlieren wir dann nicht zu viel Zeit? Kommen wir dann noch rechtzeitig an um die Sterne zu sehen?"

"Morgen ist auch noch eine Nacht. Ich habe extra noch nachgesehen, ob es auch wirklich nicht bewölkt wird. Wir werden auch dann noch freie Sicht haben." Ich muss zugeben, ich war leicht enttäuscht. Seit wir diesen Ausflug geplant hatten, hatte ich mich darauf gefreut die Sterne sehen zu können und jetzt sollte ich noch einen Tag warten? Es war nur ein Tag, aber in diesem Moment kam es mir vor wie eine Ewigkeit.

Dieser Moment verging, als vor uns plötzlich der See auftauchte. Er war so viel größer als ich erwartet hatte. Auf unserer Seite fiel das Ufer flach ab, der Boden ging sanft von Gras zu Sand über. Auf der anderen Uferseite hingegen begann direkt ein Wald. Tiefhängende Äste reichten bis ins Wasser, dass dort mit Seerosen bedeckt war. Es war wunderschön und hätte ich damals bereits gewusst, was ein Märchen ist, dann hätte ich es märchenhaft genannt.

Cas hielt mitten auf der Straße an.

"Musst du nicht woanders parken?", fragte ich.

"Es kommt fast nie jemand her, also kann ich auch hier stehen bleiben. Na los, lass uns nachsehen, wie warm das Wasser schon ist." Cas stieg aus und ich folgte seinem Beispiel. Am Ufer zog er seine Schuhe aus und krempelte seine Hose hoch. Ich beobachtete wie er ein paar vorsichtige Schritte ins Wasser machte, blieb aber im Trockenen.

"Es ist toll." Cas lächelte mir zu und winkte, dass ich ihm folgen sollte. Ich zog meine Schuhe ebenfalls aus, zögerte dann aber kurz. Den Rock meines Kleides würde ich nicht so leicht hochkrempeln können, wie Cas seine Hose. Er hatte mir den Rücken zugewandt, atmete ganz ruhig und gleichmäßig. Kurzerhand entschloss ich mich dazu, mein Kleid einfach auszuziehen und nur den kürzeren Unterrock und das Top anzubehalten. Schließlich trat ich zu Cas ins Wasser. Er hatte recht, es hatte genau die richtige Temperatur, nicht zu kalt, aber auch nicht zu warm. Es umspülte meine Füße sanft und mir fiel auf, wie sehr ich das Gefühl von Wasser auf meiner Haut vermisst hatte, seit ich das letzte Mal im Kinderschwimmkurs gewesen war.

"Ist das Wasser überall so flach?", fragte ich Cas. Ich hatte noch ein paar Schritte mehr gemacht, sodass das Wasser mir fast bis zu den Knien reichte.

"Nein, " er schüttelte den Kopf, "irgendwo ist eine Kante und danach fällt der Grund ziemlich steil ab. Erst am anderen Ufer wird es dann wieder flacher."

"Wo ist die Kante denn?"

"Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Irgendwo hinter dir." Er grinste, aber ich verdrehte nur die Augen. Keine Ahnung woher ich den Mut nahm so direkt zu sein. Vielleicht war es einfach nur das Wasser, das mir die Kraft dazu gab. Ich machte noch ein paar Schritte rückwärts, bis das Wasser fast den Saum meines Kleides berührte. "Kannst du bitte wieder näher kommen? Ich will nicht, dass du..." Weiter kam er nicht, denn ich rutschte aus und fiel plötzlich ganz ins Wasser - ich schätze, ich hatte die Kante gefunden. Im ersten Moment erschrak ich, wollte dann aber schon wieder zurück schwimmen um mich im Bruchteil einer Sekunde doch anders zu entscheiden. Die Zeit bei den Blades hatte mich schon ziemlich geprägt.

Als ich für einen kurzen Moment auftauchte, sah ich, dass Cas bereits auf mich zu kam. Es hätte mich nicht mehr als ein paar Schwimmzüge gekostet um ihn zu erreichen, aber stattdessen ließ ich mich wieder sinken, wedelte ein wenig mit den Armen und wartete ab, wie lange Cas bis zu mir brauchen würde. Als er mich endlich an der Hand packte, war ich darauf vorbereitet, zog einmal kräftig an ihm, sodass er ebenfalls das Gleichgewicht verlor und neben mir im Wasser landete. Gemeinsam tauchten wir wieder auf und ich musste laut lachen, als ich seinen erschrockenen Gesichtsausdruck sah.

"Ist... Ist alles in Ordnung? Ich dachte du kannst nicht schwimmen und dann..." Er brachte den Satz nur bruchstückhaft zustande, sah mich immer noch verwirrt an, wie ich neben ihm im Wasser schwamm. Von wegen, Blades begreifen schneller.

"Ich habe nie behauptet, dass ich nicht schwimmen kann." Langsam schien ihm aufzugehen, dass er mir in die Falle getappt war.

"Du kleines Biest. Ich muss sagen, dass ich dir das nicht zugetraut hätte." Cas grinste mich an und erst als er es erwähnte wurde mir klar, dass ich gerade Blade-typisches Verhalten an den Tag legte und nicht länger das einer Wylder. Für einen Moment stockte ich. Das war es doch gewesen, was ich gewollt hatte, oder? Ich war nicht zu den Blades gegangen um dieselbe Person zu bleiben. Trotzdem war der Gedanke beängstigend. Mir fielen die vielen schrecklichen Dinge ein, die man über die Blades sagte - und jetzt gehörte ich zu ihnen. Es ist eine Lüge, was man über sie sagt, redete ich mir ein, doch so schnell vergisst man etwas nicht, dass man seit seiner Geburt hört. Aber ich war mit Cas hier und das war alles was noch für mich zählte. Das alles brach im Bruchteil einer Sekunde über mich herein, Cas hatte es nicht einmal gemerkt. "Na warte," sagte er, "so leicht kommst du damit nicht davon." Er spritzte eine Handvoll Wasser nach mir, vielleicht um mir eine reelle Chance zu geben, ihm zu entwischen. Ich nutzte sie, tauchte unter und floh. Aber Cas kam mir hinterher und er war der weitaus bessere Schwimmer. Wir tobten eine Weile durchs Wasser, Cas fing mich immer wieder ein. Und immer, wenn ich mal wieder nicht schnell genug gewesen war, drückte er mir einen Kuss auf die Wange, bevor er mich wieder losließ und das Spiel von neuem begann. Irgendwann legten wir uns ans Ufer in die Sonne und ließen unsere Kleider trocknen.

Die Wärme war angenehm auf der Haut, ich fühlte mich erschöpft, aber nicht müde - es war als hätte das Wasser meine Wahrnehmung geschärft. Aber nicht nur die Wahrnehmung nach außen, sondern auch, wie ich mich selbst sah. Hier draußen, wo Cas und ich meilenweit die einzigen Menschen waren, dachte ich nicht darüber nach, was ich tat, ich tat es einfach. Ich stellte mir nicht bei jedem Satz die Frage, ob das zu sehr nach dem klang, was ich bei den Wyldern gelernt hatte oder ob es schon zu sehr nach den Blades klang um noch nach mir zu klingen. Während der letzten Wochen hatte ich mich bei den Blades immer mehr Zuhause gefühlt, ich war eine von ihnen geworden - eine Anfängerin, aber eine von ihnen - und umso mehr ich mich einlebte umso mehr kroch nachts die Angst in mein Herz, ich könnte mich selbst verlieren. Dieser Ausflug war genau, was ich gebraucht hatte. Bei Cas konnte ich einfach nur ich sein und endlich wusste ich wieder, wer das war.

"Es ist schön mit dir hier zu sein", sagte ich irgendwann, nachdem wir gegessen hatten. Cas lächelte mich an und ich rückte ein Stück näher zu ihm. Er legte den Arm um mich.

"Ja, das ist es", antwortete er. Unsere Klamotten waren längst trocken, gerade war die Sonne untergegangen und im Westen erhellte noch ihr letzter Schein den Himmel, während aus dem Osten die Dunkelheit immer näher rückte. Sie brachte Kälte mit sich, doch Cas breitete eine Decke über uns aus, sodass ich es nicht mehr spüren konnte.

"Ich wünschte, man könnte die Sterne sehen", meinte ich. Der Himmel hier kam mir weiter entfernt vor, als aus der Stadt und auch dunkler, obwohl er an manchen Stellen auch heller erschien, als würde dort Licht versuchen durch einen dicken Schleier zu gelangen. Aber sobald ich mich auf die hellen Flecken zu konzentrieren versuchte, verschwammen sie noch mehr und der Himmel war für einen Moment wieder einfarbig.

"Morgen wirst du sie sehen können, versprochen. Und ich bin sicher, dass du begeistert sein wirst." Wir blieben noch eine Weile wach, mal redeten wir, mal lauschten wir den Geräuschen um uns herum und irgendwann schliefen wir nebeneinander ein.

 

Am nächsten Tag fuhren wir weiter. Cas schien jetzt gelassener zu sein, als hätte die Nacht am See ihn ebenso beruhigt wie mich. Auch wenn ich ihn immer noch alle halbe Stunde darauf hinweisen musste, fuhr er jetzt langsamer als am Tag zuvor. Erst am Nachmittag erreichten wir einen Parkplatz, auf dem Cas den Wagen abstellte.

"Den Rest müssen wir zu Fuß gehen." Der Parkplatz befand sich am Rand eines Wäldchens, das auf einem zunächst sehr flachen, aber dann rasch ansteigenden Hügel wuchs. Umso länger ich nach oben sah, umso überzeugter war ich, dass es schon mehr ein Berg wie ein Hügel war. "Es gibt auf etwa 250 Metern Höhe ein kleines Flachstück, das sich wunderbar zum Campen eignet. Dort wollen wir hin, ich denke, dass wir in etwas weniger als einer Stunde dort sein müssten."

"Und von dort kann man die Sterne sehen?" Fragte ich.

"Ja, kaum zu glauben, dass ein so geringer Höhenunterschied so viel ausmachen kann, oder?" Cas holte den kleinen Rucksack aus dem Kofferraum und reichte ihn mir, selber behielt er noch den größeren und den Picknickkorb.

Wir redeten nicht viel, während wir bergauf liefen, aber das störte mich nicht. Es war auch schön einfach nur neben Cas herzugehen. Als wir oben ankamen war ich total aufgedreht, sodass ich kaum still stehen konnte. Wir picknickten in Ruhe, aber meine Ungeduld legte sich erst, als der Himmel begann sich rot zu färben. Ich kuschelte mich eng an Cas und starrte in den Himmel, traute mich kaum zu zwinkern um ja das Auftauchen des ersten Sterns nicht zu verpassen.

"Dort wird der erste Stern auftauchen, der Abendstern." Cas zeigte in eine bestimmte Richtung. "Das lustige daran ist, dass es gar kein Stern ist, sondern ein anderer Planet, die Venus. Ähnlich wie der Mond wird sie von der Sonne aber so hell beleuchtet, dass es aussehen wird wie ein Stern." Ich erinnerte mich daran, wie wir den Mond in der Schule behandelt hatten, auch die anderen Planeten unseres Sonnensystems, aber ich hatte nicht gut aufgepasst. Warum sollte ich mich für etwas interessieren, dass ich sowieso nicht sehen konnte?

"Da!" Als der Stern auftauchte, verschwand auch der Rest meiner Unruhe. Ich war fasziniert davon, wie er leuchtete und wie klein er war. Minutenlang starrte ich ihn einfach nur an, bis Cas mich anstupste und ich plötzlich immer mehr Sterne sehen konnte. Es tauchten so viele davon am Nachthimmel auf, dass ich bald nicht mehr zwischen denen unterscheiden konnte, die ich schon gesehen hatte und denen, die gerade erst aufgetaucht waren. Ich versuchte zu schätzen, wie viele es waren, aber es gelang mir nicht. Aber umso länger ich sie betrachtete umso unwirklicher kamen sie mir vor und umso mehr ich über sie nachdachte, umso unwichtiger kam ich mir vor. Plötzlich war ich ganz klein und der Himmel war so groß, so unendlich weit.

"Gefällt es dir?", flüsterte Cas.

"Es ist wunderschön", antwortete ich ohne den Blick vom Himmel zu lösen. Ich hörte Cas neben mir leise lachen, bevor er mir einen Kuss auf die Wange drückte. Das erregte dann doch meine Aufmerksamkeit und ich sah ihn an. Er lächelte und verschränkte seine Finger mit meinen. Anschließend hob er seine freie Hand und begann mit Zauberkraft leuchtende Linien in die Luft zu malen, die die Sterne verbanden: er zeigte mir die Sternbilder die er kannte und erzählte mir die Geschichten dazu, die sein Vater erst seiner Mutter und später auch ihm erzählt hatte.

Irgendwann lagen wir wieder schweigend nebeneinander, sahen uns an. Cas beugte sich vor um mich zu küssen und ich erwiderte seinen Kuss. Die Weite um mich herum schien meine Gefühle noch zu verstärken und ich nahm alles intensiver wahr als sonst. Cas schien es nicht anders zu gehen und unser sanfter Kuss wurde fordernder, als Cas seine Hand an meine Hüfte legte und mich noch näher zu sich zog. Ich spürte nur noch ihn, selbst der Boden unter uns schien zu verschwinden, als würden wir schweben. Hätten wir es getan, es hätte mich nicht überrascht und es hätte mich auch nicht gestört.

Cas' Hand wanderte tiefer, unter meinen Rock. Jede einzelne seiner Berührungen schien elektrische Impulse durch meinen Körper zu jagen. Auf einmal tauchte in meinem Kopf doch noch ein klarer Gedanke auf: Eine Wylder tut so etwas nicht. Sofort danach dachte ich: egal, ich bin eine Blade, aber es war zu spät. Der Augenblick, in dem es nur Cas und mich gegeben hatte war vorbei. Plötzlich nahm ich meine Umgebung wieder wahr, Cas fordernde Küsse an meinem Hals, wie seine Hand unter mein T-Shirt wanderte.

"Stopp", flüsterte ich tonlos, zu mehr war ich nicht im Stande. Erst dachte ich, Cas hätte mich nicht gehört, aber dann hielt er doch inne. Da ich nicht reagierte, sah er mich an. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er merkte, dass etwas nicht stimmte. Er zog sich zurück. Als mir klar wurde, was ich gerade getan hatte und was ich gerade fast getan hätte, wurde ich rot. Schnell setzte ich mich auf und wandte Cas den Rücken zu, damit er es nicht sehen konnte.

"Ich kann das nicht", sagte ich ohne es wirklich zu wollen. Ich spürte wie mir Tränen in die Augen schossen, wusste aber nicht wirklich warum.

"Tut mir Leid", sagte Cas. "Ich habe mich vergessen und..."

"Nein, schon okay", fiel ich ihm ins Wort. "Ich meine, ich will dich ja, aber... Es ist nur so dass..." Genervt stöhnte ich auf, weil ich es nicht schaffte den Satz zu beenden. Ich spürte wie Cas mich vorsichtig an der Hand berührte und sah ihn an. Er hatte sich ebenfalls aufgesetzt und streckte jetzt zögernd die andere Hand nach meinem Gesicht aus um mir die Tränen von den Wangen zu streichen.

"Schon gut", sagte er. "Ich kann warten." Dann berührte er nur ganz leicht mit den Lippen meine Stirn, fast als hätte er Angst, dass ich ihn noch einmal zurückweisen könnte. Ich hielt ihn zurück, als er sich wieder von mir entfernen wollte. Ich hatte die Unsicherheit in seinem Blick gesehen, die immer nur auftauchte, wenn wir allein waren. Er ließ sie niemand anderen sehen, nur mich.

"Du, du weißt doch, dass ich dich nicht hier herauf gebracht habe um... Das denkst du doch nicht, oder?", brachte er zögernd heraus.

"Nein, natürlich nicht." Hatte er wirklich geglaubt, ich könnte so schlecht von ihm denken? Er sah erleichtert aus und ich war froh, als er mir wieder näher kam. Immer noch vorsichtig, aber immerhin. Er legte die Stirn gegen meine, so wie er es an dem Abend gemacht hatte, als er mich zum ersten Mal geküsst hat, dem Abend, an dem ich mich für ihn entschieden habe.

"Du bist viel zu gut für mich", meinte ich leise. Er sah erstaunt aus, als wäre er nie auf die Idee gekommen, dass ich so etwas denken könnte. Ich meinte es nicht so, wie Nina es gemeint hatte, meinte nicht seine Fähigkeiten mit der Klinge noch sein Geschick mit der Zauberkraft sondern seinen Charakter. Als ich ihn kennenlernte, dachte ich er wäre schlecht, weil er ein Blade war. Aber mittlerweile hatte ich erkannt, dass er besser war als viele der Wylder, die ich gekannt hatte.

"Nein," widersprach er mir, "ich bin lange nicht gut genug.“

 

Ihr erwartet bestimmt, dass ich euch erzähle, wie ich mich gefühlt habe. Aber ich kann es nicht in Worte fassen. Irgendwie herrschte in mir drin ein totales Gefühlschaos und gleichzeitig fühlte ich mich nach unserem Ausflug so ausgeglichen wie nie zuvor. Mir war endlich klar geworden, dass ich mich geändert hatte, aber dass das etwas Gutes war und auf der anderen Seite wusste ich jetzt auch, dass ich mein altes Ich vermissen würde - und nur deshalb konnte ich es endgültig loslassen. Das klingt jetzt kompliziert und widersprüchlich, aber ich schwöre, dass es genau so gewesen ist.

Jetzt, wo ich mich mit meiner neuen Rolle abgefunden hatte, konnte ich mich beim Training viel besser konzentrieren, sogar im Zaubern machte ich Fortschritte. Und so kam es, dass ich eine Woche später in meinem Wohnzimmer auf dem Boden saß und versuchte, bewegte Bilder aus Feuer in die Luft zu malen ohne alles abzufackeln. Seit Stunden versuchte ich es, aber alles was ich hinbekam waren statische Bilder.

 

Genervt ließ ich mich gegen das Sofa sinken. Kaum zu glauben, dass ich das nicht hinbekam. Nina meinte, ich hätte so große Fortschritte gemacht, aber das hier wollte einfach nicht klappen.

Ich wusste, dass es nicht half, wenn ich mich aufregte. Also zählte ich im Stillen bis zehn und versuchte ruhig zu atmen. Dann versuchte ich mich an schöne Momente meines Lebens zu erinnern, denn die positive Energie konnte vielleicht helfen und ich versuchte es noch einmal. Dieses Mal funktionierte es. Endlich rannte das Pferd! Ich freute mich so sehr, dass der Zauber außer Kontrolle geriet und ein kleines Loch in mein Sofa brannte, bevor ich das Feuer löschen konnte. Sobald ich mich wieder beruhigt hatte, versuchte ich es noch einmal und es klappte zum zweiten Mal. Dann versuchte ich es mit anderen Motiven und auch wenn es nicht immer klappte, dann klappte es doch immer öfter.

Ich war so vertieft in meine Übungen, dass ich die Zeit vergaß. Als es klingelte erschrak ich. Konnte das schon Cas sein? Ja, er war es - mit einem großen Pizzakarton in der Hand. Wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich, wobei ich versuchte das Brandloch so gut wie möglich unter der Decke versteckt zu halten. Von den Filmen, die im Fernsehen liefen, bekam ich nicht viel mit. Irgendwann landete ich in Cas' Armen und dann mit ihm in meinem Schlafzimmer. Dieses Mal zögerte ich nicht.

"Luna Pettyfer, du bist ein gemeines Biest", bemerkte er, genau wie eine Woche zuvor am See.

"Stimmt. Und du bist schuld daran. Du hast mich zu den Blades geholt." Anstatt auf eine Antwort zu warten, küsste ich ihn.

Teil 4

Endlich hatte ich das Gefühl wirklich bei den Blades angekommen zu sein. Meine Wohnung wurde zu einem richtigen Zuhause, meine Bekannten zu richtigen Freunden. Ich verlor die Angst vor dem Zaubern und Robin ließ mich früher als gedacht richtige Kämpfe austragen. Seiner Meinung nach lernte ich ungewöhnlich schnell. Ich war froh, dass ich wenigstens etwas auf die Reihe bekam.

Leider währte mein Glück nicht lange, denn schon bald erreichte uns eine weniger erfreuliche Nachricht.

 

Ich war gerade bei Cas, denn sein Vater hatte mich zum Essen eingeladen. Mittlerweile war es spät geworden und wir räumten gerade gemeinsam die Küche auf, als es an der Tür klingelte.

"Ich geh schon", meinte Cas' Vater und verließ die Küche. Ich räumte den Teller weg, den ich noch in der Hand hatte, als ich spürte wie Cas hinter mich trat. Ich drehte mich zu ihm um.

"Ich hatte schon befürchtet, dass er uns gar nicht mehr aus den Augen lässt", meinte Cas und grinste. Erst begriff ich nicht so ganz, was er damit meinte, aber als er seine Hand in meinen Nacken legte, verstand ich.

"Wäre das so schlimm gewesen?", flüsterte ich, nur Zentimeter von seinen Lippen entfernt.

"Ja, das wäre es." Ich konnte die Berührung von Cas' Lippen schon fast spüren, als plötzlich ein lautes Klirren aus dem Flur kam.

"Was war das denn?", fragte ich irritiert.

"Keine Ahnung. Komm lass uns nachsehen." Und mit diesen Worten zog Cas mich mit sich aus der Küche. Im Flur stießen wir auf einen ziemlich verdutzten Blade, den ich nur flüchtig kannte, Cas' vor Wut schnaubenden Vater und eine kaputte Vase.

"Dad, was ist los?", fragte Cas.

"Das kann doch wohl nicht wahr sein."

"Wir können uns doch gar nicht sicher sein. Vielleicht hat der Wylder das nur gesagt, damit wir ihn in Ruhe lassen", wagte der andere Blade einzuwenden. Cas' Vater schnaubte.

"Würde mir bitte irgendwer erklären, um was es hier geht?", bat Cas bestimmt. Endlich schien sein Vater uns wahrzunehmen. Als er uns ansah, beruhigte er sich ein wenig.

"Komm rein, Pascal. Du solltest die Geschichte noch einmal in Ruhe erzählen können." Er machte Pascal den Weg frei und die beiden gingen in Richtung Wohnzimmer.

"Ich komme gleich nach", meinte ich.

"Bist du sicher?" Ich verdrehte die Augen. Immer musste Cas meine Entscheidungen infrage stellen.

"Ja", antwortete ich und er ließ meine Hand los, um den anderen beiden zu folgen. Ich holte Besen und Kehrschaufel aus dem Schrank und räumte die Scherben weg. Manche Gewohnheiten würde ich wohl nie ablegen können. Erst dann ging ich ebenfalls ins Wohnzimmer.

"Wir hatten endlich ein paar junge Wylder entdeckt - fast hätten wir aufgegeben, aber jetzt teilten wir uns auf und folgten ihnen. Alles war eigentlich wie immer, es war kein Problem einen einzufangen", erzählte Pascal gerade. Ich zuckte leicht zusammen, als mir der Gedanke kam, dass er womöglich über alte Freunde von mir sprach. Aber ich schob ihn gleich wieder zur Seite, immerhin wusste ich, dass sie niemanden verletzt hatten. "Er hatte Angst, so wie sie immer Angst haben, aber dann hat er doch Mut gefasst und etwas gesagt. Erst dachte ich, dass er deshalb der perfekte Kandidat wäre, bis er plötzlich meinte: bald würden keine Blades mehr über Wylder her fallen. Bald wäre die Welt wieder ein friedlicherer Ort - wenn wir erst mal weg vom Fenster seien. Da stutzten wir. Natürlich haben wir nachgefragt, was er damit meint, aber viel konnte oder wollte er uns nicht sagen. Nur, dass die Regierung die Wylder zusammenruft - gegen uns. Es klang, als würden sie einen Angriff planen."

"Die Wylder möchten herkommen?", fragte Cas.

"Anscheinend stachelt die Regierung sie dazu an, ja."

"Was ist mit dem Wylder geschehen?", schaltete Cas' Vater sich ein.

"Wir haben ihn laufen lassen, als wir Polizeisirenen hörten. Wir wollten nicht von noch mehr Leuten gesehen werden."

"Gut, gut." Cas' Vater blickte nachdenklich aus dem Fenster.

"Meinst du die Wylder würden uns wirklich angreifen?", fragte Cas. Ich war mittlerweile hinter ihn getreten und hatte meine Hand auf seine Schulter gelegt. Dieselbe Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Früher hätte ich gesagt, nein, auf gar keinen Fall. Die Wylder verabscheuen jede Art von Gewalt, aber mittlerweile war ich mir nicht mehr so sicher. Ich hatte so viel über die Regierung erfahren, dass ich es für möglich hielt, dass sie die Wylder so manipulierten, dass sie auf die Blades losgehen würden. Die Frage war nur warum. Nach allem, was ich wusste, würde es sie doch selbst schwächen, wenn sie die Blades nicht mehr hätten.

"Ich weiß es nicht. Aber ich habe immer befürchtet, dass so etwas passieren könnte. Hat der Wylder gesagt, für wann dieser Angriff geplant ist?"

"Nein. Er hat ja nicht einmal klar gesagt, dass ein Angriff geplant ist." Cas' Vater seufzte. Wahrscheinlich wäre das zu schön gewesen.

"Danke, Pascal. Ich werde mir überlegen, ob wir irgendwelche Maßnahmen ergreifen müssen."

"Gut. Ich hoffe wirklich, dass der Wylder gelogen hat. Aber irgendwie glaube ich nicht wirklich daran, Samuel. Trotzdem stirbt die Hoffnung zuletzt, nicht wahr?"

"Da hast du Recht." Wir verabschiedeten uns von Pascal. Und bald darauf beschloss auch ich zu gehen, schließlich brauchte Cas' Vater jetzt Raum zum Nachdenken. Cas bestand darauf, mich nach Hause zu bringen.

"Du weißt aber schon, dass mir hier nichts passieren kann, oder?", zog ich ihn auf, nachdem wir das Haus verlassen hatten.

"Klar. Ich wollte nur noch etwas Zeit mit dir verbringen." Ich lachte und ließ zu, dass Cas den Arm um mich legte. Wie immer genoss ich das Prickeln, das seine Berührung jedes Mal bei mir auslöste. Erst als wir vor meiner Wohnungstür standen, sprach Cas wieder.

"Hast du Angst?"

"Wegen dem möglichen Angriff?" Cas nickte und ich dachte einen Moment darüber nach. "Nein. Aber wir reden hier von meinen alten Freunden, von meiner Familie. Ich will nicht glauben, dass sie uns angreifen könnten."

"Aber du hältst es für möglich?"

"Nachdem was ich jetzt über die Regierung weiß: ja."

Cas seufzte. "Dann war das ja genau die Neuigkeit, die wir gebraucht hatten um uns den Tag zu vermiesen."

 

Samuel behielt die Nachricht nicht für sich. Er stellte Wachen an allen Grenzen auf und beschloss die Suche nach Wyldern, die die Seite wechseln könnten für eine Weile auszusetzen. Mir gefiel der Gedanke nicht, womöglich wirklich kämpfen zu müssen. Aber mir blieb nichts anderes übrig als mich damit auseinanderzusetzen.

Was würdet ihr tun, wenn ihr gezwungen wärt gegen alte Freunde zu kämpfen um eure neuen zu beschützen? Keine Ahnung? Dann geht es euch wie mir. Ich versuchte es vor mir zu rechtfertigen, falls ich kämpfen sollte und ich versuchte mir Argumente dafür zu suchen nicht zu kämpfen. Das Problem war nur, dass ich für beide Seiten genau gleich viele fand. Cas wusste, dass mich dieser Gedanke beschäftigte, aber wir sprachen nicht darüber. Ich hatte das Gefühl, dass ihm der Gedanke eines Kampfes fast genauso sehr zu schaffen machte wie mir.

Lange Zeit passierte nichts. Die Wachen patrouillierten, doch es waren keine Wylder in Sicht. Man könnte meinen, dass wieder Ruhe im Viertel einkehrte, doch die Spannung blieb. Jeder nahm sein Training irgendwie ernster, Witze wurden seltener. Und dann kam der Tag, an dem doch etwas passierte. Cas war eingeteilt für die Patrouille, ich kam gerade vom Training und wollte ihm eigentlich nur einen kurzen Besuch abstatten, aber daraus wurde nichts.

 

"Kommst du heute noch vorbei?", fragte ich gerade.

"Wenn du möchtest." Cas lächelte. Wir standen im Park hinter der Mauer. Als Cas mich hatte kommen sehen, hatte er seinen Spähposten auf einem der Bäume verlassen und war zu mir heruntergekommen. Ich wusste, dass ich ihn nicht lange fernhalten durfte.

"Immer." Cas küsste mich. In diesem Moment war noch alles gut - aber es sollte der letzte für sehr, sehr lange Zeit bleiben.

"Cas!", rief Tammy vom Baum herunter. Tammy war seit 6 Jahren Robins Freundin und es gingen Gerüchte herum, dass die Beiden vorhatten zu heiraten.

Cas löste sich von mir und blickte nach oben. "Das musst du dir ansehen." Irgendwie klang sie aufgeschreckt. Als würde sie etwas sehen, dass sie beunruhigte. Cas machte sich auf den Weg zu ihr und anstatt nach Hause zu gehen, gab ich meiner Neugier nach und folgte ihm.

"Was ist?"

"Ich habe einen Schutzzauber bemerkt, aber es ist keiner der unseren. Wenn ich könnte, würde ich selbst hindurchsehen, aber..." Sie zuckte die Schultern. Tammy ging es ganz ähnlich wie mir - im Zaubern war sie nicht ganz so gut. Also versuchte Cas den Zauber zu durchbrechen, was ihm gelang. Ich konnte es an seinem Gesicht erkennen: plötzlich sah er nicht mehr gelangweilt sondern geschockt aus. Ohne zu fragen erweiterte er die Sicht durch den Zauber auf Tammy und mich. Für einen Moment war ich verwirrt.

Ich erkannte den Zauber als ein Mittel um etwas zu verbergen. Ich sah die Wylder, hunderte Wylder, die auf uns zu marschierten, aber ich begriff es nicht sofort. Erst dann wurde es mir klar.

"Der Angriff", flüsterte ich tonlos.

"Los, wir müssen Alarm schlagen." Ich war schon auf dem Weg nach unten, als Tammy das sagte. Jetzt war es doch so weit: würde ich kämpfen?

Ich rannte so schnell wie ich konnte durch die Straßen und läutete die Warnglocken. Obwohl mir schon alles weh tat – vom Training und davon, schon wieder zu rennen - hatte ich das Gefühl noch nicht schnell genug zu sein. Endlich erreichte ich das Hauptquartier und platzte in die Versammlung hinein. Ich erkannte Robin, Pascal, Nina, Samuel und noch ein paar andere. Alle sahen mich an. Ich versuchte ruhiger zu atmen um die Worte herauszubringen.

"Die Wylder. Sie kommen." Für eine Sekunde herrschte absolute Stille. Dann sprangen alle auf und rannten an mir vorbei. Ich gestatte es mir, noch für eine weitere Sekunde Atem zu schöpfen, bevor ich ihnen folgte. Mittlerweile hatten sich auf den Straßen einige Blades versammelt, alle bewaffnet, alle in Alarmbereitschaft. Wir rannten gemeinsam zur Mauer. Als ich dort ankam, waren einige bereits die Bäume hochgeklettert um einen besseren Überblick zu bekommen. Ich versuchte Cas zu finden, aber im allgemeinen Chaos, konnte ich fast niemanden erkennen. Ich spürte es, als einige versuchten einen Schutzzauber über die Mauer zu legen, aber es war schon zu spät.

"Achtung!", riefen manche von den Bäumen hinunter, doch auch das rettete uns nicht mehr. Die Mauer explodierte. Ich duckte mich so schnell wie möglich weg und spürte den Luftzug, als ein Stück Mauer nur Zentimeter von meinem Kopf entfernt vorbeiflog. Als ich mich aufrichtete, sah ich, dass einige liegen blieben. Bei manchen von ihnen erkannte ich blutende Kopfwunden. Ich hatte nicht die Zeit um zu hoffen, dass es meinen Freunden gut ging. Die Wylder stürmten auf uns los.

Damals fragte ich mich, warum sie nicht nur Magie verwendeten. Mittlerweile war mir eingefallen, dass die Wylder ja glaubten, dass Magie nicht töten könnte. Womöglich hielt ich es aber zu diesem Zeitpunkt auch einfach noch nicht für möglich, dass die Regierung befohlen hatte, die Blades tatsächlich umzubringen.

Der Kampf teilte sich in kleine Gruppen- oder Duellkämpfe auf. Mir blieb gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Die Wylder waren ebenfalls mit Klingen bewaffnet und auch, wenn sie nicht so viel Übung hatten wie die Blades, waren sie doch in der Überzahl. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie einige Blades fielen. Doch auch den Wyldern ging es nicht besser.

Viele Blades waren wütend und achteten nicht darauf, ob sie töteten oder verletzten. Andere kämpften tatsächlich um ihr Leben. Ich gab mir die größte Mühe, niemanden tödlich zu verletzen - bis jetzt hatte ich Glück gehabt und war nur von Einzelnen angegriffen worden, aber ich spürte, wie meine Kräfte schwanden. Das Training steckte mir noch in den Knochen und es fiel mir schwer die nötige Konzentration für Zauber aufzubringen.

Gerade wehrte ich eine Klinge ab und sandte gleichzeitig einen elektrischen Impuls durch das Metall. Ich wusste nicht genau, wie stark er war, aber mein Gegner ging zu Boden. Ich roch verbranntes Fleisch. Ich wollte gerade nachsehen, ob der Wylder noch lebte, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich dachte zuerst, es sei Nina gewesen, aber als ich aufblickte, sah ich sie dort stehen. Nur wenige Meter vor mir, mitten im Getümmel und doch unbehelligt stand Leyla. Ich sah sie an, sie sah mich an. Beinahe wäre meine Klinge mir aus der Hand gerutscht.

"Leyla", flüsterte ich. Entgegen aller Vernunft rannte sie auf mich zu. Ich breitete die Arme aus und sie flog in meine Umarmung hinein. Ich war zu perplex um zu realisieren, was hier gerade passierte.

"Was machst du hier? Ich... Ich dachte du seist tot. Deine Eltern... Sie haben wochenlang nur schwarz getragen, deine Mutter spricht bis heute kaum ein Wort. Wo bist du gewesen?" Das schlechte Gewissen durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hätte nie gedacht, dass meine Eltern so betroffen sein würden. Ich sah Leyla an, sie sah mich an. Erst jetzt schien sie die Klinge in meiner Hand wahrzunehmen. "Was... Wie...", stammelte sie.

"Leyla, bitte, hör mir zu." Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. "Du darfst mich nicht verurteilen. Du darfst die Blades nicht verurteilen. Das ist alles nicht so wie du denkst. Sie... Sie sind gar nicht die Bösen, dass erzählt euch die Regierung nur. Man wird auch nicht in seine Klasse hineingeboren, sondern kann eigentlich frei wählen. Verstehst du mich? Stell dir die Möglichkeiten vor!" Im Nachhinein wurde mir klar, dass das ein wenig zu viel Information auf einmal gewesen war.

"Du... Du bist jetzt eine von ihnen." Leyla stiegen die Tränen in die Augen. "Wie kannst du nur?", schrie sie mich an.

"Bitte, Leyla. Ich bin doch immer noch ich", versuchte ich sie zu beruhigen. Sie schüttelte den Kopf, ich konnte sehen, dass das alles zu viel für sie war.

"Wie?", flüsterte sie nur.

"Ich habe es gewählt", antwortete ich. Ich glaube, dass sie in diesem Moment etwas mehr verstand, dass wir uns jetzt normal hätten unterhalten können. Aber wir bekamen diese Chance nicht, denn in diesem Augenblick hörte ich einen Schrei. Eigentlich waren es zwei Stimmen die schrien, doch es war so schmerzerfüllt, dass es eine hätte sein können. Ich wandte mich um. Es waren Tammy und Cas die geschrien hatten. Ich sah gerade noch wie Robin zu Boden ging, blutüberströmt. Tammy fiel neben ihn, Cas hingegen wandte sich dem Schuldigen zu. Obwohl er mehrere Dutzend Meter von mir entfernt war, erkannte ich die Wut in seinen Bewegungen. Diesem Wylder gegenüber würde er keine Gnade ergehen lassen. Er würde Robin rächen. Nur durfte ich das nicht zulassen.

"Es tut mir Leid, Leyla", sagte ich. "Lauf so schnell du kannst. Weg von hier." Mehr brachte ich nicht zustande, bevor ich mich umwandte und auf Cas zu lief. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, beobachtete genau, wie er die Klinge führte. Die des Wylders verschwand, er fiel in den Dreck. Cas erhob die Klinge um ihn zu töten, doch ich warf mich dazwischen.

"Nein!", schrie ich. Cas hielt inne. Für viele hätte es so ausgesehen, als ob es zu spät gewesen wäre, doch ich kannte Cas. Ich wusste wie schnell er reagieren konnte und dass er mich niemals verletzen würde.

"Luna. Geh zur Seite. Er hat Robin getötet." Ich sah die Wut jetzt auch in Cas' Augen und hörte den Schmerz in seiner Stimme.

"Ich weiß", antwortete ich nur. Ich hatte die Hände erhoben, meine Klinge hatte ich irgendwo verloren.

"Dann geh zur Seite", Meinte Cas noch einmal, doch ich schüttelte den Kopf. "Er war wie ein Bruder für mich." Ich dachte schon, Cas würde die Klinge fallen lassen, als seine Stimme brach, doch er tat es nicht. "Geh zur Seite!", schrie er.

"Nein, ich kann nicht", antwortete ich. "Das ist mein Bruder." Cas verstand nicht sofort. Natürlich nicht, er wusste ja nicht einmal, dass ich einen Bruder hatte. Aber dann ließ er die Klinge ein Stück sinken. Ich berührte ihn am Arm. "Bitte."

"Er hat ihn getötet", flüsterte Cas, die Wut verschwand langsam.

"Ich weiß. Ich weiß. Ich kann das nicht ungeschehen machen, aber bitte. Nimm mir meinen Bruder nicht auch." Cas sah mich endlich richtig an. Ich konnte sehen, dass etwas in ihm zerbrochen war. Aber er verstand mich.

"Dein Bruder." Ich nickte und endlich ließ er die Klinge ganz sinken.

"Geh. Nimm Tammy und verschwindet. Wir können diesen Kampf nicht gewinnen", sagte ich. Cas sah sich um und erkannte, dass ich recht hatte. Niemand würde diesen Kampf gewinnen, denn beide Seiten waren fest entschlossen bis zum Tod zu kämpfen. Es würde kaum jemand überleben.

"Was ist mit dir?"

"Ich komme gleich nach, versprochen." Cas schien zu verstehen, er nickte und wandte sich um. Erst nachdem er Tammy von Robin weggezogen hatte, sah ich meinen Bruder an. Ich streckte ihm die Hand entgegen um ihm aufzuhelfen.

"Luna. Was...", begann er.

"Hi, Ethan", unterbrach ich ihn. Ich wusste, dass ich eigentlich überhaupt keine Zeit hatte, mich zu unterhalten. Mittlerweile hatten auch andere Blades begriffen, dass es keinen Sinn machte zu kämpfen, Samuel versuchte alle zum Rückzug zu bewegen. Wenn ich mich nicht beeilte, wäre ich bald die Letzte auf dem Schlachtfeld und das sollte ich wirklich vermeiden.

"Wie kommst du hierher?" Mein Bruder sah mich immer noch geschockt an, seine Augen wurden noch größer, als er bemerkte, dass ich Hosen trug.

"Ich bin jetzt eine Blade, Ethan. Ich habe selbst entschieden. Das können wir, verstehst du das? Die Regierung belügt uns. Sie versucht uns zu manipulieren, sodass wir genau das tun was sie wollen. Du musst..." Wieder gelang es mir nicht, dass ganze weniger chaotisch darzulegen.

"Eine Blade?" Ich nickte vorsichtig. "Wie ist das möglich?"

"Alles ist möglich. Du musst es nur versuchen. Wir..." Ich spürte, dass etwas nicht stimmte und bemerkte die Gruppe Wylder, die auf uns zukam gerade noch rechtzeitig. Man hatte mich bemerkt und jetzt ging man anscheinend davon aus, dass ich Ethan bedrohte.

"Runter!", rief ich, ließ mich fallen und zog meinen Bruder mit. Der Zauber hatte zwar mir gegolten, aber er war stärker geworden, als die Wylder gedacht hatten und hätte Ethan mindestens so sehr verletzt wie mich. Jetzt zog er zischend über unsere Köpfe hinweg und knallte in einen Baum.

"Ich muss gehen", sagte ich. "Du hast mir gefehlt." Ich umarmte meinen Bruder, löste mich aber von ihm, bevor er die Umarmung erwidern könnte. Dann ließ ich ihn los. "Lauf", rief ich ihm noch zu, bevor ich mich umdrehte und rannte. Ich konnte nur hoffen, dass mein Bruder dasselbe getan hatte, als der Baum, in den der Zauber eingeschlagen hatte, krachend zu Boden fiel, genau an der Stelle, an der wir eben noch gestanden hatten.

 

An diesem Tag starben fünfzig Blades und mindestens ebenso viele Wylder. Wir waren alle paralysiert, wie gelähmt, aber wir wussten, dass so etwas nicht noch einmal geschehen durfte.

Wir verließen die Stadt und bauten uns ein Lager in einem Wald. Jeder nahm sich die Zeit um seine Verstorbenen zu trauern, bevor wir begannen uns neu zu organisieren.

Cas und ich bezogen eine kleine Hütte, die wir uns gebaut hatten, aber er war fast nie dort. Selbst nachts war er immer unterwegs, er schlief wenig und aß kaum. Ich machte mir große Sorgen um ihn, aber ich wusste nicht, wie ich helfen könnte. Es schien fast, als würde er Robins Tod noch schlechter verkraften als Tammy. Ich versuchte an ihn ranzukommen, ihn zum Reden zu bringen, aber er wies mich ab. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen.

Wenn ihr so etwas noch nie erlebt habt, dann könnt ihr es nicht begreifen. Die Blades, die ihre Trauer überwunden hatten, waren wütend. Der einzige Grund, der sie davon abhielt auf die Wylder loszugehen, war Samuel. Er versuchte sie zu beruhigen, sie zur Vernunft zu bringen, aber die Vernunft war mit ihren Freunden gestorben. Alles was er schaffte, war sie im Camp zu halten.

Ich hoffte immer noch, dass das alles hier nur ein Alptraum war, dass ich gleich aufwachen würde, neben Cas und dass er mich dann damit aufziehen würde, dass ich eine viel zu große Fantasie hätte. Er würde mich kitzeln oder küssen und mir versprechen, dass er immer für mich da sein würde. Aber umso mehr Cas sich von mir zurückzog, umso mehr schwand mir diese Hoffnung.

Intermezzo

Ich gehe durch den Wald. Das ist alles, was ich noch zustande bringe: sinnlos nach vorn zu schreiten, ohne nach vorn blicken zu müssen. Ich begreife nicht, dass das keine Lösung für meine Probleme ist und noch weniger kann ich sehen, wie sehr ich Luna damit verletze. Ich will nur laufen, immer weiter laufen.

Als ich Tammy entdecke, ist es schon zu spät. Sie hat mich längst gesehen und kommt auf mich zu. Resignierend bleibe ich stehen, in der Hoffnung, dass sie nicht allzu viel reden wird.

"Cas! Was zur Hölle tust du hier?", fragt sie mich.

"Ich gehe spazieren“, gebe ich zurück.

"Mitten in der Nacht?"

Ich zucke nur mit den Schultern.

"Du solltest bei Luna sein", meint sie.

"Ich kann nicht schlafen."

"Dann geh und entschuldige dich wenigstens bei ihr!" Ich verstehe nicht, warum Tammy so sauer ist. Sie ist doch auch mitten in der Nacht hier draußen.

"Warum?"

"Ich hab immer gedacht, du wärst klüger, aber da hab ich mich wohl getäuscht. Du bist ein blinder Idiot." Tammys Worte erreichen mich nicht, ich sehe über sie hinweg in die Dunkelheit.

"Was machst du hier draußen?", frage ich.

"Ich bin für die Wache eingeteilt." Ich kann ihren Blick auf mir spüren, aber ich beachte sie nicht weiter. Sie müsste mich doch eigentlich verstehen - warum tut sie es nicht? "Cas, bitte. Robin kommt nicht zurück, egal wie sehr wir trauern." Jetzt sehe ich sie wieder an.

"Nein, das tut er nicht. Er kommt auch nicht zurück, wenn wir weiterkämpfen. Warum sollten wir es also tun?"

"Was? Cas, wach auf! Es gibt so viel, für das wir kämpfen können. Jeder hat dich einmal bewundert, weil du das alles gesehen hast, weil du nie aufgegeben hast und jetzt - sieh dich an! Was ist nur aus dir geworden?"

"Für was soll ich kämpfen?", schreie ich sie an. Sie zuckt zurück, wird aber selbst nicht lauter.

"Dafür, dass Robin nicht umsonst gestorben ist. Für deinen Vater. Für deine Mutter. Für Luna."

"Luna." Zum ersten Mal seit Wochen fällt mir wieder ein, wie viel sie mir bedeutet. Aber der Moment vergeht. "Es lohnt sich nicht zu kämpfen."

"Du Idiot“, zischt Tammy, "Ich bin hier die, die schwanger von einem Toten ist. Wenn jemand das Recht hat zu jammern, dann ich." Sie hat ihre Geduld verloren.

"Schwanger?" Mein Blick huscht zu ihrem Bauch. Niemand hat das gewusst, oder doch? Habe ich es nur nicht mitbekommen?

"Ja." Tammy beißt sich auf die Lippe. "Ich weiß es seit ein paar Tagen." Ohne es zu wollen, trete ich auf sie zu und lege meine Hand auf ihren Bauch. Sie legt ihre Hand darüber und erst denke ich, sie will mich von sich schieben, aber sie hält mich fest. "Dafür lohnt es sich zu kämpfen."

Und plötzlich sehe ich alles wieder klarer. Es ist, als würden mir plötzlich die Augen geöffnet werden. Ich begreife, wie beschissen ich mich Luna gegenüber verhalten habe, was das alles angerichtet hat. Auf einmal ist mein einziger Wunsch, dass es noch nicht zu spät für uns ist. Ich habe sie so sehr verletzt. Was bin ich nur für ein Idiot!

"Ja", sage ich, "ja, wir müssen kämpfen." Tammy scheint erleichtert zu sein, sie lächelt.

"Aber zuerst...", beginnt sie.

"Zuerst muss ich mich bei Luna entschuldigen", beende ich ihren Satz. "Danke." Ich umarme sie, bevor ich mich umdrehe und davon renne.

 

Mein Name ist Casper Mitchell. Gerade habe ich erkannt, dass ich so ziemlich der größte Dummkopf auf Erden bin. Gleich nachdem ich mich bei meiner Freundin entschuldigt habe, werde ich den Kampf vorbereiten. Den Kampf dafür, dass unsere Freunde nicht umsonst gestorben sind, dafür, dass die Unterdrückung endlich aufhört. Dafür, dass Luna und ich in Frieden leben können. Das ist mein Ziel. Und was ist deines?

Teil 5

Mein Name ist Luna Pettyfer. Ich habe euch jetzt schon erzählt, wie ich mein Leben aufgegeben habe und wie mein Kampf begonnen hat. Es ist an der Zeit euch zu erzählen wie er weiterging. Ob er jemals zu Ende sein wird, weiß ich nicht. Denn jeder von euch wird ihn auch kämpfen müssen.

Wir haben wochenlang in dem Camp im Wald gelebt, trainiert, uns vorbereitet. Ohne, dass irgendwer es angekündigt hätte, wussten wir, dass wir etwas unternehmen mussten. Die im Kampf Gefallenen fehlten uns, es gab niemanden, der nicht zumindest einen Freund verloren hatte. Aber nachdem wir erst einmal gelernt hatten mit der Trauer umzugehen, spornte sie uns an. Wir würden auch im Namen der Verstorbenen kämpfen, denn sie hätten nicht gewollt, dass wir aufgaben - niemals.

Der Letzte der seine Trauer überwand, war Cas. Er fand erst zu sich zurück, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte.

 

Ich trainierte gerade mit ein paar Anderen auf dem freien Gelände. Seit dem Abend zuvor hatte ich Cas nicht mehr gesehen, aber das war eigentlich nichts Ungewöhnliches, nicht mehr. Das Training hier im Wald gefiel mir, die Natur bot so viel mehr Möglichkeiten als die Hallen in der Stadt. Wir übten ganz verschiedene Dinge, im Moment nutzten wir die umgeknickten Baumstämme, Täler, Sträucher und Tümpel als Hindernislauf. Ich lief gerade über einen Baumstamm, der eine ein paar Meter tiefe Senke überspannte, die von einem kleinen Bach gegraben worden war. Es war schon das dritte Mal, dass ich diesen Weg einschlug und ich war auch nicht die Einzige, die ihn nutzte, aber ausgerechnet jetzt rutschte der Baumstamm ein Stück ab. Ich sah, wie Kate sich mit einem Sprung vom Holz auf den Waldboden rettete, aber für mich war es zu spät. Ich verlor das Gleichgewicht und rutschte ab. Wage hatte ich wahrgenommen, wie hinter mir jemand meinen Namen gerufen hatte. Ich bereitete mich schon auf den Aufprall am Boden vor, als meine Hand sich um etwas Weiches, Warmes schloss. Erstaunt sah ich auf und blickte in Cas' weit aufgerissene Augen. Er kniete auf dem Baumstamm, der jetzt einen guten Meter tiefer lag als vorher und hatte mich an der Hand aufgefangen.

"Cas." Ich hatte keine Ahnung was ich sagen sollte. Ich spürte die Blicke der anderen auf uns, meine Schulter schmerzte von dem plötzlichen Ruck, aber vor allem konnte ich sehen, dass sich etwas geändert hatte. Cas schien mich endlich wieder richtig anzusehen und nicht länger durch mich hindurch zu blicken.

"Luna, wir müssen reden. Ich...", begann er, doch ich unterbrach ihn sofort.

"Das ist jetzt vielleicht nicht ganz der richtige Zeitpunkt", wandte ich ein. Cas begriff, als er sich kurz umsah. Langsam wurde es unangenehm so in der Luft zu hängen.

"Eins, zwei, drei", zählte Cas und ließ mich los. Ich fiel die wenigen Meter bis in den nicht einmal knietiefen Bach und so unangenehm das kalte Wasser auf meiner Haut auch war, rollte ich mich ab um mir den Knöchel nicht auch noch zu verstauchen. Klatschnass stand ich wieder auf und dass ich nicht sofort wieder ausrutschte, schien das erste Mal zu sein, dass ich an diesem Tag Glück hatte. Warum musste so was auch immer ausgerechnet mir passieren?

Ich stapfte leicht gereizt die Senke hoch. Nina brachte mir eine Decke, die ich mir um die Schultern legen konnte, Kate kam sofort zu mir um zu fragen, ob es mir gut ging. Ich seufzte und versuchte so freundlich wie möglich zu sein. Dann stand ich vor Cas.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er.

"Ja, ja ich denke schon. Es war ja nicht tief." Wir sahen uns an und waren auf einmal ganz verlegen. Es war so lange her, dass wir uns das letzte Mal so unterhalten hatten, dass es fast war, als wären wir gerade erst zusammengekommen. Vielleicht sogar noch schlimmer.

"Du solltest dir etwas Trockenes anziehen. Und leg am besten irgendwie einen Stützverband um deinen Arm, damit die Schulter nicht so sehr belastet wird", erklärte Nina. Ich nickte. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht verletzt, wenn Cas mich nicht aufgefangen hätte, aber das wollte ich ihm jetzt wirklich nicht vorwerfen. Ich hatte viel zu viel Angst, dass er sich wieder von mir abwenden könnte. Auf keinen Fall wollte ich ihn verlieren.

"Ich bring sie zurück ins Camp", meinte Cas. Ich erkannte an den Gesichtern der Anderen, dass sie ebenso überrascht waren wie ich, dass er wieder sprach oder überhaupt irgendetwas tat, dass über stures geradeaus laufen hinausging. Seine Hand zuckte kurz, als wollte er meine damit ergreifen, aber er ließ sie wieder sinken, was mich noch verlegener machte. Ohne uns zu berühren gingen wir nebeneinander zum Camp zurück.

"Tut mir leid, dass ich dich aufgefangen habe", meinte er irgendwann.

"Schon okay. Du konntest ja nicht wissen, dass ich mir dabei die Schulter verletze. Außerdem heilt die auch wieder. Wenn ich gefallen wäre und mir den Knöchel gebrochen hätte oder so, wäre es schlimmer gewesen."

"Danke." Er lächelte mich an und ich vergaß für einen Moment all die Angst, die ich seit Robins Tod um ihn gehabt hatte, vergaß die Wut darauf, dass er sich so hat fallen lassen, vergaß, dass ich mir geschworen hatte ihn zur Schnecke zu machen, falls er sich je wieder normal benehmen sollten. Dann sah er wieder weg, irgendwo in die Bäume und holte tief Luft. Bevor er jedoch sagen konnte, was er sagen wollte, fiel mir wieder ein, wie wütend ich war.

"Wo bist du gewesen?", fragte ich ihn.

"Im Wald. Ich bin..." Ich schüttelte den Kopf und er wurde sofort still. Ich spürte, wie mir all die Tränen, die ich seit Wochen unterdrückt hatte in die Augen stiegen, was mich noch wütender machte. Ich wollte ihn anschreien, ihm eine Szene machen - nicht heulen.

"Nein. All diese Wochen über war es, als wärst du tot. Hast du überhaupt irgendeine Ahnung, wie weh mir das getan hat? Hast du jemals darüber nachgedacht, wie ich mich fühle, wenn du plötzlich nicht mehr mit mir sprichst? Mich nicht einmal mehr ansiehst?"

"Es tut mir leid. Das alles tut mir so unendlich leid." Ich drehte mich um. Es musste wirklich nicht sein, dass er mich weinen sah, nicht jetzt. "Luna, bitte. Ich hab das doch nicht gewollt." Ich spürte, wie er nach meiner Hand griff und neben mich trat, aber ich entzog sie ihm und sah in die andere Richtung. Im verzweifelten Versuch die Tränen zu unterdrücken, schloss ich die Augen, doch auch das half nicht.

"Luna, bitte sieh mich an." Er berührte mein Kinn und drehte meinen Kopf zu sich hin. Ich öffnete die Augen wieder. "Es tut mir leid. Ich weiß, dass du mir vielleicht nicht verzeihen kannst, aber bitte, bitte gib mir noch eine Chance."

"Warum? Damit du wieder davonrennst, wenn irgendetwas passiert?"

"Weil ich dich nicht verlieren will. Niemals." Er sah mir in die Augen und wischte vorsichtig eine Träne von meiner Wange. "Ich werde denselben Fehler kein zweites Mal machen." Und endlich zog er mich an sich und legte die Arme um mich. Nach all der Zeit voll gespielter Stärke, die ich hinter einer kaputten Mauer aus Unnahbarkeit verbracht hatte, bekam ich an seiner Schulter nun die Chance auch einmal zerbrechen zu dürfen.

 

Cas brachte mich dann tatsächlich noch zum Camp, sobald ich mich wieder beruhigt hatte. Allerdings zitterte ich da dann schon so sehr, dass ich kaum ein Wort herausbrachte ohne mir auf die Zunge zu beißen. Ich zog mir eine Erkältung zu, aber das war es mir allemal wert, dass ich Cas wieder hatte. Meine Schulter war im Übrigen nur ausgekugelt - das Einrenken tat zwar weh wie Hölle, aber wenigstens war sie nach ein paar Tagen wieder gesund.

Cas begann wieder mit uns zu trainieren, wir verbrachten wieder mehr Zeit miteinander. Endlich schien das Leben hier draußen mehr als nur eine Pflichtveranstaltung zu sein. Als Tammy uns verkündete, dass sie schwanger sei, feierten wir eine große Party um mal auf andere Gedanken zu kommen. Das tat gut, wirklich gut.

Es war der Morgen nach der Party, an dem Ethan im Camp ankam.

 

Ich war zum ersten Mal für die Wache eingeteilt und ganz ehrlich: ich langweilte mich zu Tode. Schon seit Stunden saß ich auf diesem dämlichen Baum und beobachtete, wie die Sonne höher stieg. Ansonsten konnte ich noch beobachten, wie der Wind die Blätter durcheinander wehte und ab und zu ein Eichhörnchen durch die Gegend rannte, mehr nicht. Zumindest nicht, bis unsere Schutzzauber mir einen Eindringling meldeten.

Ich konzentrierte mich auf die Stelle, wo derjenige auftauchen würde und wartete ab, ob er allein war, ob es nur ein Freier auf der Jagd sein würde, oder ob er uns gefährlich werden konnte. Als ich Ethan erkannte fiel ich fast vom Baum. Wenn nicht ich, sondern irgendwer anders Wache gehalten hätte, könnte Ethan jetzt tot sein. Darüber wollte ich lieber gar nicht nachdenken.

"Ethan!", rief ich. Er blieb natürlich sofort stehen und sah sich um, konnte mich aber nirgendwo entdecken. So schnell wie möglich kletterte ich den Baum hinunter und lief zu ihm. Stürmisch und recht unüberlegt fiel ich ihm um den Hals.

"Luna. Gott sei Dank, du bist es wirklich. Geht es dir gut?"

"Ja mir geht es gut", antwortete ich. Dann erst fiel mir wieder ein, dass Ethan eigentlich gar nicht hier sein sollte. Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung. "Was tust du hier? Wie hast du mich gefunden?"

"Wir hatten keine Chance zu reden, als dann dieser Baum umgekippt ist. Ich musste aber wissen, was passiert ist, ob es dir gut geht. Also habe ich über das nachgedacht, was du gesagt hast, dass alles möglich ist. Ich habe heimlich angefangen Zauber auszuprobieren und nach einiger Zeit, sind mir plötzlich Zauber gelungen, die ich eigentlich nicht können dürfte. Dann habe ich versucht dich mit einem Zauber wiederzufinden und es hat tatsächlich geklappt." Ein Zauber? Man konnte uns mit einem Zauber finden? Das war nicht gut, gar nicht gut.

"Was ist mit deiner Frau?"

"Marissa hat verstanden, warum ich gehen muss. Ich glaube sie ist dir sehr ähnlich - sie hat auch irgendwie diese rebellische Ader." Ich lächelte leicht über seinen Versuch mich aufzuziehen, aber die Sorge über diesen Zauber hatte mittlerweile Besitz von mir ergriffen.

"Dann bist du allein gekommen?"

"Ja, natürlich."

"Und dir ist auch niemand gefolgt?"

"Ich denke nicht. Luna, was ist los?"

"Wenn ich das nur wüsste." Ich seufzte, überprüfte noch einmal alle Schutzzauber und erst dann führte ich Ethan ins Camp. Ich fühlte mich gar nicht wohl dabei, spürte schon bald die missbilligenden Blicke der anderen auf mir, aber niemand stellte meine Entscheidung, Ethan mitzubringen infrage. Es hatte definitiv einige Vorteile, Caspers Freundin zu sein. Als wir ankamen, hatte ich irgendwen gebeten, meine Wache zu übernehmen und derjenige war murrend abgezogen. Warum die meisten hier auf mich hörten, war mir ein Rätsel, weil ich eigentlich überhaupt nichts zu sagen hatte, aber in diesem Moment fand ich es ganz gut.

Als wir bei Samuels Hütte ankamen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, was ich tun würde, wenn er nicht allein war. Schwer vorstellbar, dass Cas oder Tammy gelassen auf Ethans Anwesenheit reagieren könnten. Aber wir hatten Glück: Cas' Vater war allein.

"Komm rein!", rief er. Erleichterte schlüpfte ich mit Ethan durch den Vorhang. Es war schön, den neugierigen Blicken ausweichen zu können.

"Ein Wylder? Luna, warum hast du ihn hergebracht?" Ich hatte erwartet, dass Samuel toben würde, aber er blieb ganz ruhig.

"Er ist mein Bruder", sagte ich nur. Samuel betrachtete uns abwechselnd, fand wohl einige Ähnlichkeiten und beschloss mir zu glauben.

"Wie ist er hierhergekommen? Was will er überhaupt hier?"

"Wenn ich mich einschalten dürfte?", begann Ethan vorsichtig. "Ich bin hier, weil ich nach meiner Schwester gesucht habe. Wir sind uns begegnet, als die Regierung uns gegen euch ausgeschickt hat, und seitdem war ich neugierig, wie sie zur Blade geworden war. Ich dachte mir, dass wenn sie das kann, ich das als ihr Bruder vielleicht auch kann. Also habe ich ein wenig mit der Magie herum probiert und Luna schließlich gefunden."

"Deswegen habe ich ihn hergebracht", fuhr ich fort. "Wenn Ethan uns mit Magie finden kann, dann kann die Regierung das mit Sicherheit auch." Samuel nickte vorsichtig und wollte etwas sagen, aber Ethan war schneller.

"Das haben sie längst, schon vor Wochen." Ich blickte meinen Bruder erstaunt an.

"Woher weißt du das?"

"Ich habe mich ein wenig umgehört. Anscheinend gibt es Geheimnisse, die die Regierung nicht so gut hütet, wie das um die Magie."

"Das hätte ich dir gar nicht zugetraut."

"Sagt meine Schwester, die zur Blade geworden ist." Ich lachte, er hatte ja recht.

"Luna?", lenkte Samuel meine Aufmerksamkeit auf sich. "Können wir deinem Bruder vertrauen, dass er nicht einen zweiten Angriff der Wylder hergeführt hat?" Man könnte meinen, dass ich auf diese Frage eingeschnappt reagiert hätte, aber es war nun mal Samuels Aufgabe für die Sicherheit im Camp zu sorgen.

"Ja. Das können wir", antwortete ich sicher. Für mich stand es außer Frage, dass mein Bruder die Wahrheit gesagt hatte. Er würde mich niemals anlügen.

"Warum hat die Regierung uns noch nicht angegriffen, wenn sie doch weiß, wo wir sind?", fragte Samuel Ethan, wie um ihn zu testen.

"Keine Ahnung. Sie verbreiten die Lüge, es hätten nur eine Handvoll Blades den Angriff überlebt. Ich schätze sie sind zufrieden damit, dass ihr die Stadt nicht mehr aufmischt", antwortete dieser.

"Möglich, aber das gefällt mir nicht. Ich werde die Wachen verdoppeln lassen." Samuel sah nachdenklich durch ein kleines Loch in seinem Zelt.

"Samuel?"

"Hmm?" Er sah mich wieder an.

"Kann Ethan im Camp bleiben?" Ich war unsicher, was diese Frage betraf. Es würde ziemliche Unruhen hervorrufen, wenn Ethan blieb, vor allem, wenn herauskam, dass er Robin getötet hatte. Aber ich konnte ihn nicht einfach so zurück schicken - ganz abgesehen davon, dass er vermutlich sowieso nicht gehen würde.

"Ja, natürlich. Er hat bewiesen, dass er auf unserer oder zumindest auf deiner Seite steht. Vielleicht lässt er sich ja auch noch zum Blade ausbilden." Samuel lächelte Ethan an und meine Anspannung schwand ein wenig. Wenn er Ethan akzeptierte, würden viele andere seinem Beispiel folgen.

"Dann brauchen wir nur einen Ort, an dem er schlafen kann."

"Kann ich nicht einfach bei dir schlafen?", fragte Ethan mich. Ich dachte daran, wie Cas darauf reagieren könnte und sofort war die Angst, dass er wieder in seine Lethargie verfallen könnte, wieder da.

"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre...", gab ich also zurück.

"Er kann erst einmal bei mir unterkommen. Dann sehen wir weiter." Samuel war aufgestanden.

"Äh, Samuel ich weiß nicht..." Ich hatte keine Ahnung, ob er von Robins genauen Todesumständen wusste.

"Robin war auch mein Freund. Und auch wenn die Unwissenheit deinen Bruder nicht vor seiner Schuld schützt, ist es nicht meine Aufgabe Rache zu wollen. Ich tue was für das Camp am besten ist und sein Tod würde nicht helfen. Aber denk daran, dass das nicht alle so sehen werden." Samuel sah mich scharf an. Ich schluckte, ja er wusste es und trotzdem nahm er Ethan bei sich auf. Seine Warnung musste ich aber dennoch sehr ernst nehmen, also nickte ich. "Ich werde jetzt die Wache neu organisieren, ich bin sicher, ihr zwei habt eine Menge zu bereden." Und damit ließ er uns allein in seinem Zelt zurück.

"Was hat er gemeint? Dass mein Tod nur ihn nicht interessiert? Wer ist Robin?"

"Ich schätze, es gibt einiges, dass ich dir erklären muss, komm setzen wir uns." Wir nahmen irgendwo in einer Ecke Platz und ich begann damit, zu erklären wer Robin gewesen war.

"Robin war einer der beliebtesten, aber auch härtesten Trainer der Blades. Er war ein sehr enger Freund von Samuel, der mehr oder weniger unser Anführer ist und er war so was wie ein großer Bruder für Samuels Sohn, Casper. Der zufällig mein Freund ist und den ich davon abgehalten habe dich umzubringen, nachdem du Robin getötet hast." Okay ich gebe es zu, mittlerweile war selbst mir klar geworden, dass ich nicht sonderlich gut darin war Dinge zu erklären, aber Ethan kannte mich und nach ein paar Sekunden begriff er.

"Der Blade, der bei dem Angriff das Mädchen aus dem Weg gestoßen hat und dadurch direkt in meine Waffe gelaufen ist. Er ist tot?"

"Ja." Anscheinend hatte Ethan bis jetzt nicht begriffen gehabt, dass er einem Menschen das Leben genommen hat. "Wie meinst du das, er hat ein Mädchen aus dem Weg gestoßen?"

"Naja, so ein blondes Mädchen, etwa in meinem und seinem Alter. Ich hätte sie verletzt, wenn ich sie getroffen hätte, aber er hat sie ja zur Seite gestoßen. Ich habe nicht schnell genug reagiert und konnte meinen Schlag nicht mehr in eine andere Richtung lenken und habe ihn getroffen. Er ging zu Boden, das Mädchen hat sich sofort neben ihn gekniet und naja, mehr kann ich dir nicht sagen, weil ich dann wieder angegriffen wurde. Fast getötet wurde, wenn du nicht gewesen wärst." Endlich begriff ich, wie Ethan es geschafft hatte Robin zu überwältigen. Wir alle hatten darüber gerätselt aber jetzt war es klar: er hatte Tammy retten wollen und sich dadurch selbst nicht gut genug geschützt. Robin hatte für Tammy sein Leben gelassen und sie hat das die ganze Zeit allein mit sich rumschleppen müssen. Ob sie sich wohl Vorwürfe gemacht hat?

"Luna?" Ich war total abgeschweift und erschrak leicht, als Ethan mich ansprach. "Du hast mir das Leben gerettet. Danke."

"Schon okay. Ich konnte nicht zulassen, dass Cas dich tötet."

"Cas wie in Casper?" Ich nickte. "Ein Freund von dir hat versucht mich umzubringen?"

"Du hast seinen großen Bruder umgebracht. Er hat einfach nur noch Rot gesehen. Und um genau zu sein, ist er mein fester Freund."

"Fester Freund? Was heißt das denn?" Oh, richtig. Ethan konnte ja nicht wissen, was das war. Ich erklärte es ihm, erklärte was Liebe eigentlich war und erwartete, dass er wütend sein würde, dass er fragen würde, wie ich mit jemandem zusammen sein konnte, der versucht hatte ihn zu töten. Aber Ethan sagte nichts dergleichen.

Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, fragte ich: "Empfindest du so für Marissa?"

"Am Anfang nicht, aber mittlerweile schon." Er zögerte einen Moment. "Bist du glücklich mit diesem Cas?"

"Ja, sehr." Ich lächelte in mich hinein, bis mir einfiel, dass mir womöglich ein heftiger Streit bevorstand wenn Cas erfuhr, dass Ethan hier war.

"Dann ist das okay für mich. Immerhin bin ich schuld an diesem Schlamassel."

"Sag so was nicht. Die Regierung hat euch manipuliert, damit ihr das tut."

"Schön, dass du das so sehen kannst, aber ich kann es nicht." Ich schwieg, weil ich keine Ahnung hatte, was ich antworten sollte.

"Marissa ist schwanger“, platzte Ethan plötzlich heraus.

"Was?" Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. "Dann solltest du bei ihr sein, nicht bei mir."

"Ich habe doch gesagt, dass ich mit ihr gesprochen habe. Es ist okay für sie. Ich musste nur versprechen zurückzukehren, irgendwann, um sie zu holen."

"Aber...", begann ich, ohne wirklich zu wissen, was ich sagen sollte.

"Luna!", rief jemand vor dem Zelt. Ich erkannte Cas' Stimme sofort - der Streit würde wohl früher kommen als gedacht. Ich überlegte für einen Moment ob ich einfach so tun sollte, als hätte ich es nicht gehört, aber da Cas hier nach mir suchte, wusste er, dass ich hier war. Schnell verwarf ich diese Möglichkeit wieder.

"Komm rein!", antwortete ich. Cas schob den Vorhang zur Seite und kam herein, aber er blieb direkt neben dem Eingang stehen und ballte die Hände zu Fäusten, als wollte er vermeiden, dass er etwas tat, dass er womöglich bereuen könnte, aber er sah nicht überrascht aus. Samuel musste ihn gesagt haben, dass Ethan hier war. Ethan neben mir versteifte sich. Vermutlich dachte er daran, wie Cas ihn fast durchbohrt hatte.

"Können wir kurz reden? Allein?" Ich stand auf und war froh, dass wir diese Diskussion wenigstens nicht vor Ethan führen mussten.

"Ich komme morgen wieder", versprach ich meinem Bruder, drehte mich um und zog Cas mit mir aus der Hütte. Das war vielleicht etwas unterkühlt, aber ich wollte Cas nicht noch mehr reizen.

"Wie kannst du ihn nur herbringen? Bist du völlig verrückt geworden?", fragte Cas kaum dass wir die Hütte verlassen hatten.

"Er ist mein Bruder, Cas. Ich lasse ihn bestimmt nicht mitten im Nirgendwo stehen."

"Aber er hat Robin getötet!"

"Das weiß ich, aber er hat sich das genauso wenig ausgesucht wie ich. Er ist kein schlechter Mensch."

"Aber..."

"Robin war auch mein Freund, falls du das vergessen haben solltest. Klar kannte ich ihn nicht so lange wie du, aber ich habe auch getrauert, trotzdem werde ich meinen Bruder deswegen nicht verstoßen, wenn er um Verzeihung bittet."

"Wie kannst du ihm verzeihen?"

"Das hab ich nicht. Aber ich weiß, dass er nicht die volle Schuld trägt. Ihn zu bestrafen würde das Problem auch nicht lösen."

"Aber vielleicht würde ich mich dann besser fühlen." Cas grinste und Leute, die ihn weniger gut kannten wie ich, hätten wohl gedacht, er meinte das genauso fies wie es klang, aber ich konnte sehen, dass er nur seinen Schmerz überspielen wollte. Er konnte jetzt besser damit umgehen, aber das hieß nicht, dass er aufgehört hatte zu trauern. Ich legte meine Hand an seine Wange.

"Glaubst du das wirklich? Dass du dich besser fühlen würdest, wenn du mir damit weh tust?" Das war ein wenig hinterhältig, so auf ihn einwirken zu wollen, aber ich durfte auch nicht zulassen, dass er Ethan etwas antat.

"Ich würde dich niemals verletzen wollen."

"Na also." Ich küsste ihn schnell und ließ ihm keine Chance, noch einmal auf das Thema einzugehen. "Gehst du mit mir Mittagessen? Nina hat uns eingeladen."

Cas lachte. "Du bist ein gerissenes Biest, aber ja, gern."

 

Cas versuchte wirklich, sich Ethan gegenüber zusammenzureißen und das rechnete ich ihm hoch an. Auch dass es nicht er, sondern Tammy war, die meinem Bruder die Nase brach, sprach für Cas. Ich nahm es Tammy absolut nicht übel. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich tun würde, wenn mir jemand Cas nehmen würde und dann plötzlich vor mir steht. Ich kam zu dem Schluss, dass die Nase in meinem Fall wohl nicht das einzige gewesen wäre, dass ich zertrümmert hätte. Schnell schob ich den Gedanken wieder zur Seite.

Ethan begann beim Training mitzumachen und im Gegenteil zu mir fiel ihm das Zaubern leichter als der Umgang mit der Klinge. Es ging allerdings nicht mehr lang, bis Samuel uns alle zusammenrief. Es war Zeit in die Stadt zurückzukehren.

Es wurden Pläne geschmiedet, ganz bestimmte Szenarien trainiert und schließlich jedem eine Aufgabe zugeteilt. Diese Rebellion würde ein Ende finden, die Lügenherrschaft der Regierung würde endlich gestürzt werden. Ich hatte Glück, oder auch Unglück, was meine Aufgabe anging: ich würde mit Cas, seinem Vater, Nina, Kate, Pascal und ein paar anderen die Gruppe bilden, die bis ins Herz der Regierung vordringen und sie zum Rücktritt zwingen sollte. Das Gute war, dass ich mit den Besten der Besten zusammen war, auf die ich mich hundertprozentig verlassen konnte und dass ich mit Cas zusammen war, das Schlechte daran war, dass das die Gruppe mit der gefährlichsten Aufgabe war. Wir hatten keine Ahnung, was auf uns zukommen würde.

Ihr denkt, dass wir Angst gehabt haben müssen oder vor Tatendrang nur so sprudeln? Taten wir nicht. Seitdem klar war, wann wir wie handeln würden, lag eine tiefe Spannung über uns allen, die weder Angst noch Aufgedrehtheit zuließ. Wir warteten nur noch darauf, dass es losging.

Falls ihr jemals in eine ähnliche Situation geraten solltet, tut das, was ihr für richtig haltet, das was euer Herz euch sagt. Alles andere würdet ihr auf ewig bereuen. Auch ich bereue vieles, aber sicher nicht, dass ich gekämpft habe.

Teil 6

Wir gingen los, als der Mond noch hoch und bleich am Himmel stand. Wir sprachen eigentlich kaum auf dem Weg, denn wir hatten keinen Grund dazu. Jeder wusste, was er zu tun hatte und für Smalltalk war die Situation einfach viel zu ernst. Ethan und Tammy war nicht auszureden gewesen, dass sie mit uns kamen, aber wenigstens hatte Tammy - natürlich unter Protest - zugestimmt, in unserem alten Viertel zu bleiben und damit eine der leichteren Aufgaben zu übernehmen. Mit Ethan hatten wir vereinbart, dass er Marissa holen würde - wenn sie sowieso irgendwann zu uns stoßen wollte, konnte sie es auch heute Nacht noch tun.

Umso näher wir dem Herzen der Stadt kamen, umso kleiner wurde die Gruppe. Diejenigen, die Wache stehen sollten, oder Dinge besorgen, die wir bei unserer Flucht nicht mitnehmen konnten, blieben zurück. Am Ende war nur noch meine Gruppe übrig und wir standen jetzt vor den verschlossenen Türen des Regierungsgebäudes. Fasziniert beobachtete ich, wie Kate und Pascal nacheinander alle Zauber lösten, die über den Türen lagen und uns schließlich einließen. Das ganze hatte keine fünf Minuten gedauert.

"Immer herein spaziert", grinste Kate und hielt uns die Tür auf. Dann begannen die beiden, die Zauber wieder zu wirken, was länger dauerte als sie zu lösen, während wir anderen unsere Plätze einnahmen. Im Vorfeld hatten wir die Grundrisskarten des Gebäudes genau studiert, ich wusste genau, welcher Raum hinter welcher Tür lag und von wo aus welcher Fluchtweg der schnellste sein würde. Wir gingen durch die langen Gänge und immer wieder mussten Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft gesetzt und Zauber kurzzeitig gelöst werden. Ich hätte nie erwartet, dass das alles hier so gut gesichert war. Hinter uns mussten Kate und Pascal, die so ziemlich die besten Zauberer waren, die wir hatten, natürlich alle Sicherheitsvorkehrungen wieder in Gang setzen, damit niemand Verdacht schöpfte. Wären es Blades gewesen und nicht Wylder, die das System konstruiert hatten, hätten wir noch weitaus länger bis in den zweiten Stock gebraucht, aber irgendwann standen wir tatsächlich vor einer großen Flügeltür, die in den Raum führte, von dem aus die Regierung über die Stadt herrschte. Sogar ich merkte sofort, dass diese Tür anders gesichert war, als alle anderen. Irgendetwas stimmte nicht.

"Was ist das?", fragte Nina. Sie schien genau wie ich ratlos.

"Es ist ein Zauber, aber ein sehr schwieriger. Nie im Leben haben Wylder ihn gelegt."

"Aber die Regierung weiß doch, dass sie Magie wirken können wie sie wollen, da sollte das doch kein Problem sein", warf ich ein.

"Nein," Kate schüttelte den Kopf, "jeder andere Zauber war leicht, aber das hier spielt in einer ganz anderen Liga."

"Nicht nur, dass er mächtiger ist als alle anderen, er ist auf bestimmte Personen bezogen. Wenn wir versuchen würden ihn zu öffnen, könnte er uns um die Ohren fliegen", fügte Pascal hinzu. "Tut uns leid, aber da kommen wir nicht durch." Wir sahen einander an. Der Plan sah vor, dass wir in diesen Raum kamen, Informationen suchten und so lange warteten, bis die Regierenden kamen um sie zum Rücktritt zu zwingen. Wenn wir aber nicht hineinkamen... Alle Blicke lagerten sich auf Samuel.

"Wir werden hier vor der Tür warten. Sucht euch Verstecke. Ich bin neugierig, wer in der Lage sein wird, diese Tür zu öffnen." Weil niemand einen besseren Plan hatte als diesen, verstreuten wir uns in dem Stockwerk. Wir versteckten uns maximal zu zweit an einem Ort, damit es weniger auffällig war. Cas und ich bezogen eine kleine Abstellkammer, in der einige Dutzend verstaubte Stühle standen. Durch die Milchglastür konnten wir schemenhaft erkennen, was draußen vor sich ging. Ich kuschelte mich in Cas' Arme und versuchte so wenig wie möglich zu frieren, aber der Boden war eiskalt.

"Glaubst du Marissa und Ethan sind schon auf dem Rückweg?", fragte ich.

"Keine Ahnung. Kann schon sein." Ich spürte, wie Cas mit den Schultern zuckte. Gespannt sah ich ihn an, als mir klar wurde, dass das nicht unbedingt die beste Art war, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.

"Danke, übrigens", flüsterte ich.

"Wofür?" Er sah mich an und ich musste ein Stück wegrücken um ihm in die Augen sehen zu können.

"Dafür, dass du meinen Bruder nicht umgebracht hast. Dass du nicht versuchst alle gegen ihn aufzuhetzen. Dass..."

"Dass ich ihm nicht die Nase gebrochen habe?" Ich grinste.

"Ja."

Cas seufzte. "Mein Dad hat mit mir darüber gesprochen." Er lehnte den Kopf gegen die Wand und starrte die Decke an. Daran erkannte ich, dass es ihm unangenehm war, zugeben zu müssen, dass er nicht von allein so nachsichtig geworden war. "Irgendwann habe ich begriffen, dass es nichts bringt ihn zu töten. Weder mir, noch dem Rest von uns. Das Einzige, was es vielleicht bewirkt hätte, wäre uns auseinanderzubringen und das durfte ich auf keinen Fall zu lassen." Ich sah Cas an. Seit er aus seiner Trauer um Robin erwacht war, sagte er öfter solche Dinge, dass er mich nicht verlieren will, dass er nicht zulassen kann, dass uns irgendetwas entzweit.

"Gut," sagte ich, "ich will nämlich auch nicht, dass uns etwas auseinanderbringt."

"Das trifft sich ja hervorragend." Er blickte wieder zu mir und küsste mich. Als er sich von mir löste, sah ich ein Glitzern in seinen Augen, dass darauf hinwies, dass er gerade eine Idee gehabt hatte, die zumindest er für großartig hielt.

"Weißt du, in der Nacht in der ich wieder zu mir kam, als mir klar geworden ist, wie nah ich daran gewesen war dich für immer zu verlieren, habe ich begriffen, dass ich nie wieder ohne dich leben will. Allein der Gedanke, dass es dazu kommen könnte - meinetwegen - hat so sehr geschmerzt, dass ich fast nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Ich will niemals morgens aufwachen und dich nicht neben mir finden. Ich will nicht mehr abends einschlafen ohne dich im Arm halten zu können. Verstehst du das?"

"Cas...", begann ich, denn das hier ging weit über das hinaus, was er sonst sagte. Ich spürte schon wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und mir die Tränen in die Augen stiegen, vor Glück. Mein Herz fühlte sich an, als müsste es gleich platzen, so schnell schlug es. Ich wollte ihm sagen, dass ich genauso empfand, aber er ließ mir keine Chance dazu.

"Ich liebe dich, Luna. Und wenn wir hier wieder raus sind, dann heirate mich." Ich dachte an meine geplatzte Hochzeit mit Josh, wie ich in der Nacht davor weggelaufen war - mit Cas, für Cas. Noch bevor ich richtig darüber nachgedacht hatte, nickte ich. "Ja."

 

Ganz ehrlich, ich glaube das war so ziemlich der schönste Moment in meinem Leben. Ganz egal, dass wir uns in einer verstaubten Abstellkammer zwischen vergessenen Stühlen verlobten, ganz egal, dass es wohl bessere Zeitpunkte gegeben hätte um es zu tun. Vielleicht war es gerade deshalb so schön, weil es so unpassend war, irgendwie.

Der Spannung wegen müsste die Geschichte doch jetzt irgendwie so weitergehen: wir wollten uns gerade küssen, als plötzlich ein lauter Knall im Gang erklang. Erschrocken blickten wir auf und sahen, wie jemand an der Milchglastür vorbeiflog. Aus dem dumpfen Aufprall, der danach folgte, folgerte ich, dass derjenige unsanft von den verschlossenen Türen gebremst worden war. Wir sprangen auf um unseren Freunden zur Rettung zu eilen. So müsste es jetzt weitergehen, meint ihr nicht? Das entspricht aber leider nicht der Wahrheit.

Wir saßen noch fast eine ganze Stunde in dieser Kammer, bevor irgendetwas passierte und das war nicht annähernd so spektakulär.

 

Meine Augen fielen langsam zu. Es war zu früh am Morgen, ich war schon zu lange wach und Cas' Schulter war viel zu gemütlich um nicht einzuschlafen. Aber Cas bewegte sich plötzlich, bevor ich ganz ins Land der Träume abrutschen könnte.

"Sieh mal", flüsterte er. Ich blickte durch das Glas in der Tür und erkannte schemenhafte Gestalten, die daran vorbeiliefen. "Es geht los." Cas stand auf und lief zur Tür. Ich schlief noch mehr, als dass ich bei vollem Bewusstsein war, als ich ihm folgen wollte. Kaum war ich aufgestanden, stieß ich mir den Kopf an einem Stapel Stühle. Ich unterdrückte einen Fluch und kniete mich vor der Türe hin. Cas hatte bereits mit einem Zauber ein kleines Fenster freigelegt, sodass wir jetzt klar durch die Tür sehen konnten.

"Aber das sind ja...", stieß ich erstaunt aus.

"Blades", beendete Cas meinen Satz. Vor den verschlossenen Doppeltüren standen acht Frauen und Männer, hielten sich an den Händen und lösten die Zauber. Entgegen unseren Erwartungen trugen sie jedoch nicht die Sachen von Wyldern, sondern von Blades und außerdem trugen sie auch Klingen bei sich, die gefährlich im Neonlicht funkelten. Wir beobachteten schweigend, wie sie den großen Raum betraten und behutsam die Tür hinter sich schlossen. Soweit ich das beurteilen konnte, legten sie aber weder einen Riegel noch einen Zauber vor. Als wir sahen, wie die anderen aus ihren Verstecken kamen, verließen auch wir die Kammer.

"Das war unerwartet", brachte Nina es auf den Punkt.

"Niemand von uns hat erwartet hier bewaffneten Blades gegenüberzustehen", fügte Kate hinzu.

"Das ändert aber nichts an unserem Vorhaben", schaltete Samuel sich ein. "Wir sind hier, weil wir gegen die Klassenaufteilung vorgehen wollen, da sollte es keinen Unterschied machen, was für Klamotten unsere Gegner tragen."

"Stimmt", fügte Cas hinzu. "Außerdem glaube ich nicht, dass diese Acht irgendeine Ahnung davon haben, wie man die Klinge benutzt. Ganz abgesehen davon, dass wir zahlenmäßig überlegen sind."

"Also dann," meinte Samuel, "es wird Zeit zu tun, wofür wir hergekommen sind." Mit diesen Worten wandte er sich den Türen zu und trat sie auf.

Acht erschrockene Gesichter blickten uns an. Aber sie sahen bestimmt nicht so erschrocken aus wie wir. Jeder Blade, der zuvor den Raum betreten hatte, saß vor einem riesigen Computerbildschirm und in der Mitte des Raumes stand ein riesiger Tisch, über dem das Hologramm einer Landschaft schwebte, die mir sehr bekannt vorkam. Erst nach einigen Sekunden ging mir auf, dass es die Landmasse darstellte, auf der unsere Stadt lag. Ich erkannte noch mehr Städte - viel mehr, als ich gedacht hatte, dass es gibt. Ich bin sicher, ich hätte noch mehr überraschende Dinge gefunden, wenn die acht Blades nicht in diesem Moment wieder zu sich gekommen wären. Sie standen auf und zogen ihre Klingen. Einer schaltete einen Alarm ein, der mir sofort schrill in den Ohren dröhnte. Irgendwer rief ein "Achtung!" und wir konnten dem Feuerball, der auf uns geschleudert wurde, gerade so ausweichen, aber ich wurde danach das Gefühl nicht los, Brandlöcher in meinem Shirt zu haben. Mir blieb allerdings keine Zeit um nachzusehen. Ich wurde in ein Duell verwickelt und verlor die anderen bald aus den Augen. Entgegen Cas' Erwartungen, konnten diese Menschen hier sehr wohl mit der Klinge umgehen und ich musste darauf achtgeben, nicht getötet zu werden.

Als ich mir mit einem Zauber eine kurze Atempause verschaffen konnte, sah ich mich um. Cas, Samuel, Pascal, Nina und ein paar andere waren genau wie ich in Kämpfe verwickelt. Allerdings sah ich auch, wie zwei von uns unbehelligt durch den Raum streiften, sich die Monitore ansahen und die Technik studierten. Cas erregte meine Aufmerksamkeit, als er seinen Gegner niederstreckte, aber ich konnte nicht sehen, was er dann tat, denn ich musste mich wieder verteidigen.

Gerade gelang es mir, meinem Gegner die Klinge aus der Hand zu schlagen. Er sah etwas überrascht aus und ich nutzte den Moment um ihn mit einem Zauber in tiefen Schlaf zu versetzen. Ich hoffte wirklich, dass der Zauber mir dieses Mal geglückt war - die letzten zwei Male hatte ich Nina zur Schlafwandlerin gemacht, die dann alle Teller, die sie finden konnte zerschlagen hat. Das konnte ich gerade wirklich nicht brauchen.

Ich sah, dass Kate Hilfe brauchte und war schon auf dem Weg zu ihr, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregte. Am Ende des Ganges tauchte ein gutes Dutzend Wylder auf, die direkt auf uns zu marschierten. Auch sie waren bewaffnet und ich stellte fest, dass wir jetzt doch ganz schön in der Unterzahl waren. Anscheinend hatte der Alarm tatsächlich jemandem gegolten.

Samuel und Cas hatten die Wylder ebenfalls entdeckt. "Teilt euch auf! Sorgt dafür, dass sie nicht als Einheit agieren können!", rief Samuel uns zu. Alle, die gerade keinen Gegner hatten, stürmten sofort aus dem Raum, auf die Wylder zu. Wir trennten uns und sorgten so dafür, dass auch sie sich trennen mussten. Ich rannte die Treppen nach oben und stieß die Türe zum Dach auf. Die frische Luft tat gut, aber ich hatte keine Zeit, den Ausblick zu genießen. Zwei Wylder waren mir dicht auf den Fersen.

Ich versuchte mich zu verstecken, aber sie hatten mich bereits entdeckt. Ich versuchte mich an einen passenden Zauber zu erinnern und begrub einen der Wylder unter einem Netz. Eigentlich hatte der Wurf beiden gegolten, aber meine Konzentration war nicht mehr ganz die beste und ich hatte mein Ziel verfehlt. Egal, wenigstens einer weniger. Der war mir jetzt aber schon ziemlich nah. Unsere Klingen kreuzten sich.

Ich verteidigte mich mehr, als dass ich tatsächlich in die Offensive ging. Ich war nicht hergekommen um irgendwen zu verletzen, aber mir blieb wohl keine andere Wahl mehr. Ich wollte einen elektrischen Impuls durch das Metall unserer Klingen senden, wie ich es damals an der Mauer auch getan hatte, aber der Zauber ging schief. Anstatt die Hand meines Gegners zu verbrennen, verbrannte ich meine eigene. Ich schrie vor Schmerz auf und ließ meine Waffe fallen. Zum Glück war ich noch aufmerksam genug um dem nächsten Hieb meines Gegners auszuweichen und sie dabei wieder aufzuheben, aber jetzt musste ich sie mit links führen und das gefiel mir gar nicht.

Meine Hand brannte wie Hölle, einen Zauber konnte ich vergessen. Mir lief der Schweiß den Nacken hinunter und mein linker Oberarm schmerzte von der ungewöhnlichen Belastung, aber ich schaffte es den Wylder K.O. zu schlagen. Ich fiel auf die Knie, begann langsam wieder zu Atem zu kommen, als ein dritter Wylder auf dem Dach auftauchte. Ich sprang schnell wieder auf, ließ meine Klinge aber sofort sinken, als ich ihn erkannte.

"Dad", sagte ich. Für einen Moment vergaß ich all meine Schmerzen und alles was zählte war, dass ich ihn wiedersehen konnte.

"Luna?" Ohne zu überlegen ging ich auf ihn zu um ihn zu umarmen, bis er plötzlich die Klinge wieder hob. "Du bist nicht meine Tochter", sagte er.

"Was?" Irritiert blieb ich stehen. In seinen Augen konnte ich eine Wut erkennen, die ich noch nie bei ihm gesehen hatte. "Doch, natürlich. Ich bin es, Luna. Du hast mir so unendlich gefehlt."

"Meine Tochter ist tot. Selbst wenn sie nur weggelaufen ist, nie mehr wird sie meine Tochter sein. Sie hat mein Leben zerstört!" Ich zuckte zusammen. Der pochende Schmerz in meiner Hand war wieder da, aber er war nichts im Vergleich zu dem, was seine Worte in mir auslösten.

"Aber...", begann ich, doch ich konnte meinen Satz nicht beenden. Ich wich zurück soweit ich konnte - auf keinen Fall würde ich mit meinem Vater die Klinge kreuzen.

"Sie hat mir alles genommen. Meine Frau, meinen Sohn - einfach alles."

"Was? Nein, Ethan geht es gut! Er..." Plötzlich begriff ich, was er gerade über Mum gesagt hatte. "Was ist mit Mum? Wo ist sie? Warum..."

"Meine Frau ist tot. Sie hat sich selbst umgebracht - vorgestern, weil sie es nicht ertragen konnte, was unsere Tochter ihr angetan hatte." Mein Vater kam mir immer näher, die Klinge bestimmt auf meinen Hals gerichtet. Ich konnte nicht mehr weiter zurückweichen, spürte ich hinter mir doch schon die Brüstung, die das Dach vom Sturz in den Tod trennte.

"Mum. Nein, nein, nein. Sie darf nicht tot sein. Nein." Die Klinge fiel mir aus der Hand. Meine Mutter war tot - meinetwegen. Sie war tot. Was hatte ich nur getan? Tränen stiegen mir in die Augen und verschleierten meine Sicht. Was hatte ich getan?

"Luna!", rief jemand von der Tür aus. Ich blinzelte die Tränen fort und erkannte Cas. Mein Vater wirbelte zu der Stimme herum und ich reagierte schneller, als ich denken konnte und schlug ihm die Klinge aus der Hand. Mein Vater drehte sich wieder zu mir um und tat, was ich ihm niemals zugetraut hätte: er schlug mich. Ich erschrak so sehr, dass ich fiel und mir mein rechtes Auge hielt. Ich konnte spüren, dass es darunter pochte und wohl ziemlich bald ziemlich blau sein würde. Ich konnte auf dieser Seite nicht mehr richtig sehen.

Wo war Cas? Ich sah mich nach ihm um und entdeckte ihn immer noch nahe an der Tür. Er war in einen Kampf mit dem Wylder verwickelt, den ich in dem Netz gefangen hatte. Er musste sich befreit haben, ohne dass ich es bemerkt hatte. Mein Vater gewann meine Aufmerksamkeit zurück, als er eine Klinge vom Boden aufhob - ich konnte nicht sagen, ob es meine oder seine war - und sie auf mich richtete. Als er zum letzten Schlag ausholen wollte, sprang plötzlich mein Selbsterhaltungstrieb an. Ich schaltete auf Automodus und tat, was ich im Training gelernt hatte. Wieder flog die Klinge meinem Vater aus der Hand, aber dieses Mal machte er sich nicht die Mühe sie wieder aufzuheben sondern ging mit bloßen Händen auf mich los. Immer noch auf Autopilot geschaltet, wehrte ich mich. Ich reagierte schneller, als mein Vater gucken konnte, er stolperte über mich drüber, verlor das Gleichgewicht, prallte gegen die niedrige Brüstung und fiel hinüber. Das war der Moment in dem ich realisierte, was ich getan hatte. Ich streckte die Hand aus um ihn aufzufangen, aber es war längst zu spät. Ich hatte meinen Vater ein vierstöckiges Haus hinuntergestürzt.

"Nein!", schrie ich. Konnte ich an einem Tag Vater und Mutter verlieren? Für einen Moment erschien mir dieser Preis zu hoch für die Freiheit. Ich spürte nur noch eine gähnende Leere in mir und achtete nicht darauf, was ich tat. Beinahe wäre ich meinem Vater hinterher gestürzt, doch Cas zog mich rechtzeitig vom Rand des Daches weg.

"Nein, nein, nein, nein", flüsterte ich, meine Stimme versagte.

"Komm, wir müssen hier weg." Cas zog an meiner gesunden Hand, aber ich ließ mich auf die Knie fallen.

"Mein Vater, meine Mutter... Nein, nein, nein." Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Cas kniete sich vor mich, versuchte meine Hände von meinem Gesicht zu ziehen und zuckte zurück, als er meine verbrannte Rechte sah.

"Luna, was ist los? Wir müssen wirklich gehen."

"Sie sind tot!", schrie ich ihn an. Wie konnte er jetzt von mir verlangen, dass ich weiterging? Dass ich irgendetwas tat? "Tot! Tot! Alle sind tot!" Ich rollte mich ganz eng zusammen, versuchte den Schmerz zu unterdrücken, dabei merkte ich nicht einmal, wie ich mir so fest auf die Lippe biss, dass sie begann zu bluten. Ich glaube, nach ein paar Sekunden begriff Cas.

"Wir können ihnen nicht helfen", sagte er sanft.

"Sie sind tot. Meinetwegen."

"Du kannst nichts dafür." Ich weiß nicht, ob Cas damals schon wusste, dass ich von meinen Eltern sprach.

"Ich habe sie umgebracht."

"Komm, Luna. Komm mit mir. Wir müssen hier weg." Cas redete eine ganze Weile auf mich ein und schaffte es tatsächlich, mich zum Aufstehen zu bewegen.

 

Danach ist so ziemlich alles verschwommen. Wir müssen aus dem Regierungsviertel und der Stadt geflohen sein, zurück in den Wald, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Das einzige was ich wahrnahm, was ich empfand war diese unendliche Schuld.

Cas hat mir erzählt, dass sie mir drei Tage lang Beruhigungsmittel gegeben haben, damit ich mich nicht selbst verletzte. Er hat mir auch erzählt, wie es den anderen ergangen war. Nina hatte eine riesige Brandwunde am Arm, die weit schlimmer war als meine und auch nach drei Monaten noch nicht ganz verheilt war. Kate hatte eine Schnittwunde am Bauch und hatte den Weg aus der Stadt wohl auch mehr bewusstlos und von Pascal getragen als selbstständig hinter sich gebracht. Samuel hatte einen gebrochenen Knöchel, Pascal eine Platzwunde am Kopf und ein verstauchtes Handgelenk. Im großen Ganzen kann man das Ganze so zusammenfassen: es war nicht ganz so gelaufen wie geplant.

Ethan und ich trauerten lange um unsere Eltern, ich mehr als er. Bis heute bin ich der Meinung, dass ich Schuld an ihrem Tod bin auch wenn jeder mir etwas anderes erzählt. Aber ich spreche nicht gern darüber und würde euch deshalb lieber erzählen, was wir bei unserem missglückten Versuch die Regierung zu stürzen herausgefunden haben.

Die Blades, gegen die wir gekämpft haben, waren nicht die Regierung. In den Computern des großen Saals hatten wir Hinweise gefunden, dass sie nur als Verwalter für diese eine Stadt eingesetzt worden waren. Als wir im Nachhinein begannen mehr darüber in Erfahrung zu bringen, fanden wir heraus, dass die Strippen jemand ganz anderes in der Hand hielt. Die Klassengesellschaft gab es nicht nur in unserer Stadt, sondern in jeder einzelnen Stadt, die das Hologramm gezeigt hatte. Und sie alle wurden von einem Ort aus kontrolliert.

Was wir uns jetzt überlegt hatten: vielleicht gab es auch in anderen Städten Rebellen, die gegen das Klassensystem aufbegehrten. Wenn wir uns mit ihnen zusammenschließen konnten, dann könnten wir das Problem vielleicht tatsächlich bekämpfen. Also machten wir uns auf dem Weg um sie zu finden, unsere zukünftigen Mitstreiter.

Jahre vergingen, viele schlossen sich uns an, auch Freie. Wir wurden mehr oder weniger zu einer eigenen Stadt, ganz am Rand der Landmasse. Jeden Tag fürchteten wir, dass die Regierung Truppen schicken könnte, um uns anzugreifen, aber alles was wir erhielten war ein Brief. Darin stand, dass man uns solange in Ruhe lassen würde, wie wir sie in Ruhe ließen. Natürlich stand es für uns außer Frage, den Kampf aufzugeben. Man begann doch keine Rebellion um dann mittendrin wieder damit aufzuhören, als wäre es nur eine Laune gewesen. Wir sandten Leute aus, die mehr Menschen zu uns holen sollten und es funktionierte. Wir wurden immer stärker und stärker. Aber noch sind wir nicht stark genug, noch nicht ganz. Wir brauchen noch mehr Hilfe, eure Hilfe.

Epilog

"Dieser Film ist miserabel", sage ich.

"Stimmt", antwortet Cas. Ich runzle die Stirn. Den ganzen Abend schon ist er so einsilbig zu mir und egal was ich versuche, ich bekomme nicht mehr als ein paar Worte aus ihm raus.

"Cas," sage ich, denn langsam reißt mir der Geduldsfaden. „Was ist los?"

"Hmm?" Als er mich ansieht scheint er seinen Fehler zu begreifen. "Entschuldige. Ich bin heute Abend nicht sonderlich unterhaltsam für dich, oder?" Er sieht mich mit traurigen Augen an und sofort vergesse ich meine Wut. Nach all den Jahren, kann er mich immer noch so leicht beeinflussen.

"Nicht sonderlich unterhaltsam? Du hast mehr oder weniger gar nicht mit mir gesprochen."

"Tut mir leid, mein Engel." Er küsst mich auf die Schläfe und ich lasse mich gegen seine Schulter sinken. "Mir geht nur diese Sache in Atlanta nicht mehr aus dem Kopf." Ich seufze. So etwas hatte ich mir schon gedacht. Heute Mittag haben wir eine Meldung aus einer Stadt erhalten, dass es Probleme gibt. Anscheinend scheint die dortige Stadtverwaltung irgendetwas mitbekommen zu haben und jetzt ergreifen sie eigenartige Maßnahmen um den Blades die Hände zu binden.

"Aber...", beginne ich, mehr besorgt, als irgendetwas anderes.

"Keine Sorge. Ich werde nicht hingehen. Die kriegen das auch ohne mich in den Griff. Ich weiß, dass es hier für mich gerade wichtigere Dinge gibt als die Rebellion." Langsam schiebt er die Hand unter mein T-Shirt und lässt sie dann auf meinem Bauch liegen.

"Danke."

"Wofür?"

"Dafür, dass du nicht gehst", sage ich, meine aber eigentlich noch so viel mehr damit. Ich kann sehen, dass Cas es trotzdem versteht.

"Wir werden Eltern. Du glaubst doch nicht, dass ich mir auch nur einen einzigen Tag davon entgehen lasse." Wie immer hat Cas mich zum Lächeln gebracht. Ich lege meine Hand zu seiner auf meinen mittlerweile schon ziemlich runden Bauch. Als ich wieder ihn ansehe, küsst er mich.

"Ich liebe dich", flüstern wir beide gleichzeitig.

 

Mein Name ist Luna Mitchell. Mein Mann und ich kämpfen dafür, dass die Menschen in Freiheit leben können. Wir wissen nicht, wie lange dieser Kampf noch dauern wird oder ob wir sein Ende noch erleben, aber wir wissen, dass wir niemals aufgeben dürfen. Wir möchten, dass nicht nur unser Kind behütet aufwachsen kann, ohne dass man ihm vorschreibt wer er sein muss, sondern jedes Kind. Dafür kämpfen wir. Und wofür kämpfst du?

Impressum

Bildmaterialien: Liz Schubert
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Tausend Dank an meine Freundin Liz Schubert für ihr tolles, großartiges Coverfoto!

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